«Julian Assange sitzt im Gefängnis, weil er Kriegsverbrechen aufgedeckt hat»

«Wenn Julian Assange ausgeliefert wird, wird es eine ungeheure Erosion der journalistischen Freiheit geben»

Interview* mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Sie setzten sich mit einer Veranstaltung am Europarat für Julian Assange ein. Warum?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Julian Assange ist im Belmarsh-Gefängnis in London inhaftiert und ihm droht die Auslieferung an die USA unter Androhung von 175 Jahren Gefängnis. Dabei wird ein Strafartikel aus dem Ersten Weltkrieg aktiviert, was völlig bizarr ist. Man hat den Eindruck, dass hier ein Exempel statuiert werden soll. Es ist ausgesprochen wichtig, dass diese Auslieferung verhindert wird. Das «Verbrechen», das Julian Assange begangen hat, ist, die Wahrheit zu veröffentlichen.

Wann beginnt der Prozess um die Auslieferung?

Am 24. Februar beginnt der Prozess. Und so ist das der richtige Zeitpunkt, dass sich der Europarat mit dieser Problematik beschäftigt, denn Julian Assange geniesst auch als australischer Staatsbürger den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das heisst, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist die letzte Instanz, die hier etwas ausrichten kann. Deshalb war der Europarat der richtige Ort, diese Veranstaltung durchzuführen.

Was wirft man Assange Strafbares vor?

Man muss wissen, dass Julian Assange im Gefängnis sitzt, weil er Kriegsverbrechen aufgedeckt hat. Er hat über die Plattform Wikileaks die Voraussetzung dafür geschaffen, dass schwerste Kriegsverbrechen, begangen durch die USA, öffentlich geworden sind. Es war Chelsea Manning, die in den USA als Soldatin diese Fälle weitergeleitet hat. Sie sitzt jetzt erneut im Gefängnis in den USA, weil sie sich weigert, gegen Assange auszusagen. Aufgegriffen haben es dann die Medien, insbesondere die europäischen. Wikileaks wurde zuerst in Frankreich angemeldet. Es waren die französische Le Monde, der britische Guardian und der deutsche Spiegel, die sich dieser Informationen bedient haben. Deshalb wird Assange gejagt.

Warum ist er jetzt in britischer Auslieferungshaft?

Er ist vor ungefähr sieben Jahren in die ecuadorianische Botschaft in London geflohen, weil der damals amtierende Präsident Rafael Correa ihm Asyl angeboten hatte. Später erhielt er die ecuadorianische Staatsangehörigkeit. Er konnte in der Botschaft bleiben, sie jedoch nicht verlassen. Schweden wollte ihn ebenfalls ausgeliefert haben. Der Vorwurf waren Sexualdelikte, bei denen nie ganz klar war, ob es sich tatsächlich um eine Vergewaltigung gehandelt hat oder nicht. Ich will das nicht lächerlich machen, so etwas kommt im realen Leben vor, aber das Ganze wirkte sehr aufgesetzt. Diese Anschuldigungen sind inzwischen alle fallengelassen worden, und es gibt nur noch ein Auslieferungsersuchen der USA. Davor hatte Julian Assange immer gewarnt. Er war bereit, nach Schweden zu gehen, wenn garantiert worden wäre, dass er nicht an die USA ausgeliefert wird.

Diese Garantie bekam er aber nicht...

Nein, Schweden hat das immer abgelehnt. Dazu kommt noch, dass die Auslieferung an die USA von Schweden aus einfacher gewesen wäre als von Grossbritannien aus.

Warum konnte er nicht in der ecuadorianischen Botschaft bleiben, was sicher auch keine langfristige Lösung bietet?

Correas Nachfolger, Lenin Moreno, ursprünglich ebenfalls ein Linker, hat nach seiner Wahl eine Kehrtwende vollzogen. In der Aussenpolitik orientiert er sich jetzt an den USA und wirtschaftspolitisch am IWF und dem Neoliberalismus. Dies führte dazu, dass Julian Assange in der Botschaft zunehmend unter Druck geriet. Man machte ihm extreme Auflagen, die nicht einzuhalten waren. Das war dann der Anlass, ihm ohne rechtsstaatliches Verfahren die Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen und ihn aus der Botschaft zu werfen.

Was bedeutete das für Assange?

Er wurde im April 2019 von der britischen Polizei verhaftet und in das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gebracht. Er war dort zunächst in Einzelhaft. Ende Januar wurde er dann, unter anderem, weil Mitgefangene dies gefordert hatten, verlegt und hat nun leicht verbesserte Haftbedingungen. Dort wartet er auf seinen Prozess. Bis zu seiner Festnahme in der Botschaft gab es noch kein offizielles Auslieferungsersuchen aus den USA, aber Julian Assange hat immer damit gerechnet. Kurz nach der Festnahme im Mai 2019 wurde dann die Anklage in den USA öffentlich, unter anderem auf Grundlage des Spionage-Acts von 1917, also aus der Zeit des ersten Weltkriegs. Assange ist australischer Staatsbürger und hat mit den USA nichts zu tun, aber die USA nehmen sich das Recht heraus, alle Menschen weltweit nach US-amerikanischem Recht zu verurteilen und zu verfolgen.

Welche Bedeutung messen Sie diesem Vorgang zu?

Es ist einer der zentralen Prozesse mit enormer Bedeutung für die Zukunft. Deshalb ist es mir so wichtig, dass sich auch der Europarat damit beschäftigt. Es geht um die Frage der Pressefreiheit. Über Wikileaks wurden Dokumente veröffentlicht, die Kriegsverbrechen belegen. Dafür soll Assange ausgeliefert werden. Wenn das passiert, wird es eine ungeheure Erosion der journalistischen Freiheit geben, die es zum Teil heute auch schon gibt. Aber das wird den Prozess noch beschleunigen. An Julian Assange soll ein Exempel statuiert werden. Gelingt dies, wird es andere Journalisten einschüchtern. Es wird Folgeprozesse geben. Jeder, der kritisches Material benutzt und dazu beiträgt, dass es veröffentlicht wird, wird ins Visier geraten können. Der Quellenschutz, der Schutz von Wistleblowern etc., das alles steht zur Disposition. Ich bin überzeugt, dass der Fall von Julian Assange einer der Schlüsselfälle für die internationale Politik im 21. Jahrhundert sein wird. Es ist von unglaublicher Bedeutung, dass diese Auslieferung nicht vollzogen wird.

Wie kann der Europarat hier aktiv werden?

Wir hatten während der Wintersession eine Veranstaltung mit verschiedenen Persönlichkeiten, bei der es um die Situation von Julian Assange ging. Über Video zugeschaltet war unter anderem der Schweizer Völkerrechtler Nils Melzer, der von der Uno zum Sonderberichterstatter über Folter gewählt wurde.

Wie äussert er sich zu dieser Sache?

Er hat bereits im Mai letzten Jahres Julian Assange mit Ärzten im Hochsicherheitsgefängnis in London besucht und die Weltöffentlichkeit mit dem Vorwurf der Folter konfrontiert, und zwar psychischer Folter, und dass bei Assange Symptome eines Folteropfers festzustellen sind. Er hat mehrere Artikel an grosse internationale Medien geschickt. Aber kaum einer wurde veröffentlicht.

Wer war sonst noch auf dem Podium?

Der Chef des Antifolterkomitees des Europarats CPT, Régis Brillat. Auch wenn das Mandat des CPT eine ganz andere Funktionsweise hat als das Uno-Mandat – es beschäftigt sich mit Staaten und nicht mit Einzelpersonen – so ist es doch ein Signal, dass er an der Veranstaltung dabei war. Teilgenommen hat auch der Chef der Internationalen Journalistenvereinigung IFJ, Anthony Bellanger. Er setzt sich stark für die Freilassung von Julian Assange ein. Er ist Journalist und bildet die Schnittstelle zwischen Wistleblowern und Journalisten. Assange ist Mitglied der australischen Sektion der IFJ. Auch der Vater von Assange, John Shipton, war anwesend. Er wollte am nächsten Tag seinen Sohn im Gefängnis besuchen.

