Editorial

Auch in diesem zu Ende gehenden Jahr beschäftigen uns die aktuellen Konflikte. Ein unbeschwertes Weihnachten wird nicht leicht fallen, wenn nicht weit entfernt Krieg, Tod, Verderben und Elend herrscht. Es sieht nicht danach aus, dass die Konflikte bald beendet und friedliche Lösungen gefunden werden. 

In unserer Zeitung kommen verschiedene Stimmen zu Wort, die aus gutem Grund eine andere Position einnehmen als die meisten grossen Medien. Um einen Konflikt, sei es zwischen Privatpersonen oder Staaten beurteilen zu können, muss man ihn aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und darf sich nicht nur auf die Darstellung einer Seite abstützen. Es gilt der Grundsatz: audiatur et altera pars. Das wäre zwar bei der aktuellen Berichterstattung schon ein Fortschritt, aber genügt noch nicht. Wenn man nicht nur irgendwelchen Meinungen hinterherrennen möchte, muss man sich mit Hilfe unabhängiger, seriöser Quellen ein umfassendes Bild verschaffen. Nur so kann man ein Ereignis verstehen, damit man nicht urteilt, bevor man weiss. Der Philosoph Immanuel Kant hat das in seiner Abhandlung «Was ist Aufklärung?» trefflich formuliert: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.» 

In allen Artikeln unserer Zeitung gehen wir nach diesem Grundsatz vor und wollen so zu einer offenen unvoreingenommenen Diskussion beitragen. Wir lenken das Denken nicht in die eine oder andere Richtung, sondern wir suchen nach Fakten und präsentieren sie unseren Leserinnen und Lesern. Sie können, wenn sie breit informiert sind, im Sinne Kants eigene Schlüsse ziehen. 

Wenn wir einen aktuellen Konflikt beurteilen wollen, dann müssen wir in die Geschichte eintauchen und uns mit den möglichen Ursachen befassen. Wenn das nicht mehr gefragt ist, wird Geschichte obsolet. Dann bewertet man den verbrecherischen Angriff der Hamas auf Israel oder den Einmarsch Russlands in die Ukraine als singuläres Ereignis, das aus heiterem Himmel über die Menschen hereingebrochen ist. So gibt es nur schwarz oder weiss. Damit ist das Sichtfeld eingeschränkt. 

Im Falle des immer wieder zitierten «Massakers der Hamas an der Zivilbevölkerung» ist jedoch eine internationale, unabhängige Untersuchung notwendig, um herauszufinden, was an diesem 7. Oktober geschehen ist. Genauso muss untersucht werden, ob auch von Israel Kriegsverbrechen begangen worden sind. Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern es sind Standards des internationalen Rechts, die für alle Menschen und Staaten gelten. 

Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern trotz aller Unbill ruhige Festtage. Lassen wir uns von der christlichen Botschaft des Friedens und der Versöhnung leiten. Eine friedlichere Welt ist möglich, wir sind als Menschen bestimmt, dazu beizutragen, wo immer es möglich ist. Das ist die Botschaft aller Religionen.

Die Redaktion

veröffentlicht 22.Dezember 2023

In den Bundesrat gewählt – und nun?

von Reinhard Koradi

Den gewählten Bundesrätinnen und Bundesräten gratuliere ich herzlich. Sie wurden in ihrem Amt bestätigt oder neu in die Exekutive gewählt. Vermutlich bringt eine solche Bestätigung oder Wahl in die höchste Exekutivbehörde unseres Landes ein erhebendes Gefühl mit sich. Aber ist auch der notwendige Respekt vor den Herausforderungen der kommenden vier Amtsjahre präsent? Ich erinnere mich noch an die Antrittsrede des neu in den Bundesrat gewählten Friedrich Traugott Wahlen (1959). Sie war beeindruckend. Nie mehr habe ich von einem neu gewählten Bundesrat oder einer Bundesrätin eine annähernd ähnliche Bescheidenheit und Verantwortung gegenüber dem Schweizer Volk erfahren, wie sie Bundesrat Wahlen bei seiner Erklärung zur Annahme der Wahl zum Ausdruck brachte.

(Bild thk)

Regieren statt Dienen

Die direkte Demokratie bringt es mit sich. Oberstes Organ ist das Volk, die Bürger dieses Landes. Die Exekutive – der Bundesrat – ist das ausführende Organ des Volkswillens. Dieser Wille ist unter anderem in der Schweizerischen Bundesverfassung festgehalten. Weiter werden mittels Initiativen und Referenden die anstehenden politischen Sachgeschäfte durch Volksentscheide geregelt. Zwischen dem Volk und dem Bundesrat steht das Parlament (Nationalrat und Ständerat). Diese beiden Kammern sollten grundsätzlich den Willen des Volkes repräsentieren. In den letzten Jahren wurde das demokratische Prinzip jedoch immer mehr durch eigenmächtige Entscheidungen der «Regierung» durchlöchert. Die wohl brisantesten Ereignisse sind in dieser Hinsicht die Europapolitik, die Annäherung an die Nato, die Verletzung des Prinzips der bewaffneten Neutralität und der forsche Ansatz bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie durch den Bundesrat.

Je länger je mehr verstand sich der Bundesrat als Macher in eigener Kompetenz und empfand Volk und Parlament als Hemmschuh. Der Diener mutiert zum «Gebieter». Dabei dürfen wir die Verwaltung – in diesem Fall die Bundesverwaltung und das diplomatische Korps – nicht aus den Augen verlieren. In diesen Bereichen scheint sich eine Dynamik zur Unterwanderung des Volkswillens mit erheblichen Schäden für die direkte Demokratie zu entwickeln. Der Kontrolle der Verwaltung und deren Eigendynamik muss in den kommenden Jahren weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden als bisher. 

Erwartungen an den Bundesrat

Im Vordergrund steht die Treue zur Bundesverfassung und damit auch der Respekt vor dem Willen des Volkes. Es geht darum, die Interessen der Schweiz gegenüber dem Ausland und im Innern zu verteidigen und zu schützen. Der Bundesrat darf sich nicht weiter in die Enge treiben und durch ausländische Institutionen erpressen lassen. Unabhängigkeit und Freiheit haben erste Priorität. Forderungen und Annäherungen, die der Schweiz Schaden zufügen, sind strikte abzulehnen. Die in der Vergangenheit begangenen Fehler müssen korrigiert werden. Die Schweiz darf nicht länger als Bittsteller auftreten. Übergriffe auf unsere Souveränität sind mit Nachdruck zurückzuweisen. Es dürfte auch sehr nützlich sein, die Mitgliedschaften in den verschiedenen transnationalen Gremien und Organisationen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Nur dabei sein, um im Club der Mächtigen am «Katzentisch» zu sitzen kann nicht Ziel unserer aussenpolitischen Aktivitäten sein (Uno-Sicherheitsrat).

Der Bevormundung der Bevölkerung durch Massregelung und Meinungsdiktatur ist ein Riegel zu schieben. Vom Bundesrat wird erwartet, dass er für Transparenz sorgt und eine Kultur der freien Meinungsbildung und -äusserung fördert. Offenheit und die Bereitschaft, die Bevölkerung rechtzeitig in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen sollen anstelle von Geheimdiplomatie, Vertuschungsmanövern oder gar irreführenden Informationen treten.

Ich erwarte vom Bundesrat eine Politik, die das friedliche Zusammenleben in unserem Land ermöglicht, unsere direkte Demokratie, und die Fähigkeit fördert, eigenverantwortlich zu entscheiden und zu handeln. Eine Politik, die nicht der politischen Korrektheit folgt und die eigenen Werte verrät. Keine Anbiederung, sondern eine selbstbewusste Vertretung der Landesinteressen und der spezifischen staatspolitischen Eigenheiten der Schweiz wie zum Beispiel die Neutralität, der Drang zur Selbstbestimmung und der dezentrale föderalistische Staatsaufbau (Kantone).

veröffentlicht 22.Dezember 2023

«Die Ukraine ist in einer Sackgasse»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Herr Kujat, westliche Politiker und Medien propagierten lange, die grosse ukrainische Offensive werde den Sieg über Russland einleiten. Jetzt kam alles ganz anders. Man nimmt nun offenbar zur Kenntnis, dass die Offensive gescheitert ist. Wie gehen die Medien damit um?

General a. D. Harald Kujat Diese Erkenntnis setzt sich nur langsam durch. Die Bundesregierung ist offenbar entschlossen, ihre «As long as it takes»-Strategie der militärischen und finanziellen Unterstützung fortzusetzen. Berichte amerikanischer Medien über die Gründe des Scheiterns der Offensive und der möglichen Konsequenzen werden nur sehr sporadisch wiedergegeben. In dieser selbst vom Nato-Generalsekretär als «kritisch» bezeichneten Lage der Ukraine hatte Präsident Biden in einem emotionalen Appell für die Zustimmung der Abgeordneten zu einem Finanzpaket im Umfang von 110,5 Milliarden US-Dollar geworben und dabei sowohl das Risiko eines Russland-Nato-Krieges als auch den Verlust der «globalen Führerschaft» beschworen, falls es keine Zustimmung gibt. In dem Hilfspaket sind neben 61 Milliarden US-Dollar für die militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine Mittel für Israel, Taiwan und den Schutz der Grenze zu Mexiko enthalten. Es hätte vor dem Ende der diesjährigen Sitzungsperiode verabschiedet werden müssen, damit sich die Lage der Ukraine nicht weiter verschärft. Hinzu kommt, dass auch das Hilfspaket der Europäischen Union in Höhe von 50 Milliarden Euro blockiert ist. Allerdings hat der Kongress noch rechtzeitig den Verteidigungshaushalt 2024 in Höhe von 886 Milliarden US-Dollar beschlossen, in den einige hundert Millionen US-Dollar für Waffenlieferungen an Israel und die Ukraine eingeplant sind, sodass die Ukraine etwas Zeit gewonnen hat. Präsident Bidens Fazit am Ende des Selenskyj-Besuches war dann aber doch ernüchternd: «Wir werden die Ukraine mit kritischen Waffen und Ausrüstung versorgen, so lange wir können […] aber ohne zusätzliche Mittel sind wir schnell nicht mehr in der Lage, der Ukraine bei der Bewältigung ihrer dringenden operativen Anforderungen zu helfen.» Wird aus der amerikanischen «As long as it takes»-Strategie eine «As long as we can»-Strategie?

Selenskyj ist doch von Präsident Biden gebeten worden, kurzfristig nach Washington zu kommen, um den Senat zu einer positiven Entscheidung über das Hilfspaket zu bewegen.

Ja, er hat das auch am 12. Dezember versucht, allerdings ohne Erfolg. Von den republikanischen Senatoren, die das Hilfspaket ablehnten, wurde beklagt, dass weder die amerikanische Regierung noch Selenskyj sagen konnten, wie die Ukraine den Krieg gegen Russ­land gewinnen könnte und welchen Plan die Regierung für die Zukunft der Ukraine hat. Die «AsiaTimes» schreibt in diesem Zusammenhang: «Das Ukraine-Problem der Biden-Regierung geht jedoch tiefer als nur die Finanzierung. Den Abgeordneten ist nun klar, dass der Krieg nicht gewonnen werden kann, und sie fragen sich, ob die Regierung nicht in eine Falle geraten ist, indem sie Selenskyj unterstützt hat. Kein ernsthafter militärischer Führer hat die These aufgestellt, dass die Ukraine gegen Russland gewinnen kann, obwohl Kiew und die Regierung seit Monaten versicherten, dass dies möglich sei. Die Abgeordneten, die sich diese Argumente in den letzten zwei Jahren angehört haben, erkennen nun, dass die Regierung sie getäuscht hat.»

Und trotzdem kann man nicht von einem «Umschwenken» der Medien im Hinblick auf die reale Lage sprechen?

Zumindest in Deutschland und sicherlich auch in anderen europäischen Ländern werden die wahre Lage der ukrainischen Streitkräfte, weshalb die angestrebten Ziele nicht erreicht wurden, und die Konsequenzen für den weiteren Kriegsverlauf, noch nicht in der notwendigen Klarheit thematisiert. Viele sind immer noch bereit, die Ukraine bis zum bitteren Ende weiterkämpfen zu lassen und ignorieren die grossen menschlichen Verluste ebenso wie die Zerstörung des Landes. Es wird sogar nach wie vor behauptet, die Ukraine verteidige die Freiheit und Sicherheit des Westens und sollte deshalb mehr Unterstützung zur Fortsetzung des Krieges erhalten. Andere fordern weitere Waffenlieferungen, um die ukrainischen Streitkräfte in die Lage zu versetzen, russisch besetztes Territorium freizukämpfen, um dadurch Russ­land zu Verhandlungen zu zwingen und die Voraussetzungen für ein positives Verhandlungsergebnis zu verbessern. Aber je länger der Krieg dauert, umso mehr neigt sich das Geschehen trotz des grossen westlichen Engagements zugunsten Russlands, was durch die gescheiterte Offensive immer deutlicher wird. 

Spricht der Verlauf des Krieges nicht dafür, endlich der Wahrheit ins Auge zu sehen?

Das fällt natürlich schwer, wenn man die ganze Wahrheit seit fast zwei Jahren nicht zugelassen hat. Aber letzten Endes wird dies kommen, zwar nicht, indem die Kriegsbefürworter ihren Irrtum eingestehen, sondern die veröffentlichte Meinung tatsächlich umschwenkt, was wir teilweise ja bereits erleben. 

