Konfliktprävention statt Aufrüstung und Kriegspropaganda

Bundesrat Didier Burkhalter betont Allianzfreiheit der Schweiz

von Thomas Kaiser

Die Münchner Sicherheitskonferenz gilt als das wichtigste Treffen dieser Art, doch was die Reden und die Ergebnisse der diesjährigen Konferenz anbetrifft, erinnern diese an düstere Kriegsrhetorik: mehr Geld für die Nato, Erhöhung des Kriegsbudgets, mehr Militärbündnis, mehr Kriegsvorbereitungen, mehr Konfrontation. So tönte es zumindest von westlicher Seite. Als aussenstehender Beobachter fragt man sich, wohin das alles führen soll. Wo ist der Grundsatz der Uno geblieben, die «Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln auszutragen?»¹ Was für eine Zukunft soll der Menschheit blühen, wenn noch immer Krieg als Mittel der Auseinandersetzung im atomaren Zeitalter propagiert wird? Trotz allem gab es auch gewichtige Stimmen der Vernunft.

António Guterres, neuer Generalsekretär der Uno, leitete seinen Vortag in München mit einer klaren Feststellung ein: «Wir leben in einer gefährlichen Welt. Wir sind Zeugen einer Vervielfachung neuer Konflikte, alte scheinen nie zu enden [...].»² Was das bedeutet, sehen wir, wenn wir uns die aktuellen Krisenherde vor Augen führen. Krisen, die teilweise schon über 20 Jahre andauern, und wenn man den Israel-Palästina-Konflikt dazuzählt, dann sind das bald 70 Jahre, in denen Krieg, Vertreibung, Tod und Elend die Menschen belasten. Spätestens seit der Flüchtlingskrise und den vereinzelten Terroranschlägen, auch wenn deren Ursachen vielfältiger Art sein mögen, ist Europa direkt damit konfrontiert. Da die Flüchtlingskrise vor allem eine direkte Folge militärischer Interventionen westlicher Staaten in dieser Region ist, hilft nur ein sofortiges Ende allen Interventionismus.

«Starke Zunahme der Friedensdiplomatie» gefordert

Seit über hundert Jahren nehmen westliche Industrienationen im Nahen Osten oder in Afrika Einfluss und bedienen sich der reichlich vorhandenen Bodenschätze. Mit der Entdeckung des Erdöls im heutigen Irak, damals Teil des Osmanischen Reichs, vor über 100 Jahren begann der Wettlauf und die Konkurrenz um die Sicherung der Ölquellen. Zeugen dieser Zeit sind ehrgeizige Projekte wie die Berlin-Bagdad-Bahn, die eine schnelle und sichere Versorgung Mitteleuropas mit Erdöl via Deutsches Reich gewährleisten sollte, oder geheime Verträge wie das Sykes-Picot-Abkommen, das die Aufteilung des Nahen Ostens zwischen Frankreich und Grossbritannien zum Inhalt hatte.

Was damals begann, hat sich bis heute fortgesetzt, nur wurde das Britische Empire durch die US-amerikanische Weltmacht ersetzt, doch die Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der dort lebenden Völker setzte sich ungebrochen fort.
Die direkte Einmischung der USA im Nahen Osten ist heute unbestritten. Spätestens seit Obama öffentlich gestand, dass der Sturz des demokratisch gewählten Ministerpräsidenten im Iran, Mohammad Mossadegh, im Jahre 1953 mit Hilfe der CIA ein grosser Fehler gewesen sei, ist offiziell bestätigt, dass die USA direkt nach dem Zweiten Weltkrieg massiv Einfluss auf die Staaten in dieser Region genommen haben, zunächst getrieben von der Angst, die Länder könnten sich dem Kommunismus zuwenden, und nach dem Ende der Sowjetunion, um ihre Weltmachtstellung zu behaupten. Einmischungen erfolgten in nahezu allen erdölbesitzenden Staaten, insbesondere im Iran, im Irak, in Libyen, in Syrien, um nur die bekanntesten Schauplätze zu nennen.

Werfen wir einen Blick auf diese Region, so sehen wir in den meisten Staaten Verderben, Tod, soziale Ungerechtigkeit, politische Instabilität und wenig Hoffnung auf irgendeine Verbesserung. António Guterres macht darauf aufmerksam, dass wir heute «in einer chaotischen Situation leben, die aller Voraussicht nach in eine multipolare Welt führen wird».³ Diese Entwicklung verlangt, dass jetzt alle Mitgliedstaaten der Uno eine führende Rolle übernehmen müssten. Seine eigene Funktion sieht er als «Katalysator», der seine «guten Dienste anbieten, Brücken bauen und ehrlich vermitteln kann». Deutlich fordert er «eine starke Zunahme der Friedensdiplomatie.»

Nato an der Grenze zu Russland

Wie anders nimmt sich dagegen die Rede der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus. Sie beschwört das Kriegsbündnis mit der Nato, unterwirft sich den USA, indem sie nichts Eiligeres zu sagen weiss als: «Die Welt braucht ein global engagiertes, verantwortungsbewusstes Amerika.» Sie bezeichnet das Nato-Kriegsbündnis als «Wertegemeinschaft», lobt die «Zusammenarbeit in der Drohnentechnologie», die vielen Einsätze rund um den Globus und ist stolz darauf, dass deutsche Truppen, die jetzt in Litauen stationiert sind, die Grenze zu Russland schützten. Sie lobt Litauen als «ein angesehenes Mitglied von EU und Nato, wie Estland, Lettland, Polen. Ein Land, das unsere Solidarität und unseren Schutz verdient».⁴ Kein Satz von Friedensbemühungen, von Friedensdiplomatie und Verhandlungsbereitschaft – letztlich gefährliche Kriegspropaganda. So recht wohl scheint es ihr bei ihren Ausführungen zwar doch nicht zu sein, denn sie räumt zumindest ein, man wolle «zu einem verlässlichen Miteinander mit Russland kommen». Wie das gehen soll, wenn gleichzeitig die Präsenz der Nato an der Grenze zu Russland erhöht wird, erklärt sie nicht.

Der russische Aussenminister Sergej Lawrow aber gibt Antwort auf all dieses Kriegsgeheul. In seiner Rede vor den anwesenden Referenten und Gästen fordert er: «Die geschichtliche Ära, die man die ‹Ordnung nach dem Kalten Krieg› nennen könnte, muss beendet werden. Die Welt ist weder westzentriert noch ein sicherer und stabilerer Ort geworden. Wie man sagt, beginnen die Kriege in den Köpfen der Menschen, entsprechend dieser Logik, sind es auch die Köpfe der Menschen, die diesen beenden können. Das ist mit dem Kalten Krieg bis heute nicht der Fall.» Für Lawrow können die Probleme nur auf der Basis von Vertrauen gelöst werden. «Einseitiges Vorgehen muss zu Gunsten ehrlicher Zusammenarbeit auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt, des Völkerrechts, gemeinsamer Beurteilung der globalen Herausforderungen und gemeinsamer Entscheidungsgrundlage weichen».⁵ Eine klare und verständliche Botschaft.

«Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg»

Den Worten Sergej Lawrows müssen Taten folgen, doch die sind nur möglich, wenn sich der Westen, sprich die Nato, auf ehrliche Verhandlungen und einen ungetrübten Friedenswillen einlässt. Doch diesen Beweis muss der Westen erst noch erbringen. Beide Seiten müssten hier einen Beitrag leisten. In seinem neusten Buch «Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg»⁶ analysiert der letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, die momentane Situation. Auch er sieht die Lage der Welt, vor allem des Westens gegenüber Russland, äusserst problematisch. So hält er fest, «dass die Spannungen in der Welt seit zweieinhalb Jahren jetzt den Höchststand erreicht haben. Statt nach einem Ausweg aus der bedrohlichen Lage zu suchen, erging sich der Juli-Nato-Gipfel in kriegerischer Rhetorik und steigerte das Feindbild noch mehr. Und wäre es dabei nur bei der Rhetorik geblieben! Aber nein, es wurde beschlossen, Truppen und militärisches Gerät näher an Russlands Grenzen heranzubringen».⁷ Gerade diese Entwicklung alarmierte Michail Gorbatschow, der eine Lösung nur im Dialog der Konfliktparteien erkennen kann: «Beide Seiten müssen sämtliche politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kapazitäten aktivieren und in Gang setzen, um unverzüglich eine neue Agenda zu erarbeiten, um die bedrohliche Entwicklung zu stoppen und umzukehren.»⁸ Eine grosse Chance sieht er trotz allem in den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland. Dabei verlässt er sich nicht allein auf die politische Ebene, sondern übergibt den beiden Völkern eine grosse Verantwortung. «Die Geschichte lehrt uns: Ziehen die Russen und die Deutschen an einem Strang, profitieren beide davon. Und alle anderen Europäer ebenfalls.»⁹

Wenn die «grosse Politik» versagt, und dieses Eindrucks kann man sich je länger, je mehr nur schwerlich erwehren, dann ist Vernunft gefragt, und die kommt in den meisten Fällen nicht aus den Amtsstuben irgendwelcher Ministerien oder Militärs, sondern aus der Bevölkerung. Der US-amerikanische Sicherheitsberater und Buchautor Zbigniew Brzeziński stellte unlängst fest, dass Regierungen nur solange agieren können, bis die Bevölkerung beginnt, sich dagegen zu wehren, er sprach vom «Crescendo der Völker». Wir Bürger sind also gefragt, unseren Politikern auf die Finger zu klopfen, wenn sie nichts anderes zu tun wissen, als Staaten mit Krieg zu drohen, und sie darauf zu verpflichten, als Mitglieder der Uno den Geist der Charta zu verfolgen, den Frieden zu bewahren und Kriege zu verhindern.