Gab es einen Konsens in der Veranstaltung?

Ja, es war allen völlig klar, dass die Auslieferung verhindert werden muss. Auch waren sich die Anwesenden einig, dass der Europarat als Hüter der Menschenrechte aktiver werden muss.

Julian Assange ist sich auch bewusst, dass der Europarat bzw. die EMRK sein letzter Schutz vor einer Auslieferung sind. Er traut den britischen Behörden aufgrund der Nähe zu den USA nicht. Der Prozess wird am 24. Februar beginnen und zunächst eine Woche dauern. Nach einer Pause läuft er dann im Mai weiter und im Juni wird das Urteil in der ersten Instanz erwartet.

Was kann man da erwarten?

Die Einschätzung von den Unterstützern ist, dass im erstinstanzlichen Urteil der Auslieferung zugestimmt wird. Danach geht das Ganze in die nächste Instanz und hier stellt sich die Frage, was passiert. Das wird aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Wann kommt der Europarat ins Spiel?

Wenn die letzte Instanz in Grossbritannien der Auslieferung zustimmen würde, kann man an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangen. Das ist die letzte Hoffnung. Aber zunächst gilt es, das Verfahren bereits vorher zu gewinnen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Wo ist das Prinzip von Treu’ und Glauben geblieben?

von Thomas Kaiser

Das filigrane Werk der Schweizer Demokratie konnte sich deshalb entwickeln, weil das Prinzip von Treu’ und Glauben einen wichtigen Bestandteil unseres politischen und privaten Zusammenlebens darstellt. Man verlässt sich auf das Wort des anderen. Symbolisch gesprochen: Der Handschlag zählt. Doch seit einiger Zeit muss der politisch Interessierte wahrnehmen, dass dieser Grundsatz leider auch in unserem Land immer wieder missachtet wird, besonders im politischen Diskurs. Was in vielen Ländern schon lange nicht mehr gilt – man denke nur an unsere grossen Nachbarländer – hat auch in der Schweiz einen zunehmend schweren Stand.

Dass sich die Politik am Gemeinwohl zu orientieren hat, scheint heute immer weniger Verpflichtung zu sein. Persönliche Interessen, kurzfristige Gewinne oder Erfolge bestimmen häufig das Agieren in der Politik. Der frühere Konsens, dass das Volk das «letzte» Wort haben und sich zu grundlegenden politischen Entscheiden in Form von Referenden äussern soll, wird kaum noch beachtet. Besonders aussenpolitische bzw. europapolitische Fragen, die vielfach das grundsätzliche Staatsgefüge der Schweiz tangieren, sollen ohne Zustimmung am Volk vorbeigeführt werden. Leider hat dieses Verhalten eine längere Geschichte.

Schon in den frühen 90er Jahren propagierte die damalige Zürcher Stadträtin Emilie Lieberherr «einen Weg am Volk vorbei», um die vom Volk abgelehnten Fixer-Räume doch noch etablieren zu können. Man nannte sie einfach nicht mehr Fixerräume, sondern «Gesundheitsräume», und missachtete so das Abstimmungsresultat der Bevölkerung. Man führte uns regelrecht hinters Licht. Was damals im kleinen begonnen hat, scheint immer mehr Schule zu machen. Dazu gehört unter anderem der Beitritt der Schweiz zur Nato-Unterorganisation «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) im Jahre 1996, der ohne Befragung des Volks bei Nacht und Nebel vollzogen wurde. Die in der Folge dieses Schrittes durchgeführte Reform der Schweizer Armee, die sogenannte Armee XXI, wurde uns damals als Anpassung der Schweizer Armee an die neuen (welt)politischen Verhältnisse verkauft. Dabei war es nichts anderes als eine Anpassung an die Nato, um das «Konzept der Interoperabiltät» zu erfüllen. Die Argumentation für die Reduzierung des Armee- und Truppenbestandes bestand darin, dass man mindestens 5 bis 10 Jahre im voraus merke, ob sich ein Krieg abzeichne, und dann genügend Zeit bleibe, die Armee wieder hochzufahren. Schon damals war klar, dass diese Strategie nicht funktionieren wird, aber man hat sie wider besseres Wissen der Bevölkerung verkauft.

Volkswille nicht umgesetzt

Eine zunehmende Verluderung der politischen Sitten lässt sich schon länger vor allem in den europapolitischen Fragen beobachten. Immer wieder wurden Entscheide durchgeboxt mit Argumenten, die weit weg von der Realität lagen. Leider vergisst man solche Vorgänge immer so schnell. Zum Beispiel die von Volk und Ständen angenommene Alpeninitiative verlangte eine Reduzierung des alpenquerenden Schwerverkehrs auf 650 000 Fahrzeuge pro Jahr. Diese Forderung ist mehr als 20  Jahre her. Bis heute wird der Wille des Volkes nicht umgesetzt, sondern seit den Bilateralen I fahren 40-Tönner ungebremst quer durch unsere Alpen.

Der faule Gesetzesvorschlag zur (nicht)Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative gehört ins gleiche Kapitel. Ganz unabhängig davon, wie man diesem Anliegen gegenübersteht, die Mehrheit von Volk und Ständen hat diese Initiative angenommen. Die Politik, das Parlament, hat ein Gesetz daraus gemacht, das meilenweit vom Initiativtext entfernt ist. Damit hatte man den Volkswillen nicht umgesetzt, sondern sich der EU angebiedert, die mit diesem Gesetz «gut leben» kann.

Höhepunkt dieser Strategie ist die «geheime» Absprache zwischen der amtierenden Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Dass Frau Sommaruga sich so weit herablässt und mit Frau von der Leyen ein «Päckli macht», muss auch ihren Parteikollegen sauer aufstossen. Das Ganze sollte geheim bleiben und nicht bekannt werden. (vgl. Zeitgeschen im Fokus  2/2010). Ausgehandelt wurde, wie sich die EU am besten verhält, damit die Begrenzungsinitiative, eine Reaktion auf die Verwässerung der Masseneinwanderungsinitiative, von der Bevölkerung nicht unterstützt wird.

EU auf Schweiz angewiesen

Dieser ungeheuerliche Vorgang zeigt, wo wir heute in der Frage von Treu’ und Glauben stehen. Tatsache ist, dass Frau von der Leyen seitens der EU versprochen hat, keinen öffentlichen Druck auf die Schweiz zur Unterzeichnung des Rahmenabkommens bis nach der Abstimmung auszuüben. Jedoch: «Die EU-Kommission gibt der Schweiz nach der Abstimmung vom 17. Mai nur wenige Tage Zeit für ein klares Zeichen zum Rahmenabkommen.» Das ist das wahre Gesicht der EU. Mit Druck und – wenn es auch aus ihrer Sicht sein muss – mit Drohungen versucht sie, den Verhandlungspartner einzuschüchtern. Tatsächlich aber ist sie auf die Schweiz angewiesen. Ohne sie gibt es z. B. keinen Nord-Süd-Verkehr.

EU lehnt Nachverhandlungen ab

Der vom Bundesrat zur Beruhigung der Bevölkerung immer wieder ins Feld geführte Vorschlag, Nachverhandlungen zu führen, wird von der EU-Kommissionspräsidentin kategorisch abgelehnt. «Und von der Leyen betonte gegenüber Sommaruga auch, die EU sei bereit, gewisse Punkte im Rahmenabkommen zu präzisieren – nicht aber den Text nachzuverhandeln.»

Wir werden also wieder einmal an der Nase herumgeführt. Heute von Frau Sommaruga und morgen von Herrn Cassis und übermorgen… So geht es nicht weiter. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Bundesräte sich über den Volkswillen hinwegsetzen. Sie sind unserem Land und seinen Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet, und wenn sie das nicht wollen, gehören sie nicht in unsere Landesregierung.