Die Ursachen der verzerrten Darstellung der Realität sind die unreflektierte Übernahme von Desinformation, sind vor allem Inkompetenz und ideologische Verblendung. Als ich Anfang November auf die kritische personelle Lage der ukrainischen Streitkräfte hinwies und erklärte, dass das strategische Ziel der Offensive nicht erreicht wurde, hat man dies wegen meiner angeblichen Unkenntnis des Ziels als Fehleinschätzung kritisiert. In Wahrheit war das strategische Ziel, die russischen Streitkräfte von ihrer logistischen Drehscheibe Krim abzuschneiden, seit dem Herbst 2022 bekannt. Da der Anschlag auf die Kertsch-Brücke nicht den beabsichtigten Erfolg brachte, begann Anfang 2023 die Planung der Offensive in der Absicht, die russischen Verteidigungsstellungen, die Surowikin-Linie, zu durchbrechen und bis zur Landverbindung zwischen Russland und der Krim vorzustossen. Dass die Offensive gescheitert war, hatte der ukrainische Oberbefehlshaber, General Saluschnyj, bereits wenige Tage vor meinem Interview in einem Beitrag des Economist eingestanden. 

Saluschnyj ist doch als Oberbefehlshaber der Armee für die Niederlage verantwortlich. 

Die Washington Post hat kürzlich einen detaillierten Bericht über die Offensive veröffentlicht. Danach wurde der Operationsplan von amerikanischen, britischen und ukrainischen Offizieren gemeinsam in der «Security Assistance Group-Ukraine», einem amerikanischen Stab in Wiesbaden, entwickelt. Die amerikanischen Offiziere hielten einen Durchbruch mit einem konzentrierten Frontalangriff mechanisierter Kräfte durch die vom Westen ausgebildeten und mit westlichem Material ausgerüsteten Truppen im Süden der Front Richtung Melitopol für möglich. Die ukrainische Armee griff jedoch auf drei Angriffsachsen an, was die Stosskraft deutlich verringerte. Die Amerikaner forderten auch, die Offensive sehr viel früher zu beginnen, um den Russen nicht genug Zeit zum Ausbau der Verteidigungsstellungen zu lassen. Die Ukraine brauchte jedoch für die Vorbereitung bis Anfang Juni. Die mangelnden Fortschritte der ukrainischen Streitkräfte und die grossen Verluste bereits am Anfang der Offensive, führten schon nach weniger als zwei Wochen zu grossen Frustrationen bei allen Beteiligten. Im August wurde die Operationsführung noch einmal gemeinsam nachjustiert, jedoch ohne Erfolg. Aus Saluschnyjs Sicht ist eine Pattsituation mit der Folge entstanden, dass die Zeit für Russ­land arbeitet. Es ist richtig, dass der Bewegungskrieg weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Aber eine Pattsituation sehe ich nicht, weil die russischen Streitkräfte eindeutig überlegen und seit einiger Zeit zu Angriffen übergegangen sind. 

Wie ist der Misserfolg in der Ukraine aufgenommen worden?

Das Scheitern der Offensive hat in der ukrainischen Führung zu einer Auseinandersetzung zwischen Selenskyj einerseits, Saluschnyj und Klitschko andererseits geführt. Selenskyj bestreitet eine Pattsituation energisch, und Saluschnyj wirft Selenskyj vor, ihn zu übergehen und mit den Frontkommandeuren direkt zu kommunizieren. Dass Klitschko für Saluschnyj Partei ergriff, zeigt, dass es Widerstand gegen die Führung Selenskyjs gibt und bereits die Auseinandersetzung um seine Nachfolge begonnen hat.

Rückblickend ist Selenskyj eine tragische Figur. Er hatte vor dem Krieg seine Bereitschaft erklärt, auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten und Neutralität zu akzeptieren. Noch am 28. März letzten Jahres hat er gegenüber russischen Medien die Verhandlungsfortschritte in Istanbul und die erzielten Ergebnisse gelobt und den Vertragsentwurf durch seinen Verhandlungsführer paraphieren lassen. Er wurde jedoch davon abgebracht, den Friedensvertrag gemeinsam mit Putin zu unterzeichnen. Dafür sollte er offenbar vom Westen jede erforderliche Unterstützung erhalten, um den Krieg zu gewinnen. 

Oleksyj Arestowytsch, ein ehemaliger enger Berater Selenskyjs, der wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Selenskyj-Team ausgeschieden ist und die Ukraine verlassen hat, spricht nun die bittere Wahrheit aus, dass die Ukraine in einer Sackgasse ist: «Die Sackgasse, und es ist eine blutige Sackgasse, ist offensichtlich. Es ist Zeit, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Ich bin der Überzeugung, dass eine Fortsetzung der Kämpfe sinnlos ist. Das bedeutet nur Dutzende und Hunderte Tote jeden Tag, daran kann keine Seite interessiert sein.» Der Parteichef der Selenskyj-Partei und ehemalige ukrainische Delegationsleiter bei den Istanbul-Verhandlungen im März vergangenen Jahres, David Arachamia, sprach sogar von einer Revolte in der Verkhovna Rada, dem ukrainischen Parlament. Er hatte übrigens kürzlich eingeräumt, dass Russland bereit war, Frieden zu schliessen, falls die Ukraine einen neutralen Status annehmen würde.

Warum hat die ukrainische Führung sich nicht an die amerikanische Taktik, die Sie vorher erwähnten, gehalten? 

Es gab sowohl auf westlicher Seite als auch bei der Ukraine entscheidende Fehleinschätzungen. Selenskyj hatte 2023 zum Jahr des entscheidenden Sieges erklärt. Die grossangelegte Offensive sollte die strategische Lage zugunsten der Ukraine wenden. Es zeigte sich jedoch sehr schnell, dass die Erwartungen und Ergebnisse entlang der gesamten Front weit auseinander gingen. Die russischen Streitkräfte waren lange als schwach, ihre Moral als niedrig, die Führung als inkompetent und die Bewaffnung als veraltet dargestellt worden. Dagegen wurde die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte masslos überschätzt. Übrigens haben die westlichen Medien ein gehöriges Mass an Mitverantwortung für diese Desinformation und deren Folgen. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem klar geworden ist, dass die Ukraine keinen militärischen Sieg erringen kann. Die Alternativen sind, Russ­land erreicht die Ziele seiner «militärischen Spezialoperation», ein langer zerstörerischer Krieg oder ein Waffenstillstand mit folgenden Friedensverhandlungen. Letzteres jedenfalls solange sich die Erfolge Russlands in Grenzen halten und noch Chancen für die Ukraine bestehen, einen akzeptablen Interessenausgleich zu erreichen. Das Zeitfenster für einen Verhandlungsfrieden mit einem Ergebnis, das den Interessen der Ukraine Rechnung trägt, beginnt sich jedoch langsam zu schliessen.

War eine erfolgreiche Offensive und damit ein militärischer Sieg der Ukraine nicht von Anfang an illusorisch?

Selenskyj wurde vor einiger Zeit mit den Worten zitiert: «Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich. Niemand.» Sein Oberbefehlshaber hatte als Voraussetzung für einen Erfolg der Offensive mehr als eintausend moderne westliche Panzer, Schützenpanzer und Geschütze gefordert, obwohl ihm klar sein musste, dass der Westen diese grosse Zahl an Waffen nicht liefern konnte und für deren Einsatz auch nicht genügend ausgebildete ukrainische Soldaten zur Verfügung standen. Daraus kann man schliessen, dass Saluschnyj bereits vor Beginn der Offensive Zweifel hatte, ob die angestrebten Ziele unter den gegebenen Umständen erreichbar wären.

Bei uns waren die «Experten» dagegen der festen Überzeugung, dass die Ukraine erfolgreich sein werde. Ich habe mir vorstellen können, dass den Ukrainern ein Einbruch in die russischen Verteidigungslinien mit grossen Verlusten gelingen könnte, jedoch kein Durchbruch. Wenn die ukrainischen Streitkräfte dem amerikanischen Rat gefolgt wären, alle im Westen ausgebildeten und ausgerüsteten Brigaden geschlossen in einem operativen Schwerpunkt einzusetzen, wären die Erfolgsaussichten sicherlich grösser gewesen. Dazu wäre es jedoch erforderlich gewesen, diese Kräfte in einem Bereitstellungsraum zusammenzuziehen, was angesichts der russischen Luftüberlegenheit höchst riskant gewesen wäre. Vor allem die gewaltigen Minenfelder, die russische Luftüberlegenheit, die den uneingeschränkten Einsatz von Kampfhubschraubern erlaubte und der effektive Systemverbund aus permanenter Aufklärung des Gefechtsfeldes durch verschiedene Systeme und praktisch zeitverzugsloser Zielbekämpfung durch die russischen Streitkräfte haben die ukrainischen Streitkräfte scheitern lassen. Das Fehlen einer wirksamen Luftunterstützung, der Mangel an Minenräumgerät, der die Angriffsbewegung verlangsamte und die ukrainischen Soldaten längere Zeit dem russischen Feuer aussetzte, sowie die Tatsache, worauf ich oft hingewiesen habe, dass sie nicht das Gefecht der verbundenen Waffen beherrschen, haben ebenfalls entscheidend zum Misserfolg beigetragen.

Sie erwähnten, dass die USA kritisiert hätten, dass die Offensive der Ukraine zu spät angefangen habe. Wäre das tatsächlich ein Vorteil gewesen, wenn die Offensive früher begonnen hätte? 

Falls die russischen Verteidigungsstellungen noch nicht vollständig fertiggestellt gewesen wären, hätte dies die Erfolgschancen sicherlich vergrössert. Allerdings wiegen die anderen Aspekte, die einen Erfolg verhindert haben, wesentlich schwerer. Ich kann auch verstehen, dass die militärische Führung der Ukraine ein Höchstmass an Erfolgssicherheit anstrebte und deshalb eine lange Vorbereitungszeit brauchte. 

Im Grunde genommen führen doch die USA den Krieg. Wenn sie Selenskyj gedrängt hätten, die Offensive zu beginnen, dann hätte er diese Offensive doch früher begonnen, zumal die USA an der Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte beteiligt waren.

Ohne die finanzielle und materielle Unterstützung durch die USA könnte die Ukraine in diesem Krieg nicht bestehen. Hinzu kommt, dass die amerikanischen Streitkräfte entscheidenden Anteil an der Kriegsführung der Ukraine haben. Zu diesem Zweck arbeiten amerikanische und ukrainische Offiziere im bereits erwähnten US-Stab in Wiesbaden eng zusammen, um alle Aspekte der ukrainischen Operationsführung zu planen. Das führt immer wieder zu Missverständnissen und Irritationen, wird aber als notwendig angesehen, um das ukrainische Militär mit der modernen westlichen Operationsführung vertraut zu machen. Ergänzt wird diese Zusammenarbeit durch Ausbildung an westlichen Waffensystemen und Training mechanisierter Verbände in der Grössenordnung von Brigaden.

Angesichts der kritischen Lage der ukrainischen Streitkräfte sehen sich die USA nach Medienberichten veranlasst, nun den Befehlshaber des amerikanischen Ukrainestabes, Generalleutnant Antonio Aguto, mit einem Beraterteam dauerhaft nach Kiew abzukommandieren, um den ukrainischen Befehlshabern über die Schulter zu schauen. Es ist leicht vorhersehbar, dass die Beratermission wachsen wird. Das erinnert sehr an den Beginn des Vietnamkrieges.

General Aguto soll einen Strategiewechsel («hold and build») durchsetzen. Die ukrainischen Streitkräfte sollen in die strategische Defensive gehen, um die Verluste zu reduzieren und den gegenwärtigen Frontverlauf zu halten («hold»). Der somit eingefrorene Konflikt soll es erlauben, das gravierende Personalproblem zu lösen, neue Soldaten auszubilden und sie mit westlichen Waffen auszurüsten («build»). Ob der Strategiewechsel die gegenwärtige strategische Lage zugunsten der Ukraine ändert, ist fraglich. Denn die russischen Streitkräfte haben bereits mit Angriffen begonnen und werden sie sicherlich fortsetzen, bis Russland seine strategischen Ziele erreicht hat. Es sei denn, die Ukraine nimmt Verhandlungen mit Russland auf und erreicht einen wie auch immer gearteten Waffenstillstand. Übrigens hat der ukrainische Präsident seine Rückreise aus den USA in Wiesbaden unterbrochen, vermutlich um sich von General Aguto über dessen Pläne informieren zu lassen.

Sie erwähnten, dass Präsident Biden die Kongressabgeordneten gedrängt habe, dem Hilfspaket für die Ukraine zuzustimmen, da anderenfalls das Risiko eines Russ­land-Nato-Kriegs zu befürchten sei. Ist das Ihrer Meinung nach eine echte Gefahr?

