«Wer eine andere Meinung hat, wird in eine Ecke gestellt»

Die Demokratie braucht einen freien und konstruktiven Dialog

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermann (SVP) (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann (SVP) (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Frau Estermann, Sie sind jetzt seit fast 16 Jahren Mitglied des Nationalrats. Können Sie eine Veränderung der Gesprächskultur feststellen?

Nationalrätin Yvette Estermann Die Gesprächskultur hat sich gewandelt, auch durch die neuen Leute, die in den Nationalrat gewählt wurden. Früher hat man seinem Ärger Luft gemacht und auch 'mal deutliche Worte gesprochen, aber es blieb in der Regel auf der sachlichen Ebene und war viel weniger angriffig als heute. Heute, wenn jemand anderer Meinung ist, wird er oft als blöd hingestellt. Es ist bedauerlich, denn damit geht etwas verloren, was für den konstruktiven Dialog unentbehrlich ist. Man hat früher andere Meinungen akzeptiert sowie das andere politische Lager wahrgenommen. Das hat vielleicht eine andere Sicht auf das Problem und schlägt einen anderen Weg vor, wie man etwas lösen könnte. Heute wird das nicht mehr so gesehen. Das andere Lager ist der Feind. Es ist alles schlecht und unbrauchbar, was von dort kommt. Das sieht man sehr oft bei den einzelnen Fraktionen im Nationalrat, die den gleichen Vorstoss einreichen.

Könnten sie sich nicht zusammentun, um damit eine grössere Wirkung zu erzielen?

Ja, das wäre sinnvoll, geschieht aber leider nicht. Als Beispiel: FDP, Mittepartei und SVP reichen einen Vorstoss mit gleichem Wortlaut ein. Jeweils ein Vertreter der Fraktion steht dann am Rednerpult und bewirbt seinen Vorstoss. Früher war das anders. Aber heute bringt man es, auch wenn man den gleichen Vorstoss eingereicht hat, nicht übers Herz, sich gegenseitig zu unterstützen und eine Mehrheit zusammenzubringen. Jeder kämpft für sich, und am Ende hat man zu wenig Stimmen, um den eigenen Vorstoss durchzubringen. Es gibt auch Ausnahmen, aber die Tendenz, einzeln vorzugehen, ist immer häufiger. Das zeigt auch, dass eine Abneigung gegenüber der anderen Partei vorhanden ist. Früher konnte man eher zusammenspannen oder zusammen reden, obwohl man damals auch hart kämpfte. Aber es hatte immer ein hohes Niveau. Auch in der Fraktion haben wir heisse Diskussionen, aber am Schluss finden wir einen Konsens und treten geschlossen auf. Im Rat oder in den Kommissionen wird nicht mehr so diskutiert wie früher. Auch wenn die Diskussionen damals zum Teil härter waren, ging man nach der Sitzung zufriedener auseinander, weil man einen Konsens gefunden hatte. Das Klima ist rauher geworden. Man spürt den Druck, dass immer etwas angerissen werden muss. Jeder versucht, das auf seine Art zu lösen. Man ist nicht gemeinsam auf Lösungs­suche, denn jeder meint, seine Lösung ist die beste. Das ist ein Problem.

Kann man sagen, dass im politischen Geschehen die Konsensfindung immer schwieriger wird?

Die Fronten haben sich verhärtet. Was ich feststelle, dass häufig das Wohl des Landes zu wenig im Vordergrund steht. Es geht immer darum, dass der Einzelne die Lösung gebracht hat. Es geht um persönliche Profilierung und weniger um ein konstruktives Miteinander. Manche Parlamentarier vergessen, wofür sie gewählt worden sind und dass es primär darum geht, gute Lösungen für die Bevölkerung im Land zu finden.

Die SVP ist die Partei, die am häufigsten attackiert wird, weil sie Werte wie Neutralität und Souveränität etc. vertritt. Die meisten haben ihre Einstellung den politischen Gegebenheiten von EU und Nato angepasst und somit dem klaren Bekenntnis zur Neutralität eine Absage erteilt. Man ist zwar noch ein bisschen neutral, aber man hat das Neutralitätsverständnis abgeändert. Die Neutralität wird unterschiedlich ausgelegt und je nach dem, sieht die Beurteilung, wann die Grenzen der Neutralität überschritten sind, ganz anders aus. In dem Sinn hat jeder für sich Recht, aber die Neutralität gibt es nicht mehr.

Kann man das nicht an der Haltung gegenüber dem Ukrainekrieg erkennen?

Ja, wenn wir neutral geblieben wären, hätten wir im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vermitteln und Verhandlungen führen können. Davon sind wir inzwischen weit entfernt. Heute verhandeln China und die Türkei, aber die Schweiz ist nirgends dabei. Das ist sehr bedauerlich, denn es war immer die Stärke der Schweiz, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Ob es Absicht war, die Schweiz als wichtigen Friedensstifter beiseite zu schieben oder nicht, muss offen bleiben. Tatsächlich ist damit der letzte neurale Staat verschwunden, und zwar ohne Not.

Man kann unterschiedliche Auffassungen von der Neutralität haben, aber letztlich entscheiden die anderen Staaten, ob sie die Schweiz noch als neutral ansehen. Ist letztlich nicht die Wahrnehmung der anderen Länder ausschlaggebend?

Ja, wir müssen leider feststellen, dass die Schweiz nicht mehr als neutrales Land wahrgenommen wird. Auch die Argumentation, wir seien neutral, weil wir nicht in der Nato seien, ist lächerlich. Denn tatsächlich gibt es verstärkte Annäherungen an die Nato. Es ist eine Katastrophe, dass man den Wert der Neutralität, der schon eine jahrhundertealte Tradition besitzt und die Schweiz vor viel Schaden bewahrt hat, so achtlos über Bord wirft.

Empfinden Sie, dass die Emotionalisierung in den Diskussionen auch in der Frage der Neutralität – man darf doch nicht abseits stehen – stärker geworden ist?

Das ist grundsätzlicher Art. Sie müssen nur die Nachrichten mit der Berichterstattung über die Parlamentsdebatten ansehen. Es gibt immer Ausschnitte, bei denen jemand angegriffen wird und Emotionen ins Spiel kommen. Die Medien provozieren Emotionen und beeinflussen den Menschen in die eine oder andere Richtung. Wenn man eine klare sachliche Debatte würdig führt, ist das für die Medien uninteressant. Medien leben von den Emotionen und erzeugen diese auch. Man lässt die Meinung des andern nicht stehen und greift ihn persönlich an. Wenn das der Fall ist, gibt es keine sachliche Auseinandersetzung mehr. So stirbt jegliche Auseinandersetzung. Aber genau diese Auseinandersetzung braucht es in der direkten Demokratie. Sonst gilt nur eine Meinung, und die Demokratie wird wie in so vielen Ländern zur Farce.

Stellen Sie die Entwicklung, dass man immer weniger sachlich diskutiert, sondern schnell das Gegenüber angreift und dabei die Diskussion emotionalisiert, auch in der Bevölkerung fest?

Vor 10, 15 Jahren hat man am Stammtisch noch echt diskutiert. Meinungen wurden gegenübergestellt, und man hat über die Sache gesprochen. Menschen konnten, obwohl sie unterschiedlicher Meinung waren, gut miteinander diskutieren und versuchten, die andern mit guten Argumenten zu überzeugen. Heute stelle ich fest, dass nur noch eine Meinung gilt: die steht in den Zeitungen, das sagt auch der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments. Jeder, der eine andere Meinung hat, wird in eine Ecke gestellt oder ausgegrenzt. Es gibt auch in den Medien keine echte Vielfalt mehr. Wer nicht dem Mainstream folgt und sich andere Gedanken macht, traut sich kaum noch, diese kundzutun. Das war deutlich während der Coronazeit zu beobachten. Es ist nie einfach gewesen, eine diametral andere Meinung zu vertreten, aber jetzt ist die Reaktion darauf noch viel stärker. Man sieht natürlich, was mit den Personen passiert, die eine Meinung haben, die vom medialen Einheitsbrei abweicht. Das führt dazu, dass man zu Dingen ja sagt, nur um dieser Diskriminierung zu entgehen. Man hat auch Hemmungen, über manches zu reden, wenn man weiss, dass es wieder Streit geben könnte. Wir müssen unbedingt zu einer vernünftigen Gesprächskultur zurückfinden. Gerade in unserem politischen System braucht es den freien Diskurs, sonst werden wir langsam immer weiter in die falsche Richtung gehen.

Was kann man gegen diese Entwicklung tun?

Wichtig ist, dass man trotz allen Hindernissen miteinander spricht. Man trifft immer wieder auf Menschen, die, wenn sie merken, dass das Gegenüber auch eine kritische Haltung zur allgemeinen Entwicklung hat, gerne ins Gespräch kommen wollen. Für beide ist das ein stärkendes Erlebnis, weil man realisiert, man ist nicht allein mit dieser Meinung. Das ist ein ganz wichtiger Vorgang, der, wenn er sich wiederholt und wiederholt, eine andere Stimmung im Land bewirken und so dem Mainstream etwas entgegensetzen kann. Es sind die kleinen Begegnungen, die grosse Auswirkungen haben.

Dann gibt es Hoffnung, dass die geistige Talfahrt aufgehalten wird?

Was ich beobachte, dass aus dem Widerstand gegen die Corona-Politik kleine Gruppen entstanden sind, die aufgrund ihrer Erfahrungen auch kritisch der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine gegenüberstehen. Heute heisst es «Waffen, Waffen, Waffen» für den Frieden. Wenn man das vor ein paar Jahren einem Menschen erzählt hätte, hätte er sich an den Kopf gegriffen und gefragt, ob man noch ganz bei Trost sei. Aber unsere Medien haben diese Stimmung erzeugt, so dass viele nicht mehr nachdenken und das für normal halten.

Der Ukrainekrieg ist ein gutes oder besser gesagt ein trauriges Beispiel, bei dem man klar sieht, wie Manipulation funktioniert. Die Menschen wurden vom ersten Tag an emotionalisiert. Wer nur gewisse Zweifel an der offiziellen Meinung hegte, wurde zum Beispiel als «Putinversteher» abgestempelt. Damit wird jede Diskussion über mögliche Hintergründe des Krieges abgeklemmt. Man liefert Waffen, damit beschiesst Selenskij in der Ostukraine seine eigene Bevölkerung und opfert zusätzlich Tausende seiner Soldaten. Hätte er keine Waffen aus dem Westen, wäre der Krieg wahrscheinlich schon längst zu Ende, und man könnte über einen Frieden verhandeln. Die Hoffnung, dass die junge Generation wieder viel kritischer der ganzen Entwicklung gegenübersteht, bleibt.

Das stelle ich in Diskussionen mit jungen Menschen auch immer wieder fest. Sie wollen sich ihre eigene Meinung bilden und nicht alles glauben, was ihnen vorgesetzt wird.

Ich erlebe es auch so. Es gibt immer wieder Menschen, die es schätzen, was unser Land ausmacht: die Werte, die für das Überleben der Schweiz wichtig sind. Man muss den jungen Menschen auch aufzeigen, was sie alles verlieren würden, wenn man diesen Weg so weitergeht. Die Vielfalt der Meinungen ist etwas Zentrales in unserem Land, und man darf diejenigen nicht einschränken, die ihre Auffassung kundtun. Die Vielfalt an Erfahrungen, an Erlebnissen und Meinungen, das macht doch unsere Gesellschaft aus. Wenn alle die gleiche Meinung haben, wird keine Entwicklung stattfinden. Wenn wir nur noch einen Einheitsbrei haben, dann kommen wir nicht weiter. Es braucht den konstruktiven Dialog. Fangen wir sofort damit an.

Frau Estermann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Jeden Tag werden Menschen beerdigt – nicht nur Dutzende, sondern Hunderte»

von Thomas Kaiser

Während beim Besuch Wolodymir Selenskijs, vor dem Einmarsch der Russen ein Nobody, in Deutschland die grosse Verbrüderung– «lieber Wolodymir» und «lieber Olaf»¹ – zwischen Kanzler Scholz und dem ukrainischen Komiker und Staatspräsidenten zelebriert wurde, starben Tausende von ukrainischen Soldaten im Raketen-, Granaten- und Kugelhagel. Anstatt ernsthaft über ein sofortiges Ende des Krieges nachzudenken und gemeinsam eine diplomatische Lösung zu finden, beschwört Selenskij den Kampfgeist.

Das klingt schon fast surreal und erinnert an finstere Zeiten – «Hurra!» Deutschland ist wieder dabei – als im Ersten Weltkrieg klassenweise Schüler als Kanonenfutter an die Front gekarrt wurden oder der «Volkssturm», bestehend aus 16- und 60-jährigen, das letzte Aufgebot Hitlers, den Endsieg im Zweiten Weltkrieg herbeiführen sollte. Doch der «Verteidiger der westlichen Werte» wird wortreich vom «lieben Olaf» unterstützt. Er schnürt erneut ein 2,7 Milliarden Rüstungspaket für die ukrainische Armee: Waffen, Waffen, Waffen. Zum Teil ist es veraltetes Gerät aus den 60er, 70er und 80er Jahren, wie Kampfpanzer, die für Russland leichte Beute sind, wobei jeweils die Besatzung getötet wird. Selenskij sagt klar, wo er steht: «Die Ukraine wolle nichts lieber als den Frieden – dieser könne aber nur mit einem gemeinsamen Sieg gewonnen werden.»² Gemeinsam, mit wem? Krieg wird zum Frieden und Frieden zum Krieg, ganz nach orwellschem «Newspeek». Hatten wir das alles nicht schon einmal? Um so unbeschreiblicher ist es, dass Scholz, der anscheinend die deutsche Geschichte in der Schule nicht mehr gelernt hat, weil er ein Kind der unsäglichen gymnasialen Reform ist, Selenskij in seinem Wahn unterstützt, er könne Russ­land besiegen.