Das Referendum über die Zukunft der Westsahara muss durchgeführt werden

Die Uno und ihre Mitgliedsländer sind in der Pflicht

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

In einem Artikel in «Le Temps»¹ plädiert der ehemalige Direktor des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge, Werner Blatter, dafür, den «sahraouischen Flüchtlingen eine Stimme zu geben». Sie sind «die vergessenen Flüchtlinge. Das Drama ihres Exils wird nicht bekannt gemacht in den Medien, die Geberländer interessieren sich nicht für ihre Lage», so Blatter. Genau so ist es: Seit 1976 sitzen die Flüchtlinge aus der Westsahara unter schwierigsten Bedingungen in der algerischen Wüste im Süden der Oase Tindouf. Zwar hat die Uno in über 100 Resolutionen das Recht der Sahraouis auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung anerkannt und ihnen 1991 eine Volksabstimmung über die Zukunft der Westsahara versprochen. Was ist bis heute geschehen? Nichts, nur leere Worte, das geht nicht. Als Uno-Mitglied hat die Schweiz eine ethische und eine humanitäre Verpflichtung. Sie muss den Sahraouis eine Stimme geben, indem sie aktiv wird und sich laut und deutlich einsetzt, dass die Uno-Resolutionen umgesetzt und die mit der Uno vereinbarte Volksabstimmung durchgeführt wird.

Im letzten Herbst bereiste ich die Flüchtlingslager, in denen die Sahraouis ihren Exilstaat, die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS)² aufgebaut haben. Was ich dort gesehen, gehört und erlebt habe, hat mich berührt. Ich möchte den Sahraouis «eine Stimme geben». In dieser Ausgabe soll über die Geschichte der Sahraouis berichtet werden.

 

Über Hunderte von Jahren nomadisierten die Sahraouis im Gebiet der heutigen Westsahara. Erste spanische Handelsniederlassungen im 15. Jahrhundert an der Küste hatten keinen Einfluss auf ihre Lebensweise. Als an der Berliner Kongokonferenz (1884/85) die europäischen Mächte Afrika unter sich aufteilten, erhielt das Königreich Spanien die Gebiete der Saghiet el Hamra und des Rio de Oro, die heutige Westsahara, als Kolonie Spanisch-Sahara, die als res nullius (ohne Wert)³ betrachtet wurde. Ab 1934 weitete Spanien seinen Einfluss auch im Inneren der Kolonie aus und errichtete ständige Militärposten. Auf die Lebensweise der Nomaden hatte dies kaum Einfluss. Bis in die 50er Jahre blieb die Spanisch-Sahara lediglich eine «Prestige-Kolonie, ohne jeden ökonomischen oder strategischen Wert für Spanien.»⁴

Eine Schatzkammer unter dem Sand

Interessant wurde die Westsahara für Spanien erst, als man 1947 auf Phosphat stiess. In den 50er Jahren fand man in Agracha Eisenvorkommen sowie das seltene Vanadium, ein wichtiger Rohstoff für die Luft- und Raumfahrt. Geologische Studien der 60er Jahre wiesen auf weitere Bodenschätze⁵ hin. 1962 wurde bei Bou Craa eine Mine mit vermuteten 1,7 Milliarden Tonnen hochwertigem Phosphat entdeckt. Ab 1968 wurde Phosphat gefördert, ein Förderband 100 Kilometer durch die Wüste zum Hafen El Ayoun gebaut und ab 1972 verschifft und gewinnbringend weltweit exportiert. 1975 war Bou Craa bereits das sechstgrösste Phosphatabbaugebiet weltweit.

Recht auf Selbstbestimmung von der Uno zugestanden

In den 50er und 60er Jahren mehrten sich in der 3.Welt die Bestrebungen, sich aus den kolonialen Fesseln zu befreien, und die Generalversammlung der Vereinten Nationen entschied 1960 mit der Resolution 1514 (XV), allen kolonialen Ländern und Völkern das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu gewähren.

Mit der Resolution 2072 von 1965 und mit der Resolution 2229 (XXI) von 1966 gestand die Uno Generalversammlung auch der Bevölkerung der Spanisch-Sahara das Recht auf Selbstbestimmung zu und forderte Spanien auf, eine Volksabstimmung über die Zukunft der Kolonie unter Aufsicht der Uno durchzuführen. 1967 stellte der spanische Diktator General Franco eine Volksabstimmung in Aussicht, die aber nie stattfinden sollte.

Anfänge der sahraouischen Unabhängigkeitsbewegung

Ende der 1960er Jahre hatte Mohamed Sidi Ibrahim Bassiri eine sahraouische Befreiungsbewegung⁶ gegründet, die 1970 zu einer Demonstration in Zemla, einem Stadtteil von El Ayoun, aufrief, bei der 2000 Sahraouis auf Transparenten ihre Unabhängigkeit forderten. Spanische Fremdenlegionäre schossen in die Menge, töteten 12 Personen und verhafteten Hunderte, die gefoltert wurden oder für immer verschwanden, so auch Bassiri.⁷

Im Frühjahr 1973 gründeten junge Sahraouis, die in Rabat studierten, um El Quali Mustafa Sayed die Frente Polisario (Befreiungsfront für Saghiet el Hamra und des Rio de Oro), um die Westsahara zu befreien. 1974 erklärte sich Spanien bereit, eine Volksabstimmung über den künftigen Status ihrer Kolonie durchzuführen und berechnete die Anzahl der abstimmungsberechtigten Sahraouis auf 38 336 Männern und 35 161 Frauen. Damit waren Marokko⁸ und Mauretanien nicht einverstanden. Sie erhoben Anspruch auf die Westsahara und verlangten von der Uno-Generalversammlung, dass sie vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag (ICC) ein Gutachten über den völkerrechtlichen Status der Westsahara einfordere.

UN Decolonisation Commitee und ICC beantragen Recht auf Selbstbestimmung

Im Frühjahr 1975 bereiste eine Delegation des UN Decolonisation Commitee die Westsahara, Marokko, Spanien, Algerien und Mauretanien. Sie stellte fest, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Westsahara die Unabhängigkeit wollte, und dass die Frente Polisario die wichtigste politische Kraft des Landes sei. In seinem Bericht beantragte das UN Decolonisation Commitee im Oktober 1975, dass die Uno-Generalversammlung es der lokalen Bevölkerung in der Westsahara ermöglichen solle, in Freiheit über ihre Zukunft zu bestimmen.⁹

Am 16. Oktober 1975 legte der ICC in seinem Gutachten unter anderem folgendes fest: «Die Sahara ist kein Niemandsland: Es gibt eine ansässige Bevölkerung, und diese hat ein Recht auf Selbstbestimmung.» Es habe zwar in der Kolonie Spanisch Sahara von Marokko und Mauretanien her rechtliche Beziehungen mit «einigen, aber nur einigen» Nomaden gegeben. Daraus könnten jedoch keine territorialen Ansprüche von Marokko und Mauretanien auf die Kolonie abgeleitet werden, so der ICC.

Marokko, Mauretanien und Spanien missachten das Völkerrecht

Der marokkanische König behauptete, mit dem Gutachten anerkenne die ganze Welt seinen Anspruch auf die Westsahara, die er nach Marokko zurückholen werde. Ab dem 31. Oktober infiltrierten marokkanische und mauretanische Truppen undeklariert die Westsahara. Am 6. November  1975 wurden in Lastwagen und Bussen 350 000 Marokkaner an die Grenze gebracht, die einige Kilometer in die Westsahara einmarschierten, worauf die Uno deren sofortigen Rückzug forderte.

Am 14. November kamen Spanien, Marokko und Mauretanien im Vertrag von Madrid überein, dass die Westsahara nach dem Abzug der spanischen Kolonialmacht zwischen Marokko und Mauretanien aufgeteilt werde.

