«Dialog anstatt Krieg»

«Die Schweiz soll sich auf die konsequente Einhaltung der Neutralität besinnen»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie als jahrzehntelanger Uno-Beamter und ehemaliger Unabhängiger Experte der Uno das Bestreben des Schweizer Bundesrats, einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat zu erhalten?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Das besondere Merkmal und vielleicht die wichtigste und vornehmste Eigenschaft der Schweiz ist ihre Neutralität und daran gekoppelt die Tatsache, dass die Schweiz seit Jahrzehnten als Mediatorin in Konfliktfällen fungiert hat und in der Zukunft weiterhin fungieren soll. In dem Augenblick, in dem sie im Sicherheitsrat sitzt, wird sie volens nolens gezwungen, in die eine oder andere Richtung zu gehen. Es wäre sehr viel effizienter und glaubwürdiger, wenn sie von «aussen» die Entwicklungen kommentieren und Verhandlungen anbieten würde. Die Uno-Charta ist gut, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auch, das kann die Schweiz unterstützen, aber sie muss aufpassen, dass sie nicht in die eine oder andere Richtung instrumentalisiert wird. Die Blockmentalität ist der Fluch der Uno, die den Multilateralismus korrumpiert. 

Wie müsste sich denn die Schweiz verhalten?

Als Co-Präsidenten der Association Suisses et Internationaux de Genève – zusammen mit Jacqueline Berenstein-Wavre 1996-2006 – haben wir für den Schweizer Eintritt in die Uno eine Kampagne geführt, aber wir haben stets gewarnt, die Schweizer Neutralität nicht zu kompromittieren. Wenn es zu einer Abstimmung im Sicherheitsrat käme, müsste sich die Schweiz immer der Stimme enthalten. Sie könnte theoretisch in den Sicherheitsrat gehen, wenn sie sich immer der Stimme enthält. Das heisst, sie kann reden, sie kann Stellung nehmen – das könnte sie immer, auch wenn sie nicht im Sicherheitsrat sitzt, – aber abstimmen kann sie nicht, wenn sie neutral bleiben will. 

Wird hier nicht leichtfertig die Neutralität aufs Spiel gesetzt?

Ja, und das ist äusserst bedenklich. Was die Schweiz unter diesen Umständen auf keinen Fall tun darf, ist, sich der EU oder den USA anzuschliessen und somit einen Block gegen willkürlich erklärte «Feinde» zu bilden. Um in Zukunft die Möglichkeit zu haben und die Glaubwürdigkeit zu geniessen, als Mediatorin für den Weltfrieden zu wirken, muss sie neutral bleiben. Dadurch, dass die Schweiz seit bald 20 Jahren der Uno angehört, sollte sie sich auf ihre Kernkompetenzen besinnen und nicht mit den «Grossen» an einem Tisch sitzen und so zum Spielball deren geopolitischer Machtinteressen  werden. 

Was könnte die Schweiz hier noch mehr tun?

Sie könnte verstärkt in Konflikten vermitteln, wie sie es in der OSZE 2014 während der damals virulenten Ukraine-Krise getan hat. Sie sollte in verfahrenen Situationen immer ihre «Guten Dienste» anbieten und so zu einer Entspannung beitragen. Ausserhalb des Sicherheitsrats ist sie viel freier und muss nicht für die eine oder andere Sache Position beziehen.

Die nichtständigen Mitglieder haben eigentlich nichts zu sagen?

Nach dem Artikel 27 der Uno-Charta gibt es zwei Kategorien von Entscheidungen. Es gibt die prozeduralen Entscheidungen, da braucht es nicht alle Stimmen der fünf ständigen Mitglieder. Und dann gibt es die Fragen der Substanz, dabei geht es um Sanktionen, um Verurteilungen und Ähnliches. Hier ist das Gewicht der fünf Grossen entscheidend. 

Die fünf «Grossen» sind bekanntlich im Besitz des Vetorechts. Wie beurteilen Sie das?

Da muss ich sagen, habe ich meine Meinung geändert. Ich war früher der Meinung, dass man das Veto abschaffen müsse. Allerdings muss man heute sehen, dass durch China und Russland Aggressionen der Nato in vielen Ländern der Welt verhindert wurden. Man muss sich bewusst sein, die Nato hat die Funktionen des Sicherheitsrates usurpiert und masst sich an, militärisch einzugreifen, wo es ihr gerade passt.

Haben sich die USA an die Entscheidungen des Sicherheitsrats gehalten?

Selten, denn sie umgehen den Rat und ziehen ihren Plan durch wie in Jugoslawien, Afghanistan, Irak etc. Aber völkerrechtlich gesehen – und darum geht es im Sicherheitsrat – waren diese Kriege alle illegal. Eine Legitimierung der Aktionen der Nato kann es nicht geben, denn dann müsste man die Uno-Charta verwerfen. Wenn es kein Veto gäbe, dann wären die illegalen Aggressionen der Nato legitimiert. Eine militärische Aktion der Nato durch ein Veto zu verhindern ist unerlässlich. Das muss beibehalten werden. Das fördert den Frieden und ermöglicht, eine diplomatische Lösung zu suchen. Wenn man der Nato noch mehr Macht gibt, dann wird sie diese zweifelsohne ausnützen. Das gilt es zu verhindern.

Ich komme nochmals auf die Schweiz zurück. Wo sehen Sie konkret das Wirkungsfeld in der Uno?

Wir sehen, dass der Sicherheitsrat in den letzten Jahrzehnten vor allem den Machtinteressen der USA und Nato dienen sollte. Wir hatten Kriege bis hin zu Libyen, wo die Uno 2011 in der Sicherheitsratsresolution 1973 eine Flugverbotszone über Libyen legitimiert hatte. Daraus hat die Nato einen Krieg gegen Gaddafi gemacht und das Land ins Chaos gestürzt, von dem es sich bis heute nicht erholt hat. Damals haben sich im Uno-Sicherheitsrat fünf Staaten «nur» enthalten, unter anderem China und Russland. Das sei ein Fehler gewesen, wie Putin selbst sagte. 

Hier hätte ein Veto diesen Krieg verhindert?

Wahrscheinlich ja! Mit dem Veto hätte man diesen Krieg mit vielen unschuldigen Opfern vielleicht verhindern können. Die Schweiz hätte, wäre sie Mitglied des Uno-Sicherheitsrats gewesen, nichts ausrichten können und hätte dann aber diesen Entscheid und das kriminelle Resultat mittragen müssen. Ich bin Schweizer geworden und liebe dieses Land. Das darf meine Schweiz nicht tun. Die Schweiz soll überall in der Uno mithelfen, dass anstatt Krieg der Dialog geführt wird, und sich dabei auf die konsequente Einhaltung der Neutralität besinnen. Nur so kann sie verhindern, zum Spielball der Nato zu werden, und ist somit in der Lage, zu einer friedlicheren Welt beizutragen, was es so dringend braucht.

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

Die Einmaligkeit der Schweiz durch Beitritt zum Uno-Sicherheitsrat zerstören?

von Gotthard Frick*

Gotthard Frick (Bild zvg)
Gotthard Frick (Bild zvg)

 

Der Verfasser war den grössten Teil seines Berufslebens weltweit tätig, oft im Auftrag internationaler Organisationen oder dortiger Regierungen. Er erfuhr dabei auf allen Kontinenten die ausserordentliche Wertschätzung unseres Landes bzw. seiner Eigenschaften, auch bei einfachen Menschen. Von welchen Eigenschaften reden wir?

Als ein Banknachbar in der U-Bahn Pekings auf seine Frage erfuhr, woher der Verfasser komme, rief er laut aus: «Ah, die Schweizer, das friedlichste und wehrhafteste Volk der Welt.»