Kriegsrhetorik muss ein Ende haben

Wo soll das hinführen, wenn wir die Konflikte zwischen den Staaten, ob grosse oder kleine, nur noch mit militärischer Gewalt, mit Drohnenkrieg oder Terror lösen wollen? Die Weltlage hat sich in den letzten Jahren dermassen zugespitzt. Wenn Menschen nicht mehr direkt miteinander reden können, weil das Misstrauen zu gross ist, dann braucht es Vermittler, die eine neutrale Haltung einnehmen. António Guterres als Uno-Generalsekretär bietet seine Hilfe an, das sind neue Töne und lassen Hoffnung aufkommen. Wenn es um die Vermittlung in einem Konflikt zwischen Staaten geht, sind aber auch neutrale Länder prädestiniert. Wer könnte das besser als die Schweiz?

Kein Anschluss der Schweiz an ein Bündnis

Den Nato-Generalsekretär einzuladen, der am Donnerstag unser Land besucht hat, ist ein völlig falsches Signal, wenn wir ihm nicht klar machen, dass die Kriegsrhetorik ein Ende haben muss, dass die Existenz der Nato einer friedlichen internationalen Ordnung nicht dienlich ist, und von ihr verlangen, dass statt einer Erhöhung der Militärausgaben das Geld für humanitäre Zwecke ausgegeben werden muss. Es braucht die Nato heute nicht mehr, und schon gar nicht für die Schweiz. Wichtig ist, die Neutralität überall dort ins Spiel zu bringen, wo sie dem Frieden dienlich ist. Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz äusserte Bundesrat Didier Burkhalter, dass es gefährlich sei, wenn es kein Vertrauen zwischen den Partnern gebe, da es ein zusätzliches Risiko beinhalte, dass es zu einem Krieg, zu einem Konflikt komme. Weiter betonte er die Qualitäten der Schweiz: «In dieser Situation ist es gut, dass auch die Schweiz etwas beiträgt, und zwar nicht in einer Allianz. […] Es ist eine Chance, in der wir spezifisch und eigenständig etwas beitragen können. Es gibt nicht so viele Länder, die das tun können, und in Europa haben wir die Situation, wo vor allem über Allianzen gesprochen wird, und wir haben eine andere Rolle. Wir haben die Rolle der Guten Dienste, manchmal der Mediation, und das machen wir, und ich glaube, das wird immer mehr nachgefragt, und dafür brauchen wir mehr Kapazitäten.» Auch hebt er hervor, dass dies eine langfristige Aufgabe der Schweiz sein müsse. Für die Schweiz werde die Multilateralität immer wichtiger. Daraus folgert er: «Vielleicht wird dadurch Genf immer noch wichtiger, wir müssen noch mehr beitragen, wo wir etwas beitragen können.»¹⁰ In seinen Augen werde die Konfliktprävention im internationalen Geschehen immer bedeutender und damit die Rolle der neutralen Schweiz.

Diese Möglichkeiten dürfen nicht zerstört werden, indem man eine Annäherung an irgendein Bündnis vornimmt, schon gar nicht an das Kriegsbündnis Nato oder das neoliberale Projekt EU. ■

¹ Uno-Charta
² Rede António Guterres' an der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2017
³ ebd.
⁴ Rede Ursula von der Leyens an der MSC 2017
⁵ Rede Sergej Lawrows an der MSC 2017
⁶ Michail Gorbatschow: Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg. Wals 2017
⁷ ebd. S. 29
⁸ ebd. S. 31
⁹ ebd. S. 42
10 HeuteMorgen vom 20.02.2017, in: Radio SRF 1

«Systematischer Zweifel ist das beste Gegengewicht»

Zum Buch «Die Prinzipien der Kriegspropaganda» von Anne Morelli

von Andreas Kaiser

«Wenn die Oberen vom Frieden reden, weiss das gemeine Volk, dass es Krieg gibt.»
Bertold Brecht: Kriegsfibel. Frankfurt/M. ⁵1994

Ein kleines Buch erhellt auf eindrucksvolle Weise die Mechanismen der medialen Kriegspropaganda. Die Lektüre von Anne Morellis Studie über «Die Prinzipien der Kriegspropaganda»1 lohnt sich sehr.

Im März 2003 wandte sich der US-amerikanische Präsident George W. Bush an sein Volk, um den Beginn des Irakkriegs bekanntzugeben: «Zu dieser Stunde befinden sich amerikanische und verbündete Streitkräfte in der Anfangsphase der militärischen Operationen zur Entwaffnung des Iraks, um seine Bevölkerung zu befreien und die Welt vor einer ernsten Gefahr zu schützen.»²

«Mission Accomplished!» stand auf dem Plakat hinter dem Präsidenten, als er – medienwirksam inszeniert – das siegreiche Ende des Irakkriegs herbeilog.³ Die Wirklichkeit: ein bis heute andauernder Krieg, Zehntausende ziviler Opfer, ein zerstörtes Land und Leid ohne Ende für die irakische Bevölkerung.
In dieser Ansprache zeigt sich, dass zwischen den Politikerworten und der Realität ganz offensichtlich ein Widerspruch besteht. Wie ist er zu erklären?

«Jeder Krieg beginnt mit einer Lüge, weil man mit den wahren Absichten die Bürger niemals dazu bringen könnte, einem Krieg zuzustimmen», liest man in einem Internetkommentar.⁴ Zwei Aspekte sind daran bemerkenswert: 1. gibt es «wahre Absichten», also Dinge, die nicht zur Sprache kommen (sollen) bzw. bewusst verdreht werden, um einen anderen Eindruck zu erzielen, und 2. sind Menschen per se nicht kriegerisch, sondern müssen erst «dazu gebracht werden», einen Krieg zu befürworten. Das führt zur Frage, wie man denn wahre Absichten verschleiern und Menschen dazu bringen kann, geplante Kriege hinzunehmen und nicht dagegen aufzustehen. Antworten auf diese Frage gibt das im Jahr 2014 in zweiter Auflage erschienene Buch der belgischen Historikerin Anne Morelli.

«Danke, Lord Ponsonby»

Sie analysiert die zehn «Gebote» der Kriegspropaganda, die auf den britischen Diplomaten, Politiker und Friedensaktivisten Arthur Ponsonby (1871–1946) und sein Werk «Falsehood in Wartime»⁵ zurückgehen. Er hatte den Schwerpunkt auf den Ersten Weltkrieg gelegt, Anne Morelli führt den Ansatz, mit unzähligen Beispielen aus der Geschichte belegt, bis in die heutige Zeit weiter. Sie arbeitet folgende zehn Prinzipien der Kriegspropaganda heraus und widmet ihnen je ein Kapitel⁶:

Wir wollen keinen Krieg.
Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg.
Der Feind hat dämonische Züge.
Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele.
Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich.
Der Feind verwendet unerlaubte Waffen.
Unsere Verluste sind gering, die des Gegners aber enorm.
Unsere Sache wird von Künstlern und Intellektuellen unterstützt.
Unsere Mission ist heilig.
Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.7

Das Beteuern des Friedenswillens hat sich im Laufe der Geschichte dermassen abgenutzt, dass er nicht mehr glaubhaft ist, und dennoch fungiert er als ständiges Leitmotiv der Kriegsherren.