Im Dezember 1975 eroberte Mauretanien die Städte Tichla und La Güera und Marokko stand vor El Aaiun, wo es zu ersten Gefechten mit der Polisario kam. Nachdem sich die Mehrheit der Bevölkerung im Innern der Westsahara vor dem Krieg in Sicherheit gebracht hatte, wurde sie von Marokko mit Napalm und Phosphor bombardiert. Die anschliessende Flucht führt die Sahraouis in die algerische Wüste in die Nähe der Oase Tindouf. Auf einem von Algerien zur Verfügung gestellten Gebiet errichteten sie ihre Flüchtlingslager und bauten ihren Exilstaat auf. Ein Teil der Sahraouis verblieb auch unter der Besatzung in der Westsahara.

Am 26. Februar 1976 verliessen die letzten spanischen Truppen die Westsahara. Eine neu gegründete Djemaa (Ältestenrat der Sahraouis), der nicht von den sahraouischen Stämmen legitimiert worden war, stimmt in Laayoune dem Vertrag von Madrid zu. Am 27. Februar riefen die Frente Polisario und die Mehrheit der Ältesten der sahraouischen Stämme in Bir Lehlou daraufhin die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus und kündigten den bewaffneten Kampf an mit dem Ziel, die Selbstbestimmung in der Westsahara zu erreichen.

Rückzug Mauretaniens und Vorstoss Marokkos

1979 verzichtete Mauretanien nach einem internen Machtwechsel im Vertrag von Algier auf seine Ansprüche in der Westsahara und übergab seine Rechte aus dem Abkommen von Madrid an die DARS. In der Folge wurde die Westsahara von Marokko bis an die mauretanische Grenze besetzt.

In den folgenden Jahren brachte die Polisario, mobil und motiviert, die marokkanische Armee zusehends in Bedrängnis. Darauf antwortete Marokko im Laufe der 1980er Jahre mit dem Bau eines verminten mit US-Elektronik ausgerüsteten Sandwalls (Berm). Der rund 2500 km lange Wall teilt heute die Westsahara auf in den von Marokko besetzten Teil (2/3) und in das von der Polisario befreite Gebiet (1/3).

Eine friedliche Lösung des Konfliktes …

Unter Vermittlung der Uno und der Organisation Afrikanischer Staaten kam es zu Verhandlungen zwischen Marokko und der Polisario, die 1991 zu einem Waffenstillstand führten unter der Bedingung seitens der Polisario, dass ein Referendum durchgeführt wird zur Frage, ob die Westsahara in das Königreich Marokko integriert oder ob die Westsahara unabhängig werde.

Im Frühling 1991 installierte der Uno-Sicherheitsrat die Uno-Mission für das Referendum in der Westsahara (MINURSO) mit dem Auftrag, den Waffenstillstand zu überwachen und das Referendum vorzubereiten und durchzuführen. Ab dem 6. September ruhten die Waffen. Anfang 1992 sollte die Abstimmung zur Frage Anschluss an Marokko oder Unabhängigkeit stattfinden. Gemäss der spanischen Volkszählung von 1973 in der Westsahara waren 73 497 Personen stimmberechtigt. Das Resultat der Abstimmung, die die MINURSO durchführen sollte, war für die Sahraouis klar. Sie würden bald in eine unabhängige Westsahara zurückkehren. In den Lagern wurde gepackt und die Heimreise vorbereitet.

… boykottiert von Marokko

Doch Marokko weigerte sich, die Anzahl der Stimmberechtigten anzuerkennen und bestand darauf, dass weitere 120 000 Personen, angebliche Sahraouis, von der MINURSO als Stimmberechtigte anerkannt werden. Nach jahrelangem Tauziehen legte die MINURSO am 17. Januar 2000 endlich fest, dass im Gesamten 86 386 Sahraouis stimmberechtigt sind. Marokko lehnte diesen Entscheid jedoch wieder ab und blockierte damit das Referendum zur Abstimmung über die Zukunft der Westsahara bis zum heutigen Tag.

Die Chronologie der MINURSO liest sich als Trauerspiel. Seit 1991 informiert der jeweilige Uno-Generalsekretär den Sicherheitsrat jedes Jahr über die aktuelle Situation im Konfliktgebiet. Dann erteilt der Sicherheitsrat der MINURSO das Mandat für das kommende Jahr, ein Vorgang, der sich seit 1991 wiederholt: Jahr für Jahr.10 Es ist zum Verzweifeln! Alle paar Jahre setzt der Uno-Generalsekretär einen Sonderbeauftragten ein, der mit den Konfliktparteien ohne Erfolg verhandelt und ein paar Jahre später seinen Posten resigniert zu Verfügung stellt. Dann wird der nächste Sonderbeauftragte ernannt …

Aber es muss nicht so bleiben. Mit dem Beitritt zur Uno hat die Schweiz Verantwortung übernommen und muss dafür sorgen, dass Uno-Resolutionen (unter anderen die Resolutionen 1514, 2072, 2092) für das Gebiet der Westsahara umgesetzt werden. Sie muss sich dafür einsetzen, dass der Sicherheitsrat der Uno der MINURSO endlich grünes Licht gibt, um die Volksabstimmung über die Zukunft der Westsahara durchzuführen. Heute ist die MINURSO – so der berechtigte Vorwurf der Sahraouis – «the protection of the occupation of the Westsahara»11. Und das darf nicht so bleiben. Die Schweiz und mit ihr 193 Länder der Weltgemeinschaft sind damit in der Verantwortung.

¹ Werner Blatter, Des réfugiés avec une voix et ceux sans voix, in: Le Temps, 13. Januar 2020
² Die DARS besteht aus den Flüchtlingslagern (Wilayas) Aousserd, Boujdour, Dakhla, El Ayoun und Smara. In der Wilaya Rabouni befindet sich der Verwaltungssitz der DARS.
³ minurso.unmissions.org
⁴ Elisabeth Bäschlin, Barbara Weingartner, Eine potentielle Schatzkammer, afrika-bulletin,

November/Dezember 2006, S.6.
⁵ Beryll, Chrom, Gold, Kupfer, Magnetit, Mangan, Nickel, Platin, Salz, Uran, Wolfram, Zinn. Vgl. Elisabeth Bäschlin, S. 6.
⁶ MLS, die Bewegung für die Befreiung von Saghiet el Hamra und Oued ed-Dab.
www.suks.ch/geschichte/
⁸ «1956: Allal El-Fassi, Führer der marokkanischen Unabhängigkeitspartei Istigal, behauptet, dass ‚Gross-Marokko’ ursprünglich bis zum Senegalfluss gereicht und Mauretanien, grosse Teile Westalgeriens und die Westsahara umfasst habe. Dazu veröffentlicht seine Parteizeitung am 7. Juli 1956 eine Landkarte.» www.suks.ch/geschichte/
minurso.unmissions.org
10 So erneuerte der Sicherheitsrat das Mandat der MINURSO mit der Resolution 2494 am 30. Oktober 2019 für weitere 12 Monate bis zum 31. Oktober 2020.

11 «der Schutz für die Besetzung der Westsahara»

 

«Welch herrliche Spende ist doch eine Kamelin und ein Schaf, die reichlich Milch geben – am Morgen eine Schale und am Abend eine zweite!»¹

Von ihrem Ursprung her sind die Sahraouis eine nomadisierende Stammesgesellschaft, deren kleinste Einheit die Familie in ihrem Familienzelt (Khaima) ist. Mehrere verwandte Familien bildeten eine Zeltgruppe, die zusammen mit anderen Zeltgruppen einen Stamm bildeten. Geführt wurden die Sahraouis vom Rat der Vierzig, von denen jeder einen der Stämme vertrat. Dem Rat der Vierzig oblag die Rechtsprechung und die Verteidigung. Der Rat befasste sich auch mit der Zuteilung des Weidelandes und der Wasserstellen zur gemeinsamen Nutzung.