Das Risiko der Ausweitung des Kriegs besteht seit seinem Beginn. Je länger der Krieg dauert, desto grösser wird es, wenn nicht ernsthaft ein Waffenstillstand und eine Friedenslösung angestrebt werden. Allerdings haben sowohl die USA als auch Russland bisher alles unternommen, um eine direkte Konfrontation zu verhindern. Das von Präsident Biden beschriebene Risiko könnte nach seiner Meinung entstehen, wenn Russland die Ukraine militärisch besiegen sollte, weil die westliche Unterstützung nachlässt. Russland könnte dadurch ermutigt werden, seinen Krieg gegen andere, auch Nato-Staaten, fortzusetzen. Dagegen sprechen gewichtige Argumente. Russland hatte zu Beginn des Krieges offensichtlich nicht die Absicht, die gesamte Ukraine zu erobern. Dazu war das russische Kräftedispositiv im Vergleich zu den ukrainischen Streitkräften viel zu gering. Zudem hätte die Besetzung der Ukraine eine enorme Zahl russischer Streitkräfte erfordert, Ressourcen gebunden und grosse Kosten verursacht. Hinzu kommt, dass Russland mit seinem Vorgehen gegen die Ukraine ja gerade einen «Cordon sanitaire» – eine Pufferzone – zwischen den russischen und Nato-Streitkräften erreichen will.

Alles deutet vielmehr daraufhin, dass die russische Führung zunächst eine militärische Drohkulisse aufbaute, um die USA und die Nato zu Verhandlungen über ihre Vertragsentwürfe vom 17. Dezember 2021 zu veranlassen. Ob Russ­land angesichts der Konzentration grosser Teile der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes Kiew mit einem schnellen Vorstoss einnehmen und eine russlandfreundliche Regierung einsetzen oder den Druck zu grösserer Verhandlungsbereitschaft erhöhen wollte, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Jedenfalls hatte die entstandene Lage beide Seiten dazu bewogen, Friedensgespräche aufzunehmen. Noch während der Verhandlungen wurden die russischen Streitkräfte aufgrund des für beide Seiten positiven Verlaufs und als Zeichen des guten Willens aus den eroberten Gebieten abgezogen. Wie wir inzwischen wissen, ist jedoch eine friedliche Lösung vor allem durch die USA und Grossbritannien verhindert worden.

Aber Sie schliessen das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland nicht aus?

Alles deutet darauf hin, dass es Russlands Ziel ist, die eroberten Gebiete zu konsolidieren und möglicherweise noch Charkow und Odessa zu erobern. Aber der Verlauf des Krieges wird von den Interessen und Zielen beider Seiten bestimmt, die sich ändern können. Offensichtlich hält sich Russland die Option offen, den Dnjepr nach Westen zu überschreiten, denn es hat dessen Brücken nicht zerstört. 

Die russischen Streitkräfte sind jetzt wesentlich stärker als vor dem Krieg, aber nach meiner Meinung nicht stark genug, um die Nato in einem konventionellen, auf Europa begrenzten Krieg zu besiegen. Andererseits ist jedoch auch die Nato nicht stark genug, um Russ­land unter den derzeitigen Bedingungen eine konventionelle Niederlage zufügen zu können. Es befinden sich nur noch wenige amerikanische Kampftruppen in Europa, und personelle und materielle Verstärkungen zu verlegen, dauert viele Monate. Ausserdem haben die Planung und Vorbereitung auf einen möglichen Konflikt mit China absoluten Vorrang. Der Verteidigungshaushalt 2024 zeigt das überdeutlich. Sollte eine der beiden Seiten die Lage jedoch anders einschätzen, was unwahrscheinlich ist, könnte eine solche Fehlentscheidung katastrophale Konsequenzen für den europäischen Kontinent haben. Denn nach den geltenden Doktrinen würden jede Seite versuchen, eine drohende konventionelle Niederlage durch den Ersteinsatz von Nuklearwaffen abzuwenden.

Sehen die europäischen Verbündeten der USA das ähnlich wie sie es Präsident Biden dargestellt hat?

Das ist mein Eindruck. Deshalb wird allgemein eine konventionelle Verstärkung der europäischen Streitkräfte gefordert. Vor allem soll die Bundeswehr ihre Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung erheblich stärken oder, wie der Verteidigungsminister es formulierte, «kriegstüchtig» werden.

In deutschen Medien ist zu lesen,  die Bundeswehr sei nicht in der Lage, das eigene Land oder die Nato-Verbündeten zu verteidigen. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine müsse Deutschland die Bündnis- und Landesverteidigung wieder in den Mittelpunkt stellen.

Ich habe seit zwölf Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr nicht in der Lage ist, einen substanziellen Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten. Unsere Verfassung ist eindeutig: «Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.» Und weiter: «Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen», der Nordatlantischen Allianz. Das bedeutet, Kernaufgabe der deutschen Streitkräfte ist die Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der Nato, entsprechend ihrem Verfassungsauftrag Frieden, Freiheit, Sicherheit und territoriale Integrität zu schützen und zu bewahren. Alle anderen Aufgaben sind Ableitungen aus diesem Auftrag. Damit verpflichtet die Verfassung jede Bundesregierung, ständig deutsche Streitkräfte mit einem Personalumfang, einer aufwuchsfähigen Struktur sowie einer Ausrüstung und Bewaffnung unterhalten und sie zu befähigen, das Verfassungsgebot zu erfüllen und unser Land gemeinsam mit unseren Verbündeten zu schützen und notfalls zu verteidigen. 

Wieso ist die Bundeswehr in einem solchen Zustand?

Die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr 2011 war zusammen mit der Aussetzung der Wehrpflicht der entscheidende Schritt weg von der Landes- und Bündnisverteidigung hin zu Auslandseinsätzen. Die damalige aussen- und sicherheitspolitische Zäsur war nicht nur ein Verfassungsbruch, denn sie wurde damit begründet, dass «eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen Mitteln unverändert unwahrscheinlich (ist).» Deshalb sollten die «wahrscheinlicheren Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung die Grundzüge der neuen Struktur der Bundeswehr bestimmen. Wer etwas von der Sache verstand, bewertete schon damals die geostrategische Begründung, mit der die Fehlentwicklung eingeleitet wurde, als nicht tragfähig. Denn die jeweiligen sicherheitspolitischen und strategischen Rahmenbedingungen können und dürfen den Verfassungsauftrag nicht aufheben.

Aber es wird doch in letzter Zeit wegen der angeblichen Bedrohung durch Russland eine verstärkte Aufrüstung gefordert …

Seit sich die wahre militärische Lage in der Ukraine nicht mehr bestreiten lässt und sich entsprechende Informationen gegen Desinformation und Verschleierung durchsetzen, wird jetzt tatsächlich «das Ende der Welt, wie wir sie kennen» prophezeit. Es heisst, wenn Russland den Krieg gewinnt, «wäre niemand in Europa mehr sicher.» Ich verstehe, dass diejenigen, die bisher bedenkenlos die Kriegstrommel gerührt haben, die weitere militärische Unterstützung der Ukraine sicherstellen wollen. Dass Russland beabsichtigt, nach einem militärischen Sieg über die Ukraine Nato-Staaten anzugreifen, und dazu in wenigen Jahren auch in der Lage sei, ist offensichtlich nicht die Erkenntnis dafür qualifizierter und verantwortlicher militärischer Stäbe aus einer komplexen gesamtstrategischen Lagebeurteilung, sondern eine Vermutung von «Militärexperten». Um zu begründen, dass die Bundeswehr endlich befähigt werden muss, einen unseren nationalen Sicherheitsinteressen entsprechenden Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten, brauchen wir keine spekulativen, von wenig Sachkenntnis zeugenden Kriegsszenarien. Die Erfüllung des Verfassungsauftrags reicht. Übrigens im Sinne der Verfassung «zur Wahrung des Friedens».

Sie sagen, die USA fordern die Ukraine auf, in die Defensive zu gehen. Wäre das  nicht das Beste, was geschehen könnte? 

Ich habe schon die «Hold and Build»-Strategie angesprochen. Der bisherige Kriegsverlauf zeigt aus amerikanischer Sicht, dass strategische Ziele und Mittel der Ukraine in Einklang gebracht werden müssen, was bedeutet, das Ziel aufzugeben, das gesamte ukrainische Territorium in den Grenzen von 1991 zu erobern. Das bedeutet weiterhin, den Konflikt entsprechend dem Frontverlauf einzufrieren und in die Defensive zu gehen, um die grossen Verluste zu reduzieren. Als Vorbild dient das koreanische Modell der Teilung des Landes am 38. Breitengrad. Aber zur Korealösung, die seit siebzig Jahren hält, gibt es grosse Unterschiede. Im Korea­krieg waren die Grossmächte – China, die USA und indirekt die UdSSR – auf beiden Seiten mit eigenen Truppen an den Kämpfen beteiligt. Diese Staaten hatten deshalb ein eigenes Interesse, den Krieg zu beenden. Das ist hier nicht der Fall. Der Krieg hat am 38. Breitengrad begonnen und wurde dort auch beendet. Dagegen haben die russischen Streitkräfte etwa zwanzig Prozent des ukrainischen Territoriums eingenommen. Schliesslich ist der Waffenstillstand zwei Jahre parallel zu den Kampfhandlungen verhandelt worden. Das ist übrigens ein Vorwurf, den man dem Westen machen muss. Auch in einem legitimen Verteidigungskrieg darf die Politik nicht suspendiert werden, sondern muss bestrebt sein, den Krieg zu akzeptablen politischen Bedingungen zu beenden. Am Ende eines Krieges gibt es immer ein politisches Ergebnis. Es ist entweder mit dem Gegner durch einen Interessensausgleich ausgehandelt worden und hat deshalb Bestand, oder es ist die Folge einer militärischen Niederlage einer Seite, und der siegreiche Gegner diktiert die politischen Bedingungen. 

Welche Chancen bestehen, um zu einer tragfähigen Lösung zu gelangen?

Es war absehbar, dass sich das Geschehen im Verlauf des Krieges immer mehr zugunsten Russlands wendet. Es liegt in den eingeschränkten Möglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte, den Landkrieg fortzusetzen, gegenwärtig nicht im Interesse Russ­lands, die Dynamik der überlegenen offensiven Operationsführung zu brechen, sondern diesen Vorteil so lange wie möglich, das heisst bis zum Erreichen seiner militärischen Ziele zu nutzen. 

Sie werden wahrscheinlich die vier Oblaste vollständig einnehmen …

Das Ziel ist offenbar, diese vier Regionen vollständig einzunehmen und möglicherweise auch Charkow und Odessa. Denn Odessa sehen die Russen als eine urrussische Stadt an. Falls die ukrainische Führung den von den USA verfolgten Plan akzeptiert, wird das Land in die bis dahin von Russland besetzten Gebiete und in eine Rumpf-Ukraine im westlichen Einflussbereich geteilt. Die amerikanischen Vorstellungen von der weiteren Entwicklung gehen offenbar über die personelle und materielle Konsolidierung der ukrainischen Streitkräfte hinaus. Einflussreiche amerikanische Sicherheitspolitiker schlagen vor, dass sich die USA und andere Nato-Staaten nicht nur zu einer langfristigen wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung verpflichten, sondern auch dazu, die ukrainische Unabhängigkeit zu garantieren. Nach dem Modell des Artikels 4 des Nato-Vertrages sollen sofortige Konsultationen erfolgen, wenn die territoriale Integrität, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit bedroht ist. Zudem soll die Europäische Union den Beitritt der Ukraine beschleunigen.

Sie erwähnten den Verhandlungsführer bei den Friedensverhandlungen, der davon sprach, dass es den Russen vor allem um die Neutralität gegangen sei? 

Im Kern ging es um zwei Punkte. Neutralität der Ukraine – kein Nato-Beitritt – und keine westlichen Truppen oder militärische Einrichtungen auf ukrainischem Territorium. Das ist und bleibt zweifellos die «conditio, sine qua non» für Russland im Hinblick auf alle künftigen Regelungen. Die Stärke der ukrainischen Streitkräfte wurde in einer Anlage festgelegt. Darüber hinaus ging es um gleiche Rechte für ukrainische Staatsbürger in den östlichen Regionen, die sich als Russen verstehen oder russischsprachig sind. Das wäre die Umsetzung des Minsk II-Abkommens, wozu sich die Ukraine mittels einer Verfassungsänderung bis 2015 verpflichtet hatte. Am 30. September 2022 hat Russland allerdings vier Regionen zu russischem Staatsgebiet erklärt. Dadurch ist eine andere Lage entstanden, zumal die russische Verfassung die Abtretung russischen Staatsgebietes verbietet.

Wie stehen die Chancen auf Frieden?

Seit den Verhandlungen Ende März letzten Jahres haben beide Seiten die Hürden für eine Verhandlungslösung erhöht. Deshalb und insbesondere aufgrund der derzeitigen militärischen Lage, sind die damaligen Rahmenbedingungen für einen ausgewogenen Interessenausgleich nicht mehr vollständig gegeben. Zumal die ukrainischen Streitkräfte nicht fähig sind, die militärische Lage zugunsten einer stärkeren Verhandlungsposition zu verändern. Dass dies auch die USA so sehen, zeigt die von ihnen vorgeschlagene Strategieänderung. 

Im März letzten Jahres waren doch die Gebiete noch gar nicht erobert …

Das ist richtig. Die Aufständischen im Donbas waren im eigentlichen Sinne keine «Separatisten», wie sie üblicherweise bezeichnet wurden. Sie wollten sich nicht vom ukrainischen Staat trennen, sondern die gleichen Rechte wie alle anderen ukrainischen Bürger erhalten. 

Sie haben erwähnt, dass die Ziele, die man in den Verhandlungen im März 2022 ausgehandelt hatte, nicht mehr möglich seien, auch Ihren Friedensplan vom letzten August, der eine ernsthafte Möglichkeit geboten hat, sehen Sie in vielen Punkten als überholt an. Was denken Sie, braucht es heute, um zu einem dauerhaften Frieden zu kommen?