Das meinte z. B. auch einmal ein ­Taxifahrer in Nairobi. Auch unsere Neutralität, unsere Unabhängigkeit waren weltweit bekannt, und es wurde hoch geschätzt, dass wir uns nie – auch nicht militärisch – im Kielwasser der westlichen Grossmächte in anderen Ländern einmischten. Auch unsere Tätigkeit als Vermittler zwischen zerstrittenen Staaten wurde anerkannt wie die menschliche Hilfe unseres Landes und des Roten Kreuzes. Die Wirtschaftsleistung und Kreativität unseres so kleinen Landes ohne Rohstoffe und ohne direkten Zugang zum Meer wurde immer wieder mit Erstaunen erwähnt. Und schliesslich wissen auch viele Menschen, dass bei uns die BürgerInnen das letzte Wort haben, mit anderen Worten, dass unser demokratisches System ganz einmalig ist.

Aber da vieles darauf hinweist, dass wir begonnen haben, diese Eigenschaften im Wohlstandsrausch abzubauen, z. B. mit der vom Bundesrat eingeleiteten, schleichenden Annäherung an die Nato (einschliesslich einer Einladung an die Nato zu einer grossen Tagung im Oktober 2016 in Zürich), der Abwrackung der Armee über die WEA¹, dem Einsatz von Truppen im Kosovo, unserem Anschluss an immer mehr internationale Organisationen, wodurch wir uns oft deren Entscheiden unterwerfen müssen und dadurch unser demokratisches System langsam ausgehebelt wird usw., beginnt weltweit die Sicht auf unser Land, negativ zu werden.

Auf Grund des Zwischenfalls mit dem fremden Flugzeug in unserem Luftraum begann ein längerer Artikel vom 21.02.2014 im indischen Business Standard über den Abbau unserer einst als so stark wahrgenommenen Armee mit dem Satz: «Sich über die Schweiz lustig zu machen, ist derart leicht, dass es fast unsportlich ist… Jede Zeitung dieser Welt hat einen hämischen Artikel über die Schweiz veröffentlicht.» (Was leider stimmte). Und bei einer Geschäftsreise in China nach der Zerschlagung unserer Armee durch die WEA fragte bei einem freundschaftlichen Nachtessen in Beijing der chinesische Gastgeber, Kadermitarbeiter eines der grössten chinesischen Konzerne, ganz unvermittelt: «Warum hat das reichste Land der Welt seine Armee abgeschafft?» Schlimm, dass unser Land sogar auf der anderen Seite der Welt so gesehen wird.

Unser Land muss seine Grundeigenschaften unter allen Umständen behalten und darf keinesfalls Mitglied des Sicherheitsrates werden. Dort hätte es sich gemäss Vorgaben der USA zu verhalten und würde so Mitglied eines der grossen Lager, d. h. des politisch-militärischen «Westens». Es würde seinen Ruf als neutraler Vermittler verlieren. Wir brauchen nicht  Mitglied des Sichherheitsrates zu sein, um mit allen Staaten freundschaftliche Beziehungen aller Art zu unterhalten. 

¹ WEA: Weiterentwicklung der Armee

95 % der Bevölkerung wollen eine neutrale Schweiz 

Unvereinbarkeit von Neutralität und einem Sitz im Uno-Sicherheitsrat

von Thomas Kaiser

Die aktuellen Spannungen zwischen Russland und den USA, sekundiert von den Staaten der Nato und EU, die der US-amerikanische Geostratege, Zbigniew Brzeziński, als «Vasallenstaaten»¹   titulierte, werden von dem seit Jahren sich verschlechternden Verhältnis der beiden Grossmächte bestimmt. Dass China, Russland und die USA Grossmachtpolitik betreiben, ist nicht von der Hand zu weisen. Sie haben ihre Interessen und versuchen diese, mit ihren Methoden durchzusetzen. Ob das nötig ist und ob ein friedliches Miteinander nicht zielführender wäre, müssten sich alle Staaten fragen. Dennoch scheint es Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Grossmachtpolitik zu geben. Den USA wird es anscheinend zugestanden, dass sie verteilt über die ganze Welt über 700 militärische Einrichtungen und Stützpunkte unterhalten, während man die beiden anderen grossen Staaten mit Argusaugen beobachtet. 

Wer aber die Geschichte der USA von den Anfängen bis heute kennt und insbesondere die ihrer Aussenpolitik, wie sie viele seriöse Historiker in den letzten Jahren immer wieder dargelegt haben,² wird über den Urheber dieser aktuellen Auseinandersetzung kaum im Zweifel sein, auch wenn die meisten westlichen Medien uns ein ganz anderes Bild vermitteln wollen: Russland der Aggressor und die USA Hüterin des Völkerrechts. Ist das wirklich so?

Dass die Russische Föderation wie jedes andere Land auf unserem Globus auch Sicherheitsbedürfnisse und wirtschaftliche Interessen hat, ist naheliegend – vor allem wenn man die Geschichte Russ­lands bzw. der Sowjetunion seit dem letzten Jahrhundert kennt. Die russischen Interessen werden aber in unseren Leitmedien häufig als Imperialismus dargestellt, als eine Wiederauflage Katharinas der Grossen oder der vergangenen Sow­jetzeit, während das imperiale Vorgehen der USA in allen Teilen der Welt – von Venezuela über Afghanistan bis hin zur Ukraine, einschliesslich der Ausweitung der Nato auf nunmehr 30 Mitgliedstaaten – kaum zu kritischen Kommentaren führt. Gerne verweist man auf das Völkerrecht, wenn es um das Verhalten Russlands geht. Ist die USA Urheber eines Völkerrechtsbruchs, schweigt die Presse geflissentlich. 

Uno-Charta untersagt Einmischung in die inneren Angelegenheiten 

Es ist doch absurd, dass man in der heutigen Berichterstattung über die Ukraine die innerstaatlichen Abläufe von 2014 mit kaum einem Satz erwähnt. Damals wurde ein Telefonat der Europabeauftragten des US-Aussenministeriums, Victoria Nuland, mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffry Pyatt, abgefangen, indem sie neben der Aussage «fuck the EU» vor allem die Besetzung der ukrainischen Regierung nach dem geplanten Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Janukowytsch besprach, die dann auch genauso arrangiert wurde.³ Über die despektierliche Aussage zur EU haben sich alle empört, dafür musste sich Nuland entschuldigen – dass sie den Staatsstreich mitgeplant hatte, war kaum der Rede wert. Dabei ist eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ebenfalls ein Bruch des Völkerrechts. Man rechtfertigt aber all diese Verstösse gegen internationales Recht mit dem «Guten», das die USA in die Welt bringen wollen. Doch wenn man nur die Kriege und Interventionen der letzten drei Jahrzehnte betrachtet, ist es schon erstaunlich, wie sich dieser Nimbus hält bzw. aufrechterhalten wird. 

Propaganda und Manipulation

Wenn wir die Informationen und Berichterstattungen der letzten Wochen betrachten, müssen wir uns fragen, wo die journalistische Verantwortung bleibt. Was ist Dichtung, und was ist Wahrheit? Gemäss dem US-Präsidenten Joe Biden und seinen Geheimdiensten müsste die Ukraine seit Tagen mitten in einem Krieg stehen. Nach seinen Äusserungen hätte Russ­land am 16. Februar in die Ukraine einmarschieren sollen. Obwohl Präsident Vladimir Putin seit Wochen immer wieder versichert, es sei kein Krieg gegen die Ukraine geplant, bleibt der Westen stur auf seiner Linie und beschwört nahezu diesen Krieg. Auch der von Putin angekündigte und bereits begonnene Teilrückzug der Truppen, «nach dem Ende des Manövers», so die offizielle Mitteilung⁴, wird vom Westen mit Misstrauen und Häme kommentiert. Nato-Generalsekretär Stoltenberg liess sich wie folgt vernehmen: «Bislang haben wir keine Anzeichen für einen Rückzug oder eine Deeskalation gesehen.»⁵ Informationen, die sich diametral widersprechen, werden uns vorgesetzt. Was stimmt jetzt? Auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die ohne Russland stattfand, wurde das russische Feindbild erneut beschworen.⁶ 