Die Lebensweise der Sahraouis, wie sie der Begriff «Söhne der Wolken» charakterisiert, war bestimmt durch die ständige Suche nach Weideland und Wasser für ihre Geissen-, Schaf- und Dromedarherden, durch den Karawanenhandel und die Jagd. Dabei wurde auch in bewässerten Bodensenken, den Grayir, ausgesät und angebaut, so zum Beispiel Getreide. Wenn man später im Jahr wieder vorbeikam, konnte geerntet werden.

Da die Männer oft lange mit den Karawanen unterwegs waren, lag die Verantwortung für die alltäglichen Belange der Familien und des Stammes bei den Frauen. Sie bestimmten in den Familien, erzogen die Kinder, sorgten für die Nahrung, kochten, wuschen, schauten für die Tiere und kümmerten sich mit traditionellen Arzneien um die Kranken.

Die Milch, vor allem die der Dromedare, sowie das Fleisch ihrer Tiere waren traditionell die Grundnahrungsmittel der Sahraouis. Dromedarmilch enthält wertvolle Proteine, antibakterielle Inhaltsstoffe und dreimal so viel Vitamin C wie Kuhmilch. Dromedarmilch, die vorzüglich schmeckt, wurde und wird in einer grossen hölzernen Schüssel reihum gereicht, soweit sie verfügbar ist und überschüssige Milch wird an Bedürftige verteilt. 

Die Sahraouis sprechen hassania, viele von ihnen auch spanisch, die offizielle Sprache in der damaligen Kolonie Spanisch-Sahara.

¹ Sahih al-Buhari, XXXII:5

Die Verzweiflung darf nicht überhand nehmen …

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Auf Besuch im Lager Dakhla schlendern wir am Abend zwischen einstöckigen Lehmbauten und Zelten des UN-Flüchtlingshilfswerk durch den Sand und treffen auf eine Gruppe älterer Männer, die in ein Spiel vertieft im Sand sitzt. Wir bleiben stehen, schauen ihnen zu und kommen schon bald mit ihnen ins Gespräch. Unser Begleiter, Sekretär des Jugendministeriums der DARS, übersetzt. Der älteste der Männer, Abu Abdel Fata, zählt 90 Jahre. Ab 1975 kämpfte er im sahraouischen Widerstand, der Frente Polisario, gegen die marokkanische Besatzungsmacht in der Westsahara. Jetzt erklärt er uns, dass er die Draa, das traditionelle Männerkleid der Sahraouis abgelegt habe, und wieder das Militärkleid trage: «Es ist Krieg», sagt er.

Abu Abdel Fata rückt mit seinem Stäbchen vor.  (Bild hhg)

Abu Abdel Fata rückt mit seinem Stäbchen vor.  (Bild hhg)

 

Dann erzählt er aus seinem Leben. Als die Westsahara noch eine spanische Kolonie war, lebte er mit seiner Familie und den Verwandten in Zelten als Nomaden friedlich und genügsam. Mit ihren Tieren nomadisierten sie zwischen Mauretanien, der spanischen Kolonie Spanisch-Sahara und Marokko auf der Suche nach Futter und Wasser. Als sich Spanien 1975 aus seiner Kolonie zurückzog, eroberten Marokko und Mauretanien das Land, die heutige Westsahara. Mit dem Krieg musste Abu Abdel Fata seine Herde zurücklassen, die von den Marokkanern geschlachtet wurde. Man merkt, dass ihn das heute noch schmerzt. «Meine Familie brauchte 15 Tage, bis sie auf ihrer Flucht die kleine algerische Oase Dakhla erreicht hatte», so der alte Mann. Er selber schloss sich dem sahraouischen Widerstand an und kämpfte seit Ende 1975 gegen die marokkanische Armee. Nach einigen Jahren begann er als Polizist zu arbeiten, um die Flüchtlingslager zu schützen. Anschliessend wechselte er zur neugegründeten Gendarmerie.

Zu Beginn ihres Aufstandes hatte die Polisario keine Waffen. Er selber hatte nur einen Stock. «Dann überfielen wir einen marokkanischen Polizeiposten. Die Polizisten und die Soldaten liefen davon und liessen alle Waffen zurück, die nahmen wir alle mit. Die marokkanische Armee hatte keine Moral. Sie töteten unsere Tiere und vergifteten unsere Brunnen. Wir greifen niemanden an, wenn er uns nicht angreift. Damals ist die Religion¹ zwischen uns und den Marokkanern zerbrochen. Eine Koexistenz zwischen Marokko und den Sahraouis wird es nie geben. Es war schrecklich. Ich war in einem Versteck und beobachtete, wie Sahraouis Wasser holen wollten. Marokkanische Soldaten kamen, packten sie und verbrannten sie bei lebendigem Leibe. Es war entsetzlich», so der alte Mann. «1975 hatte Marokko mit der Eroberung der Westsahara begonnen. 1991 merkten sie, dass sie nicht mehr richtig vorankamen. Jetzt rannten sie zur Uno. Während 46 Wochen wurde verhandelt, bis man zu einem Übereinkommen kam, ein Waffenstillstand mit anschliessendem Referendum über die Zukunft der Westsahara, auf das wir bis heute warten! Wo ist die Uno jetzt, die EU, die Schweiz?»

Abu Abdel Fata kniet im Sand. Auch wenn er nicht mehr gut hört und am Stock geht, sein Geist ist klar, sein Widerstand ungebrochen. «Sie sind aus auf unsere Rohstoffe, es geht um’s Geld!» Mit der flachen Hand schlägt er energisch auf den Sand. «Die Weltgemeinschaft hat beschlossen, dass das sahraouische Volk in einem Referendum über die Zukunft der Westsahara bestimmen soll! Aber die Uno löst das nicht ein! Seit 1991 lassen sie uns in der Wüste warten! Die Polisario muss der Uno eine Deadline geben für das Referendum, oder wir greifen wieder zu den Waffen! Entweder die Rückkehr in unser Land oder den Tod!»

Die Sonne geht langsam unter. «Kein Sahraoui ist zufrieden, wenn er nicht in sein Land zurückkehren kann», so Abu Abdel Fata, dann steht er auf und verabschiedet sich mit den Worten: «Wenn wir die Westsahara befreit haben, dann ist unser Fisch auch für Euch.»² Gestützt auf seinen Stock, macht er sich auf den Heimweg.

Von der Absicht, wieder zu den Waffen zu greifen, hörten wir auf unserer Weiterreise immer wieder. Es sind keine Wirrköpfe und Spinner, die so reden. Es sind besonnene, engagierte Saharouis, die seit Jahrzehnten ihre Kraft und ihr Herzblut in ihrem Exilstaat in den Flüchtlingslagern einsetzen, um das Leben der Sahraouis unter schwierigsten Bedingungen erträglich zu machen. Auch die Sahraouis wissen, dass sie zu den vergessenen Flüchtlingen gehören. So ist es die pure Verzweiflung, die dazu führt, dass heute in den Flüchtlingslagern diskutiert wird, den Waffenstillstand von 1991 aufzukündigen und zum Krieg gegen die marokkanische Besatzung zurückzukehren.

Ein Journalist, der in den 1980er Jahren die Flüchtlingslager besucht hatte und dem ich von meiner Reise berichtete, schrieb mir folgendes: «Dein Bericht von den Sahraouis-Lagern hat mich traurig gemacht. Ich habe den Eindruck, dieser ‹vergessene Konflikt› ist jetzt endgültig von der Weltöffentlichkeit abgeschrieben worden. Und eine Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes wäre eine Verzweiflungstat, die mit einer katastrophalen Niederlage enden würde.» Er hat mir aus dem Herzen gesprochen und in Worte gefasst, was mir seit meiner Rückkehr immer wieder durch den Kopf geht.