Wir betrachten unseren Vorschlag nicht als Plan. Wir wollten vielmehr einen Weg zu einem Waffenstillstand als erstem Schritt und als Voraussetzung für Friedensverhandlungen aufzeigen. Wir wollten entgegen der herrschenden Meinung zeigen, das Frieden und Sicherheit für die Ukraine möglich sind. Ein Waffenstillstand, so wie wir ihn vorgeschlagen haben, wäre auch heute noch realisierbar. Vor allem wäre er eine tragfähige Grundlage für Friedensverhandlungen. Ein Waffenstillstand ohne folgende Friedensverhandlungen bringt weder Frieden und Sicherheit für die Ukraine noch eine stabile europäische Friedens- und Sicherheitsordnung. Dass die Details einer Friedenslösung erst in den Verhandlungen geklärt werden können, versteht sich von selbst. Wir haben jedoch immerhin dargestellt, was unter Berücksichtigung der Interessen Russ­lands und der Ukraine sowie des Verhandlungsergebnisses von Ende März 2022 zum Zeitpunkt unserer Veröffentlichung erreichbar war. Für mich ist die entscheidende Leitlinie für eine Friedenslösung und für die Vermeidung erneuter Spannungen um die Ukraine, was Henry Kissinger 2014 in einem Namensartikel in der New York Times schrieb: «Viel zu oft wird die Ukraine-Frage als Showdown dargestellt: ob die Ukraine sich dem Osten oder dem Westen anschliesst. Aber wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten einer Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden fungieren.» 

Herr General Kujat, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

 

veröffentlicht 22.Dezember 2023

Krieg und Frieden

von Thomas Kaiser

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs beschwören Politiker im Einklang mit den grossen Medien den Sieg der Ukraine über den Angreifer Russland. Die Propagandamaschinerie läuft auf Hochtouren. Angebliche militärische Erfolge der Ukraine werden hochstilisiert und sollen als Beweis für die Überlegenheit der Ukraine herhalten. Bei vielen Stellungnahmen westlicher Politiker fühlt man sich ins letzte Jahrhundert versetzt. Die Parallelen sind verstörend.

Zwei Monate vor dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 hielt der deutsche Kaiser, Wilhelm II., eine Rede vor Arbeitern, in der er an den Durchhaltewillen der Deutschen appellierte und sie in bereits aussichtsloser militärischer Lage zu weiterem Kämpfen ermutigte: «Werdet stark wie Stahl, und der deutsche Volksblock, zu Stahl zusammengeschweisst, der soll dem Feinde seine Kraft zeigen. Jeder Zweifel muss aus Herz und Sinn gebannt werden. Jetzt heisst es: Deutsche, die Schwerter hoch, die Herzen stark und die Muskeln gestrafft zum Kampfe gegen alles, was gegen uns steht, und wenn es noch lange so dauert!» Vier Jahre lang hat man den Krieg vorangetrieben und der ahnungslosen Bevölkerung den «Siegfrieden» in Aussicht gestellt. Die menschlichen Opfer dienten einer «höheren Sache». Das Erhabenste sollte angeblich der Tod auf dem «Feld der Ehre» sein. Leonhard Frank beschreibt in seinem Roman «Der Mensch ist gut», was   «gefallen auf dem Felde der Ehre» in letzter Konsequenz bedeutet: «Menschen, Millionen Menschen, Menschen schiessen aufeinander, ermorden, erschlagen, erwürgen, zerfetzen einander.»¹ Ein Inferno, wie es sich auf allen Schlachtfeldern moderner Kriege abspielt.

Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Zürich 1918.

Vom Siegfrieden zum Endsieg

Ende 1917, die USA waren bereits in den Krieg eingetreten, äusserte sich Paul von Hindenburg, der «verdiente» Generalfeldmarschall und spätere Reichspräsident, an seinem 70. Geburtstag zu den positiven Kriegsaussichten des Deutschen Reichs: «Sorget nicht, was nach dem Kriege werden soll, das bringt nur Missmut in unsere Reihen und stärkt die Hoffnungen der Feinde. Vertraut, dass Deutschland erreichen wird, was es braucht, um für alle Zeit gesichert dazustehen. Vertraut, dass der deutschen Eiche Luft und Licht geschaffen werden wird zu freier Entfaltung. Die Muskeln gestrafft, die Nerven gespannt, das Auge geradeaus, wir sehen das Ziel vor uns, ein Deutschland hoch zu Ehren, frei und gross. Gott wird auch weiter mit uns sein.»²

Auch während des Zweiten Weltkriegs hielt die Propaganda die Bevölkerung mit permanenten Erfolgsmeldungen «bei Laune», obwohl die deutsche Wehrmacht an allen Fronten auf dem Rückzug war. Die Wochenschauen propagierten den Sieg, als die Armeen der Alliierten schon an der Grenze des Deutschen Reichs standen. Die berüchtigte Rede von Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast illustrierte diese verheerende Perversität: Kampf «bis zum letzten Mann» ohne Rücksicht auf das Leben, weder der Zivilisten noch der Soldaten. 

Als die Sowjetarmee schon vor den Toren Berlins stand und Hitler 14jährige zur Verteidigung der «Reichshauptstadt» rekrutieren liess, beschwor man immer noch den «Endsieg».

Deutsche Offensiven gescheitert

Im September 1918, als Kaiser Wilhelm zur «Endschlacht» aufrief, war das Deutsche Reich in einer vergleichbar prekären Situation wie die Ukraine heute. Zwar waren die politischen und militärischen Ursachen anders gelagert, aber nicht die Aussichtslosigkeit, gegen einen überlegenen Gegner zu gewinnen. Die Deutschen waren im Herbst 1918 militärisch und personell am Ende. Seit dem Kriegseintritt der USA 1917 auf der Seite der Entente veränderte sich die militärische Lage dramatisch. Der Krieg war aufgrund der Übermacht der Gegner durch die Unterstützung der USA nicht mehr zu gewinnen. Die «frischen» und technisch besser ausgerüsteten US-amerikanischen Soldaten waren den seit vier Jahren ohne durchschlagenden Erfolg kämpfenden Deutschen völlig überlegen. Zudem grassierte die Spanische Grippe. 

In die Schlachten wurden immer jüngere Männer geschickt, denn Millionen hatten bereits ihr Leben verloren. «Das Geschützfeuer war immer wilder geworden, hatte sich vervielfacht, steigt rasend an. Die eingeschlagenen Granaten rissen Unterstände, Balken und Menschen auseinander. Trotzdem verliessen, vom Befehle vorgestossen, lange dichte Reihen lehmiger Gestalten, die gegnerischen Gräben, wurden vom flankierenden Maschinengewehrfeuer glatt auf die Erde gestrichen.»³

Die 1918 angestrebten deutschen Offensiven scheiterten alle, es gelang kein Durchbruch, aber die Schlachtfelder wurden mit weiterem Blut junger Menschen getränkt. «Links und rechts von mir sah ich lange Reihen von Soldaten. Als ich zehn Meter weiter gegangen war, schienen um mich herum nur noch wenige Männer übrig zu sein. Dann wurde ich selbst getroffen4

Manipulation und Desinformation

Die Soldaten hatten genug. Vier Jahre Stellungskrieg, Tod, Elend, Entbehrung, Entkräftung und Desillusion bestimmten die innere Haltung stärker, als der Kampf «mit Gott für Kaiser und Vaterland». Die meisten ahnten auch nach Jahren sinnlosen Gemetzels, dass ein Sieg nicht mehr möglich sein würde. Nichtsdestotrotz: Die Generalität sowie der deutsche Kaiser glaubten oder mussten daran glauben, dass der Krieg noch zu gewinnen sei. Generalfeldmarschall von Hindenburg schrieb 1920 in seinen Memoiren: «Aus dem Geländegewinn, den Beutezahlen, den schweren blutigen Verlusten des Gegners sprach mit aller Deutlichkeit die Grösse der deutschen Erfolge.»5

Trotz aller Propaganda, Falschinformation und Demagogie musste das Deutsche Reich seine Niederlage konstatieren. Die meisten Menschen waren erleichtert, endlich hatte der Krieg ein Ende. Heute noch bestehende Kriegsgräber mit Kreuzen, so weit das Auge reicht, sind traurige Zeugen einer menschlichen Tragödie. Was hat das alles gebracht?

Und hundert Jahre später?

Auch wenn der Erste Weltkrieg schon über 100 Jahre zurückliegt, scheinen die mediale Berichterstattung und öffentliche Äusserungen von politisch Verantwortlichen kaum 100 Jahre weiter zu sein. Vieles, was im Ersten Weltkrieg an Manipulation und Propaganda der Bevölkerung serviert worden ist, findet sich in ähnlicher Form heute wieder. Dazu gehören Äusserungen wie: «Russland darf den Krieg nicht gewinnen» oder «kämpfen bis zum letzten Ukrainer», «der Feind ist schwach, wir können ihn besiegen.» Wie der deutsche Kaiser seine «Untertanen» zu überzeugen versuchte, ihr Leben für einen verlorenen Kampf zu opfern und sich als «Kanonenfutter» zur Verfügung zu stellen, suggeriert man den Ukrainern einen bevorstehenden Sieg. In der Ukraine werden Männer rekrutiert für einen Krieg, der nur Opfer bringt: «Schon vor gut einem Jahr hat die Ukraine die Mobilmachung ausgerufen. Seitdem darf kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das Land mehr verlassen – ausser in Ausnahmefällen.»⁶

Sieg der Ukraine?

Am Anfang des Krieges wurden Meldungen verbreitet, die die Ukrainer in Euphorie versetzen sollten, damit sie trotz erdrückender Übermacht gegen die Russen kämpfen und sich nicht auf Verhandlungen einlassen: «Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Man muss sich nur die verfügbaren Informationen genau ansehen. Zunächst ist da die offensichtliche Tatsache, dass Russlands Truppen nicht mehr vorankommen7

Die Parallelen zwischen vergangenen Kriegen und dem aktuellen Krieg sind bedrückend. Bis vor kurzem fanden sich in den Mainstream-Medien Berichte über Geländegewinne: «Der grösste Durchbruch steht noch bevor8, und über hohe russische Verluste: «Militärisch hat Russland einen erheblichen Teil seiner konventionellen Streitkräfte verloren», so lässt sich der Nato-Generalsekretär bei einem Treffen mit dem ukrainischen Aussenminister vernehmen.⁹ Wieviel Glauben man den Aussagen des Kriegsgegners schenken kann, haben wir schon im Ersten Weltkrieg gesehen: keinen.

Baerbock gibt Blankoscheck

ETH-Militärökonom Marcus Keupp liess sich im Frühjahr dieses Jahres weit auf die Äste hinaus, als er prophezeite: «Russland wird den Krieg im Oktober verloren haben.» 10 Wie er heute argumentiert, da sein prognostiziertes Szenario nicht eingetreten ist, weiss man nicht genau. Beunruhigend ist, dass ein gescheiterter Kriegsaugur auf der Homepage des Bundes geführt wird.11

Als im Herbst aus den USA leise Signale zu vernehmen waren, dass die Aussichten der Ukraine auf einen Sieg immer unwahrscheinlicher werden, griff die deutsche Aussenministerin, Annalena Baerbock, eine Russenhasserin und Bewunderin von Selenskyj, im September dieses Jahres in die Vollen und versprach ihm – wie im Ersten Weltkrieg das Deutsche Kaiserreich der k. und k. Monarchie Österreich-Ungarn – unendliche Unterstützung: «Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Freiheit und Demokratie müssen gewinnen. Und wir werden an der Seite der Ukraine stehen, solange es dauert.»12 Durchhalteparolen, die die Ukrainer ermutigen sollen, einen aussichtslosen Kampf «bis zum letzten Ukrainer» weiterzuführen.

Offensive der Ukraine gescheitert

Zeitungsartikel und Headlines sollen der Bevölkerung im Westen und in der Ukraine vermitteln, dass der Krieg zu gewinnen sei und man aufs «richtige Pferd» gesetzt habe.

Dass die westlichen Medien bis heute behaupten – natürlich ohne Beweise – die Ukrainer hätten wesentlich weniger Tote und Verwundete als Russland, wird vom ukrainischen Botschafter in London unerwartet deutlich korrigiert: «Wir verlieren Menschenleben links und rechts. Wir hängen das nicht an die grosse Glocke, wie viele Soldaten oder Zivilisten es sind, aber man kann sich vorstellen, dass die Zahlen gewaltig sind, unverdaulich13

Obwohl es immer noch Medien gibt, die von geringen Verlusten der Ukrainer sprechen, ist das nach der Stellungnahme des ukrainischen Botschafters kaum mehr haltbar.

