Die Entsendung deutscher Leopard-Panzer weckt Erinnerungen an Hitlers Panzerschlachten

Lula das Silva lanciert eine Friedensinitiative zur Aufnahme von Verhandlungen

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die deutsche Aussenministerin Baerbock hat am 24. Januar eine Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Strasbourg gehalten. Dort hat sie sich höchst problematisch geäussert. Können Sie kurz darüber berichten?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die deutsche Aussenministerin hielt diese besagte Rede. Eigentlich ging es dabei um den vierten Gipfel des Europarats. Es gab bisher nur drei Gipfel auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Im Mai wird ein Gipfel in Reykjavik anvisiert. Es ging aber auch um den Ukraine-Krieg. Am Ende dieser Reden gibt es immer die Möglichkeit für die Abgeordneten, Fragen zu stellen. Dort fragte sie ein britischer Abgeordneter nach den Leopard-Panzerlieferungen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht freigegeben worden waren. Dafür hatte er sie scharf kritisiert. Darauf antwortete sie: «Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander.» Das ist schon eine sehr ungeheuerliche Aussage für eine Aussenministerin, weil sie impliziert, dass sich die Länder des Europarats, damit auch Deutschland, formal im Krieg gegen Russland befinden.

Wie ist das zu bewerten?

Es ist de facto eine Kriegserklärung, vielleicht aus Versehen, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht war es auch nicht bewusst, aber es entspricht wohl ihrem Denken. Das Auswärtige Amt musste zurückrudern, der deutsche Botschafter in Moskau wurde einbestellt. Ein Faux Pas erster Ordnung! Wenn es einen Rücktrittsgrund vom obersten diplomatischen Job eines Landes gibt, dann sicherlich so eine missverständliche Kriegserklärung. Das Ganze reiht sich ein in Aussagen, die nur noch peinlich sind. Wenn Annalena Baerbock nicht von ihrem Skript abliest, kommt oft Wirres über ihre Lippen. Ich erinnere nur an die «Panzerschlachten des 19. Jahrhunderts», an die Länder, die «Hunderttausende von Kilometern entfernt sind» oder die «deutsche Kolonialgeschichte in Nigeria». Das alles hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Aber bei dieser Aussage im Europarat kommt neben der Peinlichkeit noch eine gefährliche Komponente hinzu. Mit Kriegserklärungen spielt man nicht. Man wünscht sich einen Aussenminister oder eine Aussenministerin, die erst denken, bevor sie etwas sagen.

Wie hat die Aussenministerin darauf reagiert, nachdem diese Aussage Wellen geschlagen hat?

In den Mainstream-Medien gab es zunächst kaum eine Reaktion. Es gibt eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes, mit der versucht wird, das einigermassen wieder gerade zu biegen: Wir sind natürlich nicht im Krieg mit Russ­land. Aber sonst habe ich nicht viel gehört. Die Aussage wurde erst wahrgenommen, nachdem sie etliche soziale Medien aufgegriffen hatten, danach wurde sie in den Tageszeitungen erwähnt. Eine Stellungnahme von ihr selbst ist mir nicht bekannt. Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums fragte auch: «Verstehen Sie selbst, wovon Sie da reden?»

Wie wurde es schliesslich zum Thema?

So richtig ging es in Deutschland erst am Donnerstag los. Am Dienstag hatte Annalena Baerbock diese Äusserung gemacht. Am Mittwoch kamen die ersten Meldungen, dass Olaf Scholz jetzt doch den Kampfpanzerlieferungen positiv gegenüberstehe. Das hat die ganze Auseinandersetzung sehr überlagert. Meines Wissens tauchte sie erst am Donnerstag vereinzelt in der deutschen Öffentlichkeit auf. Es war also kein grosses Thema. Das hängt auch damit zusammen, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen wird. Ob Annalena Baerbock sich verplappert hat oder ob das eine bewusste Äusserung war, sei einmal dahingestellt. Denken wird sie sicher so. Aber sie hat sich schon öfters hochnotpeinlich verplappert, auch als sie sagte: «Meine Wähler interessieren mich nicht». Offiziell aber hat sie diese Äusserung nicht zurückgenommen.

Sie haben schon gesagt, nur wenige Zeitungen hätten das aufgegriffen …

Ja, die beschäftigten sich vor allem damit, dass die Russen das jetzt propagandistisch ausschlachten. Am gleichen Tag kamen die ersten Meldungen vom «Spiegel», dass die Leopard-Panzerlieferungen jetzt von Olaf Scholz freigegeben werden. Vier Tage vorher war ein Treffen auf dem Militärstützpunkt der USA im deutschen Ramstein, das auf Einladung des US-Verteidigungsministers zustande gekommen war. Eigentlich ist man davon ausgegangen, dass schon dort Olaf Scholz und der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius grünes Licht für die Entsendung von Leopard-Kampfpanzern gäben. Das machten sie aber nicht.

Warum hat Scholz seine Meinung geändert?

Nach dem Treffen in Ramstein ist der Druck auf Scholz, vor allem medial, immer weiter aufgebaut worden. Am Dienstagabend, dem 24. Januar, kamen dann die ersten Meldungen, dass Leopard-Kampfpanzer doch zur Lieferung freigegeben würden.

Bemerkenswert ist etwas, was hierzulande kaum wahrgenommen wurde: Am Samstag, 21. Januar, einen Tag nach der Entscheidung in Ramstein, erst einmal keine Kampfpanzer zu liefern bzw. «das noch zu prüfen», gab es einen Leitartikel der gesamten Redaktion in der «Washington Post» mit dem Titel: «Germany is refusing to send Tanks to the Ukraine – Biden cannot let this stand» (Deutschland weigert sich, Panzer an die Ukraine zu schicken – Biden kann das nicht stehenlassen.). Das heisst doch nichts anderes: Man akzeptiert keine souveräne Entscheidung Deutschlands, und der Präsident hat in dem Sinne zu handeln. Das ist doch ungeheuerlich! Nur wenige Tage später kam die Entscheidung, doch Kampfpanzer zu liefern. Interessant ist dabei, dass die erste Meldung nicht offiziell von der Regierung kam. Am Dienstagabend setzten schon einflussreiche Medien das als Faktum, ohne dass es eine Verifizierung dessen gab, denn das Ganze bezog sich auf eine Vermutung des «Spiegels». Nur anderthalb Stunden vorher verschickte das Auswärtige Amt eine Sprachregelung an alle deutschen Diplomaten, dass in der Frage der Panzerlieferung «noch keine Entscheidung getroffen wurde». Am nächsten Tag verkündete dann Olaf Scholz auf einer Pressekonferenz den Entscheid zur Lieferung.

Was bedeutet dieser mediale Ablauf?

Die Medien versuchen, öffentlich Fakten zu schaffen, aus denen Scholz dann nicht mehr herauskommt. Das finde ich unglaublich, denn wir sprechen hier über eine Entscheidung von möglicherweise historischer Bedeutung. Es gab bisher schon viele Waffen, die der Ukraine geschickt wurden. Aber die Entsendung von Kampfpanzern löst sowohl in der russischen als auch in der deutschen Bevölkerung besondere Emotionen aus und ist militärisch nochmals von einer ganz anderen Qualität.

Inwiefern?

Mit der Entsendung der Leopard-Kampfpanzer entsteht bei sehr vielen Menschen eine Assoziation zu den Panzerschlachten vor 80 Jahren in der gleichen Region. Damals hiessen die Panzer der Wehrmacht Puma und Tiger, heute heissen sie Leopard, ebenfalls eine Raubkatze. Besonders in der russischen Bevölkerung weckt das starke Emotionen, weil die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten, davon zum grössten Teil russische Soldaten, eine extrem hohe Zahl an Opfern während des Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatte. Die Schlacht um Stalingrad, bei der die sowjetische Armee eine Million Soldaten verlor, das Aushungern von Leningrad mit über einer Million Opfer, die grosse Panzerschlacht bei Kursk, die nahezu eine Million Tote zurückliess, in der Mehrheit sowjetische Soldaten, ist im kollektiven Bewusstsein in ­Russland viel präsenter als zum Beispiel in Deutschland. Dass heute, 80 Jahre später, wieder deutsche Kampfpanzer in die gleiche Richtung unterwegs sind, führte dazu, dass sich in Russland auch die Kritiker Putins hinter ihn stellen.

Ich habe in einem Interview mit einer russischen Bürgerin gelesen: «In der Ukraine-Frage sind wir in der russischen Bevölkerung durchaus gespalten gewesen. Es gab keine Jubelstimmung, als am 24. Februar Kiew angegriffen wurde. Es gab sehr viel Skepsis und Antikriegsproteste. Auch einzelne Abgeordnete haben das öffentlich kritisiert.» Meines Erachtens repräsentiert das die Stimmung in der Bevölkerung ganz gut.

Aber die Entsendung deutscher Kampfpanzer gegen Russland, das wird die Bevölkerung komplett einen und eine Opferbereitschaft erzeugen, dagegen vorzugehen. Die Bevölkerung wird sich noch verstärkter hinter die russische Kriegsführung und hinter Putin stellen. Das ist für die Menschen in Russland verständlicherweise sehr emotional besetzt. Diese Wirkung auf die russische Bevölkerung ist auch ein Aspekt dieser historischen Fehlentscheidung, deren Konsequenzen wir bis heute noch gar nicht absehen können.

Wie ist denn die Stimmung in Deutschland bezüglich dieser Entscheidung?

Es ist auch hier, vielleicht nicht so stark wie in Russland, emotional besetzt. In den letzten Tagen habe ich als Abgeordneter vermehrt E-Mails bekommen, die von allergrösster Sorge geprägt waren, was diesen Entscheid betrifft. Es gab schon immer Menschen, die die Waffenlieferungen kritisiert haben. Aber auch emotional ist das ein qualitativer Sprung. Die Leopard-Panzer sind letztlich auch Angriffswaffen.  

Gab es öffentliche Reaktionen in der Bevölkerung?

Es hat in verschiedenen Städten Protestkundgebungen gegeben, auch in meiner Heimatstadt Aachen, die grösser waren als die vorhergegangenen. Dieser Entscheid mobilisiert mehr Menschen. Wenn man die Umfragen anschaut, dann sieht man, dass die Bevölkerung in Deutschland gespalten ist, also fifty-fifty. Wenn man die Umfrage nach Parteiorientierung anschaut, dann gehen die Meinungen ganz massiv auseinander. Und die mit grossem Abstand kriegerischste Partei, nicht nur in der Führung, sondern auch in ihrer Wählerschaft, sind die Grünen. Das ist frappierend. Über 80 % stimmen zu, dass Deutschland Kampfpanzer und sogar Kampfjets der Ukraine zur Verfügung stellen sollen. Aber sowohl Kampfpanzer als auch Kampfflugzeuge würden zu einer massiven Eskalation führen.

Wie sieht es bei den anderen Parteien aus?

Die SPD-Wähler, das sind Wähler der Kanzlerpartei, sind gespalten, bei FDP und CDU ist eine deutliche Mehrheit dafür, bei der LINKEN und der AfD sind es 80 %, die dagegen sind. Es ist sehr interessant, wie weit das auseinandergeht.

Was wir gegenwärtig beobachten, kann einen fast verzweifeln lassen: Viele Menschen reagieren entlang eines moralischen gut-böse-Schemas. Eine Handlung – etwa Kampfpanzer zu liefern – wird nicht mehr nach ihren Konsequenzen beurteilt, sondern nach dem moralischen Motiv dieser Handlung. Früher wurde von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik gesprochen. Eine aussenpolitische Handlung ist nicht mehr abzulehnen, weil sie zu katastrophalen Folgen führt, sondern sie ist gut, weil sie eine moralisch überlegene Position beinhaltet, in diesem Fall die Solidarität mit der Ukraine. Das ist etwas im Bewertungssystem auch vieler junger Menschen, das sich dahingehend verändert hat, dass nur noch wichtig ist, wie ich mich selbst dabei fühle und es eine moralisch gute Sache ist. Deshalb ist es eine gute Sache, die Ukraine zu unterstützen, es ist eine schlechte Sache, das nicht zu tun. Die Abwägung der Realität, was daraus für Konsequenzen entstehen, spielt fast keine Rolle in der Bewertung. Das ist ein Phänomen, das ich in dieser Massivität noch nie erlebt habe.

Was moralisch richtig ist, wird doch den Menschen durch die Medien und durch ständige Manipulation vermittelt?

Ja, selbstverständlich, da ist viel Medienmanipulation. Es wird mittlerweile auch die ganze Geschichte des Zweiten Weltkriegs verdreht. Wir hatten am 27. Januar im Bundestag wie jedes Jahr eine Gedenkstunde zur Auschwitzbefreiung. Das war in weiten Teilen eine gute Veranstaltung, die mich auch menschlich berührt hat. Dieses Mal stand im Vordergrund, dass auch Menschen mit anderer sexueller Orientierung oder sogenannte Asoziale ebenso wie Jüdinnen und Juden verfolgt und in den KZs ermordet wurden. Dennoch wurde in dem ganzen Framing, wie man auf Neudeutsch sagt, der Eindruck erweckt, dass der Zweite Weltkrieg Deutschlands, der Wehrmacht, damals primär gegen die Ukraine ging. Die russischen Opfer und die Rote Armee wurden ausgeblendet. Auschwitz wurde irgendwie befreit, aber von wem, das wurde nicht erwähnt. Es findet eine systematische Geschichtsverdrehung statt, die den Eindruck erweckt, der heutige Hitler heisse Putin. Hitler hätte damals die Ukraine angegriffen, und jetzt mache das Putin. So etwas war zwar nur in Nebensätzen formuliert, aber es war wahrnehmbar. Das ist unglaublich. Das Geschichtsbild wird der aktuellen geopolitischen Konstellation angepasst.

Scholz tingelt durch die Welt und erklärt überall, dass Deutschland nicht im Krieg sei und die Panzerlieferungen auch nicht dazu führten

Sie liefern nicht nur Panzer, sie bilden auch ukrainische Soldaten in Deutschland am Leopard-Panzer aus. Völkerrechtlich sagt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages auf Anfrage der LINKEN, dass damit die Bundesrepublik Deutschland den «gesicherten Bereich der Nicht-Kriegsführung» verlässt. Also, wir befinden uns in einer völkerrechtlichen Grauzone, ob wir Kriegspartei sind oder nicht. Und trotzdem machen sie weiter.