Selenskijs Soldaten sterben reihenweise

Selenskij hat seit Februar 2022 bereits mehrere Rekrutierungsphasen durchgeführt, die jetzt permanent stattfinden, indem man die jungen Männer quasi von der Strasse holt und für den Krieg rekrutiert. Die 18- bis 60-jährigen dürfen das Land nicht mehr verlassen.³ Das ZDF berichtet: «Die Ukraine braucht nicht nur einen Nachschub an Munition. Sie braucht auch mehr Soldaten. Daher läuft eine Rekrutierungskampagne. Ein Recht auf Verweigerung gibt es nicht4 Die Menschen in der Ukraine sind den Krieg leid, sie realisieren, was ein Weiterkämpfen mit ungleich langen Spiessen bedeutet. Im Gegensatz zu Selenskij und all seinen Huldigern, die selbst noch nie im Krieg waren, wie die Kriegstreiber Scholz, Baerbock, Pistorius etc. und keine Ahnung haben, was Krieg bedeutet, erzählt im ARD ein 25-jähriger Ukrainer, wie die Realität tatsächlich aussieht: «Jeden Tag werden Menschen beerdigt – nicht nur Dutzende, sondern Hunderte. Da verstehst du, dass du dein Leben aufs Spiel setzt5 Der junge Mann spricht aus, was im Westen verheimlicht wird, damit der Krieg weitergehen kann. Jeden Tag sterben Hunderte von Ukrainern in einem völlig aussichtslosen Kampf, bis die Ukraine keine Menschen mehr hat, die Krieg führen. Dann wird er endlich vorbei sein – aber zu welchem Preis? Die westlichen Kriegsunterstützer wird es weiterhin nicht kümmern. Sie haben auch immer aktiv verhindert, bereits in der Anfangsphase den Krieg zu beenden. Man hat auf Krieg gesetzt, anstatt auf Verhandlungen.

Ein Schwächling als Kanzler

Seit Monaten liefert der Westen Waffen an die Ukraine, und kein Ende ist absehbar. Die Staaten versuchen, sich in dem brutalen Spiel zu übertreffen. Scholz rühmt sich, dass Deutschland für die Ukraine der zweitgrösste Waffenlieferant nach den USA sei. Selenskij, der an diesem Krieg eine grosse Mitschuld trägt und mit allen Wassern gewaschen ist, hat erkannt, was für ein Schwächling Kanzler Scholz ist und dass man ihn nur an seinem Ego packen muss, damit er alles tut, was man von ihm will. Nur so ist folgende Aussage Selenskijs zu verstehen: «Ich denke, wir werden daran arbeiten, dass wir Deutschland auf den ersten Platz [der Waffenlieferungen] bringen.»⁶ Scholz’ Antwort darauf war «ein Grinsen». Als ob das Waffenliefern ein Wettkampf unter den Ländern sei. Schnell haben die USA nachgelegt. Während Scholz noch zaudert, ob er Kampfflugzeuge liefern soll, was er irgendwann noch macht, damit er nicht zum «bösen Olaf» wird, hat Joe Biden beim G7-Gipfel der Ukraine angeboten, Piloten für F-16 Kampfflugzeuge auszubilden.7

Perverserweise findet der Gipfel in Hiroshima statt, in der Stadt, die von den USA 1945 sinnlos und ohne militärischen Nutzen mit einer Atombombe dem Erdboden gleichgemacht wurde, die Hunderttausenden das Leben genommen hat. Noch heute leiden die Menschen an den Spätfolgen. Zynischer kann es nicht sein. Thema in Hiroshima ist der Krieg in der Ukraine und weitere Waffenlieferungen, die Selenskij fordert. Er hat dort seinen grossen Auftritt vor den Mächtigen der Welt. Machen sie vor ihm den Kniefall wie Scholz?

Komiker verteidigt «westliche Werte»

Das ganze Schmierentheater ist kaum zu übertreffen. Bundespräsident Cassis war der erste, der sich mit Selenskij mehr als verbrüdert hat. Ungern erinnert man sich an den «legendären» Auftritt, als er bei seiner Rede bereits im März 2022 dem per Video zugeschalteten Selenskij uneingeschränkte Sympathie und Hilfe zugesichert hat. Dabei verlor er die Contenance eines Schweizer Bundespräsidenten. Jetzt kann er sich damit brüsten, dass Scholz seiner Anbiederung gefolgt sei. Dennoch bleibt Herr Cassis für Selenskij ein kleiner Fisch, denn er lässt sich von grossen Staaten hofieren, die ihm viel wichtiger sind, weil davon besessen, Russland zu besiegen. Dennoch möchte Selenskij zum Schweizer Parlament sprechen, aber nur per Video. Wahrscheinlich wird er den Parlamentariern und Parlamentarierinnen klar machen, dass sie endlich auch Waffen und Munition zu liefern und die im Ausland blockierte Munition freizugeben haben, denn sonst sei die Schweiz wie Russland schuld daran, wenn Ukrainer sterben, denn Waffen könnten das verhindern. Seinerzeit hatte Annalena Baerbock Selenskij diese Worte vorgesprochen und ihm so die Steilvorlage gegeben, indem sie sagte: «Unsere Waffenlieferungen helfen offensichtlich sehr deutlich, Menschenleben zu retten.»8 Man kann sich gut vorstellen, wie er alle Register ziehen wird, um den Parlamentariern und Parlamentarierinnen so richtig einzuheizen. Sicher wird die Mehrheit der Räte tief beeindruckt sein und in Selenskij den Verteidiger «westlicher Werte» erkennen. Dennoch, die Schweiz direkt zu besuchen, wäre dann doch zu viel der Ehre, ausser die Schweiz lieferte wie Scholz «Waffen, Waffen, Waffen.»

Waffenlieferungen per Notrecht

Zusätzlich zum peinlichen Auftritt auf dem Bundesplatz wurde von Cassis auch eine Grundfeste des Schweizer Staatswesens geschleift: die Neutralität. Mit einer unwürdigen und arroganten Haltung hat er all jenen den roten Teppich ausgelegt, die schon lange die Neutralität als alten Zopf abschaffen wollen. Der Damm war gebrochen. Das ermöglicht den Selenskij-Verehrern, auch auf die Weitergabe von Waffen zu drängen. So will nach der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats auch die des Ständerats – gegen die Stimmen der SVP – das erst vor zwei Jahren verschärfte Kriegsmaterialgesetz aufweichen.⁹ Zwar muss die Bundesversammlung dem Gesetzesvorschlag noch zustimmen, der zusätzlich dem fakultativen Referendum unterliegt, aber nachdem neben den anderen bürgerlichen Parteien, ausser der SVP und den Grünen, sogar die SP sich in den medialen Sog der Kriegstreiberei hat ziehen lassen, ist in den beiden Kammern kaum eine Ablehnung der Vorlage zu erwarten. Im Gegenteil: «Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister forderte, der Bundesrat solle das Kriegsmaterialgesetz per Notrecht ändern, um die Weitergabe von Waffen an die Ukraine zu ermöglichen».10 Damit wäre nicht nur die Neutralität diktatorisch versenkt, sondern auch die direkte Demokratie ausgeschaltet, denn dann kann das Volk nichts mehr dazu sagen. Der Bundesrat lehnt zum Glück bis heute eine Änderung seiner bisherigen Praxis ab.

Folgen des Dammbruchs

Doch der Druck aus dem Ausland, seitens unserer Mainstream-Medien und grosser Teile des Parlaments ist hoch. Man kann nur hoffen, dass der Bundesrat standhaft bleibt und nicht wie Scholz den Bückling vor Selenskij macht. Der Gesetzesvorschlag ist mit vielen «Einschränkungen» versehen. Auch wenn sie eingehalten werden, was schon jetzt auszuschliessen ist, bekommt die Neutralität einen weiteren Tiefschlag. Was Cassis auf dem Bundesplatz zelebriert hat, findet nun seine Fortsetzung in der Politik. Ist der Damm erst einmal gebrochen, gibt es kein Halten. Das haben auch die umliegenden Staaten realisiert. Man muss die Schweiz nur ein bisschen unter Druck setzen und Teile des politischen Establishments bekommen das «Fracksausen».11 «Der Druck auf die Schweiz lässt nicht nach: Nun hat auch Dänemark genug, das gegenüber der Schweiz auf laute Töne verzichtete. Zusammen mit Deutschland, Lettland, Frankreich, den Niederlanden und Finnland hat es gemäss Quellen auf beiden Seiten beim Seco mit einer Demarche interveniert.»12

Durch die weiche Haltung, vor allem von Bundesrat Cassis, aber auch von anderen politisch Verantwortlichen, hat das Ausland realisiert, dass es die Schweiz mit der Neutralität nicht mehr so genau nimmt. Die Gunst der Stunde nutzend, werden Forderungen gestellt, die bis zur Lieferung von Panzern gehen. Es wäre ungeheuerlich, würde die Schweiz am Ende diesem Deal zustimmen. Deutsche Panzer, die Deutschland an die Ukraine geliefert hat, mit Schweizer Panzern zu ersetzen, ist nichts anderes, als wenn die Schweiz diese direkt an die Ukraine lieferte. Das Kriegsmaterialgesetz würde dadurch verletzt, denn gemäss ihm, darf kein Kriegsmaterial an eine kriegsführende Nation geliefert werden. Die Argumentation, dass die Panzer an Deutschland gingen, das nicht im Krieg sei, ist unehrlich und verstösst gegen Schweizer Recht. Mit der Aufweichung des Kriegsmaterialgesetzes wäre die Lieferung möglich.

Wenn wir wollen, dass die Schweiz, der es aufgrund ihrer Neutralität Jahrhunderte gelungen ist, nicht in Kriege verwickelt zu werden, weiterhin so bestehen bleibt, dann kann die Bevölkerung das erreichen, wenn sie sich aktiv für die Rückkehr zur Neutralität einsetzt. Andernfalls ist unser Land, wie alle andern auch, nicht neutral und ein Anhängsel der Mächtigen.

¹ «Badische Zeitung» vom 15. Mai 2023
² Ebenda
³ www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-rekruten-armee-101.html
4 www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/ukraine-soldaten-rekrutierung-100.html
5 www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-rekruten-armee-101.html
⁶ «Badische Zeitung» vom 15. Mai 2023
7 www.blick.ch/ausland/der-krieg-in-der-ukraine-die-entwicklungen-des-konflikts-live-im-ticker-id17193095.html
8 www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/interview-aussenministerin-baerbock-faz/2553542
www.srf.ch/news/schweiz/kriegsmaterial-wiederausfuhr-wird-das-schweizer-kriegsmaterialgesetz-jetzt-gelockert
10 www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/warum-die-schweiz-die-weitergabe-von-waffen-an-die-ukraine-unterbindet/47654844
11 «mached id' Hosä»
12 «NZZ» vom 12. Mai 2023

«Die Lage Selenskijs ist innenpolitisch äusserst prekär»

«Die Ukraine befindet sich seit Juni 2022 in der elften Truppenmobilisierung»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In unseren Medien liest man immer wieder, dass es Putins Ziel gewesen sei, die Ukraine zu zerstören und die Macht dort zu übernehmen.

Jacques Baud Das ist falsch. Putin hat das nie gesagt, und die Art der Operation deutet klar darauf hin, dass das nie das Ziel gewesen ist, und auch heute nicht ist. Diese Behauptung taucht in den verschwörungstheoretischen Medien immer wieder auf, ist aber falsch. Sie stammt aus der Rede von Wladimir Putin vom 24. Februar 2022. Da wendet er sich an das ukrainische Militär und erinnert sie daran, dass sie einen Eid auf das ukrainische Volk und nicht auf die Regierung geschworen haben, und er fordert sie auf, Befehle zu verweigern und die Waffen niederzulegen. Sein Satz lautet: «Ich fordere Sie auf, sich zu weigern, ihre kriminellen Befehle auszuführen. Ich fordere Sie auf, die Waffen sofort niederzulegen und nach Hause zu gehen. Das bedeutet, dass die Angehörigen der ukrainischen Armee, die dies tun, die Zone der Feindseligkeiten frei verlassen und zu ihren Familien zurückkehren können.»¹

Der Grund für die russische Intervention in der Ukraine ist die Misshandlung der russischen Minderheit durch die Behörden in Kiew seit 2014. Dazu gehören Hetzangriffe auf die Zivilbevölkerung (bei denen in diesem Zeitraum 10 000 Zivilisten getötet wurden), Folter durch den ukrainischen Sicherheitsdienst (SBU),² diskriminierende Gesetze (die von unseren Medien unterstützt werden) und andere Exzesse. Im Februar 2022 ging es für Russland darum, die Bevölkerung vor der Offensive zu schützen, der sie nach Selenskijs Entscheidung im März 2021, die Krim und den Süden des Landes zurückzuerobern, ausgesetzt sein sollte

Unsere Medien erwähnen auch das von Wladimir Putin genannte Ziel der «Entnazifizierung», um zu behaupten, dass es sich um einen Aufruf zum Sturz von Wolodymir Selenskij handelt, wobei sie darauf hinweisen, dass er Jude und somit kein Nazi ist.

Aber auch hier lügen unsere Medien. Selbstverständlich ist Selenskij kein Nazi. Aber Wladimir Putin erwähnt niemals den Begriff «Nazi», um die derzeitigen ukrainischen Behörden zu bezeichnen. Stattdessen verwendet er den Begriff «Neonazi». Ich erinnere daran, dass «Nazi» eine Doktrin und eine politische Ideologie ist, während «Neonazi» keine Doktrin, sondern eher ein soziales Verhalten ist. Im Übrigen ist festzustellen, dass viele unserer Journalisten die Ideen der ukrainischen Neonazis weitergeben, ohne sie jemals in Frage zu stellen.

Ich glaube sogar, dass Moskau keine Absicht hat, Selenskij zu stürzen. Heute hat Selenskij sicherlich mehr von seinem Umfeld zu befürchten als von den Russen.

Im Übrigen ist zu beobachten, dass im Juni 2022, nachdem die gesamte Ausrüstung der ukrainischen Armee zerstört ist, Selenskij anfängt, westliche Waffen anzufordern, und die Ukraine beginnt, ihre militärischen Kapazitäten vom Westen abhängig zu machen.4 Im Spätsommer kommt es zu einer ersten grossen Säuberungswelle. Am 17. Juli 2022 ordnet Selenskij 651 Ermittlungen wegen «Verrat und Kollaboration mit dem Feind» gegen Beamte und Mitglieder der Sicherheitskräfte an, die Verhandlungen befürworteten.5 Ende 2022, als die Menschenverluste enorm sind und die Ukraine mit Zwangsrekrutierungen beginnen muss, führt anfangs 2023 Selenskij eine weitere massive Säuberungswelle durch.