«Laut BBC muss die Ukraine ständig Zehntausende Soldaten ersetzen, die im Krieg gegen Russ­land getötet oder verletzt wurden. Viele Wehrpflichtige versuchen darum, ihrer Einberufung zu entgehen, indem sie das Land verlassen oder andere Wege finden, um nicht an die Front zu müssen.»14

Trotz aller Euphorie, Kriegshysterie und Siegestaumel, der auch durch die manipulative und unseriöse Berichterstattung gewaltig angeheizt wurde, steht die Ukraine – ähnlich wie das Deutsche Reich am Ende des Ersten Weltkriegs – vor einem Desaster. Die kriegstreibenden Medien müssen jetzt zähneknirschend über das Scheitern der Offensive berichten, weil sich die Realität nicht länger verheimlichen lässt und aufgrund der hohen Verluste der Ukrainer ein weiterer Kampf nicht mehr geführt werden kann. Das Erste Deutsche Fernsehen berichtet:  «Die ukrainische Offensive liegt eindeutig hinter den ursprünglichen Erwartungen und den operativen Zielsetzungen zurück, die Küste des Asowschen Meers zu erreichen und die Krim von den restlichen russischen Einheiten abzuschneiden. Das ist angesichts der Höhe der Verluste gegenwärtig zumindest unrealistisch15

Deutschland setzt weiterhin auf Krieg

Aber noch will man den Krieg nicht verloren geben. «Die Bundesregierung steht laut Finanzminister Christian Lindner mit dem Haushalt 2024 weiter voll an der Seite der Ukraine. Vorgesehen seien acht Milliarden Euro an direkter bilateraler Hilfe, sagte Lindner. Bundeskanzler Olaf Scholz betonte aber: Sollte sich die Situation ‹verschärfen, etwa weil die Lage an der Front sich verschlechtert, weil andere Unterstützer ihre Ukraine-Hilfe zurückfahren oder weil die Bedrohung für Deutschland und Europa weiter zunimmt, werden wir darauf reagieren müssen.›»16

Ob hier ein mögliches Ausstiegsszenario zwischen den Zeilen zu lesen ist, wird sich herausstellen. Wenn die Bundesregierung entscheidet, dass keine Bedrohung für Deutschland mehr von Russland ausgeht, könnte der Ausstieg ohne Gesichtsverlust vollzogen werden.

Die verheerende Entwicklung, die bereits unendliches Leid über viele Menschen gebracht hat – das Sterben im Kugelhagel – wird, solange der Krieg andauert, zunehmen, bis sich die Kriegsparteien gemeinsam an einen Tisch setzen, einen Waffenstillstand aushandeln und mit Friedensverhandlungen beginnen. Dass das alles schon vier Wochen nach Kriegsbeginn in greifbarer Nähe gewesen ist, macht das Sterben noch sinnloser. Wenn der politische Wille im «Westen» vorhanden gewesen wäre, hätte das Töten und Sterben verhindert werden können. Aber der Westen wollte es nicht verhindern, wie sich deutlich beim Abbruch der kurz vor der Unterzeichnung stehenden Friedensgespräche im März 2022 zeigte. 

Ende des Krieges wäre sofort möglich

Während die EU, zwar nicht mehr geschlossen, noch heute auf Krieg setzt und damit nebst den USA nahezu allein dasteht, gibt es nicht unbedeutende Länder, die auf Waffenstillstand und Verhandlungen setzen. Das lässt Hoffnung aufkommen, dass man 100 Jahre später doch ein bisschen klüger geworden ist, die Vernunft sich durchsetzt und das Sterben beendet wird.

Wenn das «Crescendo der Völker» so gross sei, wie der ehemalige Sicherheitsberater US-amerikanischer Präsidenten, Zbigniew Brzeziński, gesagt haben soll, dann könne die Politik ihre Absichten nicht durchsetzen. Die Arbeiterbewegung formulierte es im vorletzten Jahrhundert etwas anders: «Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.» Auch wenn der Kontext des Zitats ein anderer war, so zeigen uns doch beide Aussagen, dass Menschen viel mehr bewegen können, als sie gemeinhin annehmen. Was in Staaten des Südens und auch auf der anderen Seite des Globus vorhanden ist, nämlich die Fakten zu betrachten, bevor man weiss, fehlt leider bei vielen im Westen. Man handelt emotional statt rational. Etwas, was Immanuel Kant schon vor über 200 Jahren, als er dem Menschen nahelegte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, formuliert hatte. Die Ideen und Gedanken sind vorhanden und in vielen Ländern werden sie konsequenter umgesetzt als bei uns.

So könnte sich die Welt zum friedlichen Zusammenleben der Völker, wie in der Uno-Charta festgehalten, entschliessen.

Wenn die Menschen sich dem Krieg verweigern, dann haben die Kriegstreiber keine Grundlage mehr für ihr schändliches Tun, denn ohne Menschen sind sie machtlos.

Wir Menschen führen die Kriege, und wir können sie auch beenden. Also kommt es auf uns an – einen anderen Weg gibt es zum Glück nicht.

Wir sind die Gestalter unseres Lebens und dürfen uns nicht vom Ohnmachtsgefühl, das Medien und Politik in uns häufig bewirken, in die Passivität treiben lassen. Frieden ist möglich, aber er braucht unsere ganze Hingabe und unser Engagement. In jedem Krieg gibt es mutige Menschen, die ihre Stimme gegen das sinnlose Töten erheben und ein Ende des Schlachtens verlangen. Auch im aktuellen Krieg hört oder liest man sie. Diese Menschen brauchen unsere volle Unterstützung, dann werden sich immer mehr Menschen gegen den Krieg auflehnen und Frieden verlangen.

Wie formulierte es einst John Lennon angesichts des Vietnam-Kriegs 1969? Dem Frieden eine Chance geben – give peace a chance!

¹ Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Leipzig 1918. S. 82
² www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/aexavarticle-swr-19588.html
³ Leonhard Frank: Der Mensch ist gut; Leipzig 1918, S. 84ff. 
4
www.deutschlandfunk.de/schlacht-an-der-somme-das-verlustreichste-gefecht-des-100.html
5 Quellen zur Geschichte der neusten Zeit. S. 315
www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-rekruten-armee-101.html
7 https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/die-ukraine-gewinnt-den-krieg/
8 www.blick.ch/ausland/ukraine-general-gibt-sich-siegessicher-der-groesste-durchbruch-steht-noch-bevor-id18972507.html
www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-mittwoch-308.html#Verlusten
10 www.nzz.ch/feuilleton/marcus-keupp-deswegen-sage-ich-russland-wird-den-krieg-im-oktober-verloren-haben-ld.1731488?reduced=true
11 www.vtg.admin.ch/de/gruppe-verteidigung/organisation/kdo-ausb/hka/milak/mehr-zur-milak/militaerwissenschaftliche-forschung-und-lehre/dozentur-militaeroekonomie/mitarbeitende/keupp-marcus.html
12 www.fr.de/politik/baerbock-fox-news-usa-putin-ukraine-krieg-trump-biden-tv-auftritt-aussenministerin-news-zr-92521223.html#google_vignette
13 https://weltwoche.ch/daily/kaempfen-bis-zum-letzten-ukrainer-kiew-sieht-die-eigenen-toten-als-einzigartige-chance-fuer-den-westen/
14 www.fr.de/politik/angriffskrieg-ukraine-gehen-die-soldaten-aus-maenner-wollen-nicht-mehr-kaempfen-russischer-92474823.html
15 www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-offensive-russland-100.html
16 www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-mittwoch-312.html#Deutschland

veröffentlicht 22.Dezember 2023

Gazakrieg

Alle Kriegsbeteiligten müssen sich ans Völkerrecht halten

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Es soll in Haaretz einen Artikel gegeben haben, der sagt, dass der israelische Geheimdienst den Angriff der Hamas «unterstützt» habe. Ist das fake-news oder wissen Sie etwas darüber?

Jacques Baud Ich weiss es nicht. Aber ich glaube nicht, dass es eine bewusste Absicht war, die Hamas ihren Angriff durchführen zu lassen. Es ist bekannt, dass viele Hinweise ignoriert oder falsch interpretiert wurden, insbesondere die Beobachtungen der Wachposten der Gaza Division, die für die Sicherheit des Gebiets rund um den Gazastreifen («Gaza-Umschlag») verantwortlich ist. Meine Analyse ist jedoch, dass die Israelis sehr oft mit zu viel Selbstvertrauen sündigten und ihre Gegner unterschätzten.

Wenn man glaubt, dass die Gegner «Untermenschen» («subhumans») sind, wie es der stellvertretende Bürgermeister von Jerusalem ausdrückte,¹ begibt man sich automatisch in eine Situation, in der man überrascht werden kann. Diesen Fehler haben unsere Medien in Bezug auf die Russen in der Ukraine gemacht – es ist der grösste Fehler, den man in einem Konflikt machen kann.

Im Übrigen ist Netanjahus Regierung rechtsextrem. In Europa und in der Schweiz unterstützen die Regierungen, die Parlamentarier und Journalisten sie und rechtfertigen ihre Verstösse gegen das Völkerrecht, aber in Israel ist das ganz anders. Haaretz ist eine Zeitung, die der Regierung kritisch gegenübersteht. Es ist daher zu erwarten, dass die israelische Opposition die Versäumnisse des israelischen Geheimdienstes für politische Zwecke etwas übertreibt.

Ich glaube, dass die Israelis Opfer ihrer Hybris geworden sind. Anfang der 2000er Jahre hatte ich im Rahmen einer Nato-Arbeitsgruppe am Profil islamistischer Kämpfer gearbeitet, und wir stützten uns auf die in Israel durchgeführten Studien über die Kämpfer der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass das intellektuelle Niveau der palästinensischen Kämpfer höher war als das der israelischen Sicherheitskräfte. Dies scheint auch heute noch der Fall zu sein. Beachten Sie, dass Israel das einzige Land der Welt ist, das es in über 75 Jahren nicht geschafft hat, seinen Terrorismus unter Kontrolle zu bringen. Ohne hier ins Detail zu gehen, muss man feststellen, dass Israel im Gegensatz zu den Palästinensern bei der Terrorismusbekämpfung nicht viel Fantasie gezeigt hat.

Wenn man also wirklich jede Gefahr hätte bannen wollen, hätte man die Palästinenser nicht all den Schikanen ausgesetzt, denen sie ausgesetzt sind. Wenn sie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten frei entfalten und ein normales Leben führen könnten, würden sie wahrscheinlich nicht an eine Rebellion denken. Nur unsere Journalisten und Netanjahu glauben, dass man eine Bevölkerung beherrschen kann, indem man sie in einer Art Gefangenschaft hält.

Die Berichte über die zivilen Opfer im Krieg in der Ukraine werden, wenn sie durch Russland geschehen sind, in den westlichen Medien schwer verurteilt. Im Gaza-Streifen werden von der IDF (Israel Defense Forces) Spitäler angegriffen, wobei von westlicher Seite verhaltene Reaktionen folgen. Wo ist die Wertegemeinschaft?

Dafür gibt es mehrere Faktoren. Der erste ist, dass unsere traditionellen Medien besonders rassistisch geworden sind. Wir hatten bereits gesehen, dass sie Ukrainer und Russen als «Untermenschen» betrachten. Den Arabern gegenüber ist es einfach noch schlimmer. Und das schon seit langem. Keines unserer Medien hat reagiert, als der israelische Verteidigungsminister die Palästinenser als «menschliche Tiere» bezeichnete.² Unsere Journalisten glauben, sie seien die Träger einer Wahrheit, die militärische Interventionen rechtfertigt.

Sie sehen den Terrorismus als ein Phänomen, das mit der Religion verbunden und daher unausweichlich ist. Ein Journalist des RTS ist zum Beispiel Autor eines Buches über eine weltweite Verschwörung der Muslime, die die Weltherrschaft an sich reissen wollten. Ein Forscher der Universität Uppsala in Schweden bezeichnet diesen Journalisten als «Verschwörungstheoretiker» und stellt fest, dass dieses Buch dem norwegischen rechtsextremen Terroristen Anders Breivik als Inspiration gedient hat.³

Zweitens lehnen unsere Medien das Völkerrecht ab. Denn egal, welche Verbrechen die Hamas am 7. Oktober begangen hat – das kann keine weiteren Verbrechen rechtfertigen. Indem sie dies tun, rechtfertigen unsere Medien somit auch den Terrorismus. Wir müssen alle Verbrechen verurteilen.

Um die Verbrechen Israels rechtfertigen zu können, versuchen unsere Medien, sie zu verharmlosen. Deshalb suggerieren sie, dass die Zahlen der zivilen Todesopfer falsch sind, weil sie von der Hamas stammen. So erklärt RTS, dass das Gesundheitsministerium der Hamas gehöre. In Wirklichkeit ist das Gesundheitsministerium in Gaza ein Zweig des palästinensischen Gesundheitsministeriums, das auch im Westjordanland vertreten ist. Es ist anzunehmen, dass es der Hamas nahesteht, aber das ist nur eine Vermutung. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahlen der Hamas falsch sind. So soll die Hamas laut RTS am 5. Dezember 16 248 Tote gemeldet haben.4 Eine offizielle israelische Quelle hatte jedoch bereits einen Monat zuvor, am 5. November, 20 000 zivile Tote in Gaza gemeldet.5 Ironischerweise ist es möglich, dass die von der Hamas angegebenen Zahlen falsch sind.In Wirklichkeit könnten sie viel höher sein!

Abgesehen davon lässt sich generell feststellen, dass die Informationen aus den palästinensischen Kanälen zutreffender sind als die der Israelis. Das Problem der Israelis ist, dass sie wissen, dass sie gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen, und sie müssen dies rechtfertigen!

Es hiess von israelischer Seite her, dass die Zentrale der Hamas sich unter dem al-Shifa-Krankenhaus befinde und man Waffen gefunden habe. Wissen Sie etwas Genaueres dazu? 