Es gibt dringlichen Handlungsbedarf: Hier könnte Bundesrat Cassis und mit ihm die Schweiz zeigen, dass sie sich für die Einhaltung des Völkerrechts einsetzen.

¹ Sowohl die Marokkaner wie auch die Sahraouis bekennen sich zum Islam.
² «When we have got free the Western-Sahara, our fish will be for you.» Entlang der Küste der Westsahara gibt es reiche Fischgründe.

Bedeutung der «Good Governance» in der Entwicklungszusammenarbeit

Jahrespressekonferenz der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza)

von Thomas Kaiser

Anfang Februar lud die Deza zur Jahrespressekonferenz nach Bern, bei der es im besonderen um die Thematik der «guten Regierungsführung» (Good Governance) ging. Auf dem Podium sassen der Direktor der Deza, Botschafter Manuel Sager, Philippe Bovey, Generalsekretär der Schweizer Stiftung Hirondelle, und Dr. Andrea Iff, Fachspezialistin bei der Deza für Demokratisierung und lokale Gouvernanz.

Das Podium der Jahrespressekonferenz der Deza (Bild thk)

Das Podium der Jahrespressekonferenz der Deza (Bild thk)

 

Manuel Sager erklärte eingangs, es sei ein Kernanliegen der Entwicklungszusammenarbeit, einen Beitrag zur Minimierung der internationalen Risiken zu leisten. Unter diesen Risiken sind vor allem Wasserknappheit, Klimawandel, Epidemien, bewaffnete Konflikte und daraus resultierende Perspektivlosigkeit von jungen Menschen zu verstehen. Diese zu minimieren liege auch im Interesse der Schweiz, denn die Auswirkungen dieser Risiken machten vor den Landesgrenzen nicht Halt.

Deza im Bildungsbereich aktiv

Die Bildung, insbesondere die Berufsbildung, ist für die wirtschaftliche und politische (demokratische) Entwicklung eines Landes von grosser Wichtigkeit. Aus diesem Grund hat die Schweiz den Einsatz im Bildungsbereich, besonders in fragilen Ländern, um 50 Prozent erhöht, was sich laut Sager positiv ausgewirkt habe.

Die Zahl der Migranten wird weltweit mit 272 Millionen angegeben, wobei nicht alle freiwillig unterwegs seien. Die Migration birgt Positives und Negatives. Nach Manuel Sager könne sie beitragen, die Situation in den Heimatländern zu verbessern, indem die Migranten Geld in ihre Herkunftsländer schickten. Negativ sei sicher der Verlust an Arbeitskräften und Wissen in den Entwicklungsländern, was schwer zu kompensieren sei.

Der Ansatz der Deza richtet sich daher vor allem auf die Hilfe vor Ort. So unterstützt die Schweiz die Integration der Vertriebenen in den Aufnahmeländern oder versucht mit gezielter Hilfe, die Lage der Menschen in den von Unruhen und Krieg betroffenen Ursprungsländern zu verbessern.

Vertrauen in die Insitutionen schaffen

Das Schwerpunktthema der diesjährigen Konferenz bildete die «Good Governance». Damit, so Manuel Sager, hätten sie sich kein leichtes Thema vorgenommen. Es habe aber für die positive Entwicklung von Staaten eine entscheidende Bedeutung. Jedoch sei es nicht einfach, den Erfolg zu messen: Wann hat man Erfolg bei einer korrupten Regierung? Wie entsteht Vertrauen in die Institutionen, das Fundament einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung? Auch wenn die Messbarkeit schwierig sei, investiere die Deza in diesen Bereich. «Mitreden ist wichtig, auch wenn das in manchen Partnerländern noch nicht möglich ist.» Mitreden sei auch kein Selbstzweck, sondern Mitreden schaffe Vertrauen. Nach Manuel Sager ist das Vertrauen ganz entscheidend für eine demokratische Entwicklung. «Wenn kein Vertrauen in die Institutionen vorhanden ist, schauen die Menschen für sich selbst und somit gilt am Schluss das Recht des Stärkeren», was eine Zersetzung der Gesellschaft nach sich ziehe.

Die Schweiz engagiert sich z. B. bei der Entwicklung einer besseren Verwaltung bzw. besserer öffentlicher Dienstleistungen und  fördert die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger.

Die Schweizer Stiftung Hirondelle ist ein «Schlüsselpartner» der Deza, die z. B. einen verantwortungsbewussten Journalismus in Konfliktsituationen, nach der Beilegung eines Konflikts, bei humanitären Krisen oder im demokratischen Wandel unterstützt.

Philippe Bovey stellte als Beispiel das Radioprogramm «Studio Tamani» in Mali vor. Ziel dieses Senders ist es, einen Beitrag zur friedlichen Beilegung der vielen Konflikte in der Region zu leisten.

Deza setzt 133 Projekte um

Andrea Iff erklärte in ihrem Referat die Bedeutung der «Good Governance» für die Menschen in Ländern, in denen der demokratische Diskurs keine Selbstverständlichkeit darstellt. Für die Deza gibt es drei Gründe, warum sie sich im Bereich der guten Regierungsführung engagiert. Zum einen bilde sie «einen Katalysator für alle übrigen Entwicklungsziele und Investitionen». Das zweite sei das Element des Vertrauens und der Konfliktprävention, das unabdingbar für die Entwicklung eines Staates sei. Als dritten Aspekt erwähnte Andrea Iff, dass die «gute Regierungsführung ein Ziel an und für sich» sei und nicht nur ein «Mittel zum Zweck». Die Unterstützung umfasse ein weites Feld. Es beginne bei der Förderung von Antikorruptionsbemühungen, über Stärkung des Parlamentarismus bis hin zur Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Insgesamt setzt die Deza 133 Projekte in diesem Bereich um. Als konkretes Beispiel nannte Andrea Iff unter anderem Tansania, ein Land, das einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und in dem eine relativ grosse Meinungs- und Pressefreiheit bestanden habe, die aber in den letzten Jahren zunehmend unter Druck gekommen sei. Die Deza unterstützt aus diesem Grund fünf zivile Organisationen, die sich dafür einsetzen, dass die Bürgerinnen und Bürger besser an politischen Prozessen teilnehmen können. Eine zentrale Rolle bei dieser ganzen Entwicklung spielt natürlich der Bildungssektor. Je besser die Menschen ausgebildet sind, um so eher werden sie sich für die Politik ihres Landes interessieren.

Damit leistet die Deza mit ihrem systematischen Ansatz einen gut durchdachten Beitrag, um die Lebenssituation und -qualität der Menschen in den Partnerländern entscheidend und langfristig zu verbessern.

«Die Schweiz geniesst besondere Glaubwürdigkeit»

«Das Hauptziel der Arbeit ist, das Vertrauen zwischen Bürgern und den Behörden bzw. der Regierung herzustellen»

Interview mit Botschafter Manuel Sager, Direktor der Deza

Botschafter Manuel Sager (Bild thk)
Botschafter Manuel Sager (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Warum engagiert sich die Schweiz besonders auf dem Feld der «Good Governance», der guten Regierungsführung?

Botschafter Manuel Sager Wir sind es in der Schweiz gewöhnt, dass wir bei wichtigen gesellschaftlichen Fragen mitsprechen können. Wenn wir mit etwas nicht einverstanden sind, können wir uns öffentlich beschweren, und zwar gefahrlos. Diese Mitsprache, die oft auch zu einer Verbesserung der persönlichen Situation führt, schafft bei den Menschen Vertrauen in die Institutionen. Das Hauptziel der Arbeit im Bereich der«Good Governance» ist also das Vertrauen zwischen Bürgern und den Behörden bzw. der Regierung herzustellen. Das schafft Stabilität.