Die gleichen Spannungen sind heute in der Ukraine zu beobachten. Mit anderen Worten: Selenskij hat keine stabile Unterstützung innerhalb des Landes. Nach aussen hin ist ebenfalls eine Ermüdung der Unterstützung für Selenskij zu beobachten. Seine grosse Gegenoffensive, die er für den Sommer 2022 versprochen hatte,⁶ wurde auf den Herbst verschoben, dann auf den Winter, dann auf den Frühling 2023 und vielleicht auf den Sommer 2023. Selenskij verlangt immer mehr Waffen und Munition, die der Westen immer schwerer bereitstellen kann. Selenskij wird immer unglaubwürdiger, und das ist eine ziemlich günstige Situation für Moskau.

Vor kurzem hiess es, die Russen kämen bei ihrer Operation nicht weiter, weil der Widerstand der Ukraine so gross sei. Ist das realistisch?

Nein, das ist falsch. Seit dem Sommer 2022 schalten die russischen Streitkräfte das ukrainische Potenzial aus, das auf den Kriegsschauplatz kommt. Da die Ukrainer versuchen, das von den Russen eingenommene Gebiet zurückzuerobern, müssen die Russen nicht wirklich vorrücken, sondern können einfach auf den Gegner warten, um ihn zu vernichten. Genau das sagt General Sergej Surowikin, der neu zum Kommandeur der Gruppe der Streitkräfte (Joint Force Group) im Gebiet der Sondermilitäroperation in der Ukraine im Oktober 2022 ernannt wurde:7 «Wir haben eine andere Strategie. […] Wir streben nicht nach einer hohen Vorwärtsgeschwindigkeit, wir schonen jeden unserer Soldaten und ‹zermalmen› methodisch den vorrückenden Feind.»

Während unsere «Experten» versuchen, den militärischen Erfolg in Kilometern des Vorankommens im Gelände zu messen, messen die Russen ihn in der Anzahl der vernichteten Gegner.

So ist das Ziel nicht die Eroberung von Territorien, sondern die Zerstörung des militärischen Potenzials. Für Bachmut lautet die Analyse des russischen Nachrichtendienstes, dass die Stadt für Selenskij wichtig ist und er bereit ist, Truppen dorthin zu schicken, um zu verhindern, dass sie in russische Hände fällt. General Surowikin löst daraufhin die Operation «Fleischwolf» aus und gibt der Wagner-Gruppe den Auftrag, diese durchzuführen. Es geht nicht darum, die Stadt einzunehmen, sondern die Ukrainer kommen zu lassen und sie systematisch zu vernichten.

Surowikin entscheidet, dass diese Operation sechs Monate dauern soll. Das Ziel sei nicht, die Stadt einzunehmen, sondern die ukrainischen Streitkräfte zu zerstören. Dank des Westens, der die Ukraine dazu drängt,8 ihr Territorium zurückzuerobern,⁹ geht die russische Strategie auf: Die Ukrainer kommen und zerschellen an der russischen Artillerie. Es ist schwer zu sagen, wie viele ukrainische Soldaten in Bachmut starben, aber die Zahl ist wahrscheinlich sehr hoch. Ende April 2023 ist die Operation offiziell beendet und der russische Generalstab bereitet sich darauf vor, die Wagner-Gruppe durch reguläre Einheiten zu ersetzen.

Das Problem ist, dass Wagner bei seinen Bemühungen, die Verteidiger von Bachmut zu zerstören, die Stadt nach und nach unter seine Kontrolle gebracht hat und Ende April nur noch ein kleiner Teil der Stadt von den ukrainischen Streitkräften besetzt ist. Wahrscheinlich aus Prestigegründen, aber auch um seine Kämpfer, die hart gekämpft haben, um den Grossteil der Arbeit zu erledigen, nicht zu frustrieren, will Prigoschin die Arbeit «zu Ende bringen» und die Stadt einnehmen. Das Problem ist, dass die russische Militärführung die Artillerieunterstützung, wie im Oktober 2022 geplant, für Wagner einstellt. Prigoschin, der über das hinausgehen will, was der russische Generalstab geplant hat, wird wütend, um Unterstützung zu erhalten, bis die Stadt vollständig von seiner Gruppe eingenommen wird. Das ist die Krise, die Anfang Mai zu beobachten war und über die unsere Medien berichteten, ohne sie zu verstehen: Diese Spannungen gab es nicht, weil die russische Maschinerie nicht funktioniert, sondern weil sie besser funktioniert als geplant!

Im November 2022 hatte die «New York Times» sehr gut erklärt, dass Bachmut ein «schwarzes Loch» für Kiews Truppen sei und dass der Einsatz seiner Truppen in der Stadt die Ukraine davon abhalte, andere Prioritäten zu erfüllen.10 Die «New York Times» hatte Surowikins Strategie sehr gut verstanden. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum die «NZZ», der «Blick» oder RTS die Ukraine so sehr hassen, dass sie sie ermutigen, solch tragische Fehler zu machen!

Warum ist Bachmut so wichtig für die Ukraine?

Sie ist ein Schlüsselbereich einer Verteidigungslinie, deren Fall es den Russen ermöglichen würde, Kramatorsk und anschliessend die weiten Ebenen des Dnepr zu erreichen. Daher ist es für die Ukrainer von grosser Bedeutung. Die Russen beherrschen die operative Kunst, das bedeutet, dass sie bereit sind, ein Gebiet aufzugeben, um das Leben ihrer Soldaten zu schonen, um es später unter günstigeren Bedingungen zurückzuerobern. Das Problem ist, dass die Ukrainer nicht über diese Fähigkeit verfügen: Wenn sie Land verlieren, ist es unwahrscheinlich, dass sie es zurückerobern können. Das ist der Grund, warum die Russen die Sektoren Charkow (September 2022) und Cherson (Oktober 2022) aufgegeben hatten: Sie hatten praktisch keine Verluste, während die Ukrainer Tausende von Toten zu beklagen hatten. Dies ist auch der Grund, warum die Ukrainer es vorziehen, sich an das Gelände zu klammern. Die kürzlich angekündigten ukrainischen Gegenangriffe in Bachmut schlugen alle fehl.

Für die Russen stellt sich die Situation anders dar. Es ist nicht klar, ob sie wirklich beabsichtigen, weiter in ukrainisches Gebiet vorzudringen. Ausserdem ist bekannt, dass sie nicht das Ziel hatten, die Stadt Bachmut einzunehmen, sondern lediglich die Verteidiger der Stadt zu zerstören. Letztendlich hat es ihnen Selenskij leicht gemacht und seine Männer sind unnötig gestorben. Aus diesem Grund ist die Lage Selenskijs innenpolitisch äusserst prekär. Er geniesst nicht mehr das Vertrauen seiner Männer und der Bevölkerung. Im Jahr 2022 verzeichneten die Universitäten einen Anstieg der Studentenzahlen um 82 Prozent und einige Universitäten verzwölffachten ihre Studentenzahlen sogar!11 Die Ukrainer wollen nicht mehr in den Kampf ziehen.

Man sieht, dass Russland in den Oblasten, die sich für autonom erklärt haben, nicht weiter vorrückt. Ist das dort die gleiche Strategie?

Ich weiss nicht, welche Strategie Russland in Bezug auf diese Gebiete verfolgt. Saporoshje und Cherson sind nicht vollständig unter russischer Kontrolle. Aber ich möchte daran erinnern, dass das Ziel der Russen seit Februar 2022 nicht darin bestand, Gebiete zu erobern oder gar die Ukraine zu besetzen, sondern die Bedrohung der Bevölkerung im Donbas durch «Entmilitarisierung» und zu «Entnazifizierung» zu beenden. Sie erreichten das Ziel der «Entnazifizierung» Ende März 2022 und das Ziel der (De-facto-)«Demilitarisierung» ein erstes Mal Ende Mai 2022 (mit der Zerstörung der militärischen Ausrüstung) und ein zweites Mal Ende 2022 (mit der Zerstörung des menschlichen Potenzials). Deshalb ist die Ukraine seit Juni 2022 von westlicher Militärunterstützung abhängig und befindet sich in der elften Truppenmobilisierung. Wie Sergei Lawrow bereits sagte, mussten die Russen, um die Stationierung von Langstreckenwaffen zu verhindern, vorrücken und Territorium erobern, und sie haben sicherlich nicht die Absicht, es wieder zu verlassen. Berichte, in denen behauptet wird, dass die Russen die Ukraine erobern oder Kiew besetzen wollen, verbreiten lediglich dumme Spekulationen. Das kommt von Leuten, die den Russen nie zugehört haben. Hätte man auf das gehört, was Wladimir Putin sagte, anstatt aus seinen Reden Verschwörungstheorien zu konstruieren, und hätte man Wolodymir Selenskij im Februar und März 2022 so verhandeln lassen, wie er es wollte, wären diese Gebiete heute wahrscheinlich ukrainisch.

Es ist doch interessant, dass man bis heute davon spricht, dass Putin nach Westen gehen und das Baltikum oder Polen usw. erobern will, obwohl die Realität offensichtlich eine ganz andere ist.

Das ist völlig idiotisch. Estland hat der Ukraine seine gesamte Artillerie zur Verfügung gestellt. Das bedeutet eindeutig, dass die Esten nicht ernsthaft glauben, dass ihr Land bedroht ist. Wer solche Märchen verbreitet, hat keinerlei Analyse der Situation vorgenommen. Deshalb sage ich, dass unsere Schweizer Medien, wie zum Beispiel der «Blick» und die «NZZ», die Totengräber der Ukraine sind. Natürlich sind sie nicht die einzigen, aber in Europa haben unsere Medien mehr Propaganda als Information betrieben.

Wenn Sie Sun Tzu lesen, werden Sie feststellen, dass Sie, wenn Sie einen Kampf gewinnen wollen, schwächer erscheinen müssen, als Sie tatsächlich sind. Dazu dient die Desinformation im Krieg. Das Lustige ist, dass Russland diese Arbeit nicht machen musste: Unsere Medien haben es getan! Laut ihnen hatte Russland im März 2022 keine Raketen mehr, keine Artillerie,12 keine Luftwaffe, keine Generäle, keine Kampfpanzer,13 sie verloren alle ihre Männer, sie hatten eine schlechte Führung und eine schlechte Logistik.

Unsere Medien haben also unsere Führer – und wahrscheinlich auch die ukrainischen Führer – dazu gebracht, den schlimmsten Fehler zu begehen, den man im Krieg machen kann: den Gegner zu unterschätzen. Damit haben sie zur Zerstörung der Ukraine beigetragen und sind in hohem Masse mitverantwortlich für die Situation, in der sich das Land befindet.

Unsere Medien wie auch unsere Politiker haben «wishful thinking» betrieben, sie haben ihre Wünsche als Tatsachen dargestellt. Damit haben unsere Politiker und die Ukraine selbst eine völlig falsche Richtung eingeschlagen. Wenn ich Ukrainer wäre, würde ich auf diese Medien schimpfen, weil sie die Ukrainer in eine völlig falsche Richtung gelenkt und sie in der Vorstellung bestärkt haben, dass sie die Russen besiegen können und deshalb den Krieg fortsetzen müssen.

Die Medien haben in der letzten Zeit immer wieder berichtet, dass die ukrainische Offensive bevorstehe und die Russen Angst vor dieser hätten. Das gehört wohl ins gleiche Kapitel der von ihnen dargestellten Berichterstattung. Wo bleibt denn die ukrainische Offensive?

Selenskij hat kürzlich verlauten lassen, dass er für diese Gegenoffensive mehr Zeit benötige. Der Westen glaubt nicht mehr an diese Gegenoffensive, sondern will nun einen «Return on Investment». Präsident Biden hat bereits Material im Wert von 20 Milliarden US-Dollar aus US-Beständen abgezogen, um die Ukraine zu bewaffnen.14 Das ist etwas weniger als das Vierfache des jährlichen ukrainischen Verteidigungshaushalts!15 Nächstes Jahr will er als Präsidentschaftskandidat antreten, aber die Bilanz seiner Politik in der Ukraine könnte sich gegen ihn wenden.

Was die ukrainische Gegenoffensive betrifft, so ist sie die gleiche, die seit dem letzten Sommer geplant ist. Im letzten Sommer hatte Selenskij angekündigt, dass er eine Offensive mit einer Million Menschen durchführen würde. Er fügte hinzu, dass es bislang 700 000 waren. Bisher hat er nur 200 000. Die Aussage, dass es 700 000 seien, wurde auch vom Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Salushni, verbreitet, aber sie wollen eine Offensive mit einer Million Menschen durchführen. Diese Offensive wurde im letzten Jahr auf den Herbst, im Dezember auf den Winter verschoben. Wir erwarteten sie zu Weihnachten, dann im Januar, Februar und März. Jetzt sind die ersten Panzer in der Ukraine angekommen, weil die westlichen Länder Waffen geschickt haben. Jetzt sagt die Ukraine, dass sie diese Offensive starten wird. Selenskij sagte letzte Woche der BBC, dass er noch etwas mehr Zeit brauche. Das bedeutet, dass sie diese Offensive nicht starten können.

Im März 2019, kurz vor der Wahl Selenskijs, erklärte Oleksei Arestovitch, ein Berater und enger Vertrauter Selenskijs, in einem Interview im ukrainischen Fernsehen, dass die Ukraine einen Krieg mit Russland brauche, um in die Nato aufgenommen zu werden.16 Genauer gesagt sagte er, dass die Ukraine eine Niederlage Russlands benötige. Diese Niederlage musste zum Zerfall Russlands führen und sollte diese Bedrohung beseitigen. Diese Bedingung war notwendig, da die Ukraine nicht im Konflikt mit Russland der Nato beitreten konnte: Das Risiko, Artikel 5 des Nato-Vertrags anwenden zu müssen, war zu gross. Aber Arestowitsch sagte dann sehr deutlich, dass diese Niederlage Russlands mit Hilfe der Nato-Länder bei der Bereitstellung von Waffen, Truppen und der Einrichtung einer «No-Fly-Zone» über der Ukraine erreicht werden müsse. Mit anderen Worten: Die Ukraine war bereit, mit Russland in den Krieg zu ziehen, sofern die westlichen Länder sich verpflichteten, die Ukraine aktiv zu unterstützen. Die Ukraine hat ihren Teil der Abmachung eingehalten, aber der Westen hat nicht wirklich eingegriffen, weshalb Selenskij zusätzliche Waffen fordert.

Heute reichen diese westlichen Waffen nicht mehr aus, um einen entscheidenden Sieg gegen Russland herbeizuführen. Die Erwartungen sind enorm, aber die Realität ist bescheidener. Aus diesem Grund liefert der Westen heute Waffen, die er noch vor wenigen Monaten nicht liefern wollte.