Von Hitler …

Paradebeispiel dürfte Hitler sein, der am 1. September 1939 den Reichstag über den deutschen Angriff auf Polen unterrichtete. Als die Rede im Rundfunk übertragen wurde, hatte die deutsche Luftwaffe durch die nächtliche Bombardierung des polnischen Städtchens Wielun bereits über 1200 Menschen umgebracht.8 O-Ton Hitler: «Sie kennen die […] endlosen Versuche, die ich zu einer friedlichen Verständigung über das Problem Österreich unternahm und später über das Problem Sudetenland, Böhmen und Mähren […]. Ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass im Verhältnis Deutschlands zu Polen eine Wendung eintritt, die ein friedliches Zusammenleben sicherstellt.»9

… zu Bush

George W. Bush greift in dieselbe Schublade der Propagandakiste. ­Exemplarisch soll die oben bereits zitierte TV-Ansprache an das amerikanische Volk unter die Lupe genommen werden, denn es lassen sich nahezu alle Prinzipien der Kriegspropaganda nachweisen. Auch hier nimmt der Frieden, der angeblich angestrebt werden soll, eine zentrale Rolle ein (Prinzip 1). Am Schluss seiner Ausführungen sagt Bush: «Meine Mitbürger, […] Wir werden diese gefährlichen Zeiten hinter uns lassen und mit der Arbeit des Friedens fortfahren. Wir werden den Frieden verteidigen. Wir werden anderen den Frieden bringen.»10

Dem Gegner, in diesem Fall Saddam Hussein, wird die Schuld am Krieg angelastet (Prinzip 2), er wird dämonisiert (Prinzip 3) und es werden ihm Grausamkeiten unterstellt (Prinzip 5): «In diesem Konflikt steht Amerika einem Feind gegenüber, der Konventionen des Krieges oder moralische Regeln missachtet. Saddam Hussein hat irakische Truppen und Ausrüstung in zivile Gebiete gebracht, um unschuldige Männer, Frauen und Kinder als Schutzschild für sein Militär zu benutzen, eine letzte Grausamkeit an seinem Volk.»

Auch das 4. Prinzip fehlt nicht: «Wir kommen in den Irak mit Respekt für seine Bevölkerung, für seine grosse Zivilisation und für die Religionen, die sie ausübt. Wir haben keine Ambitionen im Irak, ausser die Bedrohung zu beseitigen und die Kontrolle der Bevölkerung über ihr eigenes Land wiederherzustellen.»

Dem 6. Prinzip kann man folgenden Abschnitt zuordnen: «Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten und unsere Freunde und Verbündeten werden nicht von der Gnade eines rechtlosen Regimes abhängig sein, das den Frieden mit Waffen des Massenmords bedroht.»

Die gesamte Ansprache verströmt ein Pathos, das man sehr gut mit Prinzip 9 beschreiben kann.
Was hier v.a. anhand des Beispiels einer Bush-Rede kurz dargelegt wurde, beweist nachdrücklich die Aktualität von Ponsonbys Ansatz.

Die eigentlichen Kriegsgründe werden stets verschwiegen

Es ist Anne Morellis Verdienst, diesen Ansatz gut lesbar und aktualisiert mit unzähligen eindrucksvollen Beispielen für alle Interessierten aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Licht gebracht zu haben. Als eindeutiges Resultat dieser Forschungsarbeit erweist sich die Tatsache, dass die wahren Kriegsgründe durchwegs geostrategischer, machtpolitischer und ökonomischer Natur sind. Sie wurden und werden nie genannt. Man führt die Bevölkerung hinters Licht, um eine Zustimmung zum Krieg zu erhalten. Dies geschieht zum Beispiel, indem humanitäre Aspekte verlogenerweise in den Vordergrund gerückt werden. An vielen Beispielen weist die Autorin genau dieses Vorgehen nach. Zum Kosovo-Krieg schreibt sie: «Im Krieg der Nato gegen Jugoslawien tat sich zwischen offiziellen und uneingestandenen Kriegszielen dieselbe Kluft auf. Offiziell hatte die Nato in Jugoslawien eingegriffen, um den multiethnischen Charakter des Kosovo zu bewahren, um die Misshandlung von Minderheiten zu verhindern, um die Demokratie dort einzuführen und den herrschenden Diktator zu stürzen. Kurz, es ging darum, die geheiligte Sache der Menschenrechte zu verteidigen. Nach Kriegsende jedoch stellte sich heraus, dass von diesen Zielen keines erreicht worden war, man von einer multiethnischen Gesellschaft vielmehr weit entfernt war und die tägliche Gewalt gegen Minderheiten – jetzt waren Serben sowie Sinti und Roma die Opfer – weiter anhielt. Durchaus erfüllt worden waren jedoch die ökonomischen und geopolitischen Kriegsziele, von denen offiziell allerdings nie die Rede gewesen war.»11

Unterzieht man die mediale Berichterstattung und die Politikeraussagen zu all den Konflikten der letzten Jahre – seien es der Kosovokrieg oder der Atomkonflikt mit dem Iran, seien es der «arabische Frühling» oder die Zerschlagung Libyens, seien es die Kriege in Syrien oder im Jemen oder sei es die Ukraine-Krise – einer Prüfung vor dem Hintergrund von Anne Morellis Darlegungen, entdeckt man die Propagandaprinzipien überall, wird sensibler und mehr und mehr davor gefeit, selbst der Propaganda auf den Leim zu gehen, weil man deren Mechanismen durchschaut. So holt man sich das selbständige Denken und die eigene Urteilsfähigkeit zurück. ■

¹ Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe ²2014
² www.rhetorik.ch/Aktuell/bushkriegsreden/krieg-d.html
³ www.n-tv.de/politik/Bush-erklaert-Ende-der-Kaempfe-article109987.html
⁴ Kommentar zum Film «Es begann mit einer Lüge»: www.youtube.com/watch?v=ZtkQYRlXMNU
⁵ Arthur Ponsonby: Falsehood in Wartime. London 1928
⁶ A. Morelli: Kriegspropaganda. S.5
7 man könnte ergänzen: ... oder ein Verschwörungstheoretiker.
8 www.zeit.de/2003/07/A-Wielun/komplettansicht
9 zit. nach: A. Morelli: Kriegspropaganda, S. 15
10 www.rhetorik.ch/Aktuell/bushkriegsreden/krieg-d.html
11 A. Morelli: Kriegspropaganda. S.55f.

Zum Konflikt um die Westsahara

hhg. Die Westsahara: Marokkanisches Staatsgebiet oder völkerrechtswidrig besetztes Territorium?
Die Westsahara war lange spanisches Kolonialgebiet mit reichen Phosphatvorkommen und ergiebigen Fischgründen vor seiner langen Atlantikküste. Im Zuge der Entkolonialisierung beschloss die Generalversammlung der Uno im Jahr 1960 die Resolution 1540, die «allen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung» zusprach und somit auch dem Volk der Sahraoui, die in der Westsahara zu Hause sind. Seit 1963 forderte die Uno Spanien immer wieder auf, ein Referendum über die Zukunft der Westsahara abzuhalten – ohne Erfolg. Erst als sich 1973 mit der Frente POLISARIO in der Westsahara ein bewaffneter Widerstand gegen die Kolonialmacht formierte, lenkte Spanien ein und versprach 1974 eine baldige Volksabstimmung.  Sofort erhoben Marokko und Mauretanien Anspruch auf die Westsahara und besetzten diese heimlich militärisch im November 1975. Gleichzeitig inszenierte Marokko einen «Grünen Marsch», bei dem Hunderttausende Marokkaner in die Westsahara strömten und Präsenz zu markieren hatten. Am 14. November 1975, kurz vor dem Tod von General Franco, unterzeichnete das faschistische Spanien den Vertrag von Madrid über die de facto Aufteilung der Westsahara zwischen Marokko und Mauretanien. Damit war ein Konflikt vorgezeichnet, da die internationalen Bestimmungen missachtet und die Uno-Resolutionen, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker stärken, ignoriert wurden. Bis heute ist dieses Problem nicht gelöst. Der ehemalige Stadtpräsident von Genf und heutige Nationalrat und Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Sahara, Manuel ­Tornare, der sich für das Selbstbestimmungsrecht des sahraouischen Volkes einsetzt, erklärt im folgenden Interview die Situation in der Westsahara.

Das Selbstbestimmungsrecht der Sahraouis

Interview mit Nationalrat Manuel Tornare, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission

Nationalrat Manuel Tornare, SP/GE (Bild thk)
Nationalrat Manuel Tornare, SP/GE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus: In der westalgerischen Wüste bei Tindouf gibt es seit 1976 Flüchtlingslager. Wie kam es zu diesen?