Das heisst, Sie wirken auf zwei Ebenen …

Tatsächlich arbeiten wir mit den Regierungen zusammen, die anerkennen, dass ein Gouvernanz-Problem besteht, z. B. Korruption auf allen Stufen der Gesellschaft. Dort, wo die Regierung das sieht, können wir mit ihr zusammenarbeiten. In gewissen Ländern ist die Regierung aber ein Teil des Problems. Dort arbeiten wir dann vor allem mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Dazu gehören auch die Medien. Sie sollen in die Lage versetzt werden, gute Regierungsführung einzufordern, Korruption aufzudecken und konstruktiv an diesem gesellschaftlichen Dialog teilzunehmen.

Wie nehmen die Menschen das auf, wenn sie am politischen Geschehen teilnehmen können?

Die Reaktion ist gut. Wenn wir mit unserem Beitrag dazu verhelfen, dass Plattformen geschaffen werden – das kann online sein oder auch über öffentliche Foren -, in denen sich die Leute zu Wort melden und ihre Klagen vorbringen können und dabei realisieren, dass es auch etwas nützt, dann hat das eine positive Wirkung auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat.

Ist die Schweiz hier allein aktiv oder gibt es auch andere Staaten, die sich an diesem Prozess beteiligen?

Die gute Regierungsführung wird international als Katalysator für jede gesunde gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung anerkannt. Es gibt auch andere Länder oder Institutionen, die in diesem Bereich arbeiten. Die Schweiz hat aber schon eine besondere Glaubwürdigkeit. Wir sind neutral, wir haben keine politische Agenda. Uns nimmt man es ab, dass es uns um die Sache, um die gute Regierungsführung geht, und das ist sicher ein Vorteil.

Herr Botschafter Sager, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

«Unsere Partnerländer hegen ein grosses Interesse an unserem Schweizer System»

«Wir können unser System nicht einfach exportieren»

Interview mit Dr. Andrea Iff, Fachspezialistin Demokratisierung, Dezentralisierung und Lokale Gouvernanz, Deza

Dr. Andrea Iff (Bild thk)
Dr. Andrea Iff (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie versucht man die Menschen zu aktivieren, um am demokratischen Entscheidungsprozess teilzunehmen?

Dr. Andrea Iff Ein aktuelles Beispiel ist Tansania. Dort unterstützen wir fünf grosse lokale zivilgesellschaftliche Organisationen, die diese Mitsprache im ganzen Land fördern sollen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Wir unterstützen lokale Organisationen in ihren eigenen Zielsetzungen. Es ist sehr wichtig, die Zivilgesellschaft in einem Land an und für sich zu unterstützen und sie nicht als Dienstleister für die Entwicklungszusammenarbeit zu brauchen. Das heisst aber auch, wir schreiben den Organisationen nicht vor, zu welchen Themen sie die politische Teilhabe fördern sollen. Im Moment werden Organisationen in den Bereichen Landwirtschaft, lokale Dienstleistungen wie Wasser, Schulen, aber auch Gewalt gegen Frauen und lokale Statistik unterstützt.

Wer ist die Zielgruppe? Wie erreicht man diese Menschen?

Die Mitarbeiter dieser Organisationen gehen in die Regionen, in die Dörfer, oder sind selbst aus diesen Regionen. Wenn sie eine gute nationale Politik entwickeln wollen, bei der die Menschen mitgestalten können, dann braucht es auch Stimmen aus der Peripherie. Zuerst geht es darum, zu informieren, dass ein bestimmter politischer Prozess läuft, und worum es dabei geht. Informationen müssen bereitgestellt werden oder auch die Möglichkeit des Austauschs mit einer oder mehreren Fachpersonen. Dann geht es darum, die Menschen zu befähigen, überhaupt ihre Meinung dazu zu sagen, auf Neudeutsch heisst das «Empowerment». In einem weiteren Schritt werden Möglichkeiten für eine Diskussion geboten, für einen Austausch unter den Betroffenen. Danach können die Leute Vorschläge erarbeiten, prüfen und für ihre Gruppe Entscheidungen oder eine Auswahl treffen. Diese können dann in den Prozess eingespeist werden.

Könnten Sie ein konkretes Beispiel schildern?

Spannende Beispiele sind öffentliche Budget-Prozesse. Es ist bei uns in der Schweiz auch nicht immer einfach, ein Budget auf der Gemeindeebene zu verstehen. Es geht darum, zuerst zu verstehen, was die Zahlen oder auch eine Veränderung der Zahlen im Budget bedeuten, um danach die Folgen für bestimmte Politikbereiche, z. B. die Bildung oder die Wasserversorgung abzuschätzen und zu beeinflussen. Damit Menschen sich getrauen, in diesen Prozessen mitzusprechen, müssen sie bestärkt und ihre Meinung abgeholt werden.

Bleibt das auf regionaler Ebene?

Wenn solche Prozesse an verschiedenen Orten in einem Land unterstützt werden, können unsere Partner genügend Informationen sammeln, um nachher auch Gesetze auf nationaler Ebene zu beeinflussen.

Kann man sagen, dass man hier im Sinne der Demokratie den Aufbau von unten fördert?

Ja, das ist richtig so. Dabei ist es wichtig, dass die Deza die Zivilgesellschaft stützt, um Rechenschaft von der Regierung zu verlangen, aber es ist auch wichtig, eine öffentliche Verwaltung zu haben, die auf diese Anforderungen reagieren und Mitsprache berücksichtigen kann. Deshalb unterstützen wir immer beide «Seiten» der Gouvernanz-Gleichung. Ausser in einem Land wird es schwierig, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, beispielsweise, weil sie Menschenrechte verletzt, dann unterstützen wir nachhaltige Entwicklung via andere Kanäle.

Inwiefern steht unsere starke und ausgeprägte Demokratie Pate bei dem ganzen Engagement?

Es ist häufig so, dass unsere Partnerländer ein grosses Interesse an unserem Schweizer System hegen. Wir als Spezialistinnen sind uns aber bewusst, dass wir unser System nicht einfach exportieren können. Die Mitsprache kann in einem anderen Land ganz anders funktionieren als bei uns. Es braucht Sensibilität, um zu wissen, unter welchen Bedingungen sich beispielsweise Frauen in einer grossen Gruppe von Menschen äussern oder ethnische Minderheiten sich zu Wort melden. Es geht also darum, dass ich nicht einfach mein Schweizer Modell und mein Verständnis von Demokratie in ein Land «hineinpflanze», denn das funktioniert nicht. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort so wichtig, weil sie die Sensibilitäten der eigenen Bevölkerung am besten kennen.

Nepal hat neu eine föderale Verfassung. Wie kam die zustande?

Nepal ist eines der traditionellen Partnerländer der Schweiz. Die Schweiz ist schon lange in diesem Land tätig. Nach einem jahrelangen gewaltsamen Konflikt gibt es eine neue föderale Verfassung. Im bisherigen System gab es den Zentralstaat, Distrikte und Gemeinden, die nur administrative, aber wenige politische oder finanzielle Rechte hatten. Neu wurden zum einen Regionen geschaffen (in der Schweiz wären dies Kantone), und alle Ebenen verfügen neu auch über politische Rechte. Das heisst, ein föderales System musste eigentlich ganz neu etabliert werden. Das Ganze findet in einem schwierigen politischen Kontext statt. Eine Auswirkung davon ist, dass die neuen Provinzen bis anhin noch keine Namen haben, weil diese ein «Politikum» sind. Sie sind nur numeriert, Staat 1, 2 und so weiter.

Was macht jetzt die Deza in diesem Prozess? Der Föderalismus ist bei uns von grosser Bedeutung.

Die Schweiz unterstützt in Nepal diesen Föderalisierungsprozess und hilft beispielsweise dabei, die regionale Ebene zu stärken durch den Aufbau einer funktionierenden Administration und politischer Organe im Staat. Oder auch dabei, die intergouvernementalen Organisationen und Prozesse neu zu etablieren oder die Verteilung von Ressourcen zu organisieren. Das wäre in der Schweiz beispielsweise die Konferenz der Kantonsregierungen oder unser Nationaler Finanzausgleich. Das Schweizer System ist hier sicher interessant und kann wichtige Impulse liefern.