Die Panzer Leopard 2 und Challenger scheinen für das ukrainische Gelände schlecht geeignet zu sein, die Artilleriesysteme M777 und 155 mm CAESAR sind für diesen Krieg zu zerbrechlich, die HIMARS und die gelenkten Bomben JDAM-ER sind aufgrund der russischen Gegenmassnahmen unwirksam geworden, die an die Ukraine gelieferten Patriot-Flugabwehrraketen (deren Kauf auch die Schweiz plant) scheinen gegen die russischen Hyperschallraketen wenig wirksam zu sein. Selenskij hat sich wiederholt über die westlichen Materialien beschwert. Der Westen will nun ein Ergebnis sehen, und das ist der Grund für Selenskijs Welttournee, um neue Waffen zu beschaffen.

Der Westen hat es eilig, etwas zu sehen, das wie ein Erfolg aussieht, damit er ohne Gesichtsverlust eine Lösung finden kann, und die Ukrainer haben es mit ihrer Gegenoffensive nicht eilig, weil sie wissen, dass sie einen hohen Preis zahlen müssen.

Die Drohnenangriffe, die die Ukraine in der letzten Zeit durchgeführt hatte und dabei z. B. ein Treibstofflager traf, wurden in unseren Medien als grosser Erfolg der Ukraine gewertet. Wie muss man das aus militärischer Sicht beurteilen?

Dies ist Teil der terrorismusähnlichen Anschläge, die von unseren Medien unterstützt werden. Sie sind terroristisch, weil sie keine Auswirkungen auf den Verlauf der Kampfhandlungen haben und nur dazu dienen, bei der Zivilbevölkerung ein Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen. In diesem Fall handelte es sich um ein Treibstofflager, und die Schäden waren sehr begrenzt. Es war sehr spektakulär, aber der Schaden war minimal. Offensichtlich hat es nicht einmal die militärische Logistik berührt. Es gibt keinen guten oder schlechten Terrorismus. Es gibt nur Terrorismus.

Das zeigt eine Entwicklung unserer Medien, die den Terrorismus unterstützen, wenn er von den Ukrainern angeführt wird, ihn aber sehr scharf verurteilen, wenn er aus den arabischen Ländern kommt. Wir haben bereits die Schweizer Medien zitiert, die diese zwiespältige Haltung einnehmen, die aber nicht sehr überraschend ist, wenn man einige Journalisten kennt.

Nachdem die Russen ein Waffenlager in der Ukraine beschossen hatten, gab es in der Atmosphäre eine erhöhte atomare Strahlung. Können Sie sich das erklären?

Vor kurzem haben die Russen ukrainische Waffen- und Munitionsdepots, insbesondere in Pawlograd und Chmelnizkij, getroffen, in denen sich von westlichen Ländern gelieferte Ausrüstung befand. Im Depot in Chmelnizkij befanden sich offenbar von Grossbritannien gelieferte Geschosse mit abgereichertem Uran. Laut einigen Quellen soll die Zerstörung dieses Depots zu einem Anstieg der Gammastrahlung in der Region geführt haben.17 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es schwierig, einen klaren kausalen Zusammenhang zwischen dem Angriff auf das Munitionsdepot und dem Anstieg der Gammastrahlung herzustellen.

Es ist jedoch bekannt, dass der Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran eine dauerhafte Kontamination der Umwelt zur Folge hat, indem er für die Bevölkerung giftigen Staub erzeugt. Allerdings könnte diese Art von panzerbrechender Munition leicht durch Wolfram-Munition ersetzt werden, die für die Bevölkerung nicht so gefährlich ist. So stellt man fest, dass die ukrainische Regierung offenbar keine Skrupel hat, für die Zivilbevölkerung so gefährliche Munition in der Donbas-Region einzusetzen.

Übrigens hat weder ein westliches Land noch eine europäische Umweltpartei auf die britische Entscheidung reagiert, diese Waffen zu liefern, die bereits in Serbien für Kontroversen gesorgt hatten.18 Aber wer sollte sich um das Leben von «Untermenschen» sorgen?

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

¹ http://en.kremlin.ru/events/president/transcripts/67843
² https://www.hrw.org/news/2016/07/12/human-rights-watch-letter-prime-minister-justin-trudeau
³ «Нардеп від ‹Слуги народу› Семінський заявив про «позбавлення конституційних прав росіян, які проживають в Україні»», AP News, 2 juillet 2021 (https://apnews.com.ua/ua/news/nardep-vid-slugi-narodu-seminskii-zayaviv-pro-pozbavlennya-konstitutciinikh-prav-rosiyan-yaki-prozhivaiut-v-ukraini/)
4 «Ukraine dependent on arms from allies after exhausting Soviet-era weaponry», RFI, 10 juin 2022 (https://www.rfi.fr/en/ukraine-dependent-on-arms-from-allies-after-exhausting-soviet-era-weaponry)
5 Max Hunder, «Ukraine’s President Fires Spy Chief and Top State Prosecutor», Reuters/US News, 17 juillet 2022 (https://www.usnews.com/news/world/articles/2022-07-17/ukraines-president-fires-security-service-chief-and-prosecutor-general)
⁶ «Ukraine attacks Russian-held Kherson, plans counterattack», aljazeerah, 12 July 2022 (https://www.aljazeera.com/news/2022/7/12/ukraine-strikes-russian-held-kherson-as-kyiv-plans-counterattack)
7 «Суровикин: российская группировка на Украине методично ‹перемалывает› войска противника», TASS, 18 octobre 2022 (https://tass.ru/armiya-i-opk/16090805)
8 «Darum wird die Rückeroberung der Krim ein Blutbad», Blick, 29.11.2022 (Aktualisiert: 30.11.2022) (https://www.blick.ch/ausland/experten-sehen-neue-eskalationsstufe-darum-wird-die-rueckeroberung-der-krim-ein-blutbad-id18098469.html)
9 «Après avoir repris plus de 50% du territoire perdu en février, le plus dur reste à faire pour l'Ukraine», RTS.ch. 23.11.2022 (https://www.rts.ch/info/monde/13565087-apres-avoir-repris-plus-de-50-du-territoire-perdu-en-fevrier-le-plus-dur-reste-a-faire-pour-lukraine.html)
10 Thomas Gibbons-Neff & Natalia Yermak, «In Ukraine, Bakhmut Becomes a Bloody Vortex for 2 Militaries», The New York Times, 27.11.2023 (https://www.nytimes.com/2022/11/27/world/europe/ukraine-war-bakhmut.html)
11 https://gordonua.com/ukr/news/society/v-ukrajini-za-rik-vijni-kilkist-cholovikiv-studentiv-platnoji-formi-navchannja-zrosla-na-82-u-dejakih-vishah-u-12-raziv-zmi-1661079.html
12 https://www.bbc.com/afrique/monde-63276927
13 https://www.dhnet.be/actu/monde/2022/08/24/la-russie-fait-face-a-une-penurie-de-munitions-de-vehicules-et-de-personnel-leur-moral-est-au-plus-bas-V7KDYW7UAJCH3MNO4BNJUXBS6E/
14 https://comptroller.defense.gov/Budget-Execution/pda_announcements/
15 https://tradingeconomics.com/ukraine/military-expenditure
16 «UKRAINE 24: Ukrainian Nostradamus who predicted war with russia in 2019 with stunning accuracy», YouTube, 3 avril 2022 (https://www.youtube.com/watch?v=RZ3GsYPRkv4)
17 Yevgeny Kuklychev, «Huge ‹Mushroom› Blast in Khmelnytskyi Reignites ‹Depleted Uranium› Claims», Newsweek, 15.05.2023 (https://www.newsweek.com/huge-mushroom-blast-khmelnytskyi-reignites-depleted-uranium-claims-1800443)
18 https://www.thelancet.com/journals/lanonc/article/PIIS1470-2045(21)00397-1/fulltext

 

Die «Zeitenwende» in der Weltpolitik

«Die chinesische Aussenpolitik hat ein Interesse an Frieden und Stabilität»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Weltpolitik ist in den letzten Wochen und Monaten in Bewegung gekommen. Wie nehmen Sie das wahr?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die eigentliche «Zeitenwende» vollzieht sich gerade, ohne dass man es im Westen angemessen zur Kenntnis nimmt. Wir erleben in grossen Teilen der Welt ein Ende der westlichen Vorherrschaft. Das kann man zum Beispiel in Afrika beobachten. Man könnte den 10. März 2023 als «Zeitenwendepunkt» ausmachen. Das war in Peking der Handschlag zwischen dem saudischen und dem iranischen Vertreter. Damit haben unter Vermittlung von China beide Staaten zumindest vordergründig ihre Feindschaft beendet und eine gemeinsame Kooperation vereinbart, was sich zum Beispiel direkt auf den Konflikt im Jemen auswirkt. Der Jemenkrieg ist neben dem Ukrainekrieg der schlimmste Krieg der Gegenwart. Wir reden immer nur über die Ukraine, aber der Jemenkrieg hat ebenfalls unendlich viel Leid, Elend und Zerstörung über das Land und seine Bevölkerung gebracht. Bisher gab es nach Uno-Angaben über 400 000 Tote. Er ist ein Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien. Aufgrund der Kooperationsvereinbarung zwischen beiden Staaten gibt es jetzt Friedensverhandlungen und den Austausch von Gefangenen, ohne dass es in den Medien hier einen angemessenen Niederschlag findet. Das ist meines Wissens das erste Mal, dass China in einem Konflikt im Mittleren Osten als Verhandlungs- oder Friedensmacht auftritt. Das ist bisher das Feld, auf dem die USA und Europa federführend waren. Ich habe das als ganz wichtiges Ereignis wahrgenommen. Es vollzieht sich gerade im Hintergrund eine Neuordnung der internationalen Beziehungen.

Sie bezeichnen diesen Vorgang als «Zeitenwende». Wie kann man erklären, dass sich die Entwicklung gerade im Moment vollzieht?

Die Ursachen sehe ich vor allem im Aufstieg Chinas und seiner wachsenden Macht, aber auch in der Entwicklung der BRICS-Staaten, sowie im relativen Niedergang der USA. Der Anteil der USA am Weltsozialprodukt sinkt kontinuierlich, ebenso derjenige der EU. Entsprechend steigt der Anteil Chinas und der BRICS-Staaten, wodurch sich das Kräfteverhältnis verschiebt. Auch werden immer mehr Wirtschaftsverträge ausgehandelt, bei denen nicht mehr der Dollar als Zahlungsmittel gilt. Das ist eine Entwicklung, die diese Veränderung widerspiegelt und dabei den wichtigsten Faktor darstellt. Wir erleben gerade den Übergang von einer bipolaren Weltordnung unter der Führung der USA hin zu einer multipolaren Weltordnung. Die grosse Aufgabe wird sein, diesen Übergang möglichst friedlich vollziehen zu können.

Gibt es bei der ganzen Entwicklung auch einen Zusammenhang zum Ukrainekrieg? Hat er diesen Prozess unterstützt?

Der Krieg hat die Entwicklung auf jeden Fall beschleunigt. Es gibt als Reaktionen auf den Ukrainekrieg und den Einmarsch Russ­lands, den Versuch der westlichen Staaten, die ganze Welt zu einer gemeinsamen Front gegen Russ­land zu bewegen. Besonders Deutschland ist hier sehr aktiv. Dieser Versuch scheiterte jedoch signifikant. Dazu gehören die Versuche, Brasilien mit in diese Front zu bekommen, aber auch afrikanische Staaten. Der globale Süden hat aber einen völlig anderen Blick auf den Krieg, als er bei uns dargestellt wird.

Worin unterscheidet sich dort die Beurteilung des Krieges?

Hier wird der Krieg wie aus dem Nichts kommend dargestellt. Zum ersten Mal seit 1945 sei ein Aggressionskrieg vom Zaun gebrochen worden. Es gibt nur schwarz oder weiss. Es gibt einen Aggressor und sonst nur friedliche Demokratien. Das ist im Groben das Bild, das im Westen dargestellt wird. Lula da Silva sieht den Ukraine-Konflikt mehr als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russ­land. Er verurteilt zwar den Einmarsch, und das macht ein grosser Teil der Welt, aber er sagt auch, dass es eine Mitverantwortung des Westens und der Ukraine für den Ausbruch dieses Kriegs gibt. Wenn man wieder zu einem Frieden kommen will, müssen diese Dinge alle auf den Tisch. Das ist die Botschaft Lula da Silvas, aber das könnte genauso gut von der südafrikanischen Aussenministerin kommen oder vom chinesischen Aussenminister.

In der Uno-Generalversammlung gab es doch verschiedene Resolutionen, in denen, wie man im Westen wahrnehmen konnte, Russ­land von einer Mehrheit der Staaten verurteilt wurde. Die letzte war am 24. Februar 2023.

Da muss man genau hinschauen. Eine grosse Mehrheit der Staaten hat den Einmarsch in die Ukraine verurteilt. Aber nicht alle Staaten sind bereit, sich an Sanktionen oder Waffenlieferungen zu beteiligen. Auf der anderen Seite gab es im Uno-Menschenrechtsrat eine Resolution gegen die menschenrechtlichen Auswirkungen unilateraler Sanktionen. Die unilateralen Sanktionen sind ein Instrument, das ausschliesslich die USA und die EU verwenden. Diese Resolution wurde von Russland und Aserbaidschan eingebracht und von 33 Staaten gegen 13 bei einer Enthaltung angenommen – Mexiko hatte sich enthalten. Die 13 Staaten, die dagegen gestimmt hatten, waren ausschliesslich Nato- und EU-Staaten bzw. assoziierte Länder wie die Ukraine und Georgien, die eine Mitgliedsperspektive für Nato und EU haben. Alle übrigen Staaten rund um den Erdball haben der Resolution zugestimmt, auch alle afrikanischen Staaten.

Hat der mexikanische Präsident nicht eine Teilnahme an den Sanktionen gegen Russland abgelehnt und Friedensverhandlungen angeboten?