Nationalrat Manuel Tornare: Die Flüchtlingslager entwickelten sich ab 1975, als die sahraouische Zivilbevölkerung vor den Übergriffen und Bombardierungen durch die marokkanische Armee flohen, die mit Unterstützung Frankreichs in die westliche Sahara eingedrungen war. Diese geschundene Bevölkerung liess sich schliesslich in der Steinwüste von Tindouf in Algerien nahe der Grenze zur Westsahara nieder. Dort ist sie immer noch, seit 40 Jahren abhängig von internationaler Hilfe.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat in Bezug auf die Zukunft der ehemaligen spanischen Kolonie der Westsahara 1975 entschieden, dass die ansässige Bevölkerung ein Recht auf Selbstbestimmung und Marokko keinen territorialen Anspruch auf die Westsahara hat. Welche Bedeutung messen Sie diesem Urteil bei und wie wurde es umgesetzt?

Dieses Urteil war zum Zeitpunkt, als Marokko deklarierte, ein historisches Recht auf die Westsahara zu haben, sehr wichtig. Es ist immer noch eine Referenz, der dann Uno-Resolutionen zum Selbstbestimmungsrecht des sahraouischen Volkes folgten. Der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg vom 21. Dezember 2016 geht auch in diese Richtung. Er betont, dass die Westsahara nicht Marokko sei und dass das Landwirtschaftsabkommen zwischen Marokko und der EU die Westsahara nicht einschliesse.

War jemals ein Referendum vorgesehen, das die Frage eines sahraouischen Staates geregelt hätte?

Nach dem Waffenstillstand von 1991 hatte man ein Referendum über die Selbstbestimmung vorbereitet. Aber während der Jahre der Volkszählung hat Marokko die Westsahara mit marokkanischer Bevölkerung besiedelt, die ebenfalls ein Stimmrecht verlangte. Der Prozess wurde so lahmgelegt und Marokko lehnte in der Folge bis auf den heutigen Tag das Referendum ab. Die Westsahara bleibt also die letzte afrikanische Kolonie.

Warum gibt es bis heute keine Lösung in der Frage der Sahraouis, obwohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf ihrer Seite steht?

Es braucht einen politischen Willen, damit das Recht auf Selbstbestimmung respektiert wird. Dieser existiert zurzeit nicht. Frankreich und andere Länder in seinem Fahrwasser unterstützen Marokko bezüglich der Besetzung. Frankreich, eines der fünf Länder, die im Sicherheitsrat über das Vetorecht verfügen, verweigert alles, was zu einem Referendum führen könnte. Es hat sogar abgelehnt, dass im Mandat der Uno-Mission MINURSO [Uno-Organisation für die Durchführung eines Referendums in der Westsahara] ein Punkt zur Beobachtung der Menschenrechte in der Westsahara aufgenommen wird.

Welche Ressourcen liegen im Gebiet der Westsahara und wer beutet diese heute aus?

Die Westsahara wird oft als Wüstengebiet dargestellt, sie ist jedoch ausserordentlich reich. Als autonomes Gebiet müsste sich die sahraouische Bevölkerung zum Abbau dieser Bodenschätze äussern können — für die Entwicklung ihres Gebietes und der Bevölkerung. Die Fischereiressourcen, die von europäischen Fischern und Fabrikschiffen verschiedener Länder geplündert werden, gehören weltweit zu den bedeutendsten. Das im Tagbau leicht abbaubare Phosphat aus den Minen von Bou Craa trägt massgeblich zum Reichtum Marokkos bei. Man muss auch das Erdöl und das Gemüse erwähnen, das Marokko nach Europa exportiert. Das Schweizer Komitee zur Unterstützung des sahraouischen Volkes (SUKS) und Terres des Hommes Schweiz haben in der Schweiz eine Kampagne gegen den Verkauf von Produkten aus der Westsahara geführt (Tomaten, Melonen, etc. – vgl. Sendung Kassensturz SRF vom 9.02.2016). Die Migros kennzeichnet seit dem 1. Januar 2016 Produkte, die aus der Westsahara stammen. Was Coop angeht, so hat sie beschlossen, ab dem 1. Januar 2017 keine Produkte mehr aus der Westsahara zu importieren — was es zu beobachten gilt.

Welche Kräfte unterstützen Marokko?

Frankreich ist in jeder Lage der unverbrüchliche «Freund» Marokkos; die USA spielten oft eine zwiespältige Rolle, da sie Marokko immer massiv aufrüsteten und gleichzeitig mehrmals ein Amerikaner Sondergesandter des Uno-Generalsekretärs war — zurzeit ist es Christopher Ross, den Marokko nicht schätzt und von dem man noch nicht weiss, ob der neue Generalsekretär der Uno, António. Guterres, ihn in dieser Funktion behalten wird.
Mit seinem Comeback in der Afrikanischen Union versucht Marokko, sich die Unterstützung zahlreicher Länder des Kontinents zu sichern. Man kann annehmen, dass Frankreich dies auch befürwortet, was einer verstärkten Unterstützung Marokkos und einer Schwächung der Rolle der EU in der Frage der Westsahara gleichkommt.
Anzufügen ist, dass die Schweiz die Hoheit Marokkos über die Westsahara nicht anerkennt.

Welche Möglichkeiten gibt es, dass das Volk der Sahraouis zu seinem Recht kommt?

Die Achtung der Uno-Resolutionen und die Organisation eines Referendums über die Selbstbestimmung des sahraouischen Volkes, das auf drei Fragen antworten müsste: 1. Wollen Sie unabhängig sein, 2. Marokko angegliedert werden oder 3. akzeptieren Sie die Westsahara als autonomes Gebiet (aktueller marokkanischer Plan)? Die dritte Frage ist eine Antwort der Polisario-Front auf den von Marokko präsentierten Autonomieplan; das Wichtigste ist, dass das sahraouische Volk sein Stimmrecht ausüben kann, auch wenn zwischen Marokko und der Polisario-Front noch vor Ablauf dieser Frist Verhandlungen aufgenommen werden müssen.

Inwieweit kann die Schweiz hierbei einen Beitrag zur Befriedung des Konflikts und zur Entstehung eines unabhängigen Staates leisten?

Die Schweiz hält sich an die Uno-Resolutionen und anerkennt die Hoheit Marokkos über die Westsahara nicht. Im Parlament gab es verschiedene Interpellationen betreffend Unternehmen wie Glencore, die ihren Sitz in der Schweiz haben und in der Westsahara intervenieren oder in Bezug auf Zölle auf Produkte, die unter marokkanischem Label aus der Westsahara exportiert werden. Rufen wir auch in Erinnerung, dass die Schweiz der Uno zwei Vermittler zur Verfügung gestellt hat und sich an der Entminung und der MINURSO beteiligt. Letztere ist allerdings um einen grossen Teil ihrer zivilen Mitglieder reduziert worden, seit im März 2016 Marokko rund 80 Personen hinausgeworfen hat. Vergessen wir nicht die parlamentarische Gruppe Schweiz-Sahara, die die Situation beobachtet und falls nötig bei der Regierung interveniert bezüglich der Rolle der Schweiz und ihrer Unternehmen. Ein Unterstützungskomitee für das Volk der Sahraouis in der Westschweiz und eines in der Deutschschweiz versuchen seit über 40 Jahren bei der Schweizer Bevölkerung, der Presse und den Politikern ein breiteres ­Interesse für die Situation der Sahraouis zu wecken.

Herr Nationalrat Tornare, vielen Dank für das Interview.

Interview Henriette Hanke Güttinger und Thomas Kaiser

Das verdrängte Gespenst der leeren Kornkammer

von Reinhard Koradi

zif. Am 6. März wird der Nationalrat darüber abstimmen, ob er die Initiative des Bauernverbandes zur Ernährungssicherheit, die eine Stärkung der einheimischen Landwirtschaft verlangt, unterstützen will, oder den vom Ständerat favorisierten bundesrätlichen Gegenvorschlag, der eine Erhöhung der Ernährungssicherheit im verstärkten Freihandel sieht. Der folgende Artikel liefert Argumente, die man bei der Entscheidung unbedingt einbeziehen sollte.