Selenskij hat ja bereits Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe verlangt

Unmittelbar nach der Entscheidung zur Panzerlieferung kam ein kurzer Dank Selenskijs und dann sofort die Forderung nach Kriegsschiffen, Kampfflugzeugen und Raketen. Es ist eine sich immer weiter vollziehende Eskalationsspirale. Die Russen haben auch viel Eskalationspotential. Nach meiner Einschätzung trifft das Ziel, die Krim zurückzuerobern, den russischen Nerv, der das Ganze noch viel weiter eskalieren würde. Was den Donbas anbetrifft, ist das nicht das absolut vitale Interesse von russischer Seite. Die Krim wird Russ­land jedoch nicht freiwillig zurückgeben. Dort liegt die Schwarzmeerflotte, und zwar seit dem 18. Jahrhundert.

Ist nicht die Mehrheit der Bewohner der Krim russischstämmig?

Ja, der Grossteil der Bevölkerung ist russisch, im Unterschied zum Donbas, indem es mehrschichtiger ist. In keinem Fall wäre die grosse Mehrheit der Krim-Bewohner bereit, sich Kiew wieder unterzuordnen. Eine ukrainische Rückeroberung der Krim würde zwangsläufig eine Vertreibung von mindestens einer Million der russischen Bevölkerung bedeuten. In der öffentlichen Diskussion wird das komplett ausgeblendet. Da gibt es tatsächlich Überlegungen, und dazu habe ich Annalena Baerbock vor anderthalb Wochen im Bundestag im Ausschuss gefragt, was die territoriale Begrenzung bei Panzerlieferungen sei. Es gibt bei solchen Lieferungen immer Verträge für den geografischen Verwendungszweck, also wo der Panzer eingesetzt werden darf. Nach diesen Kriterien dürfte russisches Militär auf russischem Territorium nicht angegriffen werden. Das ist die offizielle Position zurzeit: Die Panzer dürfen auf allen Gebieten operieren, die völkerrechtlich zur Ukraine gehören. Damit ist die Krim explizit impliziert. Es geht nicht nur um die Rückeroberung des Donbas, sondern auch um die Rückeroberung der Krim. Annalena Baerbock hat noch angefügt, dass der Einsatz dieser Panzer auf russischem Territorium ausgeschlossen sei. Das sei die offizielle Position der deutschen Regierung, aber sie hat durchblicken lassen, dass sie das für falsch hält, da auch russische Stellungen hinter der Grenze ein Problem seien. Das ist eine Position, die meines Wissens Olaf Scholz bisher nicht teilt. Damit gehört Annalena Baerbock ganz klar zum kriegstreibenden Flügel innerhalb der Bundesregierung. Olaf Scholz gehört eher zu den Zurückhaltenderen in der Auseinandersetzung. Zum aggressivsten Flügel gehört neben der Aussenministerin Baerbock auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Strack-Zimmermann.

Wie hat man Scholz in Ramstein unter Druck gesetzt?

Das lief auf vielen Ebenen. Die Medien, genauer gesagt die transatlantischen Netzwerke, haben die Stimmung in die Richtung immer weiter aufgebaut. Scholz hat auch nicht grundsätzlich nein gesagt, sondern den Standpunkt vertreten, dass er liefern würde, wenn die Bündnispartner das auch tun würden und die USA Abrams-Panzer zur Verfügung stellen würden. Da gibt es jetzt ein symbolisches Zugeständnis, dass auch einzelne Abrams geliefert würden, was wahrscheinlich Jahre dauern wird, bis sie dort ankommen. Aber scheinbar hat er etwas erreicht, was er nach aussen verkaufen kann. Jetzt kann er sagen: Ich bin doch gar nicht der Zauderer, ich habe nur ein breiteres Bündnis im Westen hergestellt. Das kann er dem kriegsbefürwortenden Teil der deutschen Öffentlichkeit als diplomatische Klugheit darstellen. Welche «Instrumente» ihm noch gezeigt wurden oder ob er «Leichen im Keller» hat, die man herausholt, das ist natürlich Spekulation. Später wird vielleicht einmal Wikileaks oder eine Nachfolgeorganisation die Korrespondenz dieser wichtigen Schlüsseltage ans Licht bringen. Aber bis jetzt wäre es reine Spekulation.

Gibt es eine logische Erklärung, warum Biden die Abrams nicht liefern wollte, aber verlangte, dass die Deutschen den Leopard-Panzer liefern?

Die offizielle Begründung lautet, es sei logistisch unglaublich kompliziert, angefangen beim Treibstoff bis hin zu anderen logistischen Problemen, so dass es sehr schwierig sei und sehr lange dauern würde. Schwierig wäre auch die Wartung der Panzer im Einsatz sowie die Nachschub- und Versorgungswege. Mit dem Leopard-Panzer sei das viel einfacher. Das waren die offiziellen Begründungen von der US-Seite, aber sicherlich steckt auch ein geopolitisches Motiv dahinter; denn es ist die US-Strategie, schon seit hundert Jahren darauf hinzuwirken, Deutschland und Russland gegeneinander in Stellung zu bringen und eine enge Kooperation zu verhindern. Eine solche Kooperation würde weltweit die US-Hegemonie in Frage stellen. Die Entscheidung, Leopard-Panzer zu entsenden, wird eine langandauernde Wirkung entfalten und zu einer Vergiftung der Beziehungen und zu einer erheblichen Erschwerung jedweder Kooperation führen, genauso wie die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines. Von daher ist es die US-Strategie, Deutschland immer weiter in den Krieg zu drängen.

Was sich im Moment abspielt, ist nur noch finster, und man fragt sich, wo das Gegengift bleibt.

Das gibt es. Grosse Teile der Welt haben einen ganz anderen Blick auf den Krieg. Ich habe mich im letzten halben Jahr – Ihre Zeitschrift hat darüber berichtet – mit Kolumbien und Brasilien beschäftigt und grossen Wert auf die Wahlen in den beiden Ländern gelegt. Was hier im Westen kaum berichtet wird, ist, dass Deutschland an Lateinamerikanische Länder Anfragen geschickt hat, ob sie auch Waffen für die Ukraine lieferten. Sowohl Lula da Silva in Brasilien als auch Gustavo Petro in Kolumbien haben ihr Veto eingelegt. Argentinien und Chile auch. Im Falle Brasiliens ging es um Munition, die Brasilien liefern sollte, aber Lula da Silva hat das mit der Begründung abgelehnt, in diesem Krieg neutral bleiben zu wollen, um einen internationalen Friedensblock, auch unter Einbeziehung Chinas zu schmieden. Ich finde, das ist ein Vorbild, an dem sich europäische Staaten ein Beispiel nehmen könnten. Brasilien steht hier stellvertretend für grosse Teile Lateinamerikas, Afrikas und Südostasiens. Das zeigt, dass in diesen Regionen der Blick auf diesen Krieg ein völlig anderer ist als aus der Blase, in der wir auch durch unsere Medien gehalten werden.

In diesem Zusammenhang stand also der Besuch von Olaf Scholz in Brasilien?

Ja, auch. Es gibt in der EU eine sogenannte «Global Outreach Strategy», also ein globales Ausgreifen der EU mit dem Ziel, Schlüsselländer weltweit auch in der Frage des Krieges in der Ukraine weiter ins westliche Lager zu ziehen. Es gab eine lange Diskussion unter den Strategen der EU, welches diese Schlüsselländer seien. Man hat jetzt fünf Länder identifiziert: Dazu gehören Brasilien, Nigeria, wo im Februar Wahlen stattfinden, Indien, Ägypten und Kasachstan. Das sind die Länder aus EU-Sicht, wo es die Hoffnung gibt, sie ins westliche Lager, zumindest in punkto Sanktionen, ziehen zu können, und die eine grosse regionale Bedeutung haben. Brasilien hat in Bezug auf den Krieg und Waffenlieferungen Olaf Scholz eine klare Absage erteilt, auch an Nigeria und Indien wird sich die EU wohl die Zähne ausbeissen. Wie sich Ägypten und Kasachstan verhalten werden, weiss ich nicht. Interessant ist, dass die EU bestrebt ist, den Nato-Kurs politisch zu flankieren und in diesem Krieg immer mehr zum verlängerten Arm der Nato wird. Die EU versucht die ganze Welt gegen Russland aufzubringen, und die genannten Länder sollen dabei eine Schlüsselrolle spielen. Positiv dabei ist, dass ein G20-Land, wie Brasilien dabei nicht mitmacht und einen Kurs auf eine diplomatische Lösung zur Kriegsbeendigung fährt. Das macht Hoffnung.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Aufruf: Aufstehen fürs Überleben

In einem offenen Brief wenden sich Bürger, darunter ein ehemaliger Major der Bundeswehr, an die Öffentlichkeit. Sie wollen der «wahnhaften Kriegstreiberei in den Massenmedien etwas entgegensetzen» und fordern sofortige Friedensverhandlungen.

verfasst am 31.1.2023, veröffentlicht am 4.2.2023

Zutiefst besorgt um das Leben und Überleben in der Mitte Europas richten wir diesen Aufruf vorrangig an die Menschen in den deutschsprachigen europäischen Ländern. Bei einer Vielfalt gesellschaftspolitischer Ansichten werden wir von der gemeinsamen Überzeugung getragen, dass unsere Welt zu keiner Zeit seit der Kubakrise 1962 so nah an der Katastrophe war. Wenn der gegenwärtig in den Massenmedien geschürten wahnhaften Kriegsbegeisterung nicht effektiv entgegengewirkt wird, besteht die grosse Gefahr, dass der Ukraine-Krieg zum Einsatz von Atomwaffen in Europa führt.

Die vielschichtigen Konfrontationen zwischen den Kräften, die eine unipolare Weltherrschaft anstreben und denen, die für eine multipolare Weltordnung sind, haben bereits verheerende Verwüstungen unter anderem in Jugoslawien, Sudan, Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien und Jemen verursacht. Die seit 2014 bestehenden militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine stellen einen Teil dieser weltweiten Entwicklung dar.

Inmitten des Kalten Krieges war die Kubakrise ein Weckruf. Anders als heute suchten damals die beiden Grossmächte ein Entgegenkommen in beiderseitigem Interesse. So wurden unter anderem die Verträge über die Abwehr ballistischer Raketen und die Verträge über nukleare Mittelstreckenraketen, die inzwischen verworfen wurden, ausgehandelt.

Ausgehandelte Friedensabkommen basieren weniger auf Vertrauen als auf dem gegenseitigen Verständnis, dass die gefundene Alternative im Interesse beider Seiten ist. Wir erheben unsere Stimme für sofortige Friedensverhandlungen und gegen die Kriegstrommler, die eine Fortsetzung des Krieges «bis zum Sieg der Ukraine» und die entsprechenden Waffenlieferungen fordern.

Unser Schicksal steht auf des Messers Schneide!

Nun kommt es darauf an, durch vielfältige Aktionen dem allgegenwärtigen Kriegsgetrommel aufklärend entgegenzuwirken, damit das Überleben gesichert werden kann.

V.i.S.d.P.: Wolfgang Effenberger, Dorfmoos 12, 82343 Pöcking

Quelle: https://afsaneyebahar.com/2023/02/04/20694759/

Der deutsche Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion 1941 – 1945

Annalena Baerbock (2022): «Russland soll nicht mehr auf die Beine kommen.» Olaf Scholz (2022): «Russland darf den Krieg nicht gewinnen.»

von Thomas Kaiser

In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939 unterzeichneten der deutsche Aussenminister Joachim von Ribbentrop und der sowjetische Aussenkommissar Wjatscheslaw Molotow im Beisein von Joseph Stalin den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Zuvor war ein Abkommen zwischen Grossbritannien, Frankreich und der Sowjetunion gegen Hitler gescheitert.

In diesem Nichtangriffspakt sicherten sich beide Staaten Neutralität zu, auch wenn einer der beiden in einen Krieg verwickelt würde. In einem geheimen Zusatzprotokoll, das erst von der Sowjetunion im Rahmen von Perestroika und Glasnost vom damals noch lebenden Übersetzer Stalins bestätigt wurde, beschlossen die Vertragsparteien die Aufteilung der Einflusssphären Deutschlands und der Sowjetunion in Osteuropa. Für Hitler war das die Versicherung, seinen Krieg zunächst gegen Polen und anschliessend gegen die Staaten Europas eröffnen zu können. Mit dem Überfall auf Polen begann offiziell am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg.

Angriff auf die Sowjetunion

Am 22. Juni 1941 brach Hitler den Vertrag mit der Sowjetunion, nachdem er Mittel-, West-, Süd- und Nordeuropa bereits mit Krieg überzogen hatte, und begann seinen lange geplanten Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjet­union. Dass dieser Krieg glücklicherweise vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt war, hätte von vornherein klar gewesen sein müssen, aber verblendete Offiziere und Generäle unterstützten Hitler in seinem Wahn, ganz Europa zu besetzen und mit dem unsäglichen Feldzug gegen die Sowjetunion, «Lebensraum im Osten» für die «germanische Rasse» zu schaffen. Dabei nahm man Millionen von Toten auf beiden Seiten in Kauf. Ziel war es, die «russischen Untermenschen» zu unterwerfen, um der «deutschen Herrenrasse» als Sklaven zu dienen.

Um das «Unternehmen Barbarossa», wie von Hitler der Angriff auf die Sowjetunion benannt wurde, erfolgreich durchführen zu können, setzten er und seine Generalität militärisch alles auf eine Karte.

Tausende von deutschen Panzern

Die deutsche Wehrmacht mobilisierte dafür 150 Divisionen, was einer Anzahl von 3 Millionen Soldaten entspricht. Unterstützt wurden diese von der unvorstellbaren Zahl von 3500 Panzern und Sturmgeschützen, 7000 Artilleriegeschützen sowie unzähligem weiterem militärischem Gerät.

Hitlers Armee hatte zunächst Erfolg und marschierte unter Verlusten auf beiden Seiten mit seinen Panzerdivisionen bis 20 Kilometer an Moskau heran. Dann kam der Vorstoss aufgrund der eisigen Kälte und der darauf völlig unvorbereiteten Wehrmacht zum Erliegen. Hitler war der Überzeugung, die Sowjetunion in einem «Blitzkrieg» besiegen und die Hauptstadt Moskau besetzen zu können. Es war ihm und seiner Generalität anscheinend bewusst, dass es schwierig oder nahezu unmöglich sein werde, das Land vollständig einnehmen und kontrollieren zu können, wenn das nicht gelänge. Der Plan, mit der Eroberung Moskaus den Krieg für das Deutsche Reich zu entscheiden, misslang – zum Glück.