Ja, Obrador hat Gespräche angeboten, aber nicht in der Intensität, wie das Lula da Silva macht. Über vom Menschenrechtsrat verabschiedete die Resolution wird nicht berichtet, dafür aber gross über die Resolution vom 24. Februar in der Uno-Generalversammlung, jedoch völlig verzerrt. Über den Paragraphen, der in der Resolution Friedensgespräche verlangt, wurde nicht berichtet. Diese Resolution wurde von Deutschland in Abstimmung mit Brasilien eingebracht. Die Deutschen gingen auf die Brasilianer zu, um sie für die Beteiligung an der Resolution zu gewinnen. Die Brasilianer verlangten aber, dass noch zusätzliche Punkte darin aufgenommen werden, nämlich die Verpflichtung Friedensverhandlungen zu beginnen. Die Deutschen mussten das schlucken, denn sie wollten die Brasilianer mit an Bord haben, damit eine grosse Mehrheit zustande kommt, die der Resolution zustimmt.

Deutschland hat die Resolution eingebracht und unterschrieben. Damit verpflichtet es sich doch, sich für den Frieden und die Beendigung des Krieges einzusetzen.

Ja. Auch die Uno-Charta verpflichtet, nach Friedenslösungen zu suchen. Allerdings glauben massgebliche Teile der deutschen Bundesregierung immer noch an einen militärischen Sieg.

Lassen Sie uns noch auf Ihre Reise nach Afrika zu sprechen kommen, die doch im Zusammenhang mit dem vorher Gesagten zu verstehen ist.

Ich war in Mali und in Niger zusammen mit dem deutschen Verteidigungsminister Pistorius und anderen Abgeordneten. Mali war der grösste Auslandseinsatz der Bundeswehr mit über 1000 Soldaten. Wie der andere grosse Auslandseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan, war der in Mali ebenfalls ein Fiasko. Nach zehn Jahren soll jetzt abgezogen werden. Die Deutschen waren vor allem dort, um ihre Drohnen, «Luna» und «Heron» fliegen zu lassen. Das Ziel war, der offiziellen Uno-Mission «MInusma» Bilder zur Verfügung zu stellen. Doch nach vielfachen Luftraumverletzungen der Franzosen, die in einem Bündnis mit den Deutschen dort waren, verschärfte die malische Regierung die Regelungen für den Einsatz der Drohnen, so dass man sie nur begrenzt fliegen lassen konnte. Seitdem ist es für die Europäer nicht mehr interessant, und sie haben beschlossen, sich aus dem Land zurückzuziehen. Dazu orientiert sich die malische Regierung heute eher an Russland.

Was war eigentlich der Hintergrund des Einsatzes der Franzosen und der Deutschen?

Im Rahmen der erwähnten Uno-Mission waren die Länder mit der Terrorbekämpfung in Mali beauftragt. Es gab dort verschiedene Terrorgruppen, die unter anderem vom islamischen Staat kommen. Dabei handelt es sich sozusagen um einen grossen Uno-Einsatz. Natürlich geht es bei den Franzosen sowohl in Mali als auch in Niger, dem Nachbarstaat Malis, um postkoloniale Interessen. Mali ist eine ehemalige französische Kolonie, die verschiedene Bodenschätze besitzt, insbesondere Uran für die französischen Atomkraftwerke. Das ist sicher einer der Hauptgründe, warum die Franzosen dort waren. Wenn man den Berichten Glauben schenken kann, sind die Franzosen in postkolonialer Manier dort aufgetreten und sind daher in beiden Ländern sehr verhasst. Die Franzosen waren schon vorher aus Mali abgezogen, auch die Briten und Schweden zogen bereits ab. Die über 1000 deutschen Soldaten sollen nun Mali auch verlassen. Das war der Grund, warum diese Reise stattfand. Es war einerseits ein Truppenbesuch und Gespräche mit der malischen Regierung, andererseits ein Besuch in Niger, denn dort soll jetzt – quasi als Ersatz für Mali – das deutsche Kontingent aufgebaut werden.

Warum waren Sie bei diesem Besuch dabei?

Der Verteidigungsminister sowie die Entwicklungsministerin planten die Reise, und in dem Fall gibt es die Möglichkeit für Parlamentarier, diese Reise zu begleiten. Das ist eine deutsche Tradition, besonders wenn es um Soldatenbesuche geht. Da möchte man gerne, dass Abgeordnete mitreisen. Die Einladung geht an die verschiedenen Fraktionen. Als stellvertretendes Mitglied des Verteidigungsausschusses reiste ich mit. Das ist der formale Hintergrund.

Es ist offensichtlich zu erkennen, dass sich in der ganzen Sahelzone eine Entwicklung vollzieht, die aus westlicher Sicht sehr kritisch betrachtet wird. Die Staaten entfernen sich zunehmend vom Westen – bis auf Niger. Das ist der einzige Staat, der bis heute noch eine pro westliche Orientierung hat. Niger wird jetzt als die demokratische Oase in der Region dargestellt, wobei sich die Staaten wenig unterscheiden. Niger ist der Staat mit dem schlechtesten Wert des Human Development Index. Das Land steht weltweit an drittletzter Stelle. Der Präsident orientiert sich am Westen. Dagegen wird allerdings protestiert, was im Moment verboten ist. Es gab grosse Proteste in den Städten gegen die Präsenz der ausländischen Soldaten, zum Teil schwenkten einzelne die russische Fahne. Es gibt also Leute, die sich eher an Russland orientieren wollen. Vor dem Hintergrund der Westorientierung steht die Umgruppierung der deutschen Soldaten in der Sahelzone. Für den Abzug der deutschen Truppen will man sich ein Jahr Zeit lassen. Stattdessen soll ein neuer Stützpunkt in Niger mit einem neuen Mandat aufgebaut werden, was der Bundestag am 28. April beschlossen hat. Niger soll perspektivisch zu einer Drehscheibe in der Sahelzone ausgebaut werden.

Hat denn Niger die Deutschen um Unterstützung angefragt?

Offiziell hatte Niger um Unterstützung angefragt. Auch Mali hatte 2013 die Deutschen angefragt, bevor der Einsatz dort begann. Die Formulierungen im Mandatstext, der vom Bundestag 2013 beschlossen wurde, sind jetzt – zehn Jahre später – identisch. «Auf Ersuchen der Regierung in Mali respektive in Niger …»

Kann man die Entwicklung, dass sich die Staaten vom Westen abwenden, mit der von Ihnen erwähnten «Zeitenwende» in Verbindung bringen?

Ja, ich sehe das so. Es war sehr bemerkenswert in dem Gespräch mit dem malischen Verteidigungsminister. Mali hat im Moment eine Militärregierung, die sich als Übergangsregierung versteht und wieder zu Wahlen zurückkehren will. Der Verteidigungsminister Malis antwortet bei diesem Gespräch auf die Frage einer deutschen Grünen, warum Mali bei der Uno-Resolution mit Russland Nein gestimmt habe: «Erstens sind wir ein souveräner Staat, zweitens sind wir blockfrei, drittens wollen wir uns nicht in einen Krieg hineinziehen lassen und viertens sind wir Deutschland gegenüber nicht rechenschaftspflichtig.» Das zeugt von einem Selbstbewusstsein gegenüber einem europäischen Land, das es vor zehn Jahren so nicht gegeben hätte. Das deckt sich mit vielen Erfahrungen der letzten Wochen und Monaten. Als der Bundestagspräsident a. D., Norbert Lammert, in Namibia, einer ehemaligen deutschen Kolonie, auf Besuch war und vor dem zunehmenden Einfluss Chinas gewarnt hatte, reagierte der namibische Präsident sehr gereizt und sagte sinngemäss: immer wenn jemand aus Europa komme, warne man sie vor China. Was hätten sie für eine Obsession mit China, wollte er wissen. Sie entschieden selbst, mit wem sie kooperierten und mit wem nicht, und seien die permanenten Ermahnungen leid, was die Warnungen vor China angehe. 

Diese Haltung stellt man in Afrika häufig fest. Das ist ein Ausdruck der tatsächlichen «Zeitenwende».

Das ist wohl kaum das, was Herr Scholz mit seiner «Zeitenwende» gemeint hat. Wie hat Pistorius auf die Aussagen des malischen Präsidenten reagiert?

Pistorius ist ein Profi, das war sichtbar. Die Frage hatte eine Abgeordnete der Grünen gestellt, die besonders belehrend auftreten. Er hat das dann professionell wegmoderiert. Das Ganze geschah zeitgleich, als Baerbock in China war, und der chinesische Aussenminister sagte, sie seien die Belehrungen und die westlichen Zeigefinger leid.

Man kann ja auch sehr vieles, was in China passiert, kritisch sehen, aber es ist offensichtlich, dass die chinesische Aussenpolitik ein Interesse an Frieden und Stabilität hat und nicht an Krieg. Denn unter anderem nur mit Frieden und Stabilität kann der weitere wirtschaftliche Aufstieg Chinas fortgesetzt werden. Im Grunde genommen ist es Chinas  Ziel, die wirtschaftlichen Beziehungen in grossen Teilen der Welt weiter auszubauen und somit die USA überflügeln zu können. Im Gegensatz neigen die USA dazu, diese Entwicklung mit der Förderung von Konflikten auszubremsen.

Wie wird die Entwicklung in Deutschland wahrgenommen?

Völlig unzureichend. Es gibt erste Diskussionen, in denen auch Indien immer häufiger auftaucht. Das Land wurde als weltpolitischer Akteur in der Öffentlichkeit bislang überhaupt nicht wahrgenommen. Der Philosoph Richard David  Precht, der ein gutes Format im ZDF hat, thematisiert das zunehmend. Politologen und Ökonomen betonen, dass sich Deutschland gegenüber dieser Entwicklung viel offener zeigen und sich nicht zu sehr an die USA ketten solle, wie das momentan der Fall ist.

Die Argumentation, dass Russland isoliert sei, wird eigentlich ad absurdum geführt. Bei Lichte betrachtet, isoliert sich der Westen zunehmend selbst.

Das ist auch das, was ich im Moment wahrnehme. Wenn ich die Debatten und Abstimmungen im Uno-Menschenrechtsrat vergleiche mit der parlamentarischen Versammlung in Strassburg am Europarat, sehe ich gegenläufige Entwicklungen. Im Gegensatz zur Uno sehe ich, wie Europa in der Schwarz-weiss-Haltung verharrt und sich damit isoliert. Der Europarat fanatisiert sich zunehmend und wird immer geopolitscher, was nicht seine Aufgabe ist.

Die Ukrainer haben im Europarat immer massiv Stimmung gegen Russland betrieben. Sie waren es auch, die sich gegen die Wiederaufnahme der russischen Delegation vor vier Jahren mit allen Mitteln gewehrt haben. Jetzt wird es keinen Staat mehr geben, der ein gewisses Gegengewicht schafft zu der antirussischen Einstellung und eine Stimme der Vernunft darstellt.

Ja, so ist es. Auch kam es in der Folge zu einer Verschiebung im Ministerrat. Mit einer 2/3  Mehrheit hat man nun die Aufnahme des Kosovo beschlossen, was eigentlich statutenwidrig ist. Der Europarat als Staatenorganisation kann kein Mitglied aufnehmen, das an der Uno nicht als Staat anerkannt wird. Darüber setzten sich 2/3 der Staaten hinweg. Es gab auch heftige Auseinandersetzungen darum, die noch nicht abgeschlossen sind. Denn der ganze Vorgang geht zur weiteren Beratung in die parlamentarische Versammlung. Es wird jetzt eine Auseinandersetzung darüber geben. Dadurch, dass Russland jetzt draussen ist, verschiebt sich im Europarat die Gemengelage. Das wäre vor zwei Jahren nicht möglich gewesen. Der serbische Aussenminister hat heftig dagegen protestiert.

Wie schätzen Sie diesen Vorgang ein?

Ich bin nicht gegen den Kosovo, aber das Problem muss in Übereinstimmung gelöst werden und nicht durch Verletzung der Statuten des Europarats und nicht in der Polarisierung mit der serbischen Regierung, denn das wird die Spannungen vor Ort nur weiter vorantreiben. 

Wie hat sich Spanien dazu gestellt?

Ich vermute, Spanien war dagegen. Es sind fünf EU-Staaten, die den Kosovo nicht anerkennen mit Blick auf die eigenen Minderheiten und deren Sezessionsbestrebungen, wie es in Spanien der Fall war.

Gibt es einen Grund, warum man diesen Schritt im Ministerrat jetzt vollzieht?

Der Antrag wurde im April 2022 gestellt. Einen Monat nach dem Ausschluss Russlands. Man nutzte die Verschiebung der Kräfteverhältnisse dort, um das voranzutreiben. Die bisherige Haltung des Europarats gegenüber dem Kosovo ist, dass er einen Status hat, aber nicht als Staat. Die bisherige Haltung war relativ klug, mit Einhaltung des Prinzips, der Europarat kümmert sich um Standards, aber nicht um Staaten, sondern um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und nicht um den rechtlichen Status. Das ist die Aufgabe der Uno. Internationale Organisationen werden zunehmend zum Kampffeld für Geopolitik, der Kosovo im Europarat und Taiwan in der WHO. Das schwächt die eigentlichen Anliegen dieser Organisationen.

Wie werden die zuvor dargelegten Entwicklungen auf der politischen Ebene wahrgenommen?