Bauern ernähren die Welt

«Wollen wir Klima, Biodiversität und Lebensräume von Mensch und Tier schützen, braucht es ein Ernährungssystem, das auf dem Wissen und der Arbeit von lokalen Bäuerinnen und Bauern basiert. Sie sind es, die vielfältige, biologische und lokal angepasste Nahrungsmittel für regionale Märkte produzieren. Bereits heute bauen Bäuerinnen und Bauern auf nur 25 Prozent der global verfügbaren Böden 60 bis 70 Prozent aller Nahrungsmittel an. Sie müssen in ihren Rechten und der demokratischen Mitbestimmung über Böden und Saatgut gestärkt und vor dem Vormarsch globaler Agrarkonzerne und Finanzinvestoren geschützt werden – im Interesse unseres Planeten und von uns allen.»¹

Die drei Forderungen – demokratische Mitbestimmung, Schutz der bäuerlichen Produktion vor dem Vormarsch globaler Agrarkonzerne und der Finanzinvestoren sowie die lokal angepasste Nahrungsmittelproduktion für regionale Märkte – sind die richtige Antwort auf die aktuellen Herausforderungen betreffend die Lebensmittelversorgung und damit auch im Kampf gegen Hunger und drohende Versorgungsengpässe. Dabei wäre es zu kurzsichtig, sich allein auf den biologischen Landbau abzustützen. Eine nachhaltige Produktion kann durch verschiedene Produktionsformen gewährleistet werden, entscheidend ist, dass diese regional verankert, sich durch eine betriebliche Vielfalt auszeichnet und weitgehend in den Händen bäuerlicher Familienbetriebe liegt. Bereits 2008 proklamierte der Weltagrarbericht² als Antwort auf die ungelösten Fragen im Kampf gegen Hunger und Armut die Abkehr von der industriellen Agrarwirtschaft zu Gunsten der örtlichen Lebensmittelproduktion durch bäuerliche Familienbetriebe. Diese zukunftsweisende Perspektive für eine möglichst sichere, ausreichende und ressourcenschonende Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln wird von den offiziellen Stellen aber weitgehend in den Wind geschlagen. Beeinflusst durch die neoliberale Wirtschaftsdoktrin geraten die nationalen Agrarwirtschaften immer mehr unter Druck. Die demokratische Klärung der Ernährungssouveränität wird durch das Diktat der Konzerne abgelöst, der Schutz der bäuerlichen Produktion wird vielfach dem Freihandel geopfert und die regionale Produktion soll der globalen industriellen Nahrungsmittelherstellung weichen.

Richtig eingefädelt, falsch umgesetzt

In Artikel 104 der Schweizerischen Bundesverfassung wird die einheimische Landwirtschaft zu einer nachhaltigen, auf den Markt ausgerichteten Produktion verpflichtet. Dabei soll sie einen wesentlichen Beitrag zur sicheren Versorgung der Bevölkerung, zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Pflege der Kulturlandschaft leisten sowie zu einer dezentralen Besiedelung des Landes beitragen.

An diesem in der Verfassung verankerten Auftrag an die Schweizer Bauern ist wenig auszusetzen. Doch in der Umsetzung hapert es bedenklich. Nicht wegen der Landwirte, sondern wegen der aktuellen Agrarpolitik des Bundes. Statt den Landwirten die Auftragserfüllung zu erleichtern, werden unter dem Einfluss neoliberaler Wirtschaftsauffassungen der bäuerlichen Lebensmittelproduktion existenzbehindernde Auflagen aufgebürdet. Im Zentrum stehen dabei die Forderung an die einheimischen Produzenten, auf Weltmarkt-Preisniveau zu produzieren sowie der anhaltende Verlust von Kulturland infolge einer enormen Bautätigkeit in unserem Land oder durch ausufernde Massnahmen im Rahmen von Gewässer-, Naturschutz und Biodiversität in Form von Naturpärken usw.

Obwohl die Produktionsbedingungen für Lebensmittel in der Schweiz auf einem weit höheren Kostenniveau und die Qualitätsanforderungen erheblich über dem internationalen Standards liegen, sollen die Schweizer Bauern ihre Produkte zu handelsüblichen, internationalen Tiefstpreisen verkaufen. Die in diesem Zusammenhang immer wieder  geforderte Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Landwirtschaft auf globalem Niveau ist realitätsfremd und führt in der Schweiz zu einer irreversiblen Strukturbereinigung, die letztlich den Versorgungsauftrag für die eigene Bevölkerung desavouiert. Dazu gehört auch die Kritik am Grenzschutz für die inländische Agrarwirtschaft. Sollte die Schweiz die Grenzen für Agrarprodukte öffnen – was zum Teil ja bereits geschehen ist, dann kommt es zu einem ruinösen Verdrängungswettbewerb. Ausländische Ware wird aufgrund des Preisvorteils die Inland-Produkte vom Markt verdrängen und damit die relativ feinmaschige Produktions- und Versorgungstruktur von Lebensmitteln zerstören, die im Bedrohungsfall überlebenswichtig ist. In eine Sackgasse führt auch das geltende Regime der Direktzahlungen. Ursprünglich sollten die Direktzahlungen die Differenz zwischen dem künstlich tiefgehaltenen Produktepreis für einheimische Landwirte und einem existenzsichernden Preis kompensieren. Inzwischen wurden die Direktzahlungen auf Druck der WTO (Welthandelsorganisation) respektive dem Freihandelsregime von der Produktion auf sogenannte ökologische Leistungen umgepolt. Mit dem Resultat, dass produzierende Landwirte auf ihren Produktionskosten sitzen bleiben und die Landschaftsgärtner belohnt werden. Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass die derzeitige Landwirtschaftspolitik nach neoliberalem Konzept in Bezug auf die Ernährungssicherheit kontraproduktiv ist. Die gängige Forderung nach quantitativen Wachstum durch internationale Wettbewerbsfähigkeit auf der Basis von Tiefstpreisen schadet in ihrer Gesamtheit der einheimischen Volkswirtschaft. Es gilt, zu differenzieren und auf die aktuellen Herausforderungen abgestimmte Lösungen zu entwickeln. Vor allem der Kleinstaat Schweiz mit seinen staatspolitischen Werten, wie Freiheit, Souveränität, Neutralität, Föderalismus und direkte Demokratie muss verhindern, dass der innere Zusammenhalt und unsere Unabhängigkeit Partikularinteressen geopfert werden. Die allzu einseitige Ausrichtung auf die Exportwirtschaft verhindert zum Beispiel den Blick für die nationalen Gesamtinteressen. Die Forderung, die Landwirtschaft müsse im Interesse anderer Wirtschaftsbereiche Opfer bringen, kann so nicht stehen bleiben. Der Freihandel mag in vielen Bereichen eine aussenhandelspolitische Option sein, allerdings nicht auf Kosten nationaler Sicherheits- und Souveränitätsbedürfnisse.

Geschichte sollte helfen, die richtigen Schlüsse zu ziehen

Missernten, kriegerische Konflikte können auch in unserer modernen Zeit zu erheblichen Versorgungsengpässe führen. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg sah sich die Schweizer Bevölkerung mit einer Hungersnot respektive einer ernsten Verknappung der Lebensmittel konfrontiert. Erhebliche und einschneidende Massnahmen waren zwingend, um die Not von den Menschen abzuwenden. Nach diesen einschneidenden Erfahrungen war man sich einig, dass es nie mehr zu derartigen lebensbedrohenden Engpässen kommen darf. Der politische Konsens war vorhanden, die Selbstversorgung weitgehend in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei war die Schweizer Bevölkerung  bereit, die notwendigen finanziellen Mittel für eine möglichst sichere Landesversorgung durch einheimische Landwirte bereitzustellen.

Dieser Konsens scheint in unserer modernen Zeit zu schwinden. Allerdings kommt die Verweigerung weniger von der Bevölkerung als vielmehr von den Behörden und Verwaltungen. Dass das Parlament zu dieser Entwicklung weitgehend schweigt, muss uns sehr nachdenklich stimmen und wirft die Frage auf, in wessen Dienst unsere Volksvertreter eigentlich stehen. Immerhin haben die Stimmberechtigten in der Schweiz drei Initiativen eingereicht, die grundsätzlich das Ziel verfolgen, die Ernährungssicherheit respektive -souveränität und die in der Schweiz gültigen Qualitäts- und Produktionsstandards zu schützen.

Trotzdem beteuert unser Wirtschaftsminister Bundesrat Schneider-Ammann öffentlich, dass er allfällige Versorgungsengpässe mit Lebensmitteln über den »freien Markt» lösen möchte. Diesem Trugschluss unterlagen die Schweizer Behörden schon vor dem 1. Weltkrieg. «Die Abhängigkeit der Schweiz vom ausländischen Getreidemarkt, die anfälligen Transportrouten und die mangelhafte Lebensmittelversorgung beschäftigten Politik, Gewerbe und Handel schon vor dem Krieg. 1913 forderte der eidgenössische Generalstabschef die Lagerung von Getreide für 100 Tage, der Bundesrat und das Militärdepartement einigten sich jedoch auf Vorräte für lediglich 60 Tage. Wirkungsvollere Massnahmen wurden durch drei Annahmen blockiert: Erstens diente als Vergleichsereignis der Deutsch-Französische Krieg. Der Generalstab ging deshalb von einer maximal sechsmonatigen kriegerischen Auseinandersetzung aus. Zweitens vertrauten die Verantwortlichen auf die Wirksamkeit internationaler Handelsvereinbarungen. Drittens rechneten die Verantwortlichen damit, dass die Versorgungswege mindestens in einem Nachbarland offen blieben. Falls nötig, sollte sich die Schweiz einem der Krieg führenden Blöcke annähern. Am Ende erwiesen sich alle drei Annahmen als falsch.»3 Und wie steht es heute mit diesen Annahmen? Erstaunlich, welche Parallelität zwischen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg und heute besteht. Warum ziehen Bundesbern, Wirtschaftsverbände und die eidgenössischen Verwaltungen solche Fehlschlüsse und überlassen die Pflicht der Landesvorsorge mit Lebensmitteln dem freien Markt?