Die im folgenden Frühjahr geführte Offensive bewegte sich nun verstärkt Richtung Süden. Hitlers Armee benötigte dringend Öl, denn ein deutscher Tiger-Panzer verbrauchte im Gelände ca. 850 Liter Treibstoff auf hundert Kilometern. Bei der grossen Anzahl von Panzern und weiteren Fahrzeugen kann man sich kaum vorstellen, wie viele Liter Treibstoff täglich zur Verfügung stehen mussten. Zwar lieferte die US-amerikanische Ölgesellschaft Standard Oil – was in den USA zu einem Skandal führte – den Nazis Öl, aber zu wenig, um für solch eine Operation genügend Treibstoff verfügbar zu haben. 

Die von der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1942 gestartete Offensive sollte nun bis zu den Ölfeldern von Baku vordringen. Das wurde jedoch nicht erreicht. Die Sowjetunion verteidigte sich mit Zähnen und Klauen unter grössten Verlusten. Mahnmal dieses gescheiterten Vorstosses bildete die fürchterliche Kesselschlacht um die Stadt Stalingrad. Die russische Armee verlor dabei nahezu eine Million Soldaten, konnte aber die 6. deutsche Armee in die Knie zwingen. Nach diesem Ereignis und der Kapitulation der 6. Armee, deren Kommandant General Feldmarschall Friedrich Paulus sich gegen den Befehl Hitlers ergab und nicht bis zum letzten Mann weiterkämpfte, war der Nimbus von Hitlers unbesiegbarer Armee endgültig zerstört.

Brutale Panzerschlachten

Das langsame Zurückerobern des von Hitlers Armeen eingenommenen sowjetischen Territoriums war begleitet von mehreren Panzerschlachten, mit Opferzahlen, die sich der menschlichen Vorstellungskraft verweigern. Die verlustreichste und brutalste Panzerschlacht ereignete sich an der Grenze zur heutigen Ukraine, damals sowjetisches, heute russisches Territorium. Sie tobte im Gebiet um Kursk und besiegelte letztlich den Untergang der deutschen Wehrmacht.

2500 Panzer hatte die deutsche Wehrmacht zusammengebracht, dabei war auch die 2. SS-Panzer-Division «Das Reich». Sie hatte zuvor Charkow «befreit». Später wurde sie nach Frankreich verlegt, wo sie Massaker an der Zivilbevölkerung verübte. Bis heute wird in der Ukraine ein positives Andenken der SS-Panzer-Division gepflegt. Zur Unterstützung der Panzer kamen Flugzeuge und anderes schweres militärisches Gerät, um mit der Panzerschlacht einen Sieg über die Sow­jetarmee zu erzielen. Mit einem erneuten Durchbruch wollte man doch noch zu einem Erfolg kommen. Die Schlacht endete mit einer vernichtenden Niederlage der Wehrmacht, die neben deutschen Soldaten auch eine Vielzahl ausländischer «Freiwilliger» in ihren Reihen hatte. Auch wenn die Sowjets mehr Verluste zu verzeichnen hatten als die Deutschen, endete die Schlacht mit einem Sieg für die Rote Armee. Insgesamt starben bei dem «Unternehmen Zitadelle», wie es Hitler nannte, und den nachfolgenden Kämpfen nahezu 1 Million Menschen. Auch wenn die Sowjets letztlich als Sieger hervorgingen, die Verluste – vor allem von Russen und Ukrainern – waren horrend.

Deutsche Panzer gegen Russland

Bis heute sind die traumatischen Ereignisse, auch wenn sie 80 Jahre zurückliegen, nicht vergessen. Der «Grosse Vaterländische Krieg», wie er in Russland bis heute genannt wird, ist im russischen Bewusstsein verständlicherweise immer noch präsent. Wenn jetzt die Bundesregierung deutsche Leopard-Kampfpanzer an die Ukraine liefert, ohne darüber nachzudenken, was das in der russischen Bevölkerung auslöst, dann zeigt das die Unfähigkeit einer Regierung, die keine eigenständige Politik betreibt, sondern nach der Pfeife der USA tanzt und sich von den Medien treiben lässt. Was dieser Krieg Deutschlands gegen die Sowjet­union damals für die Bevölkerung bedeutete, beschreibt der kirgisische Dichter Dschingis Aitmatow in seinem berührenden Roman «Goldspur der Garben». Eine Lektüreempfehlung für alle, die sich nicht vorstellen können, wohin Krieg führt. Ein kleiner Ausschnitt macht deutlich, was die Menschen an Leid und Elend, an Trauer und Verzweiflung aufgrund des deutschen Überfalls erdulden mussten: «Ein Schrei brach los in meinem Innern. Ich hätte schreien mögen, dass die ganze Welt es hörte. Aber ich schwieg. Ich erfüllte den Wunsch meines Sohnes, er hatte mich gebeten, nicht zu weinen. Ich wusste nicht, was Aliman [die Frau des gefallenen Sohnes] derweil tat. Ich sah sie nur einmal mit ausgestreckten Armen langsam auf mich zukommen. Sie trat ganz nah an mich heran, blickte mir in die Augen, wandte sich ab und ging wieder, die Hände vors Gesicht geschlagen. So hatte ich meinen mittleren Sohn verloren. Nur seine Mütze ist mir geblieben.» (S. 101)

Von den vier Menschen kam keiner zurück

Wollen wir das alles noch einmal erleben? Sind wir 80 Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen nicht schlauer geworden. Wenn Frau Baerbock sagt: «Wir sind im Krieg mit Russland», bewegen wir uns auf direktem Weg in die Katastrophe. Solche Politiker sind ein Risiko für die Menschheit. Um aus dem Schlamassel herauszukommen, braucht es keine neuen Panzer, sondern Verhandlungen, ernsthafte Verhandlungen. Alles übrige hat Zerstörung, Tod und unendliches menschliches Leid zur Folge: «Sie verstummte, und auch ich schwieg. Dann hob sie den Blick und sah mir ernst und fest in die Augen. ‹Sei nicht traurig, Mama›, sagte sie mit wehmütigem Lächeln. ‹Glaubst du denn, dass uns nichts, aber auch gar nichts geblieben ist vom Glück, nicht das kleinste bisschen? Es kann nicht sein, dass von den vier Menschen kein einziger zurückkommt …›» (S. 109) Das ist die Realität, vor der niemand die Augen verschliessen darf. Nur ein Waffenstillstand und anschliessende Friedensverhandlungen können solche Schicksale verhindern, wie sie Dschingis Aitmatow beschrieben hat.

Tschingis Aitmatow: Goldspur der Garben
ISBN 978-3-293-20634-2

«Eine Rückeroberung der von Russland eingenommenen Gebiete ist unrealistisch»

«Das ukrainische Militärpotenzial wird langsam zermahlen»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In den Mainstream-Medien wird momentan das Bild vermittelt, dass Russland durch den Widerstand der Ukrainer militärisch nicht weiterkommt. Können Sie diese Aussage bestätigen?

Jacques Baud Nein. Das war seit Beginn des Konflikts nie der Fall und ist es auch heute noch nicht. Die Russen und ihre Verbündeten in den Donbas-Republiken sind sicherlich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vorgerückt, je nachdem, wie gut die ukrainische Verteidigung war, aber sie sind immer vorgerückt. Ich erinnere daran, dass die einzigen Vorstösse der ukrainischen Armee (in Charkow und Cherson) möglich waren, weil die Russen zuvor entschieden hatten, dass diese Gebiete das Risiko einer Verteidigung nicht wert waren. Die Ukrainer konnten dann nach dem Abzug der russischen Truppen vorrücken. Die Rückeroberung dieser Gebiete erfolgte daher ohne Schlacht. Allerdings wurden die ukrainischen Truppen von der russischen Artillerie empfangen und erlitten sehr hohe Verluste, während die Russen praktisch keine Verluste erlitten. In Cherson machten die ukrainischen Truppen die gleiche Erfahrung wie die russischen und räumten die Stadt, kurz nachdem sie sie «zurückerobert» hatten!

Seit Februar 2022 versuchen unsere Medien (insbesondere: RTS oder NZZ in der Schweiz, LCI, France 5 oder BFM TV in Frankreich), uns glauben zu machen, dass die Ukraine siegt, dass die russischen Truppen unfähig sind, schlecht geführt werden und schwere Verluste erleiden. Heute können wir feststellen, dass dies alles völlig falsch war.

Der grösste Fehler, den man in einem Krieg machen kann, ist, den Gegner zu unterschätzen und die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Unsere Medien haben uns dazu verleitet.

Unsere Medien – und sogar unser Militär! – verstehen unter Krieg grosse Pfeile auf einer Landkarte und territoriale Eroberungen. Das war die Logik der Westmächte im Irak oder in der Sahelzone, aber es ist nicht die Logik der Russen in der Ukraine. Wie Winston Churchill sagte: «Egal wie beschäftigt ein Kommandant mit der Ausarbeitung seiner eigenen Überlegungen ist, manchmal ist es notwendig, den Feind zu berücksichtigen.» Seit dem 24. Februar 2022 haben unsere Medien und Politiker die Realität am Boden durch ein Propaganda-Narrativ ersetzt, das nicht darauf abzielt, die Situation zu verstehen, sondern die Stimmung gegen Russland zu mobilisieren.

In der Ukraine haben die Russen immer gesagt, dass es ihr Ziel sei, die Bedrohung für die Bevölkerung des Donbas durch «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» zu neutralisieren. Beide Ziele beabsichtigten, eine Lösung für die Sicherheit der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas zu erreichen.

Russlands Ziel war es also – durch eine politische Einigung oder durch Zerstörung – , ein Potenzial zu neutralisieren, und nicht, Gebiete zu übernehmen. Diese Lösung hätte aus dem Minsker Abkommen kommen sollen, doch die Westmächte haben sich ausdrücklich geweigert, das von ihnen unterzeichnete Abkommen umzusetzen. Daher beschloss Russ­land, diese Lösung durch eine militärische Intervention zu erzwingen.

Davon abgesehen, hat Russland immer gesagt, dass es eine Verhandlungslösung bevorzugt. Aus diesem Grund hat es alle Verhandlungsvorschläge akzeptiert, die Selenskij im Februar 2022, März 2022 und August 2022 vorschlug. Diese Bemühungen wurden von der Europäischen Union und Grossbritannien systematisch verhindert, da sie – im Gegenteil – den Konflikt mit Waffen anheizten. Die Russen haben also begriffen, dass der einzige Weg aus dem Konflikt darin besteht, die militärischen Kapazitäten der Ukraine systematisch und methodisch zu zerstören.

Das Ziel der «Entnazifizierung» richtete sich nicht gegen die ukrainische Regierung, wie unsere Propaganda behauptet, sondern explizit gegen die ultra-nationalistischen und neonazistischen paramilitärischen Milizen, deren Bedrohung sehr real ist,¹ deren Existenz aber von westlichen Sympathisanten geleugnet wird.² Nach Angaben des russischen Militärs selbst³ wurde dieses Ziel Ende März mit der Einnahme von Mariupol, der Heimat des AZOV-Regiments, dessen Verbrechen von unseren Medien akzeptiert und sorgfältig vertuscht wurden, erreicht. Die Neutralisierung der militärischen Bedrohung (Entmilitarisierung) hätte bereits am 25. Februar 2022 erreicht werden können, indem die von Wolodimir Selenskij vorgeschlagenen, aber von der Europäischen Union verhinderten Verhandlungen, fortgesetzt worden wären.

Da die Option der Verhandlungen vom Westen abgelehnt wurde, bleibt den Russen nur die endgültige Vernichtung der ukrainischen Streitkräfte. Dies geschieht nun logischerweise, und die Russen haben es wahrscheinlich nicht mehr sehr eilig mit der Aufnahme von Verhandlungen.

Die Westmächte haben nie Frieden schliessen wollen, und es gibt Kräfte in der ukrainischen Regierung, die Selenskij dazu drängen, ihre Politik zu machen. Heute haben wir sogar die Bestätigung von Generalmajor Kirill Budanow, dem Leiter des ukrainischen Militärnachrichtendienstes (GUR), dass Denys Kireyev, einer der ukrainischen Verhandlungsführer (und Mitglied des GUR), Ende Februar sowie einige andere Persönlichkeiten, die Verhandlungen befürworteten, vom ukrainischen Staatssicherheitsdienst (SBU) eliminiert wurden. Ich hatte dies bereits in meinem Buch «Operation Z» geschrieben, doch dieses Mal wird es vom Direktor der GUR selber bestätigt.4 Wieder einmal haben die Journalisten des «Blick» oder des Westschweizer Fernsehens (die mich immerhin als «Putin-Agent» bezeichnet haben) gelogen.

Die Lieferung von schwerem militärischem Gerät, was Selenskij schon lange fordert, soll die Ukraine in die Lage versetzen, die von den Russen kontrollierten Gebiete wieder zurückzuerobern. Ist das Wunschdenken?

Ja. Zunächst einmal ist das Beharren des Westens auf der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ein Eingeständnis, dass die Situation nicht zu seinem Vorteil ist. Und das geschah nicht an einem Tag. Die Hauptkapazitäten der ukrainischen Armee wurden im Sommer 2022 zerstört. Deshalb fordert Selenskij seit dieser Zeit Waffen. Mit anderen Worten: Unsere Medien, Diplomaten und Politiker haben systematisch über die Lage und die Fähigkeiten der Ukraine gelogen.

In den USA geben heute sogar General Mark Milley, der Vorsitzende des Joint Chiefs of Staff,5 und Aussenminister Anthony Blinken⁶ zu, dass eine Rückeroberung der von Russland eingenommenen Gebiete unrealistisch ist. In einer vertraulichen Anhörung teilte das Pentagon dem Streitkräfteausschuss des US-Repräsentantenhauses mit, dass die Ukraine nicht über die Kapazitäten verfüge, um die Krim zurückzuerobern.7

Erstens muss man auf gesellschaftlicher Ebene daran erinnern, dass sich die Menschen in diesen Regionen (Krim, Donbas und Südukraine) nicht als Ukrainer fühlen, weil die Ukrainer in Kiew sie nie als Ukrainer betrachtet haben. Unsere Sicht ist verzerrt, weil unsere Medien Gesetze wie das, das den Bürgern der Ukraine je nach ihrer ethnischen Herkunft unterschiedliche Rechte einräumt, unterstützt haben.8 Wir weigern uns zu verstehen, dass das 2014 in Kiew errichtete Regime in diesen Regionen nie legitim war.