Der Grund, warum die Israelis so sicher sind, dass es unter dem Krankenhaus einen Kommandoposten gibt, ist, dass sie ihn selbst gebaut haben, um ihre Bevölkerung als menschliche Schutzschilde zu benutzen!⁶ Bei jeder Operation Israels gegen den Gazastreifen beschuldigen die Israelis die Hamas, diese Einrichtungen zu benutzen, so auch 20097 und 2014.8 Die Existenz dieses Kommandopostens ist so bekannt, dass die Hamas ihn nicht als Kommandoposten nutzt. Ausserdem ist auf den von der israelischen Armee gezeigten Bildern nicht zu erkennen, dass sich unter dem Krankenhaus ein Kommandoposten befand.

Laut dem von der israelischen Armee produzierten Video9 «entdeckte» sie einige Kalaschnikow-Gewehre (die durchaus vom israelischen Militär selbst dort platziert worden sein könnten – man weiss es nicht), eine militärische Ausrüstung für einen(!) Hamas-Kämpfer, einen eingeschalteten Laptop (dessen Hintergrundbild «verwischt» wurde) und einen Stapel CD-ROMs. Probleme: In einer früheren Version des israelischen Films ist der Bildschirm nicht weichgezeichnet und man erkennt – eine israelische Soldatin! Bei dem Laptop handelt es sich um ein Lenovo ThinkPad TP490, das kein CD-ROM-Laufwerk hat!

Das Video einer weinenden Krankenschwester, die erklärt, dass die Hamas im al-Shifa-Krankenhaus operiert und Lebensmittel und Medikamente stiehlt, ist ein von der israelischen Armee erstellter «Fake», wie der Fernsehsender France24 berichtet.10 In Wirklichkeit gibt es selbst nach tagelanger israelischer Besatzung keine Hinweise darauf, dass das Krankenhaus einen Kommandoposten der Hamas beherbergt hätte. Die von der israelischen Armee vorgelegten Dokumente sind sehr primitive Fälschungen.11 Wie eine BBC-Journalistin, die das Gelände besichtigen konnte (aber nicht mit dem Personal des Krankenhauses sprechen durfte12), sagte, ist es klar, dass Israel seine Kriegsverbrechen rechtfertigen will  …

Mit einem Wort: Die Israelis haben nichts gefunden, aber es ging darum, zu rechtfertigen, dass sie dem Krankenhaus den Strom abgestellt und es mehrfach bombardiert haben.

Israel hat am Anfang seiner Operation die palästinensische Bevölkerung aufgerufen, in den Süden des Gazastreifens zu fliehen. Inzwischen führt Israel auch im Süden den Krieg mit aller Härte weiter. War das nur pro forma, um die Weltöffentlichkeit zu beruhigen?

Allgemein ausgedrückt besteht die Politik Israels darin, die arabische Bevölkerung aus Palästina zu vertreiben. Dies geschieht täglich im Westjordanland und in Ostjerusalem. Das ist die Politik der Israelis seit 1947 und war der Auslöser für den Krieg von 1948. Sie haben nie auch nur den Versuch unternommen, die Resolution 181 von 1947 umzusetzen, in der ein Teilungsplan vorgeschlagen wurde. Das ist der Ausgangspunkt des israelisch-arabischen Konflikts. Israel ist sicherlich das Land, das von der Uno am häufigsten verurteilt wurde. Nicht weil es jüdisch ist, sondern weil es sich falsch verhält.

Die Prüfung der Uno-Resolutionen zeigt, dass es Israels konstante Politik war, die arabische Bevölkerung aus Palästina zu vertreiben. Technisch gesehen handelt es sich um eine ethnische Säuberung. Bis in die 1980er Jahre absorbierten die arabischen Nachbarländer die palästinensischen Flüchtlinge. Dies hatte jedoch einen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Preis: insbesondere die Krise des «Schwarzen Septembers» in Jordanien 1970 und der Bürgerkrieg im Libanon. Aus diesem Grund weigert sich Ägypten heute, Flüchtlinge aus Gaza aufzunehmen.

Die Palästinenser in Gaza glauben zu lassen, dass sie im Süden des Gazastreifens sicher seien, und sie dann dort zu bombardieren, nennt man in der Fachsprache Perfidie. Das Problem der Israelis ist, dass sie glauben, die einzige Möglichkeit, die Hamas auszuschalten, sei die Bombardierung des Gazastreifens. Der Kampf gegen den Terrorismus hat sehr viele andere Instrumente, aber die Israelis sehen nur dieses eine.

Die Zahl der getöteten Zivilisten übersteigt in nur zwei Monaten Krieg die zivilen Opfer im Ukraine-Krieg nach bald zwei Jahren Krieg. Warum wird das von den westlichen Regierungen mit nicht viel mehr als hohlen Phrasen, Israel solle sich doch an das humanitäre Völkerrecht halten, kommentiert?

Ich weiss nicht, warum unsere Politiker und Journalisten gegen unsere Werte kämpfen. Unsere Werte sind nicht, alles zu verteidigen, was Israel tut, sondern das Völkerrecht zu verteidigen. Wir tun genau das Gegenteil.

Wie man sieht, versuchen unsere Politiker und Journalisten systematisch, die Verbrechen Israels damit zu rechtfertigen, dass die Hamas am 7. Oktober angegriffen habe. Es ist fraglich, ob der Angriff der Hamas auf legale Weise erfolgte, aber seine Ursachen sind legitim.

Seit 1948 erlaubt sich Israel, das Völkerrecht zu verletzen, weil die USA und andere westliche Länder, darunter die Schweiz, es ihm erlauben. Bei der jüngsten Abstimmung der Uno über die Golanhöhen zum Beispiel enthielt sich die Schweiz einer Verurteilung Israels.13 Dabei ist die Besetzung der Golanhöhen durch Israel illegal: Sie verstösst gegen die Charta der Uno und zahlreiche Resolutionen, darunter die Resolution 242 (1967) und die Resolution 497 (1981). Ich möchte daran erinnern, dass die Aussenpolitik der Schweiz wie die der USA nicht mehr auf die Aufrechterhaltung einer «auf Recht basierenden internationalen Ordnung» abzielt, sondern auf die Aufrechterhaltung einer «auf Regeln basierenden internationalen Ordnung».

Sie erwähnten im letzten Interview (Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 16-17/2023) dass nicht das Verhalten Israels den Antisemitismus fördere, sondern weil es dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werde. Sie sehen eine Eindämmung des Antisemitismus darin, dass man Israel wie jedes andere Land behandeln müsse. Warum wird das nicht gemacht?

Zunächst einmal müssen als Grundsatz alle Verbrechen verurteilt werden. Aber es ist auch notwendig, dass diese Verbrechen tatsächlich festgestellt werden. Während diejenigen Israels sehr gut dokumentiert sind, werden die Verbrechen der Hamas nur von den israelischen Behörden gemeldet, von israelischen Zeugen widerlegt14 und von der israelischen Armee selbst nicht bestätigt.15 Manchmal sogar, wie das Baby, das angeblich in einem Ofen verbrannt wurde, sind es Verbrechen, die nicht von der Hamas, sondern von den Israelis selbst begangen wurden (in diesem Fall in Deir Yassin im Jahr 1948)!16

Wir müssen also einen kühlen Kopf bewahren. Uns Schweizern geht es nicht darum, zu erklären, wer gut und wer böse ist, sondern zu verhindern, dass ein Narrativ zu einer Rechtfertigung für das Begehen weiterer Verbrechen wird.

Es gibt sicherlich Kriegsverbrechen, die von der Hamas am 7. Oktober begangen wurden, aber alles deutet darauf hin, dass sie nicht das Ausmass hatten, wie es in unseren Medien beschrieben wird. Von den 1400 Toten, die Israel für diesen Tag angegeben hatte, wurden 200 Tote aus der Zählung herausgenommen, da es sich um Hamas-Aktivisten handelte. Ihre Leichen waren so stark verkohlt, dass sie erst einen Monat später identifiziert werden konnten. Diese Todesfälle wurden sicherlich nicht von der Hamas verursacht.

An diesem Tag wurden also etwa 1200 Israelis getötet. Davon waren etwas weniger als 400 Personal des Militärs oder der Sicherheitskräfte und etwa 770 Zivilisten. Ein sehr grosser Teil der Opfer wurde von Waffen getroffen, die viel stärker waren als die, die den Hamas-Kämpfern zur Verfügung standen, und viele andere verkohlte Leichen konnten nicht identifiziert werden. Eindeutig können diese Todesfälle nicht von der Hamas verursacht worden sein.

Tatsächlich wollten Hamas-Aktivisten am 7. Oktober israelische Militärangehörige als Geiseln nehmen, um sie als Druckmittel für von Israel inhaftierte Gefangene (viele von ihnen ohne Anklage) zu verwenden. Nach den Erkenntnissen der israelischen Polizei wussten sie nicht, dass sie auf die Jugendlichen des Musikfestivals treffen würden,17 da dieses eigentlich am Freitagabend hätte enden sollen.18 Das Festival fand in der Nähe des Militärstützpunkts Re'im statt, der das Ziel der Hamas-Kämpfer war. Die israelischen Streitkräfte wurden überrascht und gerieten in Panik: Der Kommandeur der Gaza-Division, Brigadegeneral Avi Rosenberg, forderte Luftschläge gegen die israelischen Stellungen selbst an. 

Auf dem israelischen Medium N12 gab eine junge Kommandantin eines Merkava-Panzers ebenfalls zu, dass sie am 7. Oktober auf Häuser schiessen liess, ohne sich darum zu kümmern, ob sich darin israelische Zivilisten befanden.19 Diese Information wurde von Tuval Escapa, einem der Forschungsleiter im Kibbuz Be’eri, bestätigt, der der Zeitung Haaretz sagte, dass «die Kommandeure vor Ort schwierige Entscheidungen getroffen haben – unter anderem die Häuser von ihren Bewohnern zu bombardieren, um die Terroristen auszuschalten – mit den Geiseln».20

Die eingesetzten APACHE-Kampfhubschrauber konnten die Festivalbesucher nicht von den Hamas-Kämpfern unterscheiden und schossen auf alle. Ein Oberst der israelischen Armee21 sprach von einem «Massen-Hannibal».22 «Hannibal» ist die Bezeichnung für die israelische Doktrin, Geiselnehmer zu eliminieren, selbst um den Preis des Lebens der Geiseln.

Wir wissen nicht genau, was passiert ist, aber es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass ein sehr grosser Teil der Toten, die der Hamas zugeschrieben werden, in Wirklichkeit Opfer der israelischen Armee waren. Ich denke, die Weltöffentlichkeit hat das verstanden. Um diese Verbrechen zu verschleiern, wird die israelische Propaganda mit Hilfe unserer Medien intensiv betrieben. Das Problem ist, dass das von unseren Medien vermittelte Bild manchmal inkohärent ist und das Gefühl, von der israelischen Propaganda getäuscht zu werden, verstärkt, was wiederum den Antisemitismus fördert. Man kann also sagen, dass unsere Medien, insbesondere in der Schweiz und in Frankreich, Antisemitismus erzeugen. 

Es geht hier nicht darum, den einen oder anderen zu beschuldigen, sondern darum, fair zu sein. Wie ich in meinen Büchern nachgewiesen habe, sind unsere Journalisten jedoch nicht fair. Sie haben bereits aktiv zum Untergang der Ukraine beigetragen, jetzt beteiligen sie sich auch am Untergang Israels.