Sich unter diesen Umständen auf die eine oder andere Seite zu stellen ist fatal. Beim Krieg gegen den Irak schwor man die ganze Welt auf den Massenvernichtungswaffen besitzenden Saddam Hussein ein. Nichts stimmte davon, aber Zehntausende unschuldiger Opfer und ein zerstörtes Land, das sich bis heute nicht erholt hat, waren die Folge. Auch damals stützte sich die US-Regierung auf ihre Geheimdienste. Selbst Eric Guyer, Chefredaktor der NZZ schreibt, dass «.…es allerdings mit der Glaubwürdigkeit des politisch-nachrichtendienstlichen Komplexes in Amerika nicht zum Besten» stehe. «Washington hat ein bisschen zu oft gelogen.»⁷ 

Als aussenstehender Betrachter, der nicht die Möglichkeit hat, allen Behauptungen auf den Grund zu gehen, bleibt man mehr oder weniger ratlos mit den unterschiedlichen Meldungen zurück. Unseren Medien zu vertrauen fällt uns nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre je länger, je schwerer. Doch, wollen wir Informationen, um zu wissen, was die Hintergründe sind, – «Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker auf einander schlagen», wie es in Goethes Faust zu lesen ist –, müssen wir uns aktiv darum bemühen, um nicht Opfer von Propaganda und Manipulation zu werden. Wie die Dinge wirklich waren, erfährt die Öffentlichkeit oft erst Jahre später, wenn die Archive geöffnet werden und die Wahrheit ans Licht kommt. Dann ist es für die Opfer, die im Krieg getötet wurden, zu spät, und die Verantwortlichen sind schon längst nicht mehr in Amt und Würden. 

Schweiz wäre im Uno-Sicherheitsrat am «Katzentisch»

Szenenwechsel: Dieses Jahr soll sich entscheiden, ob die Schweiz einen auf zwei Jahre befristeten Sitz im Uno-Sicherheitsrat, sozusagen am «Katzentisch», bekommt. Sollte die Schweiz, wie es der Bundesrat anstrebt, den Platz tatsächlich erhalten, ist sie genau mit solchen Fragen von Krieg und Frieden konfrontiert. Wem will sie bei einer Abstimmung ihre Stimme geben? Propaganda und Manipulation laufen wie immer, wenn es um Krieg geht, auf Hochtouren. Die aktuelle Auseinandersetzung legt ein beredtes Zeugnis davon ab. Die Schweiz als neutrales Land stünde immer vor einer Zerreissprobe und könnte ihre Neutralität nur aufrechterhalten, wenn sie sich der Stimme enthielte. Damit macht sie sich auf beiden Seiten unbeliebt, und der Spielraum für vermittelnde Verhandlungen wird immer kleiner. 

Mit dem Einsitz im Uno-Sicherheitsrat setzt man die Vermittlungsmöglichkeit, die sich der Schweiz heute unbefangen bietet, aufs Spiel und verliert damit die Chance, bestehende oder sich anbahnende Konflikte auf diplomatischem Wege lösen zu können, bevor es zu einer Eskalation kommt. Die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini war massgeblich an den Minsker Friedensabkommen beteiligt.⁸ Ihr Erfolg ist sicher auf ihre persönlichen Fähigkeiten zurückzuführen, aber auch darauf, dass sie als Vertreterin eines neutralen Landes mehr Spielraum hatte und dadurch mehr Einfluss auf die Konfliktparteien nehmen konnte. 

Wozu soll denn die Schweiz eigentlich in den Uno-Sicherheitsrat – damit sie bei den Grossen auch dabei sein kann, obwohl sie viel weniger Rechte hat? Der ehemalige Bundesrat Joseph Deiss schwärmte 2002 von dem Augenblick, als er US-Präsident George W. Bush die Hand schütteln durfte und dieser die Schweiz in der Uno willkommen hiess. Dem George W. Bush, an dessen Händen schon damals das Blut unzähliger Unschuldiger klebte, denn der Afghanistankrieg war zu dem Zeitpunkt schon voll im Gange.

Wenn solche Motive im Spiel sind, wie persönliche Ambitionen oder sich besser zu fühlen, wenn man auch dabei sein darf, bedeutet das einen Verrat an unserem Land und an der Neutralität, die letztes Jahr in der jährlichen ETH-Sicherheitsstudie zum wiederholten Mal von 95 % der Bevölkerung befürwortet wurde.⁹

Was hat also die Schweiz im Uno-Sicherheitsrat zu suchen? 

Die Schweizer Bevölkerung steht konstant zur Neutralität und will sie unter allen Umständen beibehalten. Warum zieht der Bundesrat schon seit Jahren undeklariert in eine andere Richtung? Was treibt ihn dazu? Neutralität, und das hat die ­Geschichte bewiesen, wird im internationalen Geschehen nur akzeptiert, wenn sie konsequent eingehalten wird. Mit einem Sitz im Uno-Sicherheitsrat, in dem es vornehmlich um die Machtinteressen der «Grossen» geht, kann der Neutrale nur verlieren, ausser er hat den geheimen Plan, «die Neutralität sanft einschlafen zu lassen.»10 

Jetzt ist das Parlament gefordert. Wenn für 95% der Schweizerinnen und Schweizer die Neutralität nicht verhandelbar ist, der Bundesrat aber – aus welchen Gründen auch immer – eine andere Agenda verfolgt, dann müssen die gewählten Volksvertreter endlich aktiv werden, den Willen des Volkes umsetzen und den Bundesrat bremsen: Es gibt keinen Sitz im Uno-Sicherheitsrat. 

¹ Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht 2015. S. 25
² vgl. Bernd Greiner: Made in Washington – Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021 
³ www.welt.de/politik/ausland/article124612220/Fuck-the-EU-bringt-US-Diplomatin-in-Erklaerungsnot.html 
www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-konflikt-russland-putin-usa-biden-diplomatie-100.html
www.zdf.de/nachrichten/politik/russland-ukraine-nato-zweifel-truppenabzug-100.html
⁶ Radio SRF vom 19.2.2022
⁷ NZZ vom 18./19.2.2022: «Putins strategischer Plan»
www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/197910344-die-basler-diplomatin-heidi-tagliavini-verhinderte-einen-kollaps-des-ukraine-gipfels-in-minsk
www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-84088.html
¹⁰ https://weltwoche.ch/story/kriegsgurgel-des-aeusseren/

Ukraine: «Die westliche Sichtweise muss sich grundlegend ändern»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie schätzen Sie die aktuelle Entwicklung in der Ukraine ein?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Es ist ein präzedenzloser Vorgang, dass von westlichen Geheimdiensten ein Kriegsdatum prognostiziert wurde, – es sollte der 16. Februar sein – was nun völlig in sich zusammengefallen ist. Es wurde aufrechterhalten, selbst als der ukrainische Präsident verlauten liess, dass ihm keine Informationen zu einem Einmarsch vorlägen. Dazu kam noch, dass der Westen, auch Deutschland, seine Staatsbürger dazu aufgefordert hat, das Land zu verlassen. Das ist ein unglaublicher Vorgang und psychologische Kriegsvorbereitung.

Sie sind letzte Woche nach Moskau gefahren. Was haben Sie dort in Gesprächen erfahren?

Ich bin nach Moskau gekommen, als die Stimmung im Westen, dass der Krieg gegen die Ukraine am 16. Februar losgehen würde, so richtig angeheizt wurde. Dort stellt sich die Situation aber völlig anders dar. Niemand von den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, geht von einem russischen Einmarsch aus. Sie betrachten das als Manöver auf ihrem eigenen Territorium, aber sicherlich auch in Hinblick auf die Situation in Donezk und Lugansk, wo Hunderttausende von Angehörigen des ukrainischen Militärs entlang der Kontaktlinie stehen. Aber einen unmotivierten Einmarsch, wie es in unseren Medien dargestellt wird, halten alle für abwegig. 