Man darf nicht vergessen, dass die Krim-Bevölkerung im Januar 1991 in einem Referendum erreicht hatte, dass sie von Moskau und nicht mehr von Kiew verwaltet werden sollte. Als die Ukraine unabhängig wurde, war die Krim also Moskau untergeordnet, ohne Teil Russlands zu sein. Es war die Ukraine, die 1995 beschloss, die Krim zu annektieren, indem sie ihre Verfassung gewaltsam abschaffte und ihren Präsidenten stürzte.⁹ Im Jahr 2014 nutzten die Krimbewohner einfach die Illegitimität der neuen Regierung in Kiew und die Abschaffung des Gesetzes über die Amtssprachen, um erneut den Anschluss an Moskau zu fordern. Es ist daher vorstellbar, dass die Ukraine, wenn sie die russischen Gebiete zurückerobern würde, auf sehr starken Widerstand in der Bevölkerung stossen würde, so als ob die Russen versuchen würden, den westlichen Teil der Ukraine einzunehmen.

Wahlzettel vom 20. Januar 1991. Als die Ukraine im Dezember 1991 unabhängig wurde, stand die Krim unter der Kontrolle Moskaus. Es war die Ukraine, die die Krim 1995 buchstäblich annektieren musste, indem sie den gewählten Präsidenten gewaltsam stürzte.10 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1991_Crimean_referendum_ballot.jpg)

Zweitens: Militärisch gesehen bestätigte sogar der Chef der ukrainischen Streitkräfte, General Saluschnij, in einem Interview mit dem «Economist» am 15. Dezember 2022, dass die Ukraine nicht in der Lage sei, diese Gebiete zurückzuerobern, wenn sie nicht «300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer, 500 Artilleriegeschütze» erhalte.11

Das Problem ist, dass die ukrainische Armee nicht auf einen Bewegungskrieg gegen einen mechanisierten Gegner vorbereitet wurde. Sie wurde seit 2014 von der Nato modernisiert und ausgebildet, litt aber unter der mangelnden Erfahrung des Westens in diesem Bereich, der nur mit technologisch unterlegenen Armeen und mit Situationen der Aufstandsbekämpfung konfrontiert war.

Aus diesem Grund gab es seit Beginn der russischen Offensive im Februar 2022 keine grossen Panzerschlachten wie in Kursk im Jahr 1943. Die Ukrainer führen einen Infanteriekrieg in Schützengräben oder in überbauten Gebieten. Dies war in Mariupol, Sjewjerodonezk oder Bachmut zu sehen. Ich schliesse daraus, dass die Bereitstellung von Panzern, umso mehr von westlichen Panzern, mit denen die Ukrainer nicht völlig vertraut sind, die Situation nicht grundlegend verändern wird.

Ich denke, dass die Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt selbst mit erneuerter Ausrüstung nicht mehr in der Lage ist, die von den Russen eingenommenen Gebiete zurückzuerobern. Ich möchte ausserdem daran erinnern, dass es dem Westen um das Territorium geht, den Russen jedoch um das Potenzial. Wie ich bereits sagte, kann man zwar im besten Fall Gebiete zurückerobern, aber man erhält nie die verlorenen Menschenleben zurück. Gegenwärtig drängt der Westen die Ukrainer, das ihnen verbliebene Humankapital aufs Spiel zu setzen. Unsere Intellektuellen sehen darin ein grosses Romanepos (es ist leicht, mit dem Leben anderer Menschen Krieg zu führen), aber man muss bedenken, dass die Ukraine sich wieder aufbauen muss.

Nun hat die Ukraine seit 1990 bereits einen Grossteil ihrer Bevölkerung verloren, und es ist unwahrscheinlich, dass diese Bevölkerung in ein korruptes und zerstörtes Land zurückkehrt. Zu diesem demografischen Defizit wird der Verlust der treibenden Kräfte des Landes, die wir heute sehen, hinzukommen.

Welchen Effekt werden die neu gelieferten Panzer auf den Kriegsverlauf haben?

Zunächst einmal gibt es einen politischen Effekt – im Westen. Als Selenskij nach Washington reiste, bat er um Abrams M1-Kampfpanzer. Die Amerikaner lehnten ab, forderten Deutschland aber auf, Leopard-2-Panzer zu liefern. Olaf Scholz antwortete ziemlich logisch, dass Deutschland nur dann Panzer liefern würde, wenn die Amerikaner zuerst zustimmen würden. Zunächst schlug ein amerikanischer Politiker vor, dass die USA nur einen einzigen M1-Panzer liefern sollten, um die deutsche Entscheidung zu provozieren!12 Die Amerikaner haben sehr gut verstanden, dass das politische Verhalten Deutschlands unterwürfig und korrupt ist .

Die Fortsetzung wurde von der «Washington Post» enthüllt und von der europäischen Presse so gut wie gar nicht aufgegriffen.13 Und das aus gutem Grund! So genehmigte Joe Biden die Lieferung von 31 M1-Panzern. Wie erwartet genehmigte Scholz daraufhin den Reexport von Leopard-2 durch die europäischen Länder und gestattete die Lieferung einer bestimmten Anzahl dieser Panzer. Zu diesem Zeitpunkt erklärten die USA, dass die M1 zu viel Technologie enthielten, die nicht in die Hände der Russen fallen dürfe, und dass die Panzer nicht sofort geliefert werden könnten. Tatsächlich werden es neue Panzer sein, die speziell für die Ukraine gebaut werden, mit einem geringeren Schutz (da die Zusammensetzung der Panzerung der US-Version als geheim eingestuft ist), die erst in einem Jahr geliefert werden können!14

Mit anderen Worten: Die USA haben Scholz «über den Tisch gezogen»!!! Dies zeigt, wie es um die Beziehungen zwischen den Nato-Mitgliedern tatsächlich steht. Man weiss schon, dass es ein Nato-Mitglied war, das die Nord-Stream-Gaspipelines zerstört hat. Es ist also Deutschland, das den Preis für den von den Amerikanern gegen Russland geführten Krieg zahlt. Die Amerikaner haben Recht: Wenn man einen «Dummen» gefunden hat, kann man ihn auch gleich ausbeuten, vor allem, wenn das deutsche Volk das ohne Diskussionen akzeptiert! Jedes Land ist für sein Schicksal selbst verantwortlich. Das gilt für die Ukrainer genauso wie für die Deutschen.

Auf einer militärischen Ebene sollte daran erinnert werden, dass die Ukrainer im Februar 2022 knapp 1000 Kampfpanzer hatten.15 Zu dieser Zahl kommen laut dem Westen und unseren Medien im Jahr 2022 noch mehr als 500 erbeutete russische Kampfpanzer16 und etwa 600 vom Westen erhaltene Panzer hinzu. Darüber hinaus ist festzustellen, dass nur die Russen Panzer verlieren. Wir sollten also eine klare Überlegenheit der Ukraine haben! Doch heute bräuchte die Ukraine, wenn man General Saluschnij glauben darf, 300 Panzer um durchzuhalten,17 und der Westen wird bis zum Sommer 2023 nur einen kleinen Teil dieser Zahl liefern können.

Ich bin selber Kommandant eines Leopard-2-Bataillons gewesen. Es ist eine formidable und hervorragende Waffe. In der Schweiz können wir Panzerbesatzungen in weniger als vier Monaten ausbilden, also ist es durchaus möglich, dass die Ukrainer dasselbe tun.

Das Problem ist nicht wirklich die technische Ausbildung der Panzerbesatzungen. Der schwierigste Teil ist die Fähigkeit, den Panzer in das Gefechtssystem zu integrieren und mit operativer Kohärenz zu operieren.

Die Panzertechnik hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren nicht wirklich entwickelt. Die Bewaffnung, die Mobilität und der Schutz haben sich verbessert, aber nicht grundlegend verändert. Was sich weiterentwickelt hat, ist die Technologie, die es ermöglicht, Panzer in ein Waffenverbundsystem zu integrieren (battlefield management system oder BMS). Dies gibt der gepanzerten Waffe ihre tatsächliche Wirksamkeit. Betrachtet man die verschiedenen Generationen des Leopard-2-Panzers, so stellt man eine radikale Veränderung zwischen den Versionen A4-A5 der 1980er und 1990er Jahre und den Versionen A6-A7 der Jahre 2005 bis 2020 fest.

Bei den Fahrzeugen, die der Ukraine versprochen werden, handelt es sich jedoch hauptsächlich um Leopard-2A4 und sogar Leopard-1, die nur eine alte Technologie (ohne BMS) aufweisen und deren Munition offenbar gegen die russischen T-90 nicht wirksam ist.18 Es fällt auf, dass der Westen seine modernste Ausrüstung nicht hergeben will, weil er den Ukrainern nicht vertraut und befürchtet, dass die Russen westliche Hochtechnologie wie die Chobham-Panzerung der britischen Challenger-Panzer in die Hände bekommen könnten.

Bei den Leopard-Panzern ist es noch dramatischer, denn die Deutschen haben festgestellt, dass die Vorbereitung der Panzer für die Ukraine länger dauern wird als erwartet (vielleicht ist dies eine Antwort auf die amerikanische Täuschung?) und werden nur Leopard-1-Panzer aus den 1960er und 1980er Jahren mit einer 105-mm-Kanone liefern – für die es an Munition mangelt!

Die Russen haben ihre Waffensysteme vollständig in den sogenannten «Aufklärungs-Schlag-Komplex» (Razvedivatel'no Udarnyy Kompleks oder RUK) integriert, bei dem es sich um ein Managementsystem handelt, das ihre Waffensysteme zu einem einzigen Kampfsystem zusammenfasst. Dadurch sind sie in der Lage, mit erheblich schwächeren Kräften als die Ukrainer effektiv zu kämpfen.

Nach der Vernichtung des grössten Teils ihres Potenzials im Jahr 2022 ist die ukrainische Armee heute eine bunte Ansammlung von Material unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Logistikketten. Das Problem der Ukrainer ist nicht wirklich der Mangel an Waffen, sondern die Fähigkeit, diese in eine optimale und effiziente Führungsstruktur zu integrieren. Ein Beispiel dafür ist die Haubitze M777, die vom Westen als «Wunderwaffe» gesehen wurde, aber ihr volles Potenzial nicht ausnutzen konnte, da sie nur als «normale» Haubitze eingesetzt wird.19

Das ist auch das Problem der Raketenabwehrkapazitäten. Seit dem 2. März berichten unsere Medien, dass die Russen ihre Raketenreserven erschöpft haben. Wir hielten es daher nicht für sinnvoll, den Ukrainern Raketenabwehrsysteme zu geben. Ab Oktober 2022, nach dem Bombenanschlag auf die Kertsch-Brücke, begannen die Russen, die elektrische Infrastruktur zu zerstören (wie es die Nato in Serbien, die Amerikaner im Irak, in Syrien und in Libyen getan hatten). Der Westen schickte daher dringend Luftabwehrraketen. Aber diese Waffensysteme, die aus mehreren Ländern stammen, sind nicht wirklich interoperabel und befinden sich nicht in einem integrierten Kampfführungssystem. Das Ergebnis: Bei jedem Angriff werden mehrere Raketen auf ein einziges Ziel abgefeuert. Die Russen haben das Problem sehr gut verstanden und schicken mit ihren Raketen «Lockvögel» ins Rennen. Dadurch feuern die Ukrainer bei jedem russischen Angriff viel mehr Raketen ab als nötig, und ihr Potenzial nimmt rapide ab.

Letztendlich konnte das westliche Material nicht mit der russischen Fähigkeit, sie zu zerstören, mithalten. Am 24. Januar kündigte Estland an, dass es alle seine 155-mm-Haubitzen – das heisst 24 FH-70 – an die Ukraine verschenken würde.20 Eine Woche später, am 31. Januar, bot Frankreich 12 CAESAR-Haubitzen an, zusätzlich zu den 18, die es bereits an die Ukraine geliefert hatte.21 Laut der Website «Moonofalabama», die die Ankündigungen des russischen Generalstabs zusammenzählte, soll die russische Armee in derselben Woche 40 gezogene Haubitzen, 32 selbstfahrende Haubitzen und 8 Mehrfachraketenwerfer zerstört haben.22 Diese Zahlen sind schwer zu bestätigen, zeigen aber, dass die westlichen Waffenlieferungen kaum ausreichen, um die ukrainischen Verluste auszugleichen.

Welche Folgen wird das auf die Zahl der Toten und Verwundeten haben?

Wir haben die Russen in die Lage gebracht, das gesamte ukrainische Potenzial systematisch zerschlagen zu müssen. Die Hauptverantwortlichen dafür sind diejenigen, die uns verweigert haben, das Massaker an Zivilisten im Donbas zwischen 2014 und 2022 zu verurteilen, die uns über das Minsker Abkommen desinformiert haben, damit es nicht umgesetzt wird, und die, die die wahren Gründe für die russische Intervention verschwiegen haben: Es sind unsere Medien, die dogmatisch und ideologisch sind und vom Blut anderer leben.

Von Beginn ihrer Operation an war es sehr klar, dass die Russen die Verluste auf beiden Seiten minimieren wollten. Dies hatte das Pentagon zu Beginn des Konflikts festgestellt, wie das US-Magazin «Newsweek» berichtete.23 Dies wurde am 23. Januar dieses Jahres auf der ukrainischen Website «Mriya» von Oleksej Arestowitsch, enger Berater von Selenskij, bestätigt: Die Russen «versuchten, einen intelligenten Krieg zu führen», indem sie versuchten, die Verluste so gering wie möglich zu halten. Bei «den wenigen, die Widerstand leisteten […], eliminierten sie sie nicht einmal, sondern boten an, sich zu ergeben, die Seiten zu wechseln, zu verstehen etc. Sie wollten niemanden töten24

Heute haben die Russen verstanden, dass die Westmächte, auch wenn es einen Verhandlungsprozess gäbe, diesen nutzen würden, um den Konflikt einzufrieren und ihn später wieder aufzunehmen, wie sie es mit dem Minsker Abkommen getan haben. Die Russen wissen, dass das Wort des Westens keinen Wert hat. 1990 hatte April Glaspie, die amerikanische Botschafterin im Irak, Saddam Hussein gesagt, dass die Amerikaner keine Einwände gegen eine Invasion in Kuwait erheben würden.25 Sie hatte gelogen. 2015 unterzeichneten die USA, Russland, China, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Deutschland, die Europäische Union (EU) und der Iran das Wiener Abkommen (besser bekannt unter seiner angelsächsischen Abkürzung: JCPOA). Der Iran, Russland und China hielten sich an das Abkommen,26 der Westen nicht.27 Im Jahr 2020 hatten sich die Amerikaner und die Taliban auf ein Datum für den Abzug der USA geeinigt.28 Die Amerikaner hielten sich nicht an ihr Wort und verschoben das Datum einseitig um mehr als vier Monate. Und im November 2022 bestätigten Angela Merkel und François Hollande gegenüber Russland, dass Deutschland und Frankreich Länder sind, deren Wort wertlos ist …

Bevor wir an den Verhandlungstisch gehen, muss also erst einmal wieder Vertrauen aufgebaut werden. Waffenlieferungen tragen dazu nicht bei. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Westen die gleiche Position vertritt wie der Schweizer Botschafter in Kiew, der Verhandlungen als «Prämie für den Aggressor» sieht!29 Zum Glück denken die Taliban, die Syrer, die Ägypter, die Iraker, die Libanesen, die Libyer und viele andere nicht so, denn dann könnte man die Vereinten Nationen schlichtweg abschaffen!