Ich denke, unser grosser Fehler ist, dass wir nicht darauf bestehen, dass Israel das Völkerrecht einhält. Die Uno hat Israel bei sehr vielen Gelegenheiten aufgefordert, sich ans Völkerrecht und insbesondere an die Uno-Resolutionen zu halten, aber Israel weigert sich, dies zu tun. Es gibt ungefähr hundert Resolutionen, die Israels Handeln verurteilen, und die internationale Gemeinschaft weigert sich, darauf zu reagieren. Vergleichen Sie, wie wir in Bezug auf Russland und im Fall von Gaza reagiert haben. In einem unserer früheren Interviews hatte ich gesagt, dass unsere Politiker und Medien die Russen als «Untermenschen» betrachten. Wir befinden uns heute in einer Kontinuität. Dieser Ausdruck wurde wörtlich von Arieh King, dem stellvertretenden Bürgermeister von Jerusalem, verwendet.23

In meinen Büchern gegen den Terrorismus habe ich auf den Unterschied hingewiesen, den man zwischen «Jude» und «Zionist» sowie zwischen «Antisemit» und «Antizionist» machen muss. In der Schweiz empfiehlt die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) ebenfalls, diese Unterscheidung zu treffen.24

Doch leider unterstützen Israel und die jüdischen Institutionen in Europa diese Unterscheidung nicht. In Frankreich erklärte Präsident Macron: «Antizionismus ist eine der modernen Formen des Antisemitismus».25 Darüber hinaus definiert sich der Staat Israel selbst als «jüdischer Staat», und seine Regierungen verfolgen eine zionistische Politik. Daher ist es sehr schwierig, zwischen jüdisch, israelisch und zionistisch zu unterscheiden. «Jude» bezeichnet Menschen jüdischen Glaubens, «Israeli» bezeichnet Bürger des Staates Israel und «Zionist» bezeichnet Anhänger eines jüdischen Nationalismus, der eine politische Ideologie ist. Die Assoziation, die zwischen «Judentum» und «Zionismus» hergestellt wird, ist daher intellektuell falsch. Zunächst einmal, weil der Zionismus eine nationalistische Bewegung ist, die sich ausserhalb der jüdischen Institutionen gebildet hat. Ich erinnere daran, dass der erste zionistische Weltkongress 1897 in Basel stattfand, weil die Juden in Deutschland es ablehnten, ihn in Deutschland abzuhalten. Darüber hinaus gibt es auch «christliche Zionisten» – wie Steve Bannon, den ehemaligen Berater von Donald Trump,26 der als rechtsextrem gilt – , die in der Regel mit evangelikalen Kreisen verbunden sind. Joe Biden bezeichnet sich selbst als Zionist.27

Seit einigen Jahrzehnten ist das israelische Verhalten politisch mit dem Zionismus verbunden. Die Likud-Partei ist selbst Erbe der extremistischsten Fraktionen des Zionismus. So führt die Gleichsetzung von «zionistisch» und «jüdisch» zu der Gleichung «Israel gleich Zionismus gleich jüdisch». Durch die Ausweitung der Definition von Antisemitismus auf Antizionismus wird es den zionistischen Regierungen ermöglicht, sich hinter der jüdischen Gemeinschaft zu verstecken. Aus diesem Grund erklärt Rony Braumann, ehemaliger Präsident der NGO Ärzte ohne Grenzen: «Israel gefährdet heute die Juden. […] Ich bin Jude; ich betrachte Israel als eine Gefahr für mich. Israel ist nicht nur der Ort, an dem Juden weltweit am meisten gefährdet sind, sondern Israel gefährdet die Juden der Welt28

Mit anderen Worten: Der beste Weg, Antisemitismus einzudämmen, ist, sich richtig zu verhalten, so wie der beste Weg, Terrorismus zu bekämpfen, darin besteht, die keine Bedingungen für sein Auftreten zu schaffen. Weder Antisemitismus noch Terrorismus sind unvermeidlich. Durch die Missachtung des Völkerrechts29 wird Israel als Schurkenstaat wahrgenommen, wie die Israelis selbst feststellen.30 Selbst die Europäische Union ist darüber besorgt.31

Für die Schweiz, die sich stets für die Verteidigung des Völkerrechts eingesetzt hat, ist es daher der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um nachdrücklich ihre Solidarität mit Israel zu bekunden. Die Schweiz, die einst für ihre Besonnenheit bekannt war, wird zum «Partner in crime», und Organisationen fordern einen wirtschaftlichen Boykott der Schweiz.32 Unsere Diplomaten und unser Bundesrat Ignazio Cassis hatten schon beim Ukraine-Konflikt absolut nichts verstanden, und sie verstehen den Palästina-Konflikt nicht besser. Wie beim Ukraine-Konflikt vergessen wir, die nötige Distanz zu wahren, um in unserer Rolle als Vermittler und Türöffner aus der Krise zu bleiben.

Der Kanton Zürich zahlt 500 000 Franken für die Unterstützung der israelischen Opfer vom 7. Oktober.33 Da der Grossteil dieser Opfer von den israelischen Streitkräften selbst verursacht wurde, stellt sich die Frage, wem wir eigentlich helfen? Den Opfern oder den Schützen?

Wie in der Ukraine muss man, um diese Krisen zu verstehen, in alle Einzelheiten gehen. Wir tun dies jedoch nicht. Alles, was ich seit Beginn des Ukraine-Konflikts geschrieben habe, hat sich heute bestätigt. Wenn wir zugehört hätten, wäre die Ukraine sicherlich nicht in dieser Lage. Heute wiederholen wir die gleichen Fehler in Palästina.

Früher bedeutete Antisemit zu sein, «einen krankhaften Hass auf Juden zu haben». Heute bedeutet Antisemit zu sein, «zu versuchen, die Bombardierung von Frauen und Kindern durch Israel zu verhindern».

Ich bedauere diese Verwechslung von «Antisemit» und «Antizionist», denn die einzigen, die wirklich journalistische Arbeit über die Verbrechen Israels leisten, sind – jüdisch. Ich kenne mehrere jüdische Journalisten aus den USA, die hervorragende investigative Arbeit zu diesem Thema leisten. In Europa und der Schweiz sind die Journalisten im Allgemeinen arabophob und – wie man im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine gesehen hat – unterstützen viele Kriegsverbrechen und Terrorakte, solange sie von unseren «Verbündeten» begangen werden.

Im selben Interview erklärten Sie, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Israel zerstört wird, grösser ist als die Wahrscheinlichkeit, dass es in den besetzten Gebieten einen Rückzieher macht. Heisst das, dass Israel seine eigene Existenz aufs Spiel setzt?

Indem Israel das Völkerrecht missachtete, schuf es eine rechtsfreie Zone, deren Opfer es heute ist. Israels Politik seit 1948 drehte sich um zwei Prinzipien: Die Rivalitäten zwischen den arabischen Ländern sollen diese entzweien, damit sie sich nicht gegen Israel zusammenschliessen können, und um ein für Israel günstiges Kräfteverhältnis aufrechtzuerhalten. Israel hat seine Aussenpolitik (einschliesslich der Haltung gegenüber den besetzten Gebieten) immer im Rahmen eines Kräfteverhältnisses betrachtet. Vergleicht man dies mit einem anderen kleinen Land wie der Schweiz, das bis zum Kalten Krieg von potenziell feindlichen Mächten umgeben war, sieht man eine diametral entgegengesetzte Strategie.

Die Schweiz hat zwar eine starke Verteidigung aufrechterhalten, ihre Sicherheitspolitik jedoch auf Zusammenarbeit, Unabhängigkeit und die Förderung des Völkerrechts gegründet. Ihre Sicherheitspolitik basiert historisch gesehen auf dem Streben nach Frieden und Stabilität in ihrem strategischen Umfeld.

Für Israel ist es umgekehrt: Da es seine Zukunft in einem «Gross-Israel» (Eretz Israel) sieht, hat es seine Grenzen nie festgelegt und versucht seit seiner Gründung 1948, sie auszudehnen. Seine Sicherheitspolitik basiert auf der Instabilität seiner Nachbarn, die – so glaubt es – nicht daran denken, es anzugreifen. Im Gegensatz zur Schweiz glaubt es an die Bedeutung des Kräfteverhältnisses bei diesem Vorgehen. Es hat die stärkste Armee der Region aufgestellt, verfügt über Atomwaffen und ist weiterhin von den USA abhängig.

Resultat: Die internationale Gemeinschaft sah die Schweiz als Lösung, und man wandte sich an sie, wenn man ein Problem hatte, während Israel allgemein als ein Problem an sich wahrgenommen wird. Ich setze meine Feststellungen in die Vergangenheitsform, denn das Image der Schweiz ändert sich: Sie wird immer weniger mit Unparteilichkeit und Gerechtigkeit in Verbindung gebracht.

Das Problem ist, dass sich das Konzept des Kräfteverhältnisses, auf dem die israelische Sicherheitspolitik beruht, zu verändern beginnt. Die Stimme der USA (und des Westens im Allgemeinen) wird immer weniger gehört. Ihr katastrophaler Umgang mit dem Ukraine-Konflikt hat ihre Schwächen und ihre Irrationalität deutlich gemacht und damit gezeigt, dass sie keine verlässlichen Partner sind. Die arabischen Länder beginnen, eine relativ unabhängige Sicherheitspolitik zu verfolgen und ihre Bündnisse und ihre Zusammenarbeit zu überprüfen. Die beiden grossen Regionalmächte, Iran und Saudi-Arabien, reichen sich nicht nur die Hand, sondern der Iran und Syrien sind auch wieder in die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) eingetreten. Die Amerikaner beginnen zu bemerken, dass ihre Unterstützung für Israel sie mehr kostet als sie einbringt. Die Zahl der Verbündeten Israels nimmt ab und beginnt, sich auf die USA und ihre kleineren «Tabaki», darunter die Schweiz, zu reduzieren.

Hinzu kommt, dass die derzeitige Führung Israels aus Ultra-Nationalisten besteht, die ihr Land lieber untergehen lassen würden, als es zu teilen. Und sie ist bereit, alles dafür zu tun, einschliesslich des Einsatzes von Atomwaffen, wie der israelische Minister Amichai Eliyahu sagte.34

Eine aktuelle Umfrage von Harvard Caps-Harris zeigt, dass der Hamas-Israel-Konflikt nur für 7 Prozent der Amerikaner ein Problem für die USA ist und nur für 1 Prozent der Demokraten und Republikaner ein Problem, das sie als Individuum wahrnehmen.35 Für 60 Prozent der jungen Amerikaner (18 bis 24 Jahre) sind die Forderungen der Hamas gerechtfertigt, und für 67 Prozent ist Israel ein Unterdrückerstaat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gesamtbevölkerung zwar weiterhin sehr israelfreundlich ist (insbesondere in den höheren Altersgruppen), die heranwachsende Generation Israel jedoch als Problem sieht.

Mit anderen Worten: Das Kräfteverhältnis, das seit einem halben Jahrhundert relativ günstig für Israel war, beginnt sich gegen Israel zu wenden. Wollte die Hamas das mit ihrer Operation erreichen? Ich weiss es nicht, aber wenn das der Fall ist, dann ist es deutlich besser als die Israelis.

Deshalb glaube ich, dass Israel, wenn es mit seiner derzeitigen Politik fortfährt, dadurch irgendwann seine Existenz in Frage stellen wird. Wann wird das sein? Das kann niemand sagen. Aber solange Israel nicht gezeigt hat, dass es einen Mehrwert für die Region darstellt, wird es nach einem darwinistischen Phänomen vom Aussterben bedroht sein. Die Harvard-Harris-Umfrage zeigt, dass 51 Prozent der jungen Amerikaner der Meinung sind, dass Israel «aufhören» und an die Hamas und die Palästinenser übergeben werden sollte.

Wir neigen dazu, zu glauben, dass Probleme nicht mehr existieren, wenn man sie versteckt und vergisst. Das ist der Ansatz der israelischen Regierung, und er ist schlichtweg kindisch. Wenn sie selbst nicht in der Lage ist, ihre eigenen Probleme zu verstehen, dann können wir nichts tun …

Wie kann man erklären, dass die Hisbollah, Syrien und der Iran sich bisher ruhig verhalten haben, obwohl sie Israel offen davor gewarnt haben, eine Bodenoffensive gegen die Palästinenser durchzuführen?

Es ist wichtig zu verstehen, dass die palästinensische Frage nicht die Sache des Iran oder der Hisbollah ist. Die palästinensische Frage ist im Wesentlichen eine arabische und keine persische Frage. Der Iran hat keine territorialen Streitigkeiten mit Israel, und es ist nicht wirklich ersichtlich, warum oder wie er sich an einer Militäroperation gegen den jüdischen Staat beteiligen sollte. Der Iran unterstützt aktiv die schiitische Gemeinschaft im Libanon und in Syrien. Er unterstützt daher die Hisbollah und die syrische Regierung. Diese Unterstützung würde wahrscheinlich noch konkreter werden, wenn Israel im Libanon oder in Syrien intervenieren würde, wie es der Westen in der Ukraine getan hat. Der Iran ist jedoch nicht daran interessiert, sich in den Palästina-Konflikt einzumischen.

Die Hisbollah teilt nicht die gleiche Zielsetzung wie die Palästinenser und hat keine Ansprüche in Bezug auf Palästina. Die Forderungen der Hisbollah beziehen sich ausschliesslich auf die Gebiete, die Israel noch im Libanon besetzt hält und sich weigert, sie gemäss der Uno-Resolution 1559 vom September 2004 zu verlassen.

Es sei daran erinnert, dass im Juni 1982, als die IDF im Libanon intervenierte, um die Mitglieder der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) von Jassir Arafat «zu exterminieren»,36 die libanesische schiitische Bevölkerung sie mit Begeisterung und «einem Regen von Reiskörnern» begrüsste.37 Doch anstatt sich im Kampf gegen die PLO auf sie zu stützen, begannen die Israelis, unterschiedslos libanesische Schiiten und palästinensische Sunniten zu bekämpfen. Dies führte 1985 zur Gründung der Hisbollah.38 Das Taef-Abkommen von 1979 sah die Auflösung aller libanesischen Milizen vor, nachdem der Libanon wieder die Souveränität über sein gesamtes Territorium erlangt hatte.

Israel behauptet, den Libanon verlassen zu haben, aber das ist falsch. Die Israelis haben nicht den gesamten Südlibanon verlassen. Sie bewachen kleine Teile des libanesischen Territoriums. Tatsächlich wurde der Krieg von 2006 durch die Gefangennahme israelischer Soldaten in einem dieser kleinen Gebiete ausgelöst, die nach internationalem Recht libanesisch sind, die Israel aber als sein eigenes betrachtet. Israel ist ein räuberisches Land, das regelmässig und sehr häufig die Resolutionen der Uno und den Luftraum seiner Nachbarn verletzt. Zwischen 2007 und 2022 hat Israel 22 000 Mal den libanesischen Luftraum verletzt.