Mit wem haben Sie Gespräche geführt?

Die Gesprächspartner bildeten eine sehr gute Mischung aus Regierungsvertretern und parlamentarischer Opposition. Auch mit Vertretern von Memorial, deren Büro geschlossen wurde, und verschiedenen Wissenschaftlern, u. a. dem Vordenker der russischen Aussenpolitik, Fjodor Lukjanow, konnte ich Gespräche führen. Lukjanow ist führend, was die Analyse Russ­lands in der internationalen Politik angeht. Ich hatte auch einen Austausch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Föderationsrats, Konstantin Kossatschow, und mit Vertretern der kommunistischen Partei. Es war eine repräsentative Mischung und gab daher ein umfassendes Bild. 

Unter welcher Prämisse sind Sie denn dort hingereist?

Das Ganze war eine Reise der Linksfraktion des Europarats. Reisen im Rahmen des Bundestags sind im Moment sehr schwierig und werden in der Regel mit Verweis auf Corona nicht genehmigt. Am Dienstag war ein Tross von 50 Leuten mit Olaf Scholz in Moskau, aber als Bundestagsabgeordneter darf man nicht reisen, das ist schon alles sehr merkwürdig. 

Wie beurteilen Sie Ihre Reise im Rückblick?

Ich bin sehr froh, dort gewesen zu sein. Es war genau der richtige Zeitpunkt. Es war während des Höhepunkts der westlichen Propagandamaschinerie. Entsprechend gross war auch das Medieninteresse, als ich am Samstag, 12. Februar  zurückkam. Aber die Ukrainekrise war nicht das einzige Thema, das ich besprechen wollte, sondern ich hatte natürlich auch noch andere Anliegen im Gepäck.

Was waren das für Themen? 

Unter anderem ging es um den Europarat und die Perspektiven einer konstruktiven Arbeit und Entwicklung dort. Kossatschow war 8 Jahre Mitglied und daher ist er mir auch bekannt. Mit Vertretern von Memorial, deren Büro geschlossen wurde, hatte ich auch ein Gespräch, unter anderem über ihr Verhältnis zum Europarat. Auch kamen bilaterale Aspekte zur Sprache wie die Schliessung des Fernsehsenders Russia Today in Deutschland, indem man ihm keine Sendelizenz vergeben hat, und tags darauf als Reaktion Russlands die Schliessung der Deutschen Welle in Moskau. Wichtig war auch die Frage, was eigentlich für Europa die langfristigen Perspektiven eines engeren Schulterschlusses mit Russland wären bzw. Gorbatschows Perspektive eines «gemeinsamen europäischen Hauses». Aber im Mittelpunkt standen natürlich die Krise und die Kriegsgefahr.

Was sagen die Menschen konkret dazu?

Im Grunde genommen sind diese Punkte auf dem Tisch: Das ist die Nato-Osterweiterung. Das sind die Sicherheitsgarantien, die sie in Hinblick auf die Nato-Osterweiterung wollen. Dazu gehören auch Rüstungskontrollen wie z. B. der INF-Vertrag. Darum geht es eigentlich, die Russen wollen keinen Krieg.

Was sagen die Russen zu dem Truppenzusammenzug im Westen des Landes?

Die Manöver an der Grenze zur Ukraine verfolgen den Zweck, Druck aufzubauen, damit über diese Dinge verhandelt wird. Man wollte bewusst diese Nervosität im Westen erzeugen, um so endlich zu ernsthaften Verhandlungen zu kommen. Dabei geht es um die grossen Fragen der Nato-Osterweiterung und um den Status der Ukraine, aber auch konkret um die Umsetzung des Abkommens Minsk II (siehe Kasten, S.7). Es ist jetzt genau sieben Jahre her, dass Minsk II verabschiedet wurde, aber es bewegt sich nichts, vor allem nicht auf der ukrainischen Seite. 

Welche Punkte erfüllt die Ukraine nicht?

Eine Verfassungsreform in Richtung Autonomie der Ostukraine, Abhaltung von Wahlen, wie es in der «Steinmeier-Formel» niedergelegt ist. Das wird alles nicht umgesetzt. 

Was ist der gemeinsame Nenner, den Sie bei Ihren Gesprächen erkennen konnten?

Die Botschaften waren ganz klar: Es steht kein russischer Einmarsch in der Ukraine bevor, das ist alles Getöse in den westlichen Medien. Hauptansprechpartner für Russ­land sind die USA und nicht die EU, weil sie beim Abzug der Truppen aus Afghanistan gesehen haben, dass die USA am Schluss bilateral entscheiden. Wenn sie etwas erreichen wollen, dann müssen sie sich direkt an die USA wenden. Hier gibt es konkrete Vorschläge von russischer Seite für Verhandlungen. Als ich in Moskau ankam, hatte ich direkt einen Termin im Aussenministerium. Hier gab es eine positive Bewertung, dass es zumindest in zweitrangigen Fragen Bewegungen gegeben hat. 

Was muss man sich unter «zweitrangigen Fragen» vorstellen?

Zum Beispiel Neuverhandlungen über den INF-Vertrag, Schaffung von Kommunikations- und Transparenzkanälen und Perspektiven einer strategischen Sicherheit, an der ernsthaft gearbeitet wird. Man zeigte sich über die Entwicklung gar nicht so pessimistisch. Das widerspricht ja völlig dem äusseren Bild, das hier bei uns erzeugt wird. Man muss bei diesen Dingen immer sehr vorsichtig sein, was real und was Propaganda ist. 

Kann man somit mit etwas Optimismus auf die weitere Entwicklung sehen?

Ja, vielleicht, aber ich will die Situation auf keinen Fall verharmlosen, denn es besteht nach wie vor eine grosse Eskalationsgefahr. Das grösste Eskalationsszenario – ich hoffe natürlich nicht, dass es je eintreten wird, aber leider ist das auch nicht ausgeschlossen – wäre eine Offensive von bestimmten Bataillonen der ukrainischen Armee, die auch aus vielen Rechtsextremen besteht, und zusätzlichen US-amerikanischen privaten Söldnern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Ukraine anwesend sind, um unter Umständen mit militärischen Mitteln die Volksrepubliken im Osten der Ukraine zurückzuerobern. Wenn so etwas geschähe, hätte das sicher schwere Kämpfe zur Folge, deren Auswirkungen kaum abzusehen wären. 

Wenn Sie das so ausführen, kommt mir die Situation in Georgien 2008 in den Sinn. Sind das nicht auffallende Parallelen?

Ja, das wäre auch genau das Szenario. Der damalige Präsident Saakaschwili ist gewaltsam gegen Südossetien vorgegangen, worauf das russische Militär entsprechend reagiert hat und diese Region jetzt vollständig militärisch kontrolliert. Das ist zwar in Donezk und Lugansk nicht der Fall, das russische Militär steht nicht dort. Es sind pro-russische Separatisten, die wohl von Russland Unterstützung erhalten, aber aus einem innerukrainischen Konflikt hervorgegangen sind. 

Saakaschwili wollte doch mit dem Angriff auf die dort stationierten russischen Truppen die Nato zum Eingreifen bewegen, was nicht geschah. War das nicht eine Reaktion auf den Nato-Gipfel in Bukarest, bei dem die USA die Ukraine und Georgien in die Nato aufnehmen wollte, aber einige Mitglieder dagegen stimmten? 