Da niemand im Westen dieses Vertrauen wiederherstellen will, werden die Russen das ukrainische Potenzial systematisch zerstören. Im Oktober 2022 erklärte General Surowikin, der Befehlshaber der Streitkräftegruppe im Gebiet der militärischen Sonderoperation in der Ukraine: «Wir haben eine andere Strategie. […] Wir suchen nicht nach einer hohen Vorwärtsgeschwindigkeit, wir schonen jeden einzelnen unserer Soldaten und ‹zermalmen› methodisch den vorrückenden Feind30

Im Gegensatz zu dem, was unsere «Experten» sagen, hat die Ukraine ein enormes Personalproblem. Sie hat seit Februar 2022 acht Mobilmachungsaktionen durchgeführt und kommt nun an das Ende ihres Potenzials und ist gezwungen, auf die Zwangsrekrutierung ihrer Bürger zurückzugreifen. Diese Personalkrise ist nicht neu und hat die ukrainische Armee dazu veranlasst, ein härteres Gesetz gegen Desertion und Dienstverweigerung zu fordern.31 Dieses Gesetz wurde von Selenskij im Januar 2023 unterzeichnet.32

Ein Neonazi-Politiker aus der Westschweiz hatte mich als «Putinversteher» bezeichnet, weil ich auf die Selbstmorde in der ukrainischen Armee vor 2022 hingewiesen hatte. Heute kann er seine Schimpfwörter an britische Parlamentarier richten, weil diese selbst festgestellt haben, dass die Selbstmordrate dort alarmierend hoch ist.33 Wir haben also schwachsinnige Politiker, die sich selbst mit ihren Lügen blenden, anstatt die Probleme vorauszusehen!

Die Zwangsrekrutierungen scheinen in erster Linie Minderheiten zu betreffen, insbesondere die magyarische Minderheit.34 Das hat Ungarns Zorn erregt.35 Heute sind 97 % der Ungarn gegen die EU-Sanktionen gegen Russland.36

Was derzeit geschieht, ist, dass nicht nur das ukrainische Militärpotenzial langsam zermahlen wird, sondern dass die Verluste an Menschenleben den Wiederaufbau der Ukraine über ein oder zwei Generationen hinweg beeinträchtigen könnten. Die Kombination aus einer dezimierten Erwerbsbevölkerung, zerstörter Infrastruktur und verstärkter Emigration droht, die Ukraine zu einem Land zu machen, das am Tropf hängt, mit Kosten, die der Westen kaum lange tragen kann.

Die deutsche Aussenministerin Baerbock hat in einer Rede vor dem Europarat gesagt: «Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland.» Seither versucht man, diese Aussage zu korrigieren, dass man nicht im Krieg sei, sondern nur die Ukraine bei der Selbstverteidigung unterstütze. Ist Deutschland nicht schon lange im Krieg gegen Russland? Die Aussage von Baerbock gibt doch die wahren Ziele des Westens bekannt, nicht primär der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu bekämpfen und niederzuringen?

Seit 2014 weiss man, dass der Westen versucht, nicht die Ukraine zu verteidigen, sondern Russland zu zerstören.37 Das hatte auch der französische Wirtschaftsminister Bruno Lemaire am 1. März 2022 bekräftigt, der von einem «totalen Krieg» gesprochen hat.38 Es ist also nichts Neues und wurde bereits Anfang Februar 2022 in dem demokratisch orientierten US-Medium «Jacobin» erläutert.39

Im März 2019 hat Oleksej Arestowitsch, enger Berater von Selenskij, in einem Interview mit dem ukrainischen Sender «Apostrof» sehr deutlich die Mechanik der Ereignisse erklärt.40

Das Ziel der Ukrainer ist es, der Nato beizutreten. Einige Nato-Mitglieder sind jedoch sehr zurückhaltend, da die bestehenden Spannungen mit Russland bedeuten, dass das Risiko, Artikel 5 aktivieren zu müssen, hoch ist. Das ist in etwa so, als würde man eine Versicherung für ein Risiko abschliessen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 % eintritt! Die Lösung besteht also darin, dass Russland in einen Konflikt hineingezogen wird, der seinen endgültigen Fall herbeiführt. Arestowitsch sah diese Konfrontation sogar für 2021 bis 2022 vor!

Das Schema dieser Strategie wurde von der Rand Corporation in einem Dokument mit dem Titel «Extending Russia: Competing from Advantageous Ground» entwickelt: Es ging darum, einen Vorwand zu finden, um Russland mit Sanktionen zu belegen, die so hoch sind, dass seine Wirtschaft sie nicht überleben würde. Um dies zu erreichen, wird die Ukraine als «Köder» benutzt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dies das Muster ist, das im Februar und März 2022 zu beobachten war.

Das Problem ist, dass die westlichen Politiker die Warnungen desselben Dokuments nicht beachten wollten, in dem davor gewarnt wurde, dass dies «zu unverhältnismässigen menschlichen Verlusten, Gebietsverlusten und Flüchtlingsströmen für die Ukraine führen könnte» und dass diese Strategie «die Ukraine in einen unvorteilhaften Frieden drängen könnte».41

Im Klartext: Die westlichen Länder und die Ukraine haben sich auf eine Strategie eingelassen, von der alle schon 2019 wussten, dass die Ukrainer den Preis dafür zahlen würden! Die Ukraine wurde missbraucht, um zu versuchen, Russland zu vernichten. Gleichzeitig sollte durch Gespräche zur Förderung der Entwicklung von Unabhängigkeitsbewegungen Russland zerstückelt (der von den Amerikanern offiziell verwendete Begriff lautet: dekolonisieren) werden.42

So haben die Sanktionen, die die russische Bevölkerung, einschliesslich der Auslandsrussen,43 wie Flugverbindungen oder den Warenverkehr betreffen, Wladimir Putins Aussagen, dass der Westen versuche, Russland zu zerstören, nur bestätigt.44 Die Massnahmen des Westens haben daher nur das Vertrauen der russischen Bevölkerung in ihre Führung gestärkt. Die Popularität von Wladimir Putin, die im September 2022 bei 77 % lag, stieg im Januar 2023 auf 82 %!

Es war ein strategischer Fehler, Russland nicht zum Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz einzuladen, sondern Vertreter einer Regierung, die die «Taten» von Stepan Bandera, einem Kollaborateur der Nazis während des Zweiten Weltkriegs, feiert. Eine weitere Gelegenheit für die Europäer, der Grossväter von Ursula von der Leyen, Olaf Scholz oder Chrystia Freeland zu gedenken. Das hat sogar Arno Klarsfeld schockiert, einen Nazijäger, der Russland nicht wohlgesonnen ist.45

Es ist offensichtlich, dass man von Seiten der Nato eine Eskalation des Krieges anstrebt. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, äusserte sich in einem Interview, dass man eine Atommacht, also Russland, nicht besiegen könne. Wie beurteilen Sie diese Aussage?

Zunächst einmal müssen wir mit den Begriffen genau sein. Einige Nato-Länder sind in unterschiedlichem Masse in diesen Konflikt verwickelt, aber nicht die Nato als Bündnis oder als Struktur.

Zweitens glaube ich nicht, dass die Nato-Staaten eine Eskalation herbeiführen wollen. Ihr Problem ist, dass sie in ihrem Narrativ gefangen sind und nicht wissen, wie sie daraus ausbrechen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Wir haben bereits in früheren Interviews gesehen, dass das offizielle Narrativ lautet, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, und Russland ihn verliert. Doch heute zeigt die Realität auf dem Schlachtfeld, dass dies schon lange nicht mehr stimmt. Gerade heute bräuchte man ein glaubwürdiges neutrales Land, das den Ukrainern, dem Westen und den Russen einen Ausweg aus dieser Krise bieten könnte.

Ich bin mir nicht sicher, ob man eine Atommacht nicht besiegen kann. Niemand ist unbesiegbar. Es stellen sich zwei Fragen: «Zu welchem Preis?» und «Steht der zu zahlende Preis in einem angemessenen Verhältnis zu dem Nutzen, den man daraus zieht?».

Nehmen wir an, dass Russland eine Diktatur ist, was sogar erbitterte Anti-Putin-Analysten nicht behaupten wollen.46 Ist ein Regimewechsel in Russland die Zerstörung Europas wert? Ist das nicht ein Problem, das die Russen selber entscheiden und lösen müssen? Nun fällt auf, dass die Popularität Wladimir Putins nur zunimmt und die Russen anscheinend keinen Regimewechsel anstreben. Tatsächlich hat die im Westen offen zu Tage getretene Russophobie das Vertrauen der russischen Bevölkerung in Putin nur noch weiter gestärkt. Man fragt sich fast, ob primitive und schwachsinnige Artikel über den «Fetisch» des Buchstabens «Z» auf russischen Panzern47 nicht dazu dienen sollen, den Widerstandswillen des russischen Volkes zu stärken!

Es ist leicht, mit dem Geld und dem Leben anderer Menschen Krieg zu führen.

Wie hat Russland auf die verstärkten Waffenlieferungen reagiert, und was könnte von russischer Seite die nächste Eskalationsstufe sein?

Russlands Ziel ist es, die Bedrohung für die Menschen im Donbas und in Russland zu neutralisieren. Je mehr man also diese Bedrohung schürt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Konflikt beendet wird. Je grösser die Reichweite der Waffen ist, die man an die Ukraine liefert, desto mehr muss Russland die Tiefe des ukrainischen Territoriums kontrollieren. Das sagte Aussenminister Sergej Lawrow im Juli 2022,48 und das wiederholte er am 2. Februar.49 Es wäre gut, wenn wir auf das hören würden, was die Russen sagen, anstatt überrascht zu sein, wenn sie das tun, was sie angekündigt haben!

Derzeit tun wir alles, was wir können, um Russland dazu zu bringen, die Ukraine vollständig zu zerstören. Was die Frage der «Angreiferprämie» betrifft, so hätte man zwischen 2014 und 2022 darüber nachdenken und das Minsker Abkommen umsetzen müssen, was niemand – vor allem die Ukrainer – tun wollte!

Die Ukraine verlangt jetzt zusätzlich Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe von den Nato-Staaten. Halten Sie das für ein mögliches Szenario?

Das westliche Verhalten ist so irrational, dass alles möglich ist! Wir werden von fanatischen Dummköpfen regiert, die das Massaker an der russischsprachigen Zivilbevölkerung im Donbas zwischen 2014 und 2022 hingenommen haben, die Minsker Vereinbarungen unterzeichnet haben, obwohl sie wussten, dass sie diese nicht einhalten würden. Wie kann man sich vorstellen, dass sie in wenigen Monaten gereift sein könnten?

Das Problem, den Ukrainern Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe zur Verfügung zu stellen, besteht darin, dass sie weder über Flugplätze noch über sichere Militärhäfen zum Auftanken verfügen. Sie müssten daher auf Nato-Territorium stationiert werden. Mit anderen Worten würde dies eine direkte Beteiligung der Nato-Staaten an diesem Konflikt bedeuten.

Die westlichen Länder sind nicht wegen der Waffenlieferungen involviert, sondern wegen ihrer Einbindung in die Logistikkette der ukrainischen Armee. Wir befinden uns derzeit bereits an der Grenze, da die westlichen Länder, insbesondere Frankreich und die USA, technisch gesehen Teil der ukrainischen Logistik sind, indem sie beschädigte Waffen reparieren und einen Munitionsstrom bereitstellen.

Warum gibt es ausser Ihnen und General Kujat keine vernünftigen Militärs, die sich für einen sofortigen Stopp des Krieges einsetzen, um dem Blutvergiessen ein Ende zu setzen?

Hier muss man nuancieren. Zunächst einmal muss daran erinnert werden, dass die Streitkräfte in einem Rechtsstaat in der Regel der politischen Macht untergeordnet sind. Das Militär führt die Entscheidungen der politischen Macht aus, aber es ist nicht seine Aufgabe, die Politik zu machen. Dies erklärt, warum fast alle Militärs, die sich zu Wort melden, nicht mehr im Dienst sind.

Abgesehen davon lässt sich feststellen, dass Militärs im Allgemeinen eine differenziertere Sicht auf den Krieg haben als Politiker; dass angelsächsische Militärs eine ausgewogenere Sicht haben als ihre europäischen Kollegen; und dass Europäer aus dem «alten ­Europa» (Westeuropa) den Konflikt professioneller analysieren als ihre Kollegen aus dem «neuen Europa» (Osteuropa), wie Donald Rumsfeld es ausdrücken würde.

Das Problem ist die geistige Unabhängigkeit, mit der das Militär arbeitet. Ein Militär muss mit den Realitäten des Feldes arbeiten, um das von der Politik vorgegebene Ziel zu erreichen. Das Problem ist, dass im Westen niemand weiss, was in der Ukraine erreicht werden soll. In der Schweiz scheint die Meinung des Militärs der Propaganda aus Kiew nachgebildet zu sein. Zusammenfassend könnte man sagen, dass je weniger operative Erfahrung man hat, desto wichtiger ist das, was Kiew sagt, in der Analyse.

Hat das Schweizer Militär Sie einmal kontaktiert, um von Ihren Erfahrungen und Analysen zu profitieren?

Nein, niemals. Aber man muss auch die positive Seite sehen! Wenn ich die miserable Qualität des «Sicherheitsberichts Schweiz 2022» sehe, der im September veröffentlicht wurde,50 bin ich froh, dass ich nicht beteiligt war! Ich bedauere nur, dass dieser Bericht nicht die richtigen Schlüsse zieht und letztendlich den Interessen der Schweiz zuwiderläuft!

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

Dieses Interview ist hier auch in englischer Sprache und hier in französischer Sprache verfügbar.

 

¹ Oleksiy Kuzmenko, « The Azov Regiment has not depoliticized », Atlantic Council, 19 mars 2020 (https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/the-azov-regiment-has-not-depoliticized/)

² https://youtu.be/bEv4-IJsl9k?t=414

³ Matthew Loh, «Russia is prepared to drop its demand for Ukraine to be ‹denazified› from its list of ceasefire conditions: report», Business Insider, 29 mars 2022 (https://www.businessinsider.com/russia-nazi-demand-for-ukraine-dropped-in-ceasefire-talks-2022-3).