Versorgungsengpässe sind eine reale Gefahr

Die Schweiz ist gut beraten, ihre Agrarpolitik bewusst auf die Realisierung einer möglichst hohen Selbstversorgung durch einheimische Produktion zu fokussieren. Wollen wir die Freiheit und Unabhängigkeit der Schweiz auch für die kommenden Generationen sichern, dann können wir unsere Versorgungssicherheit nicht ins Ausland abschieben. Mit der Vernachlässigung einer möglichst ausreichenden Versorgung der Schweizer Bevölkerung geben wir gleichzeitig unsere existenziellen Werte preis. Wir werden erpressbar, in Bündnisse getrieben, verraten damit unserer Neutralität und setzen die Schweiz als souveränen Staat aufs Spiel.

Noch leiden knapp 800 Millionen Menschen Hunger, die Weltbevölkerung wächst und das Kulturland für den Ackerbau wird immer knapper. Zudem ist die Welt nicht friedlicher geworden. Auch sollten wir uns ernsthaft Gedanken über unsere Eigenverantwortung in Bezug auf die Ernährungsfrage machen.

Die reale Welt ist für uns alle eine Herausforderung. Unser Privileg ist es, dass wir es weitgehend in unserer Hand haben, Beiträge zu einer gerechteren Nutzung der natürlichen Ressourcen zu leisten. Geht es um die Ernährungssicherheit oder -souveränität, dann sind primär Eigenverantwortung und Eigenleistung gefordert. Wir können unsere Versorgungssicherheit nicht auf Kosten Dritter lösen. Vielmehr sollten wir die in unserem Land vorhandenen Ressourcen (Kulturland, Wissen und Können der Bauern, landwirtschaftliche Familienbetriebe, Vielfalt) nutzen und gegen deren schleichenden Verschleiss ankämpfen. Die Grundlagen der Ernährungssicherheit liegen primär in den heimischen Böden, im Wissen und der Arbeit der Bauern und einem verantwortungsvollen Umgang mit den Lebensmitteln durch die Konsumenten. Eine weitsichtige Versorgungspolitik setzt dann auch primär auf die drei Pfeiler: - Schutz des Kulturlandes, immaterielle und materielle Existenzsicherung der produzierenden Landwirte und Bildung über einen verantwortungsbewussten Umgang mit Lebensmitteln. Diese drei Pfeiler muss eine verantwortungsvolle Versorgungs- und Sicherheitspolitik stützen und fördern. ■

¹ www.brotfueralle.ch
2 www.weltagrarbericht.de
3 Daniel Krämer, Christian Pfister, Daniel Marc Segesser: Wirtschafts- Sozial-  und Umweltgeschichte, Band 6. S. 213

Leserbrief

Landwirtschaftliche Familienbetriebe erhalten

Der Vorstand des Schweizerischen Bauernverbandes hat kürzlich Forderungen an die Agrarpolitik gestellt. Das zentrale Anliegen ist die Beibehaltung des Grenzschutzes für Agrargüter. Die Befürworter des Agrarfreihandels erhoffen sich dadurch mehr Wohlstand für die Landwirtschaft. Ich glaube jedoch, die Öffnung der Agrarmärkte bringe mehr Verlierer als Gewinner. Der wichtigste Produktionsfaktor der Landwirtschaft, der Boden, lässt sich bekanntlich nicht vermehren. In der Industrie und dem Dienstleistungssektor werden die Produktionsmöglichkeiten wesentlich durch den Produktionsfaktor Kapital bestimmt. Das ist für die Landwirtschaft ein grosser Nachteil. Durch intensivere Produktionsmethoden, ertragsreichere Sortenzüchtungen und den Einsatz von Düngemittel lässt sich dieser Nachteil teilweise wettmachen. Weiter verlangen die Abnehmer von landwirtschaftlichen Produkten von den Landwirten undifferenzierte, homogene Produkte. Für die Verarbeitung zu hochwertigen Endprodukten ist das zwingend. Die gegenseitige Abhebung der einzelnen Landwirte ist nur möglich, indem diese die Produkte billiger produzieren. Dies führt zu einem Verdrängungswettbewerb. Immer weniger Bauern produzieren immer mehr Produkte. So entstehen Überschüsse und die Preise der Produkte sinken. Aus diesen Gründen ist die Beibehaltung des Grenzschutzes für Agrarprodukte sehr wichtig. Dadurch wird das Verschwinden der landwirtschaftlichen Familienbetriebe gebremst, die nachhaltige einheimische Produktion von qualitativ hochwertigen Nahrungsmittel gesichert und die Erhaltung der gepflegten Kulturlandschaft garantiert.

Andreas Bringold, Landwirt, Kantonsratskandidat FDP,
Beinwil SO

Reformen aus politischen Gründen

Neoliberalismus und Schulreform (Teil 2)

von Dr. Alfred Burger, Erziehungswissenschafter

Im ersten Teil des Artikels über Neoliberalismus und Schulreformen wurde dargelegt, wie in der Schweiz ohne grossen Widerstand ein sehr bewährtes und vom Ausland bewundertes Schulsystem Schritt für Schritt umgekrempelt wurde. Mit dem Köder der «notwendigen Professionalisierung» hat man der Bevölkerung in verschiedenen Abstimmungen die Mitsprache in der Schule weggenommen. Erst heute regt sich langsam der Widerstand. Im folgenden wird aufgezeigt, dass die aktuellen Schulreformen auf ökonomischen Zielsetzungen basieren.

Die aktuellen Reformen haben keine pädagogischen Hintergründe, sondern allein ökonomische. Sie folgen der Logik des Neoliberalismus; die Schulen sollen wie andere ehemals gemeinwohlorientierte Einrichtungen wie Post, Eisenbahn, Elektrizität, Gesundheitswesen privatisiert werden. So, wie das in den USA schon weit verbreitet ist. Angefangen hat es bei uns mit Angriffen auf die «verknöcherten Strukturen», auf «veraltete Lehrmethoden» wie den Klassenunterricht. Individualisierung, Wochenplan, Projektunterricht usw. werden nun an den Pädagogischen Hochschulen als alleinig richtige Methoden vermittelt. Zudem ist auf struktureller Ebene die Mitbestimmung der Bevölkerung abgeschafft worden und hat einer zunehmenden Zentralisierung Platz gemacht.

Zusammenhänge zwischen Neoliberalismus und Schulreformen

Da ist einmal die Errichtung von autonomen Schuleinheiten zu nennen. Diese Strategie stammt aus den USA und entspringt dem neoliberalen Denken Milton Friedmans. Mit der Autonomisierung oder der sogenannt wirkungsorientierten Schulreform sollen die Schulen von der staatlichen Abhängigkeit befreit werden, wobei dann die Wirtschaft und die Bildungsindustrie die Aufgaben des Staates übernehmen.¹ Die Schule hat erweiterte Kompetenzen, sie organisiert sich in einem bestimmten, vom Staat vorgegebenen Rahmen selbst. Sie erhält ein Globalbudget und muss ihre Aktivitäten danach richten. Damit entsprechen die Schulen privaten Unternehmen. Sie sind wie die anderen Firmen im Staat von Regulierungen befreit und sollen möglichst ohne Einschränkungen durch staatliche Gesetze handeln können. Der Staat hat nur für einen Rahmen zu sorgen und die Regeln des Spiels festzusetzen. Friedman findet, der Staat solle sich darauf beschränken, nur einen Mindestkatalog zu verlangen.²

Bei uns werden darum die Schulen nur noch als Ganzes beurteilt, die Arbeit der einzelnen Lehrkräfte ist nicht mehr von Interesse. Es geht um die Wirkung und den Auftritt der verschiedenen «Schulfirmen» als Ganzes. Dazu gehört auch ein eigenes Logo, ein eigenes Leitbild im Sinne einer «Corporate Identity» mit Lehrkräften, die alle im gleichen uniformen Sinne arbeiten.