Ja, es war in dieser zeitlichen Abfolge. Im April 2008 war der Gipfel in Bukarest, und die Provokation Saakaschwilis war im August. Auf dem Gipfel haben Merkel und Sarkozy ein Veto gegen den unmittelbaren Beitritt Georgiens und der Ukraine eingelegt. Aber die Perspektive einer späteren Mitgliedschaft besteht jetzt schon seit 14 Jahren. Dass das nicht zu einer Beruhigung der Situation beiträgt und mit dem Maidan-Umsturz 2014 eine zusätzliche Zuspitzung erfahren hat, kann kaum verwundern. Die Duma hat jetzt auch darauf reagiert. Sie hat eine Resolution verabschiedet, die die Regierung auffordert, in Erwägung zu ziehen, die Volksrepubliken Donezk und Lugansk anzuerkennen. Das ist noch keine Anerkennung, aber damit wird natürlich Druck aufgebaut. Für mich ist der Inhalt dieser Resolution eine Verletzung von Minsk II, das den Referenzrahmen für eine Lösung des Konflikts in der Ukraine bietet. 

Wie beurteilen Sie den Besuch des deutschen Bundeskanzlers Scholz bei Putin?

Nachdem ich mir genauer angeschaut habe, was nach dem Besuch kommuniziert wurde und wie die Stimmung vorher und hinterher war, bin ich leicht positiv gestimmt. Nach dem Besuch beim ukrainischen Präsidenten Selenski hat dieser verlauten lassen, Minsk II ernsthaft umzusetzen, was bisher auch kein Staat ausser Russland von ihm verlangt hat. Einen Tag nach dem Besuch in Moskau klingen die Sig­nale aus Deutschland erst einmal positiv. Man wolle weiter «mit Russ­land verhandeln», Frieden in Europa gebe es nur «mit und nicht ohne Russland». Diese Aussagen sind schon positiv zu bewerten. 

Das lässt hoffen, dass man das Schlimmste, einen Krieg, doch verhindern könnte. 

Das Problem nach solch einer Krise ist immer, wie kommen die Akteure gesichtswahrend gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung aus diesem Schlamassel heraus. Wie können sie diese Krise beenden, ohne dass einer der «Verlierer» ist. Sie müssen dem Volk zeigen können, dass sie erfolgreich waren. Biden hat dann den Einmarsch verhindert und Putin hat Verhandlungen über Sicherheit und Abrüstung erwirkt. In einem meiner Gespräche hat einer der Gesprächspartner Parallelen zur Vertreibung der Krajina-Serben 1995 gesehen. Dieser Vorgang ist im russischen Bewusstsein sehr präsent. Hier weiss niemand mehr, was damals geschah. 

Wo sehen Sie die Parallelen?

Die Ukraine will die Regionen im Osten, aber nicht die dort beheimateten Menschen – so wie damals Kroatien die Serben loswerden wollte. Die Menschen im Osten sind an Russland orientiert und haben bei den Wahlen Parteien gewählt, die eine Kooperation mit Russland wollten. Das hat den wiederholten Wechsel der Regierungen und ihrer Ausrichtung bewirkt. Das ist eine Sorge, die hier überhaupt nicht wahrgenommen wird. Es wird hier auch gar kein reales Bild der Menschen in der Ostukraine gezeichnet, sondern es geht immer nur um den russischen Einfluss, den man anprangert und unterbinden will. Hier muss sich die westliche Sichtweise grundlegend ändern, damit konstruktive und nachhaltige Gespräche über ein friedliches Zusammenleben in Europa möglich werden.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Minsker-Abkommen II vom 12. Februar 2015 (Auszüge)

[…]

[…]

Bereits am ersten Tag der Waffenruhe sollen die Gespräche über Kommunal- und Regionalwahlen «in Übereinstimmung» mit ukrainischem Gesetz beginnen. Spätestens 30 Tage nach Unterzeichnung des Abkommens soll das ukrainische Parlament in einer Resolution die Gebiete festlegen, die einen Sonderstatus erhalten. Dieser soll für jene Gebiete in den Regionen Donezk und Lugansk gelten, die zur Zeit des Minsker Abkommen vom September unter Kontrolle der Separatisten waren. Die Wahlen sollen im Rahmen der Kontaktgruppe vorbereitet und international überwacht werden.

[…]

[…]

Beide Seiten sollen den sicheren Zugang der Menschen zu humanitären Hilfslieferungen gewährleisten.

Die Regierung in Kiew soll die Zahlungen für die Menschen in den von Separatisten kontrollierten Gebieten wieder aufnehmen. Dabei geht es etwa um Renten- und Gehaltszahlungen und die Einbeziehung in das ukrainische Bankensystem. Auch sollen die Modalitäten für die Abwicklung anderer Zahlungen wie die fristgerechte Begleichung von Strom- und Gasrechnungen sowie die Wiederaufnahme der Steuerzahlungen gemäss dem ukrainischen Recht geregelt werden.

Einen Tag nach den regionalen Wahlen soll die Ukraine wieder die volle Kontrolle der Grenze zu Russland in den Rebellengebieten übernehmen. Dies soll gelten bis zum Abschluss einer umfassenden politischen Regelung, die bis Ende 2015 angestrebt wird.

Alle ausländischen Kämpfer und Waffen sollen das Land verlassen. Alle «illegalen Gruppen» sollen entwaffnet werden.

Bis Ende 2015 soll eine Verfassungsänderung umgesetzt werden, die eine Dezentralisierung und einen Sonderstatus für die Gebiete in der Ostukraine vorsehen. Im Rahmen dieser Reform soll etwa eine Amnestie für die Separatisten, eine sprachliche Selbstbestimmung der meist russischsprachigen Bevölkerung und eine enge, grenzüberschreitende Kooperation der Gebiete von Lugansk und Donezk mit den angrenzenden russischen Grenzgebieten festgeschrieben werden. Die Gebiete im Osten sollen das Recht auf die Bildung lokaler Polizeien erhalten.

Quelle: www.handelsblatt.com/politik/international/erklaerung-von-minsk-im-wortlaut-vier-maechte-sollen-friedensplan-ueberwachen/11364196.html?ticket=ST-15452858-rJGyjMQFSiIKiey7qLzm-ap6

 

Palästina: Augenzeugen zum Schweigen bringen

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Am 19. Oktober 2021 hat der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz sechs palästinensische Nichtregierungsorganisationen (Al-Haq-Zentrum für angewandtes Völkerrecht, Addameer Prisoner’s Support and Human Rights Association, Defense for Children International-Palestine (DCI-P), Bisan Research and Development Center, Union of Palestinian Women‘s Committees, Union of Agricultural Work Committees) zu «terroristischen Organisationen» erklärt.¹

Am 3. November setzte der Militärkommandeur für die Westbank, Maj. Gen. Yehuda Fuchs, diese NGOs per Militärbefehl auf die Liste der verbotenen Organisationen. Adalah (The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel), das die sechs NGOs rechtlich berät, analysiert in einer Expertise² die Entscheide des Verteidigungsministeriums und des Militärkommandeurs:

l. «Die Definitionen ‹terroristische Organisation› und ‹ungesetzliche Vereinigung›, die im Gesetz zur Terrorismusbekämpfung bzw. in den Notstandsverordnungen festgelegt sind, sind zu weit gefasst und unbestimmt. Die weit gefassten und unpräzisen Definitionen ermöglichen es den zuständigen Behörden, diese Gesetze gegen Organisationen und Gruppen durchzusetzen, die im Einklang mit dem Gesetz agieren und sich mit legalen Mitteln an rechtmässigen Aktivitäten beteiligen.»³

ll. Verteidigungsminister und Militärkommandeur müssen diese Entscheidungen weder begründen, noch sind diese «unmittelbar von einem Gericht überprüfbar»⁴. Die sechs NGOs hatten weder Einsicht in die Erlasse noch wurden sie im Vorfeld dazu angehört. 