⁴ Vlasta Lazur, « «Денис Кірєєв – співробітник ГУР, якого вбили в автівці СБУ, а тіло викинули на вулицю». Інтерв'ю з Кирилом Будановим », Radio Svoboda, 22 janvier 2023 (https://www.radiosvoboda.org/a/вбивство-кірєєва/32233661.html?fbclid=IwAR3zfrvdT_41ghRz3SqR2VDotNb1Zw1Yo0LtQNXBpPiQBC3ZjVxUffTDOjg)

⁵ Caitlin McFall, «Milley urges Ukraine to negotiate with Russia, saying chances of total military victory ‹unlikely›», Fox News, 16 novembre 2023 (https://www.foxnews.com/politics/milley-urges-ukraine-negotiate-russia-saying-chances-total-military-victory-unlikely)

⁶ David Ignatius, «Blinken ponders the post-Ukraine-war order», The Washington Post, 24 janvier 2023 (https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/01/24/blinken-ponders-post-ukraine-war-order/)

7 Alexander Ward, Paul McLeary & Connor O’Brien, «Ukraine can’t retake Crimea soon, Pentagon tells lawmakers in classified briefing», Politico, 1er février 2023 (https://www.politico.com/news/2023/02/01/ukraine-crimea-russia-pentagon-00080799)

8 «Нардеп від ‹Слуги народу» Семінський заявив про «позбавлення конституційних прав росіян, які проживають в Україні›», AP News, 2 juillet 2021 (https://apnews.com.ua/ua/news/nardep-vid-slugi-narodu-seminskii-zayaviv-pro-pozbavlennya-konstitutciinikh-prav-rosiyan-yaki-prozhivaiut-v-ukraini/)

⁹ https://youtu.be/CI22-w0i-RM

10 https://www.youtube.com/watch?v=CI22-w0i-RM

11 https://www.economist.com/zaluzhny-transcript

12 Tal Axelrod, «McCaul calls on US to send ‹just one› Abrams tank to Ukraine to spur European support», abc news, 22 janvier 2023 (https://abcnews.go.com/Politics/mccaul-calls-us-send-abrams-tank-ukraine-spur/story?id=96584865)

13 By Karen DeYoung, Dan Lamothe & Loveday Morris, « Short on time, Biden sought new Ukraine tank plan to break stalemate », The Washington Post, 28 janvier 2023 (https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/01/28/inside-story-biden-ukraine-tanks/)

14 David Axe, « The Tungsten M-1—How Ukraine’s Tanks Will Differ From America’s », Forbes, 27 janvier 2023 (https://www.forbes.com/sites/davidaxe/2023/01/27/the-tungsten-m-1-how-ukraines-tanks-will-differ-from-americas/)

15 https://www.bbc.com/news/world-60798352

16 https://www.oryxspioenkop.com/2022/02/attack-on-europe-documenting-equipment.html

17 https://www.economist.com/zaluzhny-transcript

18 Thorsten Jungholt, « Bundeswehr-Kampfpanzern fehlt wirksame Munition », Die Welt am Sonntag, 26 avril 2015 (https://www.welt.de/politik/deutschland/article140083741/Bundeswehr-Kampfpanzern-fehlt-wirksame-Munition.html)

19 Alex Hollings & Sandboxx News, « Ukraine's troops have been highly effective with the M777 howitzer, but US troops can turn it into a 'giant sniper rifle' », Business Insider, 18 septembre 2022 (https://www.businessinsider.com/us-targeting-system-makes-m777-howitzer-highly-accurate-2022-9?r=US&IR=T)

20 Joe Saballa, « Estonia Sending All Its 155-mm Howitzers to Ukraine », The Defense Post, 24 janvier 2023 (https://www.thedefensepost.com/2023/01/24/estonia-sending-howitzers-ukraine/)

21 « La France va fournir douze canons Caesar supplémentaires à l'Ukraine », France 24, 31 janvier 2023 (https://www.france24.com/fr/europe/20230131-en-direct-macron-re%C3%A7oit-le-ministre-de-la-d%C3%A9fense-ukrainien-kiev-r%C3%A9clame-des-avions-de-combat)

22 https://www.moonofalabama.org/2023/01/Nato-continues-its-disarmament.html#more

23 William M. Arkin, « Putin’s Bombers Could Devastate Ukraine But He’s Holding Back. Here’s Why », Newsweek, 22 mars 2022 (https://www.newsweek.com/putins-bombers-could-devastate-ukraine-hes-holding-back-heres-why-1690494)

24 https://en.mriya.news/58331-they-didnt-want-to-kill-anyone-arestovich-spoke-about-the-beginning-of-the-nwo

25 « Confrontation In The Gulf – Excerpts From Iraqi Document on Meeting With U.S. Envoy », The New York Times, 23 septembre 1990) (https://www.nytimes.com/1990/09/23/world/confrontation-in-the-gulf-excerpts-from-iraqi-document-on-meeting-with-us-envoy.html).

26 Daniel Larison, « IAEA Confirms Iranian Compliance for the Fifteenth Time », The American Conservative, 31 mai 2019 (https://www.theamericanconservative.com/iaea-confirms-iranian-compliance-for-the-fifteenth-time/)

27 Mark Landler, « Trump Abandons Iran Nuclear Deal He Long Scorned », The New York Times, 8 mai 2018 (https://www.nytimes.com/2018/05/08/world/middleeast/trump-iran-nuclear-deal.html)

28 Agreement for Bringing Peace to Afghanistan between the Islamic Emirate of Afghanistan which is not recognized by the United States as a state and is known as the Taliban and the United States of America, state.gov, 29 février 2020 (https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/Agreement-For-Bringing-Peace-to-Afghanistan-02.29.20.pdf)

29 https://www.rts.ch/info/suisse/13567448-claude-wild-la-suisse-nest-pas-neutre-dans-le-conflit-en-ukraine.html

30 « Суровикин: российская группировка на Украине методично "перемалывает" войска противника », TASS, 18 octobre 2022 (https://tass.ru/armiya-i-opk/16090805)

31 « Ukraine’s Top General Supports Harsher Law for Deserters and Draft-dodgers », Kyiv Post, 20 décembre 2022 (https://www.kyivpost.com/post/5943)

32 « Zelensky Signs Controversial Law Toughening Punishment for Desertion in Army », AFP/Kiyv Post, 25 janvier 2023 (https://www.kyivpost.com/post/11498)

33 « Ukrainian soldiers are committing suicide due to war stress, says Duncan-Smith », Politics.co.uk, 16 janvier 2023 (https://www.politics.co.uk/parliament/ukrainian-soldiers-are-committing-suicide-due-to-war-stress-says-duncan-smith/)

34 Füssy Angéla, « Mint a barmokat, úgy fogdossák össze a férfiakat Kárpátalján – Nézze meg helyszíni videóriportunkat! », PestiSracok, 23 janvier 2023 (https://pestisracok.hu/mint-a-barmokat-ugy-fogdossak-ossze-a-ferfiakat-karpataljan-nezze-meg-helyszini-videoriportunkat/)

35 Chris King, « Shocking claims of ethnic Hungarians being forcibly drafted into Ukrainian military in Transcarpathia », Euro Weekly News, 24 janvier 2023 (https://euroweeklynews.com/2023/01/24/shocking-claims-of-ethnic-hungarians-being-forcibly-drafted-into-ukrainian-military-in-transcarpathia/);

36 Robert Semonsen, « 97% of Hungarians Reject Brussels’ Sanctions Against Russia », The European Conservative, 17 janvier 2023 (https://europeanconservative.com/articles/news/97-of-hungarians-reject-brussels-sanctions-against-russia/)

37 Seumas Milne, « It's not Russia that's pushed Ukraine to the brink of war », The Guardian, 30 avril 2014 (https://www.theguardian.com/commentisfree/2014/apr/30/russia-ukraine-war-kiev-conflict)

38 « Guerre en Ukraine : ‘‘Nous allons provoquer l’effondrement de l’économie russe’’, affirme Bruno Le Maire », Radio France, 1er mars 2022 (https://youtu.be/Ntzacqlm-Ac)

39 Branko Marcetic, « A US-Backed, Far Right–Led Revolution in Ukraine Helped Bring Us to the Brink of War », Jacobin, 7 février 2022 (https://jacobin.com/2022/02/maidan-protests-neo-nazis-russia-Nato-crimea)

40 « Predicted Russian - Ukrainian war in 2019 - Alexey Arestovich », YouTube, 18 mars 2022 (https://youtu.be/1xNHmHpERH8)

41 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, « Extending Russia : Competing from Advantageous Ground », RAND Corporation, 2019, p.100 (https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR3063.html&usg=AOvVaw2E35ojBbRg6-xMic0-9WPs)

42 https://freenationsrf.org/

43 Angélique Négroni, « Comptes bancaires bloqués, insultes, vandalisme... Le quotidien des Russes de France », le Figaro, 22 avril 2022 (https://www.lefigaro.fr/international/comptes-bancaires-bloques-insultes-vandalisme-le-quotidien-des-russes-de-france-20220422)

44 « Address by the President of the Russian Federation », kremlin.ru, 21 septembre 2022 (http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390)

45 https://youtu.be/I-yCq8M9ab0

46 Bruno Tertrais, « La chute de la maison Russie », Institut Montaigne, 13 décembre 2022 (https://www.institutmontaigne.org/analyses/la-chute-de-la-maison-russie)

47 Alexander Etkind, « Warum identifizieren sich Putins Anhänger mit dem mysteriösen Zeichen Z? », NZZ Am Sonntag, 29 janvier 2023 (https://www.nzz.ch/feuilleton/imperialismus-revanchismus-fetischismus-der-ukraine-krieg-ist-kein-krieg-zwischen-ethnien-sondern-zwischen-generationen-ein-gigantischer-oedipaler-konflikt-ld.1720903?reduced=true)

48 Andrew Roth, « Russia may seek to occupy more territory in Ukraine, says foreign minister », The Guardian, 20 juillet 2022 (https://www.theguardian.com/world/2022/jul/20/russia-may-seek-to-occupy-more-territory-in-ukraine-says-foreign-minister)

49 Jon Jackson, « Russia Responds to West Reportedly Giving Ukraine Longer-Range Weapons », Newsweek, 2 février 2023 (https://www.newsweek.com/russia-responds-west-reportedly-giving-ukraine-longer-range-weapons-1778546)

50 https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/72369.pdf

«Wie kann man Waffen in Kriegsgebiete liefern, anstatt Verhandlungen anzubieten?»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Es gibt in der Politik Bestrebungen, das Waffenausfuhrgesetz zu ändern und damit der angezählten Neutralität einen weiteren Tiefschlag zu versetzen. Wie stellen Sie sich dazu?

Nationalrätin Yvette Estermann Das kann ich auf keinen Fall gutheissen. Mir kommt es vor wie eine Verzweiflungstat. Wenn so etwas vorgeschlagen wird, dann frage ich mich immer, ob den Menschen klar ist, was sie damit lostreten. Dass damit die Verfassung verletzt wird, ist mir klar, aber anderen aus der Politik anscheinend nicht. Dass die Schweiz und ihre Bevölkerung jahrzehntelang von der Neutralität profitiert haben und vor grösstem Übel bewahrt worden sind, scheint völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Wie kann man Waffen in Kriegsgebiete liefern, anstatt Verhandlungen anzubieten?

Worin sehen Sie die Vorteile der Neutralität?

Durch die Neutralität ist es der Schweiz gelungen, sich aus zwei fürchterlichen Kriegen mit Millionen von Toten herauszuhalten. Aber noch wichtiger ist doch, dass wir in einer Welt, in der Krieg herrscht, in den zwei oder mehrere Parteien verwickelt sind, als neutraler Staat vermittelnd eingreifen und uns als Mediator anbieten können. Der Verlust dieser Möglichkeit ist im Endeffekt noch schlimmer. Denn in einem Kriegskonflikt zu vermitteln und damit das Sterben von Menschen zu verhindern, ist unbezahlbar. Die Neutralität ist ein Friedensprojekt. Dieses hat man achtlos aus dem Fenster geworfen. Die Auswirkungen sind für mich fast noch gravierender, als dass man die Verfassung verletzt. Dass man hier etwas aufgibt, was für unser Land, aber auch für andere Länder ungemein viel bedeutet, ist eigentlich unfassbar.

Was sind denn die Ursachen für diesen verheerenden Schritt?

Neutral zu bleiben ist immer schwierig, denn beide Kriegsparteien haben zunächst keine Freude an einem neutralen Staat, weil keine Seite militärische oder moralische Unterstützung bekommt. Im Zweiten Weltkrieg hat der Bundesrat keine Partei ergriffen und gehörte so keiner Kriegspartei an. Obwohl der Zweite Weltkrieg bei weitem die jetzige Auseinandersetzung an Ungeheuerlichkeiten übertrifft und beide Seiten Druck auf die Schweiz ausgeübt haben, blieb das Land neutral und hat sich keiner der beiden Parteien angeschlossen. Dass man das jetzt so leichtsinnig und unverantwortlich über den Haufen wirft und dabei auch die Verfassung mit Füssen tritt, ist schon ungeheuerlich. Man verrät im Grunde genommen die Arbeit und die Anstrengungen, die unsere Vorfahren bei der Ausarbeitung der Verfassung geleistet haben, und würdigt in keiner Weise die Bundesräte und Parlamentarier, die diese Säule unseres Staates stützten und somit die Neutralität aufrechterhalten konnten, obwohl die Situation damals für die Schweiz viel schwieriger war als heute.  

Es ist nur noch selten ein Thema, dass die Schweiz den Pfad der Neutralität verlässt und welche Folgen das für unser Land und die übrigen Staaten hat. Beobachten Sie das auch?

Ja, es ist genau so. Ich beobachte es bei den Menschen, und ich weiss nicht, ob das durch die Coronasituation und den Umgang damit entstanden ist. Die Menschen wurden in eine aussergewöhnliche Situation geworfen und durch die Medien, wie sich immer mehr herausstellt, massiv in eine Richtung gelenkt. Kaum haben sie angefangen, sich ein bisschen davon zu erholen, kam die nächste Krise. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen seitdem nicht mehr klar denken können. Ich kann nicht nachvollziehen, wie man den gesunden Menschenverstand ausschalten kann, um den Weg einzuschlagen, wie ihn der Bundesrat gegangen ist. Man hat durch dieses Verhalten die Möglichkeit, Konflikte friedlich zu lösen, begraben. Für mich ist es ein völlig falsches Signal, nicht mehr neutral sein zu wollen, wenn ein Land ein anderes angreift. Das ist doch eine völlig unsinnige Argumentation! Wann ist die Neutralität wichtiger und bedeutsamer als in solch einem Fall? 