Völlig unzureichend. Es gibt Abgeordnete von anderen Fraktionen, mit denen ich spreche. Wenn ich das Argument bringe, dass ein Grossteil der Welt einen ganz anderen Blick zum Beispiel auf den Ukrainekrieg hat, als das hier darstellt wird, erntet man meistens ein Nicken. Eine ernsthafte Diskussion, aus der entsprechende Konsequenzen gezogen werden, findet jedoch nicht statt. Es ist viel zu viel Moralismus in der Politik. Wenn man Moral einsetzt, muss man ein bisschen analytisch denken. Natürlich braucht es eine Moral auf soliden Grundlagen und gültigen Prinzipien. Aber, was hier vorherrscht, ist eine unglaubliche Doppelmoral.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Brief an einen Freund

von Dr. Stefan Nold

Darmstadt, den 9. Mai 2023

Lieber Thomas,

Heute ist der 9. Mai. Vor 78 Jahren musste die Wehrmacht kapitulieren. Meine Omi hat erzählt, es sei ein schöner Frühlingstag gewesen. Mein Vater war damals auf dem Rückzug irgendwo zwischen Österreich und Ungarn: «Alle haben auf einmal die Waffen weggeworfen und sich die Schulterstücke von der Uniform gerissen.» Wofür man wenige Tage zuvor von Feldmarschall Schörner, dem «blutigen Ferdinand», am nächsten Baum aufgehängt worden war, das war auf einmal normal. Das System, das meinen Vater die gesamte Jugend begleitet hat, angefangen vom Direktor, der zu Schuljahresbeginn in drall sitzender SA-Uniform vor allen Schülern die Hakenkreuzfahne gehisst hat, bis zu dem Offiziersanwärter, der im Herbst 44 im felsenfesten Glauben an den «Endsieg» mit Hilfe meines Vaters eifrig Mathematik gepaukt hatte, um endlich, endlich Offizier zu werden: Alles war mit einem Schlag zusammengebrochen. Danach hat mein Vater für den Rest seines langen Lebens eine distanzierte, ironische Skepsis gegenüber der vorherrschenden öffentlichen Meinung mit all ihren Krakeelern, Schaumschlägern und Wichtigtuern behalten. In jungen Jahren fand ich das nicht gerechtfertigt; für mich war unser System okay, besonders im Vergleich zum Gulag-Kommunismus sowjetischer oder chinesischer Prägung. Das hat sich geändert. Angefangen hat es 2018 mit den Skripals. Ich erinnere mich an einen guten Bericht der BBC ganz zu Beginn, aber dann haben alle Medien trotz haarsträubender Ungereimtheiten die Sichtweise des britischen Geheimdienstes übernommen. Nach gewaltigem monatelangem Hype hat Grossbritannien Vater und Tochter Skripal, eine junge Frau mit einem eigenem Leben in Russ­land, die ihren in England lebenden Vater besucht hatte, verschwinden lassen. Seit Jahren gibt es kein Lebenszeichen von den beiden, es gibt kein Gerichtsverfahren, obwohl bei der Aktion ein Unbeteiligter zu Tode gekommen ist. Mit viel Tam-Tam wurden Kulissen auf die Bühne geschoben und wieder weggeräumt, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten. Das hat weder mit Rechtsstaat noch mit Journalismus etwas zu tun. Dann kam die Corona-Zeit, in der prominente Wissenschaftler bedingungslose Gefolgschaft verlangt hatten: Mehr Inquisition als Diskussion. Die Aufklärung begann mit René Descartes «Je pense, donc se suis»: Ich denke also bin ich, wobei denken immer auch mit Zweifeln verbunden ist. Die heute vorherrschende Haltung ist: «Ich weiss, also bin ich.» Wer zweifelt hat eine schlechte Presse und scheidet aus. In der Oberstufe habe ich eine 15-seitige Ausarbeitung über die Philosophie der Aufklärung geschrieben und «Discours de la méthode» im Original gelesen. Das Referat geriet dann auch viel zu lang und weitschweifig, aber am Ende wich ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, vom Manuskript ab und schloss mit den Worten: «Die Aufklärung erhob den Zweifel zum Prinzip, bis zu dem Punkt, wo sie sich selbst in Frage stellt.» Obwohl – oder vielleicht weil – stets Klassenbester, hatten es die Lehrer nicht leicht mit mir, aber dieser Satz war für beide ein goldener Moment: «Das am Schluss war glänzend»  meinte Franz Dietzel, ein belesener, aber etwas verklemmter Ethik-Lehrer mit theologisch-katholischem Hintergrund.

Lieber Thomas, vor vielen Jahren hast du mir Uwe Timms Buch geschenkt: «Am Beispiel meines Bruders.»¹ Timm verarbeitet darin die Erinnerungen an seinen Bruder Karl-Heinz: «1,85 m gross, blond, blauäugig» (S. 12) An einem kalten Tag im Dezember 1942 reisst er, 18 Jahre alt, von zu Hause aus und meldet sich freiwillig bei der SS-Totenkopfdivision. Er schreibt Briefe, ein Tagebuch: «15.3.1943: Wir gehen auf Charkow vor kleine Reste der Russen… 21. 3: Brückenkopf über den Donez. 75M raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG… (S. 16) 22. 7. 43. Brief an den damals dreijährigen Bruder Uwe: «Wie die Goldmutsch mir schrieb, willst du alle Russen totschiessen und dann mit mir türmen. Also Bub, das geht nicht, wenn das alle machen würden.» (S. 55). Am 11. 8. heisst es im Brief an den Vater: «Wenn nur Russ­land bald kaputt wäre. Man müsste eben das 10-fache an SS-Divisionen haben wie jetzt. Ich glaube, es wäre dann schon soweit, aber wir schaffen es eben noch nicht dieses Jahr.» (S. 24). Nach dem 6. August 1943 gibt es noch einen undatierten Eintrag: «Hiermit schliesse ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.» (S. 120). Zwei Monate später wird er in der Ukraine, am Dnjepr, verwundet und stirbt kurz darauf. Von der SS erhält die Mutter ein Schreiben: «Sehr geehrte Frau Timm! Folgende Eigentumssachen Ihres Sohnes, des am 16. 10. 1943 gefallenen SS-Sturmmannes Karl-Heinz Timm, sind hier eingegangen: 10 Lichtbilder, 1 Kamm, 1 Tube Zahnpasta, 1 Päckchen Tabak, 1 Notizbuch, 1 Verw.-Abz. Schwarz, 1 Verleihungsurkunde zum E.K. II, 1 Besitzzeugnis zum Verw.-Abz. Schwarz, 1 Telegramm, versch. Briefe und Briefpapier. Diese Gegenstände werden Ihnen anliegend überreicht. Heil Hitler!» (S. 31). «Ausgebombt und kurz darauf der Junge gefallen» (S. 34). So sieht es die Familie.

Vater Timm, Jahrgang 1899, ist Kürschner mit abgebrochenem Zoologie-Studium, der sich nach Krieg und Freikorps in Hamburg ein kleines Geschäft aufgebaut hat, wo er Tiere präpariert und ausstopft. Wie so viele seiner, deiner und meiner Generation versucht Uwe Timm zu verstehen, warum alles so gekommen ist. Er zitiert die Ansprache Heinrich Himmlers an die Männer der Waffen-SS am 13. Juli 1941 in Stettin, drei Wochen nach dem Einmarsch in die Sowjetunion: «Dies ist ein Weltanschauungskampf und ein Kampf der Rassen. Bei diesem Kampf steht hier der Nationalsozialismus, eine auf dem Wert unseres germanischen, nordischen Blutes aufgebaute Weltanschauung, steht eine Welt, wie wir sie uns vorstellen: schön, anständig, sozial gerecht, die vielleicht im einzelnen mit manchen Fehlern noch behaftet ist, aber im ganzen eine frohe, schöne, kulturerfüllte Welt, so wie unser Deutschland eben ist. Auf der anderen Seite steht ein 180-Millionen-Volk, ein Gemisch aus Rassen und Völkern, deren Namen schon unaussprechlich sind und deren Gestalt so ist, dass man sie bloss ohne jede Gnade und Barmherzigkeit zusammenschiessen kann.» (S. 33 – 34). Timm schreibt: «Und es hat durchaus System, dass die Leiter der Einsatzgruppen in der Sowjetunion – ausdrücklich von Himmler bevorzugt – Akademiker waren, acht waren Juristen, einer Universitätsprofessor und SS-Standartenführer Blobel, Führer des Sonderkommandos 4a, verantwortlich für den Tod von 60 000 Menschen, war selbstständiger Architekt. Es waren «literarisch, philosophisch und musikalisch gebildete Männer, die… Mozart hörten, Hölderlin lasen. (S. 57–58). Wie verhalten sich die Mozart-Liebhaber heute?  Wenn man den einleitenden Satz von Himmlers Rede abändert in: «Bei diesem Kampf steht hier die westliche Welt, eine auf den Werten der freiheitlichen Demokratie gegründete Weltanschauung», passt der Rest dann in das Deutschland von 2023? Ist es überhaupt erlaubt, eine solche Frage zu stellen, und wenn nein, ist es verboten, weil der Vergleich hinkt oder weil bereits der Gedanke schon unrein ist, und man sich vor bösen Geistern schützen möchte, so wie im Mittelalter mit Knoblauch und Christuskreuz vor Vampiren? Wehret den Anfängen! Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden – Auschwitz auch nicht. Knapp 9 Jahre liegen zwischen dem 30. Januar 1933 und der Wannseekonferenz. Mit uns ist es in einem Jahr schon recht weit gekommen:

«Die Russen sind Barbaren, sie sind gekommen, um unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere Bil-dung zu vernichten... «Brennt in der Hölle, ihr Schweine… Ist Puschkin daran schuld, dass Kriegs-verbrecher in Russland geboren werden? Ja, er ist schuldig. Natürlich ist er schuldig. Sie sind alle schuldig. » Der Text stammt aus dem Buch aus dem Suhrkamp-Verlag. «Der Himmel über Charkiw» des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan. Zhadan hat im letzten Jahr den «Friedenspreis» des deutschen Buchhandels bekommen. 

Lieber Thomas, wenn ich heute diesen langen Brief schreibe, ist das mehr als politisches Interesse. Nein, die Art und Weise, wie Russland und die Russen von allen Seite dämonisiert werden, macht mich krank, es ist abartig, abstossend, pervers. Ich kann gar nicht anders, als dagegen anzuschreiben, ganz egal, was sonst gerade ansteht. Für mich ist es eine existenzielle Frage – im wahrsten Sinne des Wortes: Wenn die Russen den Deutschen damals Gleiches mit Gleichem vergolten hätten, wären weder ich noch meine Kinder, noch meine Enkel auf der Welt und mein Vater irgendwo verscharrt. Unsere Familie hätte es nie gegeben. Wladimir Putin schreibt in seinem Beitrag zum 70. Jahrestag des Kriegsendes: «Aber es gab ja keine einzige Familie, in der nicht jemand gefallen ist. Es gab viel Kummer, viel Unglück, Tragödien. Was verwunderlich ist: Sie empfanden keinen Hass gegenüber dem Feind. Ich kann das, ehrlich gesagt, bis heute nicht ganz begreifen. Meine Mutter war überhaupt ein sehr weichherziger, gütiger Mensch … Sie sagte: «Wie soll man diese Soldaten hassen? Es waren einfache Leute, und sie sind auch im Krieg gefallen.» Das ist erstaunlich. Wir wurden von sowjetischen Büchern und Filmen erzogen … Und wir hassten. Aber bei ihr war das aus irgendeinem Grund überhaupt nicht so. Ich habe mir ihre Worte eingeprägt: «Was will man denn von ihnen? Sie waren fleissige Arbeiter wie wir auch. Man hat sie einfach an die Front getrieben.» Von Kindheit an erinnere ich mich an diese Worte.»² Beim Lesen von Putins Zeilen steigen vor meinem Auge die Bilder der russischen Babuschkas mit ihren schönen Liedern auf, von denen mein Vater oft erzählt hat, oder von den zwei  jüdischen Vorarbeiterinnen in der Glasfabrik in Saratow, die sich schützend vor meinen Vater gestellt haben, als ein alter Glasbläser, vermutlich von einer bösen Erinnerung gepackt, plötzlich und völlig unerwartet auf ihn los gegangen ist, als er gerade, mit einer grossen, schweren Glasscheibe beladen, am Arbeitsplatz des alten Mannes vorbei gegangen ist. Mein Vater hat viel von seiner Zeit in Russland erzählt. Auch wenn er ausser «dawai, dawai» (schnell, schnell), «rabota» (Arbeit) und «Natschalnik» (Vorarbeiter) kaum russische Worte konnte, so hat er doch die Menschen dort kennen und schätzen gelernt. Die Bücher der russischen Klassiker waren mit die ersten, die meine Eltern gekauft haben. Mit 17 habe ich Tolstoi gelesen. Lewin, der eigentliche Held aus «Anna Karenina», hat meinem gesamten Leben bis heute die Orientierung gegeben: Durch ihn hat es «einen unbezweifelbaren Sinn» bekommen: «Er liegt in dem Guten, das ich in jeden Augenblick meines Daseins hineinzulegen vermag.» So beendet Tolstoi seinen grossen Roman. Aus England kommt die Tendenz, die Dinge presto und präzise auf den Punkt zu bringen. Das ist eine grosse Hilfe – aber sie schafft eine kriegerische Arroganz, die zusammen mit Morbus Money unsere Erde wieder «wüst und leer» machen kann.

Von den Kreuzzügen ins Heilige Land über die blutige Kolonialisierung Afrikas und Amerikas, die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts bis in die heutige Zeit sind die Menschen auf beiden Seiten stets mit dem unerschütterlichen Glauben an die eigene gute Sache in den Krieg gezogen. Früher haben die Kirchen von den Kanzeln Begleitmusik und Rechtfertigung geliefert, bis sie nach und nach von Medien und Propaganda ersetzt wurden. Diese Erkenntnis hat Bertolt Brecht 1914, als 16-jähriger Gymnasiast, in ein Gedicht gegossen:

Moderne Legende

Als der Abend übers Schlachtfeld wehte

waren die Feinde geschlagen.

Klingend die Telegraphendrähte

haben die Kunde hinausgetragen.

Da schwoll am einen Ende der Welt

ein Heulen, das am Himmelsgewölbe zerschellt‘

ein Schrei, der aus rasenden Mündern quoll

und wahnsinnstrunken zum Himmel schwoll.

Tausend Lippen wurden vom Fluchen blass,

tausend Hände ballten sich wild im Hass.

Und am andern Ende der Welt

ein Jauchzen am Himmelsgewölbe zerschellt‘

ein Jubeln, ein Toben, ein Rasen der Lust,

ein freies Aufatmen und Recken der Brust.

Tausend Lippen wühlten im alten Gebet,

tausend Hände falteten fromm sich und stet.

In der Nacht noch spät

sangen die Telegraphendräht‘

von den Toten, die auf dem Schlachtfeld geblieben – –

siehe, da ward es still bei Freunden und Feinden.

– – –

Nur die Mütter weinten

hüben – und drüben.

 

Ernst Busch hat daraus ein durch Mark und Bein gehendes Lied gemacht.² Meine Eltern hatten mehrere Schallplatten von Ernst Busch mit Vertonungen von Brecht, Tucholsky und Liedern aus dem spanischen Bürgerkrieg, die ich alle viele hundert Mal gehört habe. Damit bin ich gross geworden, nicht mit den Beatles. Dennoch waren meine Eltern keine Kommunisten wie die von Richard David Precht. «Lenin kam nur bis Lüdenscheid» – aber Dostojewski hat es bis Bad Ems geschafft, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Dort, «in dieser wunderbaren Harmonie von Berg und Tal» hat er bei mehreren Kuraufenthalten die Brüder Karamasoff entworfen und im Sommer 1879 fertig gestellt: Aljoscha ist in Ems entstanden – ebenso wie wenige Jahre zuvor die Emser Depesche, mit der das Unheil des letzten Jahrhunderts seinen Anfang genommen hat.