lll. Für die sechs NGOs sind die Folgen dieser Erlasse gravierend. Ihre Büros können willkürlich von der israelischen Armee gestürmt, geschlossen und ihre schriftlichen und elektronischen Unterlagen beschlagnahmt werden. Ihr Vermögen und Eigentum können von der israelischen Militärbesatzung jederzeit beschlagnahmt werden. Den Vorstehern der NGOs drohen Haftstrafen bis zu 25 Jahren. «Die blosse Mitgliedschaft in einer der benannten Organisation wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet.»⁵ Auch für die Äusserung von «Lob», «Unterstützung» oder «Sympathie» für die sechs NGOs drohen Gefängnisstrafen.⁶

lV. Die Beweismittel für die Erlasse werden vom Verteidigungsminister und vom Militärkommandeur geheim gehalten. Die sechs NGOs können sie weder einsehen noch dazu Stellung nehmen. Auch bei einer Anfechtung der Erlasse vor dem Obersten Gerichtshof Israels ist erfahrungsgemäss davon auszugehen, dass sich dieser «auf die ihm vorliegenden geheimen Beweise, ohne sie in Frage zu stellen» abstützen wird, so die Expertise.⁷ 

Fazit

Die beiden Erlasse «verletzen das Grundrecht auf ein ordnungsgemässes Verfahren», das den sechs NGOs zusteht, damit ihnen das rechtliche Gehör sowie die Offenlegung sämtlicher Beweismittel des israelischen Verteidigungsministeriums garantiert wird.⁸ 

Adalah weist darauf hin, dass israelisches Recht – so auch die beiden Erlasse – nicht auf das Westjordanland und Ostjerusalem angewendet werden kann: «Nach internationalem Recht, wie es der Internationale Gerichtshof (IGH) formuliert hat, ist das Westjordanland, einschliesslich Ost-Jerusalem, besetztes Gebiet, unabhängig von den Versuchen Israels, diesen Status durch gesetzgeberische und administrative Massnahmen zu ändern», so die Expertise von Adalah.⁹ 

Weshalb diese Erlasse?

Die sechs NGOs setzen sich für den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung ein, indem sie den völker- und menschenrechtswidrigen Siedlerkolonialismus im Besetzten Palästinensischen Gebiet (oPt) und in Ostjerusalem sowie die Delikte der israelischen Militärbesatzung im oPt und gegen die Bevölkerung im Gazastreifen dokumentieren. So berichten Defense for Children International - Palestine (D.C.I.P.) oder auch Addameer, über Kinder und Jugendliche, die sich entgegen dem Völkerrecht in israelischen Militärgefängnissen befinden.

Mit der Stigmatisierung als «terroristische Organisationen» sollen die sechs NGOs international diskriminiert werden, um sie von ihrer internationalen Unterstützung abzuschneiden. Nicht vergessen werden darf, dass gegen Israel eine Klage wegen Verbrechen gegen die Menschheit beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) hängig ist. Dazu der palästinensisch-amerikanische Anwalt Jonathan Kuttab: «Diesen sechs NGOs, die zu Terrororganisationen erklärt wurden, ist gemeinsam, dass sie alle aktiv waren – im speziellen Al-Haq10 –, um Israels Verletzung der Menschenrechte in Dossiers zu dokumentieren und zu präsentieren für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.»11  

Internationale Proteste

Das israelische Verteidigungsministerium hatte das Verbot der sechs NGOs damit begründet, diese stünden in Verbindung mit der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und unterstützten diese mit ihren Spendengeldern. Ausländische Diplomaten wurden vom Verteidigungsministerium mit fadenscheinigen Unterlagen versorgt, die diese Behauptung belegen sollten. «The Jerusalem Post»12 zitierte den irischen Aussen- und Verteidigungsminister Simon Coveney, der für zwei Tage in Israel weilte, wie folgt: «Wir haben, ebenso wie die EU, nach den Beweisen für die Einstufung dieser NGOs gefragt, wir haben keine glaubwürdigen Beweise erhalten, um die NGOs mit dem Terrorismus in Verbindung zu bringen.»

Auch die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, verurteilte das israelische Vorgehen: «Die Entscheidung Israels, sechs palästinensische zivilgesellschaftliche Organisationen als ‹Terrororganisationen› zu bezeichnen, ist ein Angriff auf Menschenrechtsverteidiger, auf die Vereinigungs-, Meinungs- und Äusserungsfreiheit und auf das Recht, sich in der Öffentlichkeit zu beteiligen. Diese Entscheidung sollte sofort rückgängig gemacht werden. […] Die betroffenen Organisationen gehören zu den anerkanntesten Menschenrechts- und humanitären Gruppen im Besetzten Palästinensischen Gebiet. Sie arbeiten seit Jahrzehnten intensiv mit den Vereinten Nationen zusammen.»13 Amnesty International und Human Rights Watch bezeichnen die israelischen Erlasse als Angriff auf die internationale Menschenrechtsbewegung: «Seit Jahrzehnten versuchen die israelischen Behörden systematisch, Menschenrechtsbeobachter mundtot zu machen und diejenigen zu bestrafen, die die Repressionen und Menschenrechtsverletzungen Israels gegenüber den Palästinensern kritisieren.»14

¹ Amnesty International, Israel erklärt palästinensische NGOS zu ‚Terrorgruppen’, 25. Oktober 2021. Grundlage dazu ist das israelische Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2016. Counter-Terrorism Law, 5776-2016, available at https://www.justice.gov.il/Units/YeutzVehakika/InternationalLaw/MainDocs1/TheCounterTerrorismLaw.pdf (English translation provided by Israel’s Ministry of Justice). Bezüglich der sechs NGOs: Designation No. 371 (für UAWC); Designation No. 372 (für DCI-P); Designation No. 373 (für Al- Haq); Designation No. 374 (für the Bisan Center); Designation No. 375 (für Addameer); Designation No. 376 (für UPWC), abrufbar unter https://nbctf.mod.gov.il/en/Pages/211021EN.aspx (Hebräisch).
² Adalah The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel, Adalah’s Expert Opinion: Israel’s 2016 Counter-Terrorism Law and 1945 Emergency Regulations Regarding the Outlawing of Six Palestinian Human Rights and Civil Society Groups, 23 November 2021.
³ Adalah, S. 2.
⁴ Adalah, S. 4-5.
⁵ Adalah, S. 7.
⁶ Adalah, S 9.
⁷ Adalah, S. 13.
⁸ Adalah, S. 14-15.
⁹ Adalah, S. 7.
10 Al-Haq, eine von palästinensischen Anwälten 1979 gegründete Menschenrechtsvereinigung, war eine der ersten Menschenrechtsorganisationen in der arabischen Welt. www.alhaq.org
11 Jonathan Kuttab, zitiert in Mondoweiss vom 29.10.21
12 Tovah Lazaroff, Israel hasn’t given us evidence linking NGOs to terror, Irish FM says, The Jerusalem Post, 2.11.21.
13 United Nations Human Rights, Office of the High Commissioner, Israel’s „terrorism“ designation an unjustified attack on Palestinian civil society, Geneva 26 october 2021.
14 Amnesty International, Israel erklärt palästinensische NGOS zu ‚Terrorgruppen’, 25. Oktober 2021.

«Der Terrorismusvorwurf ist eine mächtige Keule»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Zeitgeschehen im Fokus Gib es einen völkerrechtlichen Schutz für NGOs?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Es gibt keinen besonderen Schutz der NGOs – wohl aber Artikel 21-22 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), die das Recht aller Menschen auf friedliche Demonstrationen und das Recht auf friedliche Vereinigungen stipulieren. Allerdings werden diese Rechte durch die Staaten sehr unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich, nach Belieben.  

Hinzu kommen natürlich die «rechtsstaatlichen» Bestimmungen der Verfassungen von vielen Ländern, die im Prinzip die NGOs schützen sollen. Aber auch sie werden mit doppelter Moral interpretiert.

Wie meinen Sie das?