Warum will man die Neutralität so achtlos über Bord werfen?

Mein Eindruck ist, dass es um Geld und Prestige gehen muss. Man will die guten Geschäfte nicht verlieren. Deutschland hat schon damit gedroht, keine Rüstungsgüter mehr in der Schweiz zu kaufen, wenn sie keine Munition liefert. Unser Land wird unter Druck gesetzt. Man will sich nicht in den Wind stellen und dreht sich wie eine Windfahne. Man traut sich nicht mehr, für eine Sache einzustehen. Man hat verlernt, sich dem kalten Wind auszusetzen und stehenzubleiben. Das fehlt vielen Menschen heute. Man passt sich lieber an und wirft die eigenen Prinzipien über Bord. Auch die Vorstellung, nach dem Krieg zu sagen, jetzt sind wir wieder neutral, wird nicht gehen. Der Schritt, der hier vom Bundesrat vollzogen wurde, ist eine Katastrophe!

Wie stellen sich Ihre Parlaments­kolleginnen und -kollegen zu dieser Entwicklung?

Ich hoffe, dass sie sich bewusst sind, was passiert, und sich dagegen aussprechen. Nur aus dem Affekt heraus, weil ein paar Staaten das so sehen, müssen wir noch lange nicht mitmachen. Aber leider gibt es eben diejenigen, die der EU oder der Nato gefallen wollen, die gross herauskommen wollen und nur an sich selbst denken. Aber welche Bedeutung das für die Bevölkerung im Kriegsfall hat, das sehen sie nicht. Leider ist unsere Bevölkerung dem Einfluss der Medien ausgesetzt, was dazu führt, dass manche nicht mehr so klar sehen. 

In Deutschland ist offensichtlich, dass Frau Baerbock von den Grünen eine totale Kriegstreiberin ist. In der Schweiz sind die Grünen ebenfalls auf der kriegerischen Seite. Verstehen Sie das? 

Nein, das verstehe ich nicht. Bisher waren die Grünen immer eine pazifistische Partei. Sie haben die Armeeabschaffungsinitiative unterstützt, waren gegen die Beschaffung eines neuen Kampfflugzeugs, gegen den Militärdienst, gegen eine Milizarmee, gegen die Waffe im Schrank – gegen alles, wie man es so aus der pazifistischen Bewegung kennt. Das ist jetzt auf einmal anders. Jetzt hat man mit Russland, das man zerstören will, ein neues Feindbild, und dann ist alles erlaubt. 

Ist das ganz neu?

Nein, wir hatten das bereits mit Josef Fischer, der damals den Krieg gegen Serbien massiv unterstützt und Deutschland in den ersten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg geführt hatte, unter bewusstem Bruch des Völkerrechts. Damals hat die Basis der Grünen Partei rebelliert und Fischer massiv attackiert. Als er auf einem Sonderparteitag versuchte, den Krieg zu verteidigen, wurde er von Parteigenossen mit einem Farbbeutel beworfen. Und heute: Sie predigen den Umweltschutz, sind vordergründig für den Frieden, aber letztlich geht es um Macht, die man versucht, mit diesen Themen zu erreichen. Man rechtfertig alles mit dem Verhalten Russlands. Aber wenn die USA Kriege führen oder in Afrika Krieg geführt wird, interessiert das keinen, gibt es keine Proteste, keine Solidaritätsveranstaltungen auf dem Bundesplatz. Hier wird mit zwei Ellen gemessen. Das ist doch gegen die Menschenwürde. 

Was fehlt heute?

Entweder hat man einen Grundsatz, den man verfolgt, oder man betreibt Machtpolitik. In der aktuellen Auseinandersetzung merkt man, dass viele keine Grundsätze mehr haben und nach der Macht schielen. Menschen mit Grundsätzen hat man nicht so gern, denn sie sind nicht so leicht zu steuern. Es scheint so zu sein, dass es immer mehr Politiker gibt, die keine Grundsätze mehr haben. Sie passen wunderbar in eine Gesellschaft, in der alles erlaubt ist. 

Aber das ist nicht meine Welt, und ich werde meine Stimme dagegen erheben und den Menschen zeigen, dass nicht alle mit dieser Politik einverstanden sind. Wenn die Menschen merken, wohin die Reise geht, dann werden sie aufwachen. Darin liegt die Hoffnung für unser Land. 

Frau Nationalrätin Estermann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Ich schlage vor, einen Club von Ländern zu gründen, die Frieden auf diesem Planeten schaffen wollen» 

von Reinhard Koradi

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat die Bitte von Bundeskanzler Olaf Scholz um Panzer-Munition für die Ukraine abgelehnt und sich stattdessen für eine Friedensinitiative stark gemacht. «Brasilien ist ein Land des Friedens. Und deswegen will Brasilien keinerlei Beteiligung an diesem Krieg – auch nicht indirekt», sagte Lula beim Besuch des Kanzlers in Brasília zum deutschen Wunsch nach Munition für die von der Ukraine eingesetzten Gepard-Flugabwehrpanzer.¹

Was für ein Gegensatz zur neutralen Schweiz. Da steht doch wirklich ein Staatsmann hin und fordert Frieden für die Welt und lehnt Waffenlieferungen an kriegsführende Nationen ab. Eigentlich eine massive Ohrfeige für unseren Bundesrat – vor allem für Ignazio Cassis. Da wagt sich das heruntergewirtschaftete südamerikanische Land, doch den «Grossen» eine klare Absage zu erteilen. Beschämend für den elitären Dünkel der europäischen Nationen, die sich unter dem Druck der USA, der Nato und der EU zu Kriegsbeteiligten erpressen liessen. Und die neutrale Schweiz? Was muss sie vom brasilianischem Präsidenten lernen?

Die Lektion ist geradezu simpel, allerdings für die mutlosen Figuren im Bundesrat eine Herkulesaufgabe. Es geht ganz einfach um den Respekt vor Menschenleben, der eigenen Landesverfassung und – wann dämmert es endlich im vernebelten Bundesratszimmer – die Wirtschaftsinteressen den (sicherheits-)politischen und menschlichen Bedürfnissen hintenanzustellen.

Durch den vorgeschlagenen Club der Länder, die Frieden auf diesem Planeten schaffen wollen, wird der Schweiz eine goldene Brücke gebaut, die erlaubt, den angerichteten Schaden einigermassen in Ordnung zu bringen. Eine einmalige Chance – ein Fenster der Hoffnung – sofern der Bundesrat rasch handelt und sich die Schweiz als eine der ersten Beitrittskandidaten bei Präsident Lula meldet und ihm für seine friedensfördernde Initiative gratuliert und sie uneingeschränkt unterstützt. Nur schade, dass die humanitäre Schweiz nicht selbst auf diese Idee gekommen ist! 

¹ https://www.n-tv.de/politik/Scholz-Werbetour-erreicht-ihr-Ziel-nur-fast-article23885057.html

Wer regiert die Welt?

von Reinhard Koradi

Wer weiss wirklich, welche Themen beim World Economic Forum (WEF) in Davos besprochen wurden und welche Entscheidungen respektive Direktiven an die Eliten und Regierungsvertreter übertragen wurden? Was sich jedoch langsam abzeichnet, ist eine unheilige Allianz zwischen Hochfinanz, Klimaaktivisten, IT-Konzernen und der Pharmaindustrie. Eine Allianz, die offensichtlich sehr geeignet ist, um die Menschen respektive die nationalen Staaten immer mehr zu beherrschen und damit den Weg zum globalen Diktat der Hochfinanz zu ebnen. 

Die Klimaaktivisten bringen die emotionale Dimension, gekoppelt mit einem allumfassenden Anspruch, die Menschen auf den rechten Weg zu bringen. Die IT-Konzerne schaffen die Grundlage zur uneingeschränkten Kontrolle über die Menschen, und die Pharma- und Chemiekonglomerate, gedeckt durch die WHO, übernehmen das Diktat über das «Wohlergehen» der Menschheit. 

Eine sehr gefährliche Symbiose, die allerdings von langer Hand vorbereitet wurde. Diese Vorbereitung steht in einem sehr engen Zusammenhang mit der Geschichte des WEF, dessen Gründer, Klaus Schwab, vor noch nicht allzu langer Zeit eine Neuordnung der Weltgemeinschaft angekündigt. Eine Ordnung getreu den Zielen des WEF, die Herrschaft des Kapitals mit globaler Dimension zu implementieren.  

Eine Schande für die Schweiz

Norbert Häring schreibt in seinem Buch «Endspiel des Kapitals»: «Am Aufstieg des Weltwirtschaftsforum zu einer überaus mächtigen Organisation, die sie heute ist, lässt sich beispielhaft zeigen, wie das Kapital seine Macht ausbaut und systematisch einsetzt, um auf globaler Ebene die Politik zu beeinflussen – in Symbiose mit den Regierungen der Führungsnation USA und anderen global dominanten Ländern»¹ 

Anfangs verfolgte das Forum (damals noch Europäisches Wirtschaftsforum) das Ziel, den führenden europäischen Managern die amerikanische Führungsphilosophie beizubringen. Im Laufe der Zeit rückten die USA immer mehr in den Vordergrund. Nun wurden nicht nur die amerikanischen Führungsprinzipien den europäischen Unternehmern beigebracht, sondern vermehrt auch die Erwartungen der westlichen Führungsmacht an die internationalen Eliten kommuniziert. Häring erklärt: «Den Auftakt machte Henry Kissinger 1980, Schwabs Mentor, mit einer Eröffnungsrede. 1982 wandte sich US-Präsident Ronald Reagan per Satellitenschaltung mit einer Aufforderung zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik an die europäischen Kapital­eliten, das heisst Wirtschaftsreformen zum Vorteil von Investoren.»²

Auch die Idee einer europäischen Einheitswährung wurde 1972 durch den luxemburgischen Präsidenten Pierre Werner erstmals in Davos präsentiert. 

Und was die letzten Jahre betrifft, ist es auch sehr unklar welche Rolle die Treffen unter der Ägide des WEFs im Zusammenhang mit Corona gespielt haben. Die Nähe zur WHO und den Pharmariesen lässt allerdings wenig Raum für eine positive Einschätzung. Ganz generell ist festzustellen, dass diverse Uno-Organisationen eine verdächtige Nähe zum WEF haben. Einige dem WEF nahestehenden Organisationen leisten grosszügige Beiträge, um diese auf den gewünschten Pfad zu bringen. 

Es gibt wohl kaum eine demokratiefeindlichere Lobby-Organisation, die zudem allein die Interessen des Kapitals und der führenden westlichen Nationen vertritt, als das WEF. Bedenklich, dass eine solche Organisation unter dem Schutz der Schweiz steht und ihre Veranstaltung jährlich in Davos durchführen kann. Dies mit erheblichen Einschränkungen für die Davoser Bevölkerung und einer enormen Belastung der schweizerischen Steuerzahler.

Laut Häring ist «das Weltwirtschaftsforum […] dank eines Abkommens mit der Schweiz seit 2015 als internationale Organisation anerkannt. Das Forum und seine Beschäftigten sind von Schweizer Steuern befreit und können bei Bedarf die Unterstützung der schweizerischen diplomatischen Vertretungen im Ausland in Anspruch nehmen.»³ 

Begründet wird diese Sonderbehandlung durch «die grosse Beachtung, die das Forum geniesst und die Neutralität, Unparteilichkeit und Integrität, mit der das Forum das Ziel verfolgt, Privatwirtschaft, Regierungen und Wissenschafter zu einer Gemeinschaft zusammenzuführen, die sich für die Verbesserung der Lage in der Welt einsetzt.»⁴

Was hat den Bundesrat wirklich dazu bewogen, ein privates Lobby-Unternehmen in den Status einer internationalen Organisation zu erheben?

Weiss der Bundesrat nicht, dass er dem WEF einen Persilschein verpasst hat, und damit die Interessen der Schweiz einmal mehr diskreditiert und sich den Mächtigen zu Füssen legt?

Der Kotau des Bundesrates gegenüber dem WEF

Es ist schon sehr merkwürdig, dass die schweizerische Landesregierung beinahe vollzählig dem WEF in Davos die Ehre erweist. Warum weibeln sie nach Davos? Wollen sie um Gnade bitten und sich für das unbotmässige Verhalten der Schweizer Bevölkerung gegenüber der Direktiven aus Brüssel und Washington entschuldigen oder gehen sie hin, um Anweisungen entgegenzunehmen? Es wirft kein gutes Bild auf die Schweiz, wenn sich unser Bundesrat derart an den Interessen der Eliten und Mächtigen orientiert. Mit etwas strategischem Weitblick empfiehlt sich eher, ein ehrlicher Einsatz für den Ausgleich unter den Völkern, den Frieden in der Welt, eine gerechtere Verteilung der natürlichen Ressourcen und des durch Wissen und Arbeit geschaffenen Mehrwertes zwischen Arm und Reich.

¹ Norbert Häring: Endspiel des Kapitalismus.
Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen. Köln 2022.
ISBN 978-3-404-07007-7  S. 58

² ebd S. 62

³ ebd S. 59

⁴ ebd S. 59

 

Warum die Welt eine neutrale Schweiz braucht

Volksinitiative zur Wahrung der schweizerischen Neutralität 

Aus dem Argumentarium des Initiativkomitees

Geschichte der Schweizer Neutralität

Die Schweiz hat seit einem halben Jahrtausend eine erstaunliche Fähigkeit entwickelt, im Schatten rivalisierender Grossmächte eine Nische für ihr nationales Dasein zu finden. Die Neutralität unseres Kleinstaates hat sehr wenig mit Ideologie oder mit Idealismus zu tun, aber sehr viel mit der Lebenswirklichkeit. Wenn sich der grössere Bruder auf dem Pausenplatz mit einem Gleichaltrigen prügelt, wird sich der kleinere Bub oder die Schwester mit geringeren Körperkräften zum eigenen Vorteil von solchen Auseinandersetzungen fernhalten. Sie würden sich bei einer Einmischung im besten Fall eine blutige Nase holen.

Historisch bewährtes Erfolgsmodell

Angesichts der historischen Erfahrung wird niemand ernstlich bestreiten, dass es sich bei der schweizerischen Neutralität um ein Erfolgsmodell handelt. Der Bund der Eidgenossen hätte die ersten Anfänge kaum überstanden, wenn die Orte nicht ein gegenseitiges «Stillesitzen» und Vermitteln im Krisenfall beschlossen hätten. Später hätte unser konfessionell, ethnisch und kulturell gespaltenes Land ohne Neutralität angesichts von Religionskriegen und Zusammenschlüssen unserer Nachbarländer zu grossen Nationalstaaten nicht überleben können.