Was ist Ihre Aufgabe in diesem Bereich?

Wir haben lokale und schweizerische KollegInnen in den Kooperationsbüros und Botschaften in unseren Partnerländern, die jeweils die Gouvernanzprojekte betreuen und die Partnerpflege vor Ort sicherstellen. Unsere thematische Einheit hier in Bern unterstützt den Wissensaustausch zwischen Bern und den Partnerländern, systematisiert. Erfahrungen aus den Ländern werden hinzugezogen, wenn Unterstützung in konkreten Projekten benötigt wird. Wir unterstützen zudem den Austausch unter KollegInnen, verfolgen die wissenschaftliche Gouvernanz-Forschung und prüfen deren Nützlichkeit für die Programmumsetzung, vermitteln Fachpersonen aus der Schweiz oder thematische Experten aus dem Ausland, unterstützen Evaluationen und nehmen am internationalen Dialog zu Gouvernanzthemen teil.

Frau Dr. Iff, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

 

Projektbeispiele

Die Deza setzt die gute Regierungsführung als transversales Thema und mit gouvernanzspezifischen Projekten in Afrika, Lateinamerika, der Karibik, Asien, Osteuropa und in Eurasien um.

In Benin setzt die Deza ein Dezentralisierungsprojekt im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen um. Die beninische Regierung ist bestrebt, die Gemeindebehörden stärker in die Verantwortung einzubinden. In den zwei Departementen Borgou und Alibori begleitet die Deza daher den Aufbau von lokalen Entscheidungs- und Handlungsstrukturen. Gute öffentliche Dienstleistungen hängen von verschiedenen Faktoren ab. Einer davon ist, dass Behörden gegenüber der Bevölkerung Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen müssen. Die Deza unterstützte dafür die Schaffung von sogenannten «Cellules de participation citoyenne», die an den Beratungen der Gemeinderäte teilnehmen. Auch setzte sich die Deza für Streitgespräche in Lokalradios ein und förderte Frauenkandidaturen. Diese Anstrengungen haben dazu geführt, dass bereits mehrere Bürgermeisterinnen und Bezirkschefinnen gewählt wurden.

Der Kosovo setzt sich seit seiner Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2008 für Reformen und eine Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung ein. Zur Stärkung der Autonomie und lokalen Demokratie in den 38 Gemeinden des Landes unterstützt die Deza mit dem Projekt «Decentralisation and Municipal Support» (DEMOS) die Gemeinden beim Aufbau von öffentlichen Dienstleistungen. So wurden etwa die Steuereinnahmen auf der Gemeindeebene erhöht, wodurch lokale Infrastrukturen verbessert werden konnten. Mit einem innovativen, leistungsorientierten Finanzierungssystem, das die Einnahmen derjenigen Gemeinden erhöht, welche gute Resultate beispielsweise im Bereich der Bürgerbeteiligung erzielen, werden die Gemeinden dazu motiviert, ihre öffentlichen Angebote zu verbessern.

Quelle: Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza, Factsheet «Gouvernanz und Rechtsstaatlichkeit», Januar 2020

 

«Eine Welt»

«Un seul monde – Eine Welt – Un solo mondo» ist das vierteljährlich erscheinende Magazin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Es richtet sich an ein breites Publikum, das sich für Fragen der Entwicklungszusammenarbeit interessiert, beleuchtet die Hintergründe und liefert regelmässig Informationen über wichtige Themen aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit.

Das Magazin wird von der DEZA verlegt, ist aber kein Verlautbarungsorgan der Direktion. Andere Meinungen können darin ebenfalls zum Ausdruck kommen; die Artikel reflektieren nicht notwendigerweise die Ansichten der DEZA oder der Bundesverwaltung. Dieser Auffassung folgend, werden die Inhalte von einer externen Redaktion erstellt.

«Un seul monde» erscheint in drei Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch) Ende Februar, Ende Mai, Ende August und Ende November. Die Druckversion des Magazins ist in der Schweiz gratis und wird an über 37 000 Abonnentinnen und Abonnenten versandt.

Quelle: https://www.eine-welt.ch/de/ueber-eine-welt

 

Offener Brief an Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga: Wölfe bringen Mutterkühe in Rage

«Der Bevölkerungsschutz muss über dem Wolfsschutz stehen»

Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin Sommaruga,

Bitte helfen Sie uns.

Wir, die unterzeichnenden Mutterkuhhalter im Einzugsgebiet des Wolfsrudels Obersaxen, mussten im vergangenen Sommer erstmals üble Erfahrungen mit Angriffen auf Mutterkuhherden machen. Nach einem solchen Angriff gerieten unsere Mutterkuhherden völlig ausser Kontrolle. Das Wolfsrudel in Obersaxen hat jegliche Scheu vor unseren Siedlungen verloren und streunt in Obersaxen regelmässig in den Dörfern herum. Es hat schon Wildrisse in unmittelbarer Dorfnähe gegeben.

Das Problem:

Greift ein Wolfsrudel auf der Alp oder auf dem Heimbetrieb eine Mutterkuhherde an, reagiert diese äusserst aggressiv. Eine eigentlich handzahme Mutterkuhherde gerät dann derart in Rage, dass sie einer Lawine gleich alles niedertrampelt, was sich ihr in den Weg stellt. Nach einem solchen Vorfall könnten wir für die Sicherheit von Wanderern und unseren Alphirten nicht mehr garantieren und müssten jede Haftung für unsere Tiere ablehnen. Auch unsere eigene Sicherheit wäre akut gefährdet, weil sich die Tiere bis in den Winter hinein äusserst sensibel und nervös verhalten. Sie erhöhen dadurch die Unfallgefahr selbst im Stall in einem nicht verantwortbaren Masse. Wir sehen uns daher verpflichtet, Sie ausdrücklich auf diese Tatsache aufmerksam zu machen und geeignete Massnahmen zu ergreifen.

Diese sind inzwischen dringend geworden: Letzten Sommer umfasste das Rudel noch zwei jagdfähige Wölfe, welche es vorwiegend auf Kleinvieh abgesehen hatten. Dieses Rudel war noch zu schwach, um Jagderfolge bei einer Mutterkuhherde zu verzeichnen. Trotzdem haben sie bei unseren Herden bereits panische und gefährliche Reaktionen hervorgerufen. Diesen Sommer wird das Rudel mindestens 5 jagdfähige Wölfe umfassen!

Den ganzen Sommer hindurch hat die Wildhut Vergrämungsversuche durchgeführt. Ohne Erfolg. Unserer Meinung nach kann die nötige Scheu vor den Menschen und vor unseren behirteten Herden nicht mehr hergestellt werden. Wir haben keine Angst vor unmittelbaren Wolfsangriffen, aber vor den Gefahren durch aufgebrachte Mutterkuhherden. Der Bevölkerungsschutz muss über dem Wolfsschutz stehen.

Aus diesen Gründen fordern wir Sie respektive das zuständige Amt dringend auf, jetzt zu handeln, um die sich abzeichnende Tragödie noch abzuwenden. Wir fordern die unverzügliche Entnahme des Wolfsrudels Obersaxen aus der Wildbahn (vielleicht durch Betäuben und Verlegen in ein Gehege).

Wir danken Ihnen schon heute für Ihre rasch verfügten Massnahmen. Für Fragen und detailliertere Ausführungen stehen wir gerne zur Verfügung.

Freundliche Grüsse

Mutterkuhhalter im Einzugsgebiet des Wolfsrudels Obersaxen GR¹

¹ 41 Mutterkuhhalter haben den offenen Brief unterzeichnet. Der Name der Kontaktperson ist der Redaktion bekannt.

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