In den letzten 100 Jahren haben wir viele Fortschritte gemacht, privat, technisch, wirtschaftlich. Vor 100 Jahren waren Gefühlskälte, Prügel und bittere Not Alltag. Wirtschaftliche Existenzen wurden von einem auf den anderen Tag vernichtet – ohne Netz und doppeltem Boden. Da hat sich viel zum Guten entwickelt, auch wenn heute viele Ehen in die Brüche gehen und zwischen Helikoptern und anderweitig abgelenkten Eltern die gesunde Mitte verloren zu gehen scheint. Daran wird unsere Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten noch zu knabbern haben. Geistig und kulturell sind wir in jedem Fall auf dem absteigenden Ast. In dieser Beziehung war die Weimarer Republik ein Höhepunkt in der deutschen Geschichte, der wohl nie wiederkommt. 1926, dem Jahr, in dem mein Vater geboren wurde, stürmte die schwarze Tänzerin Josephine Baker nackt und unbekümmert die Berliner Bühnen und begeisterte das Publikum. Keine 10 Jahre später jubelten die Menschen in der gleichen Stadt dem Hitler zu. Die damals in die USA emigrierten Künstler wie z. B. Billy Wilder oder Ernst Lubitsch haben dieses heitere, selbstironische Flair für einige Jahre in die Neue Welt retten können. Heute ist nichts mehr davon übrig. Nur die Streifen von damals, wie «Manche mögen‘s heiss», «Rendezvous nach Ladenschluss» «Avanti, avanti» oder «Eins, zwei, drei», die zum Glück immer noch im Fernsehen gezeigt werden, erinnern an eine vergangene Zeit, in der Gewagtes nicht gecancelt wurde, sondern mit einem nonchalanten Augenzwinkern Furore machte.

Heute, wo handzahme Hofnarren die Herrschaft hofieren, scheinen meine Zeilen die letzten Klopf-zeichen aus einem längst zusammengestürzten Gebäude zu sein. Nur mit Humor können wir uns über die dunklen Jahre, die vor uns liegen, retten …

Lieber Thomas, ich wünsche Dir, A … und uns noch viele Jahre eines heiteren, unbeschwerten Ruhestands, trotz aller dunkler Wolken, die sich über Europa zusammenbrauen.

 Wenn wir jetzt unseren Humor verlieren, verlieren wir alles…

PS: Vielleicht interessieren dich die Quellen, die nicht so im öffentlichen Bewusstsein sind:

¹ Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Zuerst erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003
² www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html
³ www.youtube.com/watch?v=pIt1woVU9HQ

Internet und Google können für den Einzelnen phänomenale Werkzeuge zur Suche und zur Weitergabe von Information sein. Leider werden sie auch von den Mächtigen missbraucht.

Wahlbeobachtung in den kurdischen Gebieten der Türkei: «Unsere Muttersprache beinhaltet unsere Seele»

«Die Rechte, die Ihr habt, wollen wir auch haben, das Recht auf unsere eigenen Wurzeln, auf unsere Geschichte und auf unsere Tradition»

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger, Diyarbakir/Amed

Am 14. Mai fanden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Im Vorfeld lud die kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) Leute aus anderen Ländern ein, um die Wahlen zu beobachten. Eine Delegation aus Zürich sowie zwei Parlamentarier aus Bern bildeten eine Delegation von 12 Personen und reisten zu den Wahlen nach Diyarbakir, dem kurdischen Amed. Einige Tage vor den Wahlen angereist, ergab sich die Gelegenheit in einer kurdischen Familie zu Gast zu sein und mit Vertretern kurdischer Organisationen zu sprechen.

Beim Anflug auf die Stadt Diyarbakir wird deutlich, wo die Felder enden und die Neubauquartiere mit grosszügigen Grünflächen und Spielplätzen beginnen. Dort sind wir zu viert zu Gast in einer kurdischen Familie, deren Sohn in der Schweiz politisches Asyl gefunden hat. Von seiner Familie herzlich willkommen geheissen, legen wir unsere Schuhe vor der Wohnungstüre ab und sitzen schon bald bei einem kurdischen Frühstück. Gäste sind – man hat eine grosse Verwandtschaft – eine Selbstverständlichkeit, und zusätzliche Matratzen und Decken sind immer vorhanden. Zu viert sind wir im Schlafzimmer der Eltern untergebracht. Der Vater schläft in der Stube, und die Mutter in der Sofaecke, die an die Küche grenzt. In den neuen Quartieren sind  die Wohnungen 100 bis 200 m² gross. «Für unsere Familien haben wir gerne viel Platz», erklärt uns der Vater, ein ehemaliger Gabelstaplerfahrer.

In den neuen Quartieren sind keine Erdbebenschäden zu sehen. «Die neuen Häuser haben sehr gute Fundamente. Sie wurden gemäss den staatlichen Baugesetzen erdbebensicher gebaut. Wir haben auch hier das Erdbeben gespürt, aber es gab keine Schäden», so der Vater.¹ Wir brechen auf, um in der Stadt eine private kurdische Bildungseinrichtung zu besuchen. Vor der Wohnungstüre haben unsere aufmerksamen Gastgeber unsere Schuhe bereits in Gehrichtung aufgereiht.

«Unsere Muttersprache beinhaltet unsere Seele»

In der Bildungseinrichtung (Kindergarten, 1. Klasse bis Ende Gymnasium, Kinderverein) werden wir von jungen Mitarbeitern herzlich empfangen. Unterrichtet wird auf Kurdisch. Englisch kann als Fremdsprache gewählt werden. Es gibt Theaterprojekte und Philosophiekurse. Ein Schwerpunkt ist die musische Erziehung. Jedes Kind lernt ein Instrument. Ab dem Kindergarten erhalten die Kinder Musikunterricht. Der Kinderverein macht unter anderem unter Mitwirkung der Kinder kurdische Kindersendungen.

Ein junger Projektkoordinator und eine junge Projektkoordinatorin, sie ist ausgebildete Türkischlehrerin und lehrt hier Kurdisch, führen uns durch das schön eingerichtete Schulhaus. Ziel der Bildungseinrichtung ist, die kurdische Identität der jungen Generation zu stärken, indem die kurdische Sprache, Tradition, Kultur und die klassische kurdische Musik vermittelt und gefördert werden. «Unsere Muttersprache beinhaltet unsere Seele. Die Rechte, die Ihr habt, wollen wir auch haben, das Recht auf unsere eigenen Wurzeln, auf unsere Geschichte und auf unsere Tradition», erklärt der Bildungskoordinator, «wenn sich die Kinder in ihrer Muttersprache ausdrücken, ist dies spontaner, identischer als in der türkischen Fremdsprache.» Seine Eltern zogen nach Izmir, als er sieben Jahre alt war. Da seine Muttersprache kurdisch war, und er kein Türkisch verstand, musste er viel fragen. In der 1. Klasse sagte ihm der Lehrer: «Du kommst aus Diyarbakir, bist Du ein Terrorist?» In den staatlichen, autoritär geführten Schulen werden die Kinder, für die Türkisch eine Fremdsprache ist, kritisiert. Das nährt ihre Angst, Fehler zu machen und verunsichert sie. «In einer kurdischen Schule können die Kinder viel unbefangener lernen,» so unser Gesprächspartner. Auch Kinder, die die staatliche Schule besuchen, lernen bei ihnen. Mit einer weiteren Mitarbeiterin kommen wir ins Gespräch. Sie war als Frauenbeauftragte am Zentrum für gewaltbetroffene Frauen tätig. Mit der Einführung der Zwangsverwaltung für die kurdischen Gemeinden wurde sie entlassen und unter dem Vorwand inhaftiert, sie sei Mitglied einer terroristischen Organisation. In ihrem Gerichtsdossier gab es jedoch nur Material zur Arbeit als Frauenbeauftragte. Sie wurde freigelassen, steht jedoch jetzt unter Beobachtung. «Ein islamistisch durchtränktes System fühlt sich bedroht, wenn man sich für Frauenrechte einsetzt», so ihr nüchternes Fazit.

Finanziert wird die kurdische Bildungseinrichtung mit Spenden von aussen oder von wohlhabenden Eltern. Auch von Botschaften europäischer Länder hat sie Spenden erhalten. Das Lehrpersonal besteht aus Freiwilligen. Sie erhalten keinen Lohn, lediglich Spesen werden erstattet. 40 Personen, die daneben noch ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, bilden den Stamm der Einrichtung. 200 weitere Freiwillige helfen sporadisch mit. Nehmen Experten an den Projekten teil, erhalten sie eine Entschädigung. Für die Eltern der 120 Schüler ist der Schulbesuch unentgeltlich. Kinder aus armen Familien werden bevorzugt aufgenommen. An den Bildungsangeboten nehmen zwischen 200 bis 300 Kinder teil.

Vorgeschichte

Unter den fortschrittlichen, linken Bürgermeistern gab es früher viele soziale Projekte, so zum Beispiel Sommerlager für die Kinder aus armen Familien. «2013/14 machte Erdoğan einen Vorstoss und Kurdisch war nicht mehr verboten. Es gab sogar eine kurdische Universität. Aber das war nur ein Feigenblatt. Man lässt uns nicht arbeiten», so der Bildungskoordinator. 2017 wurden die kurdischen Co-Bürgermeister abgesetzt, ihre Gemeinden unter Zwangsverwaltung gestellt und die kurdischen Bildungsstrukturen zerstört.

Vor sechs Jahren begannen Eltern und Pädagogen, mit diesem Bildungsprojekt wieder Strukturen aufzubauen. «Staatliche Unterstützung gibt es keine. Stattdessen werden wir schikaniert, weil wir auf unserem Recht bestehen, unsere Muttersprache zu praktizieren», erklärt der Bildungskoordinator. Unterdessen ist ihre Arbeit schon so bekannt, dass auch Kinder aus Dörfern kommen, die bis zu 40 Kilometer entfernt liegen.

Die jungen Freiwilligen, die den kommenden Wahlen entgegenfiebern, haben die  grosse Hoffnung, dass Erdoğan abgewählt, und die Situation mit einem neuen Präsidenten für die kurdische Bevölkerung erträglicher werden wird. Der Projektkoordinator bleibt realistisch: «Hier im Osten sind 80 Prozent gegen Erdoğan, aber wenn sein Konkurrent gewählt wird, wissen wir nicht, was kommen wird. Das jetzige staatliche System ist das Problem. Es müsste geändert werden.»

Im Kindergarten

Der Kindergarten, der von Medico International Schweiz unterstützt wird, ist in einem alten, dreistöckigen Haus untergebracht, das in allen Details schön und kindgemäss eingerichtet ist. Nach dem Erdbeben waren hier für einen Monat viele Familien mit ihren Kindern untergebracht.

Der Kindergarten ist ab 7 Uhr 30 geöffnet. Ein Teil der Eltern arbeitet, ein anderer nicht. Hier lernen die Kinder bis und mit der 1. Klasse in grösseren Gemeinschaften. Es gibt verschiedene Gruppen. Jede Gruppe hat eine Lehrerin. Im Gegensatz zur staatlichen Schule mit ihrem autoritären Ansatz, schauen diese auf die Bedürfnisse der Kinder. Im Morgenkreis können die Kinder erzählen. Die Lehrerinnen hören, wie es den Kindern geht und was sie beschäftigt. Die Kinder lernen, sich auszudrücken und  Ungerechtigkeiten anzusprechen. Sie werden selbstsicherer und lernen, sich gegen Ungerechtigkeiten zu verwahren.

Auch die Freude an der Natur wird gepflegt. Im Frühjahr wird mit den Kindern im Garten gesät, Linsen, Mais, Tomaten, Sonnenblumen und anderes. Die Kinder erleben mit, wie die kleinen Pflänzchen heranwachsen. Man ist gerne im Garten, wo es auch einen Hahn, Hühner und Küken gibt, an denen die Kinder ihre Freude haben. Kinder brauchen Bewegung und frische Luft und dürfen auch schmutzig werden.

Es ist eine Freude, den engagierten Freiwilligen bei ihrer Arbeit mit den Kindern zuzuschauen. Man merkt, dass sich die Kleinen wohlfühlen. Aber ein Kindergarten ist keine Insel, losgelöst von der politischen Realität. «Ein schönes Haus, eine schöne Gemeinschaft, aber sie unterdrücken uns», sagt uns ein Vater, der seinen Sohn abholt, «mein Sohn spricht Türkisch und Kurdisch, es gibt verschiedene Sprachen. Aber für Erdoğan und den türkischen Staat gibt es nur eine Nation, eine Sprache, eine Flagge.»

Zur Geschichte des kurdischen Kindergartens

2012 wurde in einer Krippe in Diyarbakir begonnen die 2 bis 6 jährigen Kinder in kurdisch zu unterrichten. 2015 breitete sich diese Initiative in allen Quartieren der Stadt aus, für die kurdische Bevölkerung eine grosse Erleichterung. 2017 wurde auch Diyarbakir unter Zwangsverwaltung gestellt. Die Mitarbeiter in den Krippen wurden entlassen oder verliessen unter diesen Bedingungen ihre Arbeit. Auch die Eltern blieben weg. In den staatlichen Bildungseinrichtungen wurde Kurdisch gestrichen und kurdisch zu sprechen verboten. Religiöses und nationalistisches Gedankengut gewann an Bedeutung. Gutsituierte Eltern und Lehrer schlossen sich zusammen und unterrichteten ihre Kinder zuhause weiter. 2017 fand man dieses Haus mit Garten. Schon während der Renovation wurde mit dem Unterricht begonnen. Man sass auf dem Boden, und zum Essen gab es Brot. Dank privater Spender konnte man sich langsam besser einrichten. Heute ist der Kindergarten gut und kindgemäss ausgestattet und für andere Kindergärten ein Vorbild.