Schulen müssen vergleichbar werden

In der autonomen Schule geschieht die Steuerung durch den Staat nicht mehr administrativ, sondern in Form von Massnahmen wie Organisationsentwicklung und Supervision, die mithelfen sollen, die Schulen auf einen ähnlichen Stand zu bringen, damit man sie untereinander vergleichen kann. Dafür ist Qualitätssicherung nötig, d.h. Einführung von Leistungsuntersuchungen mit standardisierten Tests. Regionale Unterschiede müssen darum verschwinden. In Schulen, die einen hohen Anteil an fremdsprachigen Kindern haben, müssen Ausgleichsinstrumente geschaffen (z. B. mehr Geld für Zusatzstunden) oder ein Sozialindex erstellt werden, damit Vergleiche möglich werden. Und vergleichbar müssen die Schulen werden, damit die Kunden – Eltern und Kinder – entscheiden können, in welche Schulen sie gehen möchten. Die Vergleichbarkeit ermögliche ein Ranking unter den Schulen, was die einzelnen ansporne, sich zu verbessern. So wie die Eltern aufgrund der Qualität und der Preise von verschiedenen Produkten entscheiden können, bei welchem Hersteller sie kaufen möchten, werden sie sich dann die beste Schule für ihr Kind auswählen können. Das ist in angelsächsischen Ländern schon gang und gäbe. Auch hierzulande steht das an: So ist ein wesentlicher Punkt bei «HarmoS» die Einführung standardisierter Tests für die ganze Schweiz, damit Vergleiche gemacht werden können. Die Sprachentests werden dabei ganz von den europäischen Vorgaben (Europäisches Sprachenportfolio) übernommen.

Neoliberalismus im Klassenzimmer?

Ganz ausdrücklich wird im Zusammenhang mit den zukünftigen Schulen auch von «Kundennähe» und «Kundenorientierung» gesprochen. Die frühere Bildungsdirektorin des Kantons Zürich, Regine Aeppli, hat nicht zufällig bedauernd erwähnt, dass es für den Einsatz von Schulleitern, die eine Managerausbildung an der Universität abgeschlossen haben, noch etwas zu früh sei. Mittlerweile hat sich ihr Wunsch erfüllt. Schulleiter müssen keine Lehrer mehr sein. Es sind Manager. Nicht nur den Schulleitern, auch den Lehrern wird in der neoliberalen Welt eine ganz andere Rolle zugewiesen: Der Lehrer ist nicht mehr Lehrer, sondern Lerncoach, Lernbegleiter oder «Facilitator», wie es im Englischen heisst. Warum?

Nach Milton Friedman muss der Staat für Menschen, die im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht mehr mitkommen, lediglich gewisse elementare Bedürfnisse befriedigen, mehr aber nicht. Darum werde auch immer ein Mass an natürlicher Arbeitslosigkeit bestehen bleiben. Dieser Anschauungsweise entsprechend muss auch die Schule nur eine Sockelausbildung gewährleisten. Was darüber hinausgeht, ist Sache der einzelnen Schüler und ist ihnen freigestellt. Zusätzliche Ausbildung muss daher auch selbst finanziert werden. Wie in der Wirtschaft ist jeder frei, im Wettbewerb das zu erreichen, wozu er fähig ist. Die freie Marktwirtschaft erhebt die Entscheidungsfreiheit des Individuums ohne staatliche Eingriffe zum Prinzip. Die Selbstverwirklichung des Einzelnen gilt darum als bestes Mittel, seine Bedürfnisse zu befriedigen und die Freiheit zu erlangen. Wie alle anderen Menschen tragen auch die Schüler für ihr Handeln die alleinige Verantwortung, sie müssen von früh an aus eigenem Antrieb und selbstverantwortlich lernen. Als Konsequenz steht deshalb in der heutigen Schule das selbstgesteuerte, individualisierte Lernen an erster Stelle. Dass jeder als sich selbst herstellendes System zum unverwechselbaren Urheber seines eigenen Lernerfolges werden könne, ist die neoliberale Botschaft des Konstruktivismus. In der konstruktivistischen Theorie gibt es vereinfacht gesagt keine objektive Realität, jeder konstruiert sich seine Realität, die für ihn stimmt, selbst. Selbststeuerung beim Lernen heisst aber nichts anderes als funktionsgerechtes Verhalten. Am Ende wird jeder zu seinem eigenen «Kleinunternehmer» und jeder Lernende ist für Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich.³

Mit der Individualisierung ist nicht gemeint, wie der Begriff fälschlicherweise vorgibt, dass die Lehrer die Kinder individuell fördern sollen. Es geht in erster Linie um einen Wechsel der Lehrerrolle. Schön nach dem Credo Milton Friedmans tragen nämlich Schule und Lehrerschaft keine direkte Verantwortung für den Lernerfolg der Kinder. So wie auch eine Firma nur eine Verantwortung kennt, nämlich die Vermehrung des Gewinnes. Alle andere Verantwortung liegt in den Händen der Angestellten der Firma. Die ethischen Probleme, die sich daraus ergeben, werden dem Einzelnen überlassen.⁴ Genauso liegt es eben gemäss den Prinzipien der freien Marktwirtschaft in der Verantwortung der Kinder, ob sie lernen oder nicht. Dazu sind selbstverständlich nur Kinder in der Lage, die das Rüstzeug für eigenverantwortliches und selbstorganisiertes Lernen schon von ihrem Zuhause her mitbringen. Der neuen Lehrerrolle entsprechend darf der Lehrer die Kinder nicht mehr anleiten und zu einem gemeinsamen Ziel hinführen, er ist nur noch Coach, Animator, Lernbegleiter und stellt für die Kinder Material zusammen. Die Lehrer müssen sich aus dem erzieherischen Prozess heraushalten, weil das die Selbstbestimmung der Kinder einschränken würde. Wenn Eltern heute feststellen, dass Lehrer keine Diktate mehr machen, die Arbeiten der Kinder nicht mehr korrigieren und sie auf sich selbst zurückwerfen, sind das genau die Folgeerscheinungen dieser Theorie.

Die Formen selbstgesteuerten Lernens sind aber sozial selektiv. Sie bevorzugen die Kinder, die schon gelernt haben, sich zu disziplinieren und strukturiert zu arbeiten. «Im Windschatten der neoliberalen Rhetorik der Selbstentfaltung wartet eine immer rücksichtslosere Zweiteilung der Gesellschaft».⁵

Der Mensch befriedigt die Bedürfnisse der Wirtschaft – nicht umgekehrt

Wie heute in der Wirtschaft üblich, muss auch jede Person in der Ausbildung ein eigenes Portfolio führen, in dem aufgelistet ist, was sie im Laufe ihrer Schulzeit alles gelernt hat. Das soll schon im frühesten Schulalter geschehen. Gerade bei den Portfolios sieht man, dass es dabei gar nicht mehr um Bildung geht, wie sie früher verstanden wurde, es werden nur noch Fertigkeiten, sogenannte Kompetenzen, verlangt, die belegen sollen, dass eine Schülerin oder ein Schüler für das Bestehen in der Wirtschaft genügend Module vorweisen kann. Der heute verwendete Kompetenzbegriff läuft auf eine permanente Selbstanpassung an die Bedürfnisse des Marktes hinaus.⁶ Mit dem Begriff «Kompetenzen» wird eine Objektivität und Wertneutralität vorgegeben. In Wirklichkeit werden diese «Kompetenzen» von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), ein Wirtschaftverband, als Normen vorgegeben und entsprechen deren Vorstellung, was «in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben» notwendig sei.⁷ Die Menschen in Europa sollen sich also gemäss den Vorstellungen einiger Akteure in der OECD vorschreiben lassen, was ihren Kindern in den Schulen vermittelt werden soll. Die gleiche Stelle überprüft das dann mittels der PISA Tests auch noch selbst.
Es fügt sich alles zusammen: Auch HarmoS und der Lehrplan 21 sind nichts anderes als ein Einspuren der überaus vielfältigen, regional angepassten schweizerischen Bildungslandschaft in ein vereinheitlichtes Schulsystem in der Schweiz, damit es OECD konform unter deren Vorgaben gezwängt werden kann. Ist es einmal soweit zentralisiert, stehen die GATS-Verträge (Vereinbarung über die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen wie z. B. des Bildungswesens) schon bereit, die der Bund ohne Volksbefragung unterschrieben hat, damit das geplante, aber nie ausgesprochene und stets abgestrittene Endziel, nämlich die Öffnung und Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens nach angelsächsischem Vorbild vorangetrieben werden kann.

Das Vorgehen der Befürworter steht für die Falschheit und Unehrlichkeit, mit der sie die Reformen schleichend und ohne Diskussion mittels «Guerillataktik»⁸ durchdrücken. Mit schönen Begriffen soll dem Bürger etwas schmackhaft gemacht werden, was keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhält.