Die erste offizielle Neutralitätserklärung der Tagsatzung stammt vom 28. März 1674. Nach der Französischen Revolution und im Strudel der Napoleonischen Kriege geriet die Schweiz in die schlimmste Neutralitätskrise ihrer bisherigen Geschichte. Die Franzosen ebenso wie die gegen sie verbündeten Alliierten machten das Land zum Kriegsschauplatz und zur Besatzungszone. Interessanterweise ging die schweizerische Neutralität aus dieser Krise gestärkt hervor: Am 20. November 1815 erreichte die Schweiz am Wiener Kongress die völkerrechtliche Anerkennung ihrer Neutralität. 1907 wurde das noch heute gültige Neutralitätsrecht auf der Haager Konferenz in zufriedenstellender Weise völkerrechtlich kodifiziert. In den beiden Weltkriegen erreichte die neutrale Schweiz, dass die Kriegführenden ihre Grenzen respektierten – freilich nicht ohne grosse entsprechende Wehranstrengungen, die für den Staat wie für seine Bürger eine enorme Belastung darstellten.

Spezielle Aspekte der Schweizer Neutralität

In den ersten drei Jahrhunderten stand die Schweizer Neutralität vor allem im Dienste der Innenpolitik, in den letzten zwei Jahrhunderten dagegen im Dienste der Aussenpolitik. Die Schweiz hat die Neutralität nicht erfunden, ihr aber in verschiedener Hinsicht ein ganz eigenes Gepräge gegeben. Ihr Neutralitätsstatus unterscheidet sich grundlegend von der Neutralität anderer Staaten. Die schweizerische Neutralität ist dauernd; seit 1815 ist staatsrechtlich von der «neutralité perpétuelle» die Rede. Die Tradition der schweizerischen Neutralität kann ihre Wirkung bei den Nationen nur behalten, wenn sie ununterbrochen fortwirkt und bei jedem sich bietenden Anlass neu und unversehrt in Erscheinung tritt. Die schweizerische Neutralität ist bündnisfrei; weder Defensiv- noch Offensivbündnisse mit anderen Staaten sind der neutralen Schweiz gestattet.

Die schweizerische Neutralität ist bewaffnet. Unser Land hat sich also zur militärischen Verteidigung verpflichtet und muss jederzeit garantieren, dass keine Gewalt von ihrem Hoheitsgebiet ausgeht. Die schweizerische Neutralität ist freigewählt und nicht das Ergebnis eines Diktates fremder Mächte. In der Pariser Akte von 1815 wurde vielmehr eine jahrhundertelange Praxis auf schweizerisches Begehren hin neu bestätigt. Und schliess­lich war die schweizerische Neutralität zumindest bis vor kurzem integral, also vollständig. In der Zwischenkriegszeit hat unser Land mit dem Beitritt zum Völkerbund vorübergehend an wirtschaftlichen Sanktionen der Völkergemeinschaft teilgenommen. Im 20. Jahrhundert galt aber im Allgemeinen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Krisenregionen der Grundsatz des «Courant normal», also das Beibehalten des Handelsumfangs auf dem Stand der Vorjahre. Anfangs der 1990er Jahre beteiligte sich die Schweiz erstmals an internationalen Wirtschaftssanktionen. Seltsamerweise sind diese hierzulande wenig hinterfragt worden. Ist das Aushungern eines Volkes eigentlich ein humaneres Gewaltmittel als der Waffeneinsatz? Warum muten wir den von Hungerkrieg und Arbeitsplatzverlust betroffenen Mitmenschen zu, die Schweiz im Falle ihres Mitmachens noch als neutral zu beurteilen?

Neutralität ist Friedenspolitik

Alle aktuellen Umfragen beweisen es: Über 90 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer beurteilen unsere Neutralität positiv und empfinden sie als ausgesprochen identitätsstiftend für unseren Kleinstaat. Dennoch leiden zahlreiche führende Persönlichkeiten in Politik, Kultur und Gesellschaft an der Schicksalslosigkeit unseres neutralen Kleinstaates. Sie sehnen sich nach einer «Sendung», nach Visionen und spektakulären Taten. Gewiss, die Neutralität schränkt den Handlungsspielraum und die aussenpolitischen Aktivitäten unserer Regierung in einer für sie ärgerlichen, sogar schmerzhaften Weise ein. Die Neutralität gewährt ihnen kaum Heldentaten und selten glanzvolle internationale Auftritte. Aber sie gibt der Nation auch keinen Raum für rauschhaften Siegestaumel oder für die Faszination des Krieges, die wir rational nicht erklären können, aber immer wieder als Tatsache feststellen müssen. Die Neutralität bewahrt uns vor der Hingabe an unkontrollierte Emotionen, vor unüberlegter Kriegslust und vor dem Nichternstnehmen von Grausamkeit und Gewalt.

Die Neutralität ist mehr als nur die Nichtteilnahme an Konflikten. Sie bedeutet den freiwilligen Verzicht auf äussere Machtpolitik. So gesehen hat die schweizerische Neutralität durchaus den positiven Gehalt grundsätzlicher Friedenspolitik. Die Schweiz wendet jenes Friedensprinzip, auf dem sie selbst beruht, auch auf das Verhältnis zu anderen Staaten und Völkern an. Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen und Staaten von Natur aus gewaltbereit und kriegerisch sind, macht jeder Staat, der sich aus Kämpfen heraushält, unsere Welt ein Stück friedlicher. Die Neutralität bildet auch eine bessere Grundlage gegenüber der Bedrohung des weltweiten Terrorismus als die Parteinahme. Denn wer sich in einen Konflikt hineinziehen lässt, wird auch Zielscheibe.

Die Leistung «Guter Dienste» ist zwar keineswegs das Privileg des Neutralen. Die Leistungsempfänger bringen aber erfahrungsgemäss dem unparteiischen, auf Machtpolitik bewusst verzichtenden Neutralen mit seiner langen Dienstleistungserfahrung ein besonderes Vertrauen entgegen. Umgekehrt hat auch der Neutrale ein Interesse, sein Abseitsstehen in den Konflikten dieser Welt nicht als Drückebergerei oder Schwarzfahrerei erscheinen zu lassen und so seine neutralitätsbedingte Zurückhaltung auszugleichen: Die Asylgewährung an echte Flüchtlinge, das Rote Kreuz, die Katastrophenhilfe, die Wahrnehmung von Schutzmachtmandaten, die Schweiz als Standort internationaler Organisationen dürfte nach sachlichen Kriterien den Vorwurf des Nationalegoismus für die Schweiz entkräften.

Neutralität garantiert die Meinungsfreiheit

Unsere Neutralität ist nicht Selbstzweck oder blosse Gewohnheit. Sie sichert uns vielmehr die Unabhängigkeit – neben der politischen vor allem die geistige und moralische Freiheit des selbständigen Urteils. Unser Staat ist keine Institution der Moral, sondern der Rechtsschöpfung und Rechtswahrung. Er ist ein reiner Zweckverband und unter keinen Umständen ein moralischer Vormund, weder der Bürger noch der Völkergemeinschaft. Ideale zu bilden und zu verwirklichen ist Sache der Menschen, der Familien, der Kirchen, der Vereine, aber niemals des Staates. Die politische Neutralität hat nicht zuletzt den Sinn, die Unabhängigkeit unseres Urteils zu gewährleisten. Der Staat hat nicht das Recht, uns Bürger auf eine bestimmte moralische Linie festzulegen. Die immer häufigeren moralisierenden Stellungnahmen aus Bundesbern zu allen möglichen internationalen Problemen sind fragwürdig und unakzeptabel. Wir Schweizerinnen und Schweizer verpflichten Regierung, Diplomatie und Verwaltung zum «Stillesitzen», damit sie nicht in unserem Namen reden, wo sie schweigen sollten. Damit sie uns nicht in Konflikte hineinziehen, die dann die Bürger auslöffeln und aus ihrem Portemonnaie oder gar mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Neue Sinngebung für die Neutralität

In der jüngeren Vergangenheit wurde mit riesigem Optimismus versucht, diese Welt durch multinationale Organisationen und Institutionen zu organisieren. Die Neutralität erschien dabei vielen als überständiges Relikt und als isolationistische Fessel. Zwar konnte der nach dem Zweiten Weltkrieg etwas angezweifelte Leumund der schweizerischen Neutralität bei den Weltmächten durch die Leistung Guter Dienste vorerst wiederhergestellt werden. Im Zuge der europäischen Integration wird unsere Staatsmaxime allerdings aufs Neue in Frage gestellt. Tatsächlich hat sich unsere Neutralität historisch angesichts der Spannungen zwischen unseren Nachbarn herausgebildet, und sie hatte sich vornehmlich gegenüber diesen Nachbarn zu bewähren.

Doch ist der schweizerischen Neutralität seit ihren Ursprüngen ein neuer Sinn zugewachsen: Die vielgenannte Globalisierung hat zu einer Schrumpfung der Welt geführt, so dass jeder Staat seine Politik nicht mehr nur im Verhältnis zu seinen Nachbarn, sondern zu allen Ländern dieser Welt bestimmen muss. Unsere grundsätzliche Friedenspolitik nebst weltweiter Handelspartnerschaft und Guter Diensten bietet dazu eine ausgezeichnete Grundlage. Wenn wir unserer Neutralität heute diesen weiteren, zeitgemässen Sinn vermitteln, so wird sie noch lange gerechtfertigt bleiben. 

Schon oftmals wurde unser kleines neutrales Land durch Machtansprüche von aussen bedrängt. Heute ist es weniger eine aggressive Macht als eine überlaut und moralistisch vorgetragene Ideologie des Grossräumigen, die uns herausfordert. Wenn wir diesem Druck standzuhalten vermögen, wird unser Kleinstaat dank seiner Neutralität nicht zerstört werden, sondern von neuem und gestärkt aufleuchten.

Differenziell – Aktiv – Kooperativ – Flexibel

1917 versuchte der Freisinnige Arthur Hoffmann, starker Mann im Bundesrat, mit Hilfe des SP-Politikers Robert Grimm einen Separatfrieden von Russland und Deutschland zu erwirken. Als dies bei den Staaten der Entente ruchbar wurde, kam es zu einer schweren diplomatischen Neutralitätskrise, die Hoffmann zum Rücktritt zwang. Der katholisch-konservative Aussenminister Giuseppe Motta führte die Schweiz mittels einer heftig umkämpften Volksabstimmung 1920 in den Völkerbund. Damit verbunden war eine «differenzielle Neutralität», die das Land dazu veranlasste, Wirtschaftssanktionen mitzutragen, nicht aber militärische Interventionen. Nach der Besetzung Abessiniens durch Italien, die gefährlichen Sanktionen gegen den faschistischen Nachbarn im Süden nach sich gezogen hätte, konnte der Bundesrat die Schweiz 1938 wieder zur integralen Neutralität zurückführen.

In der Nachkriegszeit verfolgten sämtliche Chefs des Aussendepartements einen mehr oder weniger internationalistischen Kurs. Hatte Max Petitpierre der Neutralität «Universalität» und «Solidarität» zugesellt, prägte Micheline Calmy-Rey (SP) 2006 die «aktive Neutralität». Ihre krachend gescheiterte «Genfer Initiative» für einen Nahostfrieden war das Resultat des Versuches, auf der Weltbühne eine «aktive» Rolle zu spielen. Der Begriff «aktive Neutralität» ist Ausfluss eines undisziplinierten Denkens, denn es handelt sich um einen Widerspruch in sich selbst: Neutralität ist nämlich immer eine passive Haltung. Dennoch wird die bewährte schweizerische «Diplomatie des Vorbildes» zunehmend durch eine «Diplomatie des erhobenen Zeigefingers» verdrängt. Die Ergebnisse dieser «Aktivierung» sind nicht vertrauensbildend.

Die Schweiz verfällt heute zunehmend einer Politik der Phrasen, die einfach das wiederholt, was international gerade üblich ist. Es ist dies eine Politik des blossen Mitschwimmens im Chor der Unwahrhaftigkeit, der Heuchelei, der Sündenbockmentalität und der selbstgefälligen Unterscheidung zwischen «Guten» und «Bösen». Damit stossen wir andere Länder vor den Kopf, verärgern Handelspartner und schaffen sogar Feindschaften.

Neuerdings kommt – von Ignazio Cassis (FDP) erfunden – die «kooperative Neutralität» mit bedingungsloser Übernahme von EU-Sanktionen hinzu. Demnächst wird wohl auch noch die «flexible Neutralität» entdeckt.

Die Neutralitätsmüdigkeit, die in der Geschichte zum Wohl des Landes immer wieder eingedämmt werden konnte, ist mittlerweile in der offiziellen Schweizer Politik angekommen.

Die Welt braucht die Schweizer Neutralität

Neutralität heisst, dass man keine Kriege anfängt und keine Kriege – auch keine Wirtschaftskriege – mitmacht, es sei denn, man werde selbst angegriffen. Neutralität bedeutet Nichtteilnahme an militärischen und politischen Bündnissen, die unser Land in fremde Konflikte hineinziehen können. Eine Preisgabe der «uneingeschränkten», «absoluten» Neutralität würde die Schweiz mitten in den Strudel von Konflikten und Auseinandersetzungen stürzen. Diese staatsmännische Weisheit fehlt heute im Bundeshaus weitgehend.

Neutralität erfordert Kraft und Festigkeit. Mitmachen ist bequemer. Der neutrale Staat misstraut dem schnellen Urteil, weigert sich, die Welt in ein einfaches Gut und Böse einzuteilen. Wohlverstanden: Neutralität verpflichtet die Schweizer nicht, den Mund zu halten, moralisch gleichgültig zu sein angesichts des Unrechts eines Angriffskriegs. Aber sie verpflichtet den Staat, den Bundesrat und auch die Bundesversammlung zu Demut und Zurückhaltung. Neutralität sei ein Produkt der Staatsraison, formulierte der Historiker Edgar Bonjour. Festgeschrieben in den Artikeln 173 und 185 unserer Verfassung, dient sie der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz.

Die Schweizer Neutralität ist der weisse Fleck auf der Welt, ein allseits anerkannter Ort, an dem die Kriegs- und Konfliktparteien sich ohne Waffen begegnen und miteinander reden können. Solange es eine neutrale Schweiz gibt, hat der Frieden eine Chance.

Die Schweiz braucht ihre Neutralität – die Welt braucht eine neutrale Schweiz.

Quelle: www.neutralitaet-ja.ch/initiative#argumentarium

 

Initiativtext

Wortlaut Neutralitätsinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität»

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:

Art. 54a Schweizerische Neutralität

1) Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.

2) Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.

3) Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.

4) Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.

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