In einer Frauenorganisation

Am nächsten Tag besuchen wir eine von der deutschen Rosa Luxemburg Stiftung unterstützte Frauenorganisation, in der die Tochter unserer Gastgeber arbeitet. Dort werden wir von jungen, modern gekleideten, gut ausgebildeten Frauen herzlich empfangen, die als Sozialarbeiterinnen, Anwältinnen und Psychologinnen für die Organisation tätig sind. Nur eine der Frauen trägt ein Kopftuch. «Das ist unsere Mitarbeiterin, die für das Essen sorgt», wird sie uns vorgestellt. Die Mitarbeiterinnen halten Vorträge, machen Rechtsberatung bei Eheproblemen oder auch Hausbesuche, um bei der Lösung von Problemen zu helfen. Nach dem Erdbeben wurde in Adiyaman ein Frauenzelt betrieben. Die ratsuchenden Frauen kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Als Bildungsangebot für Frauen betreibt die Organisation eine Online Plattform und einen Blog.² Seit einem Jahr wird das Projekt verfolgt, dass jede Nichtregierungsorganisation auch einen Genderbeauftragten haben sollte. Die Organisation plant auch, Psychologen- und Ärztevereinigungen in Gender-Equality auszubilden.

Im Team wird gemäss dem holländischen Programm «De facto equality in institutions» gearbeitet, mit dem das Team befähigt werden soll, gleichwertig zusammenzuarbeiten. Wir erfahren auch, dass die «Me too-Bewegung» in den traditionellen Gebieten eine unerwartete Wirkung erzielt hat: Männliche Vorgesetzte wollen keine weiblichen Mitarbeiter, da diese später gegen sie klagen könnten. Auf die Frage, ob es in der kurdischen Tradition Elemente gibt, die für ihre Arbeit hilfreich sein könnten, haben die engagierten jungen Frauen noch keine Antwort.

Bei einem Journalisten

Anschliessend besuchen wir einen Journalisten. Er begann mit seiner Arbeit mit einem Workshop bei sich zuhause, der von «Journalisten ohne Grenzen» finanziert worden ist, ein Erfolg, dem weitere finanziell unterstützte Workshops folgten. Heute hat der Journalist in seinen Räumlichkeiten ein Ton- und ein Filmaufnahmestudio, das er auch anderen Journalisten zur Verfügung stellt. Er macht Weiterbildungen für Journalisten und schreibt Artikel, in denen aktuelle Probleme anhand konkreter menschlicher Schicksale beschrieben werden, wie folgt. So schrieb er zum Beispiel über eine Krankenschwester, deren Haus beim Erdbeben zerstört wurde. Ihre Familie musste in eine andere Stadt ziehen. Sie musste bleiben, um ihre Arbeitsstelle behalten zu können.

In seiner Arbeit vermeidet der Journalist eine direkte Konfrontation mit der türkischen Obrigkeit. Die Gründung einer Stiftung oder einer Assoziation sei verboten, aber Workshops seien erlaubt. Daher mache er Workshops. Er suche nach legalen «gaps» im System. Er schreibe nicht: «Wir kämpfen für Kurdistan!» Er schreibe: «Wir fördern, dass jeder in seiner Sprache veröffentlichen kann.» Er habe die staatliche Kontrollbehörde zum Besuch in seinen Büroräumen eingeladen. «Bis jetzt ist jedoch noch niemand gekommen.»

Die Altstadt von Diyarbakir, UNESCO Weltkulturerbe

Eine junge Anwältin der Frauenorganisation zeigt uns die Altstadt von Diyarbakir. In der Karawanserei Hasan Pasa Hani, in der in der Vergangenheit Handelsgüter der Seidenstrasse gehandelt oder umgeladen wurden, trinken wir Dibek, einen würzigen Kaffee mit 7 Gewürzen. Hier trifft man sich, schwatzt, kauft oder verkauft. Wir besuchen den Innenhof der Ulu Camii Moschee, einer der ältesten Moscheen Mesopotamiens, und schlendern durch die engen Gassen der Altstadt. Ab und zu trifft man auf ein zerstörtes Haus, unklar, ob durch das Erdbeben zerstört oder durch die Kämpfe zwischen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und der türkischen Armee in der Altstadt von Diyarbakir im Jahr 2015. Im Nachgang der Kämpfe wurde ein Teil der Altstadt von der türkischen Armee geschleift und an deren Stelle niedrige hässliche Häuser gebaut. Auf der belebten Hauptstrasse fährt uns eine lange Fahrzeugkolonne entgegen. Junge Leute lehnen aus den Autofenstern und schwenken ausgelassen die Fähnchen der Grünen Linkspartei. Gerechnet wird mit einem klaren Sieg des Oppositionskandidaten.

Hier reiht sich ein kleiner Laden an den anderen. Gewürzläden mit Nüssen, getrockneten Früchten und getrockneten Auberginen, Zuchettis und, und, und. «Wir trocknen eben alles für den Winter», lacht unsere Begleiterin. Früchte, Gemüse und Kräuter werden auch ab dem Schubkarren verkauft, Schuhputzer warten auf ihre Kunden, Buben sind mit Stapeln von knusprigen Sesamkringeln unterwegs. Ein Einkauf hier ist mehr als nur «7 Franken 50, danke, adieu». Hier wird das Neueste ausgetauscht, geschwatzt und manchmal auch um den Preis gefeilscht. Mit uns Fremden macht man auch gerne ein Photo. In der Nähe der Altstadt beseitigen Baumaschinen Erdbebentrümmer.

Auf dem Lande

Wir sind beim Bruder unseres Gastgebers auf dem Lande zum Frühstück eingeladen. Er hatte ein Restaurant in Istanbul. Aber er hat sich immer danach gesehnt, nach Hause zurückzukehren. Vor zwei Jahren hat er sich hier ein Haus gebaut und Walnussbäume gepflanzt. Die traditionell gekleidete Hausherrin hat gebacken. Auf dem Tischtuch, das auf dem Boden der grossen Veranda ausgebreitet worden ist, finden sich alle Köstlichkeiten der traditionellen kurdischen Küche. Eier sind von den eigenen Hühnern. Der Hausherr handelt auch mit Käse aus Van, den er in Diyarbakir verkauft. Tradition ist, der Gastgeberin beim Abschied zu sagen: «Gesundheit Deinen Händen».

Wahlsonntag

Zwei Wahlbeobachter fahren nach Malatya. Eine Sechsergruppe fährt in die Städte Bismil und Silvan. Die andere Sechsergruppe, begleitet von einer jungen Frau der HDP, die Englisch spricht, fährt nach Lice. Nach Überqueren des Tigris führt die Autobahn durch eine weite fruchtbare Ebene mit unendlichen Weizenfeldern in Richtung der Berge, ab und an sind Siedlungen zu sehen. In Lice fahren wir zum Parteibüro der HDP und besuchen anschliessend zwei Schulhäuser, wo in den einzelnen Schulzimmern gewählt wird. Dort werden wir herzlich begrüsst, oft mit Handschlag.  Im Schulzimmer zeigen die Wahlberechtigten ihren Ausweis, ihr Name wird in der Wahlliste gesucht und gekennzeichnet. Dann erhalten sie ein Blatt mit den drei Kandidaten und einen Streifen mit den Signeten der verschiedenen Parteien sowie ein Kuvert. In einer Wahlkabine können sie ihren Kandidaten und die Partei ihrer Wahl mit einem Stempel kennzeichnen, die Abstimmungsunterlagen in das Stimmkuvert stecken und nachher in die von aussen einsehbare Wahlurne werfen. Neben der offiziellen, staatlich ernannten Vertreterin der Wahlbehörde sitzen auch Mitglieder verschiedener Parteien am Tisch hinter der Wahlurne und verfolgen den Wahlvorgang. Unsere Fragen werden breitwillig beantwortet, und wir erfahren Folgendes: Die Wahl erfolgt ohne Probleme. Für dieses Schulzimmer sind 95 Wahlberechtigte eingetragen. Bis jetzt (13 Uhr) haben 50 Prozent bereits gewählt. Im nächsten Schulzimmer sind 100 Personen registriert, von denen bereits 54 gewählt haben. Ähnlich verläuft es in allen von uns besuchten Schulzimmern in Lice. Die Polizei ist sichtbar vor Ort, hält sich aber eher im Hintergrund.

Wahlberechtigte, die gesundheitlich oder altersbedingt Probleme haben, dürfen von einem Familienmitglied in die Stimmkabine begleitet werden. Die behördliche Anweisung, dass keine Handys in die Wahlkabine mitgenommen werden dürfen, wird nicht strikt durchgesetzt. In den Wahllokalen sind auch Vertreter der HDP, die auf den Wahllisten nicht vertreten sind, zugelassen. Sie haben Beobachterstatus und können intervenieren, wenn sie Unregelmässigkeiten feststellen. Wenn das Wahlbüro um 17 Uhr schliessen wird, werden die Unterschriften der Stimmberechtigten gezählt sowie die Anzahl der Stimmcouverts. Falls diese nicht übereinstimmen, werden die überzähligen Stimmcouverts zufällig ausgewählt und unter den Augen der Wahlkommission und der Parteienvertreter vernichtet.

Vor dem Schulhaus treffen wir auf die ehemalige Co-Bürgermeisterin und den ehemaligen Co-Bürgermeister von Lice, die nach 11 Monaten im Amt entlassen wurden, als die Gemeinde unter Zwangsverwaltung gesetzt worden war. Den beiden konnte nichts vorgeworfen werden. Seit 2016 sind die Gemeinden in den kurdischen Gebieten nach und nach unter Zwangsverwaltung gesetzt worden.

Anschliessend fahren wir in die Berge Richtung Kulp. Weizenfelder mit leuchtend rotem Mohn und Viehweiden  säumen die Strasse, die ab und an von Kühen, Schafen oder Ziegen überquert wird. Ab und zu sieht man Häuser oder ein Dorf. Auch in Culp verläuft die Wahl recht ruhig. Ein Problem bei den aktuellen Wahlen ist, dass staatliche Angestellte nicht an einem für sie bestimmten Ort abstimmen müssen. Sie haben eine Karte, mit der sie den Abstimmungsort selber wählen können. Damit sie nicht an verschiedenen Orten abstimmen können, müssen sie jetzt diese Karte nach der Abstimmung abgeben. Damit ist das Problem gelöst. Im Büro der HDP berichtet uns die ehemalige Co-Bürgermeisterin, dass sie nach 5 Monaten im Amt verhaftet worden sei und für drei Monate ins Gefängnis gesteckt wurde, als der türkische Staat die Gemeinde unter Zwangsverwaltung gestellt habe. Der ehemalige Co-Bürgermeister berichtet, in einem Wahllokal sei es zu Unstimmigkeiten gekommen. Der staatliche Wahlverantwortliche sei nervös geworden und habe die Sicherheitskräfte herbeigerufen. Ein Anwalt der HDP habe die Situation dann beruhigen können.

Anschliessend besuchen wir drei weitere Schulhäuser im Berggebiet, wo gewählt wird. Begleitet werden wir von einem Anwalt, einer Anwältin und weiteren Mitgliedern der HDP von Kulp. Beim ersten Ort steht ein gepanzertes Fahrzeug in der Nähe des Wahllokals. Mehrere bewaffnete Männer in Militäruniform, die der Gendarmerie zuzuordnen sind, stehen hinter dem Schulhaus, ganz ähnlich beim zweiten Schulhaus. Die Anwältin der HDP dominiert relativ hektisch die Diskussion mit dem Wahlverantwortlichen und dem Kommandanten der Gendarmerie, dem sie vorwirft, durch Präsenz seiner Leute die Wahlberechtigten einzuschüchtern. Unsere junge Begleiterin von der HDP und unser Kollege Muammer, die vorher in Lice und in Kulp das Gespräch mit den Wahlverantwortlichen umsichtig und ruhig geführt haben, kommen nicht mehr zu Wort.

In einem Schulhaus lag die Wahlbeteiligung kurz vor 17 Uhr unter 50 Prozent. Die Vertreterin der Wahlbehörde vermutet den Grund dafür, dass viele der Wahlberechtigte weit abgelegen zu Hause seien. Auch in diesen Wahllokalen wird berichtet, dass die Wahlen korrekt verlaufen sind.

Die Sechsergruppe, die die Wahlen in Silvan und Bismil beobachtete, wurde mehrmals von der Polizei kontrolliert. In einem Wahllokal wurde ihnen der Zugang verwehrt. Soweit sie es beobachten konnten, verlief der Wahlvorgang in den beiden Städten korrekt.

Erst spät in der Nacht werden die Wahlergebnisse klarer. Keiner der drei Kandidaten hat eine Mehrheit erreicht. Recep Tayyip Erdoğan erreichte 49,5 Prozent der Stimmen, sein Gegenkandidat Kemal Kilicdaroglu 44,8 Prozent. Am 28. Mai wird es zu einer Stichwahl kommen. Für die kurdische Bevölkerung, die Kilicdaroglu unterstützt hat, ist das Wahlergebnis ein Schlag. Vermutlich wird Erdoğan in der Stichwahl siegen. Damit wird der kurdische Leidensweg vorderhand kein Ende nehmen, und eine Rückkehr in ihre Heimat rückt für die politischen Flüchtlinge in weite Ferne.

¹ Vom Erdbeben betroffen waren vor allem die kurdischen Siedlungsgebiete, wo die Arabische und die Anatolische Platte aufeinandertreffen. Dort leben viele Alewiten. Von wissenschaftlicher Seite wurde immer wieder auf das hohe Risiko eines massiven Erdbebens in diesen Gebieten hingewiesen. «Dennoch wurden die Häuser nicht erdbebensicher gebaut, obwohl Geld aus der seit 1999 erhobenen Erdbebensteuer genau dafür bestimmt gewesen wäre.» Maja Hess: Politische Katastrophe, Bulletin Nummer 1. März 2023, S. 20.

² Themen wie Gendergerechtigkeit sowie die Thesen der amerikanischen Feministin Judith Butler werden vorgestellt. Diese Auskunft hinterlässt ein ambivalentes Gefühl. Einerseits freut man sich über die Tatkraft und die Energie, mit der sich eine junge, gut ausgebildete Generation für das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes einsetzt. Andererseits führen fehlende finanzielle Mittel dazu, von Finanzierungen aus dem Ausland abhängig zu sein. Gleichzeitig unterliegen junge Menschen weltweit einer magnetischen Anziehungskraft der kulturellen Komponente der Weltmacht USA. «Der massive, aber nicht greifbare Einfluss, den die USA durch die Beherrschung der weltweiten Kommunikationssysteme, der Unterhaltungsindustrie und der Massenkultur sowie durch die durchaus spürbare Schlagkraft seiner technologischen Überlegenheit und seiner weltweiten Militärpräsenz ausüben.» Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht –Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Frankfurt am Main 1999. S. 46.

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