Viele Staaten, die sich als «Rechtsstaat» bezeichnen, sind es nicht. Auch Israel ist kein «Rechtsstaat». In seinem Wesen ist es, wie Präsident Jimmy Carter, Amnesty International und Human Rights Watch bereits festgestellt haben – ein «Apartheidsstaat». Dennoch hat Israel wirklich brilliante Juristen, die ihre Aufgabe darin sehen, alle Rechtsverletzungen – insbesondere Menschenrechtsverletzungen Israels – schön zu malen und sogar zu legitimieren. Leider werden diese Menschenrechtsverletzungen von anderen Staaten mehr oder weniger toleriert – USA, Kanada, Grossbritannien, die EU schauen in die andere Richtung und dulden die Korrumpierung des Rechtes. In der internationalen Praxis – auch im Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte und im Menschenrechtsrat – herrscht unheimlich viel Willkür. Die Medien machen mit.

Der Terrorismusvorwurf ist schwerwiegend. Wie kommt es dazu?

Der Terrorismusvorwurf ist seit eh und je eine mächtige Keule. Die Kriminellen in der Regierung Sri Lankas haben die Tamilen als Terroristen diffamiert, obwohl sie nur ihr Recht auf Selbstbestimmung behaupten wollen. Hundertausende sind massakriert worden, und die Welt hat es geduldet. Die Verleumdung der Tamilen als «Terroristen» kommt noch hinzu – um die Verbrechen nachträglich irgendwie zu legitimieren.  Die Opfer werden zu Tätern umfunktioniert. 

Sind das Ausnahmeerscheinungen?

Nein, Ähnliches geschieht mit der Diffamierung der Katalanen durch Spanien, mit der Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäusserung und des Rechts, ein Selbstbestimmungsreferendum durchzuführen. Die friedlichen und demokratischen Katalanen werden verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Es gibt ja politische Gefangene in Europa – und sie sind Katalanen. Und die Europäische Union mit ihren «Werten», duldet diese klare Verletzung des Artikels  2 des Lissabonner Vertrags. Ähnlich ist es auch bei der Diffamierung der Kurden durch die Türkei und bei der Diffamierung der Menschenrechtsaktivisten auf Korsika durch Frankreich. Diese Verleumdungen stellen natürlich «hate speech» bzw. «hate crimes» dar. Aber sie sind erlaubte «hate crimes».

Gibt es im Völkerrecht dazu eine Bestimmung oder liegt das im Ermessen eines Staates, irgendeine Organisation als terroristisch zu bezeichnen und sie somit zu verbieten?

Es gibt natürlich terroristische Organisationen in der Welt. ISIS bzw. Daesch ist eine terroristische Organisation, auch das East Turkistan Islamic Movement (ETIM). Es gibt ja Terroristen in der Welt – und es gibt aber auch Staatsterrorismus wie jener, der von der Nato ausgeübt wird. Wie sonst soll man die Terrorbombardierung der Zivilbevölkerung in Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen bezeichnen?

Muss man solches Verhalten einfach tolerieren?

Was das «Ermessen» eines Staates betrifft, kann dies vom Uno-Menschenrechtsausschuss geprüft werden. Wenn ein Staat die Kompetenz des Uno-Menschenrechtsausschusses (dessen Sekretär ich war) anerkannt hat, können sich die Opfer an den Ausschuss wenden und ihr Recht nach Art. 21–22 IPBPR geltend machen. Der Ausschuss würde natürlich auch die Argumente des Staates abwägen und von Fall zu Fall entscheiden. Aber Israel und die USA haben die Kompetenz des Ausschusses nie anerkannt. Der Uno-Menschenrechtsrat hat einen Sonderberichterstatter über Terrorismus ernannt. Frühere Rapporteure wie Ben Emmerson, Q.C. [Queen’s Council, ein Titel, den die Königin verliehen hat] haben die Verleumdung der NGOs als Terroristen abgelehnt – aber die Staaten kümmern sich einen Dreck um die Meinung der Rapporteure.

Das Westjordanland wird zunehmend von Israel okkupiert. Was sagt das Völkerrecht dazu?

Jede Okkupation fremden Landes verletzt die Uno-Charta und etliche Resolutionen der Generalversammlung – u.a. Res. 2625 und 3314. Israel geniesst allerdings totale Impunität bzw. Straffreiheit, da es immer mit dem US-Veto im Sicherheitsrat (bereits 80 mal gebraucht) rechnen kann. Uno-Sanktionen gegen Israel sind daher nicht möglich. Und die EU-Staaten haben keinen Mut, ihre «Werte» zu behaupten, wenn es um Israel geht. 

Wie könnte die Situation zwischen den Israeli und den Palästinensern entspannt werden? Das Verbot von NGOs ist sicher kein Mittel, um zu mehr Frieden zu kommen. 

Natürlich ist das Verbot kein Mittel zur Entspannung. Aber wer sagt, dass Israel Entspannung will? Es lebt eben von dieser Spannung und von den Lügen und den Geschichtsklitterungen der westlichen Medien.

So wie in der USA-Nato-Russ­land-Krise betreffend die Ukraine wollen USA mit Nato keine Entspannung. USA mit Nato und Israel zeigen denselben imperialen Narzissmus. Sie wollen die Hegemonie behalten und stützen sich auf die manipulierten Medien, um dies «gesellschaftsfähig» zu machen. 

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

 

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Auszug)

Artikel 21 

Das Recht, sich friedlich zu versammeln, wird anerkannt. Die Ausübung dieses Rechts darf keinen anderen als den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), zum Schutz der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. 

Artikel 22 

(1) Jedermann hat das Recht, sich frei mit anderen zusammenzuschliessen sowie zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten. 

(2) Die Ausübung dieses Rechts darf keinen anderen als den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), zum Schutz der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Dieser Artikel steht gesetzlichen Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts für Angehörige der Streitkräfte oder der Polizei nicht entgegen. (3) Keine Bestimmung dieses Artikels ermächtigt die Vertragsstaaten des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation von 1948 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts, gesetzgeberische Massnahmen zu treffen oder Gesetze so anzuwenden, dass die Garantien des oben genannten Übereinkommens beeinträchtigt werden. 

Quelle: fedlex.data.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/1993/750_750_750/20190528/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-1993-750_750_750-20190528-de-pdf-a.pdf

 

Vom verdrängten Vormachen und Nachmachen 

von Dr. phil. Carl Bossard, Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug 

Das selbstgesteuerte Lernen dominiert den didaktischen Diskurs. Doch lernen wir nicht auch über das Vorgezeigte, über das Mitmachen und das Nachmachen? Gedanken zu einer verpönten Urform der Pädagogik.

Er war gewiss ein selbstbewusster Künstler und wusste, dass er etwas konnte: der Bildhauer und Baumeister Erhart Küng (ca. 1420–1507). Als Steinmetz kam er um 1455 nach Bern; schon bald zeichnete er als Werkbaumeister am Neubau des Berner Münsters verantwortlich. Eindrücklich noch heute seine Skulpturengruppe mit dem «Jüngsten Gericht» am mittleren Westportal. Und von ihm stammt wohl auch die stolze Inschrifttafel am Strebepfeiler bei der Schultheissenpforte; sie ist in Stein gemeisselt und zeugt, vielleicht ein wenig protzig, von seinem künstlerischen Können: «machs na» («mach es nach»).¹

 machs na  ( mach es nach ) – Inschrift an einem Pfeiler des Berner Münsters (Foto: Xxlstier / Wikimedia)

«machs na» («mach es nach») – Inschrift an einem Pfeiler des Berner Münsters (Foto: Xxlstier / Wikimedia) 

 

Vorzeigen und Nachmachen als pädagogische Urform

«Machs na! Ich habe es dir vorgemacht – mit einem Idealbild», das ist wohl Erhart Küngs steinerne Botschaft an der Pfeilerbrüstung. Vorzeigen und Nachmachen. Vielleicht das älteste Modell der Päda­gogik und vermutlich die einfachste wie auch die direkteste Form des Anleitens und Unterrichtens: Mimetisches Lernen nannten die alten Griechen diese Methode. Der Berner Hochschullehrer und wegweisende Lernpsychologe Hans Aebli zählt sie zur zweiten Grundform des Lehrens – nach dem Erzählen und Referieren.² 

«Ich zeige es dir; versuch’s nun selber!»