Folgerungen

Auch wenn nur einige wenige Punkte angeschnitten werden konnten, wird doch deutlich, dass in den letzten Jahrzehnten eine schleichende Ökonomisierung unseres Schulwesens stattgefunden hat. Deregulierung, Privatisierung und Autonomisierung erfassen zunehmend auch die Schulen in unserem Lande. Wir können die Entwicklungen in der Schweiz, z. B. die Vereinheitlichung unserer Schulsysteme mit HarmoS, nicht losgelöst von denen in anderen Ländern betrachten. Meyer und Ramirez, zwei Stanforder Bildungsforscher, bezeichnen diese Tendenzen als Teil einer «World Education Ideology».⁹

Da der Zusammenhang zu Milton Friedmans Chicagoer Schule und dem Neoliberalismus, der uns in eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen geritten hat, ganz offensichtlich ist, muss dringend ein Marschhalt stattfinden, damit die Bevölkerung in der Schweiz sich Gedanken machen kann, ob sie bei den Schulreformen in dieser Richtung fortfahren will oder ob angesichts des jämmerlichen Versagens dieser Theorien nicht eine Rückbesinnung auf die Pädagogik nötig wäre, um eine Volksschule einzurichten, die sich an wissenschaftlich haltbaren pädagogischen Theorien orientiert statt an den völlig haltlosen Theorien des Neoliberalismus. Die Frage stellt sich, weil wir sonst wie heute in der Wirtschaft auch im Bildungsbereich in 20 Jahren vor einem Kollaps stehen werden mit sehr weitreichenden Folgen für das Leben unsrer Jugend und unserer Demokratie. ■

¹ vgl. Steiner-Khamsi, G.: Szenario 2010 zur wirkungsorientierten Schulreform. In: VPOD-Magazin 108/98
² vgl. Friedman, M.: Kapitalismus und Freiheit.München 2002. S. 113
³ vgl. Pongratz, L.A.: Konstruktivistische Pädagogik als Zauberkunststück. In: Pongratz, L.A./Nieke, W./Masschelin, J.: Kritik als Pädagogik–Pädagogik als Kritik. Opladen 2004
⁴ Friedman M.: Kapitalismus und Freiheit, München 2002. S. 35
⁵ vgl. Pongratz, L.A.: Konstruktivistische Pädagogik als Zauberkunststück. In: Pongratz, L.A./Nieke, W./Masschelin, J.: Kritik als Pädagogik–Pädagogik als Kritik. Opladen 2004
⁶ vgl. Pongratz, L. A.: Plastikwörter. Notizen zur Bildungsreform. In: Engagement 3/2007, S. 161-170
⁷ vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) 2001, S. 16
⁸ vgl. NZZ vom 18.Februar 1992
⁹ Meyer, J./Ramirez, F.O.: The Globalisation of Education. Vortrag an der Humboldt Universität zu Berlin, Dezember 1998

Eindrücke aus den Flüchtlingslagern der Sahraouis

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Über die asphaltierte Strasse – so weit das Auge reicht nur Sand in unterschiedlichsten Gelb- und Ockertönen – erreichen wir die Krankenpflegeschule, über deren Eingang die Fahne der Demokratischen Arabischen Republik Sahara weht; die schlichten einstöckigen Gebäude, getüncht in den Farben der Wüste und des Himmels. Im Hof einige Moringabäume mit ihren essbaren, vitaminreichen Blättern, eine willkommene Nahrungsergänzung.

In einem Flüchtlingslager im Gebiet von Tindouf (Bild hhg)

In einem Flüchtlingslager im Gebiet von Tindouf (Bild hhg)

 

Das Gesundheitswesen orientiert sich an spanischen Grundlagen. Der Schulleiter hat sich in Kuba und Spanien ausgebildet. Die Schüler mit der Muttersprache Hassania brauchen oft zuerst noch Spanischunterricht, den der Anatomielehrer erteilt.

Die Ausbildung in allgemeiner Krankenpflege dauert 3 Jahre. Im ersten Jahr erfolgt die theoretische Ausbildung. Das 2. und 3. Jahr beinhaltet neben der Theorie Praktika in den Regionalspitälern. Danach erfolgt die Spezialisierung in Geburtshilfe und Gynäkologie oder im pädiatrischen Bereich. Trotz sehr bescheidener Mittel ist die Schule mit Engagement und Sorgfalt eingerichtet. Modelle zur Schwangerschaft und Geburt, ein Brutkasten sowie anatomische Modelle dienen der Veranschaulichung und der praktischen Übung.

Wo immer wir einen Besuch machen, treffen wir auf eindrückliche Persönlichkeiten, die mit Ernst, Entschiedenheit und Ausdauer ihre Aufgaben wahrnehmen. Nach ihrem Studium in Algerien, Kuba, Libyen, Syrien oder Spanien kamen sie zurück, um ihr Wissen für die Bevölkerung und für die Vorbereitung der Rückkehr in die Westsahara nutzbar zu machen –trotz widrigster Umstände und dem Wortbruch der internationalen Gemeinschaft.

So auch der Direktor des Regionalspitals, der in Algerien Pharmazie studiert hat. In der spärlich bestückten Zentralapotheke für die gesamte Wilaya1 – für 40 000 Menschen – fehlt es an vielen Medikamenten, vor allem auch für Kinder, die oft an Bronchitis, Husten und Ohrenproblemen leiden.

Im Sprechzimmer des Spezialarztes für Endokrinologie, der in Kuba und Spanien studieren konnte und seit 25 Jahren im Regionalspital tätig ist, erfahren wir, dass Kröpfe sehr verbreitet sind, denn im Trinkwasser hat es kein Jod. Auch Diabetes kommt häufig vor, vor allem der Typus 2, bedingt durch die einseitige Ernährung und den Mangel an Bewegung. Ebenso engagiert ist der Kinderarzt, der noch in der spanischen Kolonie Sahara und später in Kuba studiert und sich in Frankreich und Italien spezialisiert hat. Er arbeitet eigentlich im Gesundheitsministerium, praktiziert aber gleichzeitig regelmässig in allen Regionalspitälern. Nur am Freitag hat er frei. Das Spital verfügt zurzeit über 50 Betten und über ein Ultraschallgerät. Seine besondere Sorge gilt den schwangeren Frauen und den Kindern. Zwischen dem 1. und 5. Jahr werde das Gewicht präventiv überprüft. Für die Schulkinder bis 14 Jahre gebe es regelmässige Gesundheitschecks. Zudem sei für jede Schule eine Krankenschwester zuständig. Geimpft werde gegen Hepathitis B, Polio, Tetanus, Keuchhusten, Diphterie, Röteln und Masern, jedoch nicht gegen Meningitis und Rotaviren. Zwar würden UNHCR und WEP (Welternährungsprogramm) eine Zusatznahrung für Kleinkinder und schwangere Frauen abgeben. Dennoch wirke sich der Qualitäts- und Quantitätsmangel der Ernährung auf die Gesundheit aus: Mit einer ausgewogenen und genügenden Ernährung würde es viele Erkrankungen gar nicht geben.

Am folgenden Tag zeigt uns der Agronom Taleb Brahim einen der Familiengärten. Die ersten Keimblätter der Rüebli, Randen, Zucchetti und Gurken sind zu sehen, sorgsam bewässert aus dünnen Plastikschläuchen, die tröpfchenweise Wasser abgeben. Von Dezember bis Juni wird geerntet, danach legt die glühende Sommerhitze alles lahm. Als ursprüngliche Nomaden haben die Sahraouis keine Erfahrung mit Gärten, erklärt uns Taleb. Ein Familiengarten bedeutet auch, dass die Familie einen Teil des zugeteilten Wassers zur Bewässerung nutzen muss.

Jeder Sahraoui erhält von den internationalen Organisationen die gleiche Ration. Das führe zu Abhängigkeit verbunden mit Untätigkeit – so Taleb. Man müsse den Kindern zeigen, dass die Zukunft in ihrer Hand liegt. «Eines Tages kehren wir zurück. Dort haben wir nichts und müssen alles aus eigener Hand erschaffen. Landwirtschaft und Gärten sind dabei wichtig. In dieser Mentalität müssen wir die Kinder erziehen.»

Trotz aller Widrigkeiten sind die ungebrochene Würde, die sahraouische Identität und der Wille zur Rückkehr in die ursprüngliche Heimat in allen Generationen heute noch da. Eingeschrieben in arabischen Schriftzügen auf einer grossen Sanddüne ist zu lesen: «Entweder die Rückkehr oder der Tod.» Dieses Recht auf Rückkehr muss dem Volk der Sahraouis endlich gewährt werden. ■

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