Sie überrascht nicht, die Position zwei von Vorzeigen und Nachmachen bei den zwölf Grundformen in Aeblis «Allgemeiner Didaktik». Der methodische Imperativ «machs na» gehört, geschwollen ausgedrückt, zu den anthropologischen und lerntheoretischen Grundkonstanten. Wie lernt der junge Mensch sprechen? Ohne das Vorbild der menschlichen Sprache ist dieser anspruchsvolle Lernprozess nicht möglich. Oder welch ungeahnter Wert liegt im Erzählen von Märchen und im Vorlesen von Geschichten fürs spätere Selberlesen! Und wie kommt das kleine Kind zum Schuh-Binden? Schau, ich zeig’s dir; versuche es nun selber! Das Kind beobachtet, wie es funktioniert, und macht es nach – am Anfang vielleicht noch mit Hilfen. Es probiert, immer und immer wieder! 

Vom notwendigen und systematischen Anleiten

Das Gleiche gilt für die Schule. Im Instrumentalunterricht ist das Vormachen gang und gäbe; oder beispielsweise im Fach Angewandte Gestaltung: Hier zeigt der Lehrer hilfreiche Handgriffe vor – und öffnet so die Tür zur Welt des Selbermachens – über die Prozesse des Anschauens, Nachdenkens, Problemlösens. Fundamental ist das eigene Tun der Lernenden. Ebenso grundlegend und notwendig aber bleibt die systematische Anleitung durch eine kompetente Pädagogin, einen versierten Lehrmeister. 

Wenn es um den Erwerb von Fertigkeiten und Arbeitstechniken geht, spielen das Vorzeigen und «Vor-Handeln» eine eminent wichtige Rolle. In allen Fächern. Die Lehrerin wirkt durch das, was sie kann und indem sie es auch vorzeigt und erklärt: im Französischunterricht das Bilden bestimmter Laute wie des stimmhaften «S», im Englischen des «Th». In den Sportlektionen ist es das Demonstrieren eines Tanzschritts oder eines Weitsprungs. Der Lehrer wirkt auch, indem er eine Matheaufgabe sprechdenkend löst, eine Textpassage selber eloquent vorträgt, den Zeichenstift persönlich ergreift. All das gehört zu seinem lernwirksamen und natürlichen Methodenrepertoire. 

Zeigen als didaktisches Minimum

Es erstaunt darum, wie wenig Wert in der heutigen Pädagogik und Didaktik dem Vorzeigen beigemessen wird. Vormachen sei lehrerzentriert und direktiv, wird argumentiert – und wenig kreativ. Es dominiert der Kreativitätsimperativ. Das Kind müsse am besten alles selber entdecken – spielerisch und «aus sich selbst heraus», heisst es. Sogar das Alphabet wird an gewissen Orten so gelernt, das Schreiben sowieso. Wie wenn’s kein Vorzeigen und Anleiten und Nachmachen als direkteste Form des Automatisierens von Fertigkeiten gäbe! Ob sich hier ein Zusammenhang ergibt mit den schwächer gewordenen PISA-Ergebnissen im Fach Deutsch?

Wie ganz anders tönen die Botschaften renommierter Bildungsforscher! Das massgebende pädagogische Können sei die Zeigekompetenz, schreibt der deutsche Erziehungswissenschaftler Klaus Prange. Und er fügt bei: «Das ist sozusagen das didaktische Minimum […].»³ Plausibel tönt das, und es leuchtet ein, denn die elementarste Form natürlicher Pädagogik liege in der Demonstration. Davon ist der amerikanische Evolutionsbiologe Michael Tomasello zutiefst überzeugt: «Man zeigt jemanden, wie etwas gemacht wird, indem man es entweder unmittelbar tut oder auf irgendeine Weise pantomimisch darstellt. Und wie die Kommunikation wird die Handlung nicht um ihrer selbst willen vollzogen, sondern zum Vorteil des Beobachters oder des Lernenden.»⁴

«Machs na» als notwendiges Korrektiv

Das meinte vielleicht der Steinmetz Erhart Küng. Er konnte etwas, und er zeigte es vor; «machs na» verkündet er vom Berner Münster in steinernen Lettern weit ins Land hinaus. Bis heute hat dieser Imperativ nichts von seinem Wert verloren – auch in der Schule nicht. 

«Machs na» ist nicht nur eine Urform des Lernens; sie könnte ein methodisches Korrektiv zum heute gar stark gewichteten selbstgesteuerten Lernen sein. Dies im Wissen, dass Vorzeigen und Nachmachen zwar eine sehr wichtige, aber doch nur eine von vielen Methoden darstellt. 

¹ Zu sehen ist eine Kopie; das Original befindet sich im Bernischen Historischen Museum.
² Hans Aebli: Zwölf Grundformen des Lehrens Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation, der Lernzyklus. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011, 14. Aufl., S. 65ff.
³ Klaus Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2012, 2. Auflage, S. 78.
⁴ Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2014, S. 96.

Die Zukunft stellt uns vor grosse Herausforderungen

von Reinhard Koradi

Die unterschiedlichen Positionen während der Pandemie hat viele von uns sehr in Anspruch genommen und wohl auch von anderen Herausforderungen abgelenkt. So langsam sollte nun wieder etwas Ruhe und – so hoffe ich – auch Ordnung einkehren. Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen, denen wir nur gewachsen sind, wenn wir sie unter Berücksichtigung der demokratischen Spielregeln mit Ruhe und Vernunft angehen. Es wird einen offenen Dialog ohne Grabenkämpfe brauchen, eine Diskussion, die sämtliche Anspruchsgruppen einbezieht.

Themen, die uns in den nächsten Jahren beschäftigen

Wir werden uns in den nächsten Jahren vielleicht auch Jahrzehnten mit dem sich anbahnenden Wandel, der Ungewissheit bedeutet, anfreunden müssen. Politische Krisenherde, Finanz- und Wirtschaftskrise, Bildungsmisere und überbordende Digitalisierung sind nur wenige Themen, die einer nachhaltigen Reform unterzogen werden müssen. Eine Revision, die mitunter auch eine Berücksichtigung der Erfahrungen aus vergangenen Zeiten benötigt. Unbestritten ist, dass viele aktuelle Baustellen hätten vermieden werden können, wenn, angeführt durch die Eliten, nicht Erfahrungen und Wissen aus den verflossenen Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten achtlos über Bord geworfen worden wären. Ohne Einbezug der Vergangenheit oder anders ausgedrückt, ohne Geschichtskenntnisse werden wir und die zukünftigen Generationen an den Zukunftsaufgaben scheitern. 

Vernunft und Einbezug der älteren Generation 

Über die letzten Jahre hinweg hat sich das politische Umfeld erheblich gewandelt. Auch der Stil hat sich geändert. Man gibt sich zwar kollegial, aber in der Sache selbst beherrschen Eigennutz und Machtstreben vornehmlich das politische Klima. Der ausufernde Lobbyismus ist zum Beispiel ein Sig­nal eines wachsenden Vorteilsanspruchs für die eigene Sache. Dabei gehen leider der Gemeinsinn und die Kompromissbereitschaft verloren. Nicht zu unterschätzen ist der gravierende Wissensverlust durch die Verjüngung von Legislative und Exekutive. In dieser Hinsicht drängt sich eine Korrektur auf.

Neben dem ordentlichen Parlament gibt es in Bern eine Jugend- und eine Frauensession. Aus meiner Sicht geht eine wertvolle Quelle des Wissens und der Erfahrungen durch den «Ausschluss» der älteren Generation verloren. Eine Quelle, auf die wir in den nächsten Jahren zurückgreifen müssen.

Mit Bezug auf die oben erwähnten Sessionen schlage ich daher vor, der wachsenden älteren Generation wieder mehr Mitsprache einzuräumen und auch Gehör zu geben. Daher sollte es in Bern neu eine Senioren-Session geben.

Wer macht mit? 

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