Ein Nachbar wie Israel ist eher ein Problem als eine Lösung, und an dem Tag, an dem die USA nicht mehr in der Lage sind, es zu schützen, wird die Region wahrscheinlich in Flammen aufgehen …

Ein Sprecher von «Ärzte ohne Grenzen» hat berichtet, dass noch nie so viele Hilfskräfte getötet wurden wie in diesem Krieg. Was will Israel mit der Offensive gegen den Gaza-Streifen erreichen? Ist das Ziel, alle Palästinenser und mit ihnen alle Hilfsorganisationen zu vertreiben?

Heute gibt es rund 135 Mitglieder humanitärer Organisationen, die von israelischen Streitkräften eliminiert wurden.39 In zweieinhalb Monaten hat Israel rund 10 000 Kinder eliminiert, also rund 20-mal mehr, als die Russen und Ukrainer zusammen in zwanzig Monaten!40 Die Zahl der palästinensischen zivilen Todesfälle belief sich nach Angaben der Uno am 11. Dezember auf 18 000. Diese Zahlen stammen von der Hamas und sind sicherlich falsch, denn die tatsächlichen Zahlen liegen viel höher, da die Israelis, wie wir gesehen haben, bereits vor mehr als einem Monat von 20 000 palästinensischen Ziviltoten gesprochen haben.

Am 17. Dezember erschossen israelische Soldaten kaltblütig sogar drei israelische Gefangene, die vor der Hamas geflohen waren und weisse Fahnen schwenkten.41 Die Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Gefangenen war eine der Prioritäten der israelischen Streitkräfte. Doch in Wirklichkeit wurden die bisher verstorbenen Gefangenen alle von den Israelis getötet, entweder durch Beschuss oder durch Fliegerbomben.42

Nach dem humanitären Völkerrecht (Kriegsrecht) rechtfertigen die Verbrechen der Hamas am 7. Oktober in keiner Weise das von den israelischen Streitkräften verübte Massaker. Das Problem ist, dass die Israelis (wie auch die Amerikaner, die Briten und die Franzosen) glauben, dass die einzige Methode zur Beseitigung des Terrorismus Luftangriffe seien. Das ist völlig dumm. Der Kampf gegen den Terrorismus beginnt zunächst mit einem politischen Ansatz sowie der Achtung von Verpflichtungen und dem gegebenen Wort. Keines dieser Länder hat die Würde und Ehre, dies zu tun. Wenn wir dann glauben, dass wir Gewalt anwenden müssen, dann brauchen wir Mut und gehen die Terroristen dort suchen, wo sie sind, und bekämpfen sie Mann gegen Mann.

Doch dazu muss man erst einmal fähig sein. Wir sehen, dass die Aktionen der Hamas nach zwei Monaten trotz der intensiven Bombardierungen und der Zerstörung der gesamten Infrastruktur immer noch sehr gut koordiniert und wirksam sind, was bedeutet, dass die israelische Armee die palästinensische Organisation nur sehr oberflächlich berührt hat. Tatsächlich sehen wir, dass Israel ungefähr eine Bombe pro getötetem palästinensischen Zivilisten eingesetzt hat, ohne die Wirksamkeit der Kombattanten zu beeinträchtigen.

Mao Tse Tung sagte, dass die Guerilla in der Bevölkerung sein müsse wie ein Fisch im Wasser. Um dieses Bild zu verwenden: Israel versucht nicht, Fische zu fangen, sondern das Wasser und alles, was es enthält, zu entfernen.

Tatsächlich hatte Israel nie eine wirkliche Strategie zur Bekämpfung des Terrorismus, es wollte nur Terroristen eliminieren und hat nichts erreicht, weshalb es jetzt die gesamte palästinensische Bevölkerung eliminieren will. Traurig und besorgniserregend zugleich ist, dass Israel offenbar nie in der Lage war, seine Gegner zu verstehen. Es ist ein Land, das seine Probleme immer taktisch, aber nie strategisch gelöst hat.

Nichts wirklich Neues, es wird heute einfach brutaler ausgedrückt, mit Zustimmung und Unterstützung von Ländern wie der Schweiz. Ich denke, die israelische Regierung versteht, dass sie schuld ist, und deshalb erfindet sie palästinensische Verbrechen und inszeniert lächerliche Szenen, um die Menschen glauben zu lassen, dass sie erfolgreich ist. Dies ist der Fall bei der «Kapitulation» von Hamas-Mitgliedern letzte Woche, bei denen es sich in Wirklichkeit um Zivilisten (darunter Journalisten und humanitäre Helfer) handelte, die die israelische Armee aus ihren provisorischen Unterkünften holte, um den Anschein zu erwecken, als seien sie erfolgreich gewesen. Israelische Scharfschützen erschossen Flüchtlingsfrauen in einer Kirche:43 Das ist die Ehre des israelischen Militärs – gar keine.

Hier fallen mir zwei Grundsätze des chinesischen Strategen Sun Tzu ein: Der erste lautet: «Ohne Strategie sind Taktiken nur Lärm vor der Niederlage» und der zweite lautet: «Der überlegene Anführer ist in der Lage, seinen Gegner ohne Kampf zu besiegen.» Israelis sollten intensiv über beides meditieren …

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Dieses Interview ist auch in französischer Sprache verfügbar: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/fr/newspaper-ausgabe-fr/articles-traduits-en-francais.html#article_1621

*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

¹ www.usatoday.com/story/news/factcheck/2023/12/14/israeli-official-called-hamas-subhuman-fact-check/71918947007/
² www.timesofisrael.com/liveblog_entry/defense-minister-announces-complete-siege-of-gaza-no-power-food-or-fuel/
³ Mattias Gardell: «Crusader Dreams – Oslo 22/7, Islamophobia, and the Quest for a Monocultural Europe», Terrorism and Political Violence, 26:129–155, 2014.
4 www.rts.ch/info/monde/14528059-les-operations-militaires-israeliennes-a-gaza-auraient-fait-plus-de-16000-morts.html
5 www.ynet.co.il/blogs/gazawar29eve
www.tabletmag.com/sections/news/articles/top-secret-hamas-command-bunker-in-gaza-revealed
7 www.nytimes.com/2009/01/11/world/middleeast/11hamas.html
8 www.wnd.com/2014/07/hamas-leaders-believed-hunkered-underneath-gaza-hospital/
youtu.be/QFmYWkquozk
1
0 youtu.be/nQ-CxCEELmQ
11 youtu.be/5edJmnbe0h0
12 youtu.be/qNzWbP64Nmw
13 daccess-ods.un.org/tmp/9198763.37051392.html
14 youtu.be/fghF54maONw
15 Joshua Zitser: «IDF says it won't back up its claim that Hamas decapitated babies in Israel because it is ‹disrespectful for the dead›», Business Insider, 11 october 2023 (https://web.archive.org/web/20231011205950/https://www.businessinsider.com/idf-says-wont-back-up-beheaded-babies-disrespectful-2023-10)
16 www.trtworld.com/middle-east/israel-accuses-hamas-of-brutality-which-zionists-inflicted-on-palestinians-15835018
17 www.haaretz.co.il/news/politics/2023-11-18/ty-article/0000018b-e1a5-d168-a3ef-f5ff4d070000
18 www.aljazeera.com/news/2023/11/18/hamas-had-not-planned-to-attack-israel-music-festival-israeli-report-says
19 twitter.com/IsraelNitzan/status/1728545148018004179
20 www.haaretz.co.il/news/politics/2023-10-20/ty-article-magazine/.premium/0000018b-499a-dc3c-a5df-ddbaab290000
21 www.youtube.com/watch?v=r63nmfbIUBA&t=186s
22 new.thecradle.co/articles-id/13145
23 www.jordannews.jo/Section-20/Middle-East/Israeli-official-advocates-live-burial-of-Palestinian-civilians-32863
24 swissjews.ch/fr/downloads/rapports/rapportantisemitisme2019
25 www.parismatch.com/Actu/Politique/L-antisionisme-est-l-une-des-formes-modernes-de-l-antisemitisme-declare-Emmanuel-Macron-1607104
26 Ben Sales: «Stephen Bannon: ‹I’m proud to be a Christian Zionist›», Jewish Telegraphic Agency, 13 november 2017.
27 www.reuters.com/world/us/i-am-zionist-how-joe-bidens-lifelong-bond-with-israel-shapes-war-policy-2023-10-21/
28 youtu.be/Mzxmt0nJKjY
29 www.voanews.com/a/icc-prosecutor-says-israel-must-respect-international-law/7382649.html
30 www.haaretz.com/opinion/2018-02-22/ty-article-opinion/.premium/trump-is-complicit-in-israels-downfall-into-a-rogue-state/0000017f-f3fa-d223-a97f-fffffb230000
31 www.politico.eu/article/israel-acting-against-international-law-says-eu-diplomat-josep-borrell/
32 www.gulf-can.com/byn-hml-qtaaw-shrk-lbd-swysr/
33 www.swissinfo.ch/eng/business/canton-zurich-provides-emergency-funds-for-reconstruction-in-israel/48927466
34 www.timesofisrael.com/liveblog_entry/far-right-minister-nuking-gaza-is-an-option-population-should-go-to-ireland-or-deserts/
35 harvardharrispoll.com/wp-content/uploads/2023/12/HHP_Dec23_KeyResults.pdf
36 «134. Statement to the Knesset by Prime Minister Begin on the terrorist raid and the Knesset resolution, 13 March 1978», mfa.gov.il.
37 Greg Myre: «Israelis in a Shiite Land: Hard Lessons From Lebanon». The New York Times, 27 april 2003
38 Ronen Bergman: The Secret War with Iran. Oneworld, Oxford, 2008 (p. 58)
39 www.savethechildren.net/news/complete-communication-blackout-four-days-and-counting-makes-aid-distribution-gaza-near
40 euromedmonitor.org/en/article/6020/Over-10,000-infants-and-children-killed-in-Israel%E2%80%99s-Gaza-genocide,-hundreds-of-whom-are-trapped-beneath-debris
41 apnews.com/article/israel-hostages-gaza-hamas-war-52fa9628e6284cdad6d7f7db6cc30742
42 www.972mag.com/israel-bombing-endangered-hostages-gaza/
43 www.theguardian.com/world/2023/dec/18/women-mother-daughter-gaza-church-israel-cardinal-vincent-nichols

veröffentlicht 22.Dezember 2023

 

Palästina/Israel: «Zwei hochtraumatisierte Bevölkerungen stehen einander gegenüber»

Interview mit Anjuska und Jochi Weil*

Anjuska und Jochi Weil (Bild zvg)
Anjuska und Jochi Weil (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Weltweit hört man von jüdischer Seite «Not in our name!» Was ist damit gemeint?

Jochi Weil Die israelische Regierung beansprucht im Namen von allen Jüdinnen und Juden zu sprechen. Das ist ihre Grundhaltung abgeleitet von «Am Israel», das heisst «das Volk Israel». «Not in our name!» heisst: Wir sind zwar Juden, genau wie die anderen auch, aber was die israelische Regierung da verkündet und macht, das ist nicht in unserem Namen. So sehe ich das vereinfacht. Hast Du eine Ergänzung?

Anjuska Weil In den USA ist diese Bewegung schon recht stark. Noch eine Ergänzung, ich bin nicht Jüdin. Ich habe einen jüdischen Vater. Im Judentum geht die Religionszugehörigkeit von der Mutter aus.

Auf welchen ethischen Grundlagen beurteilen Sie die Lage im Nahen Osten?

Jochi Weil Für mich gibt es zwei ethische Grundlagen. Einerseits wichtige Stellen in der Thora wie «Suche den Frieden, jage ihm nach», Psalm 34 – vom Christentum später übernommen, aber ganz klar jüdischen Ursprungs – und natürlich dann in der Thora «Gerechtigkeit, und nur Gerechtigkeit sollst Du verfolgen». Andrerseits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Das Individuum, der einzelne Mensch ist für mich das Zentrum schlechthin. Was ich jetzt erlebe, diese vielen Tötungen, bis jetzt schon über 19 000 Menschen, und Verletzte an Leib und Seele sowie dann die vielen Zerstörungen, das tangiert das, was mir wichtig ist. Ich sehe natürlich auch, dass wir Menschen widersprüchlich sind mit all unseren Idealen.

Anjuska Weil Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung – ethische Grundlagen – sind eigentlich seit der Staatsgründung von Israel ein ganz schwieriges Problem. Eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina (Balfour-Deklaration 1917) heisst nicht per se, dass man alle anderen ausschliesst, sondern dass es eine Heimstätte für jüdische Menschen ist. Aber dann hat die jüdische Seite die anderen immer mehr verdrängt. Gleichberechtigung hat bei der Staatsgründung Israels nicht mehr existiert oder gar nicht existiert. 

Die Balfour-Erklärung spricht auch von der «Massgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht jüdischen Gemeinschaften in Palästina» in Frage stellen könnte.

Jochi Weil In der Unabhängigkeitserklärung von 1948 heisst es, dass man mit der örtlichen Bevölkerung zusammenleben will.¹ Aber erst mit der Zeit erhielt diese das Wahlrecht. So sind die Widersprüche ein Beispiel dafür.

Der österreichisch-israelische Religionsphilosoph Martin Buber äusserte einmal, Juden seien als Gäste nach Palästina gekommen und sollten sich dort auch wie Gäste verhalten.

Anjuska Weil Ja, Israel war bei der Staatsgründung ein Fremdkörper in der Levante und ist es leider geblieben, weil man sich nicht wie Gäste verhalten hat, im Gegenteil. Man kam mit einem europäischen, kolonialistischen Selbstverständnis, das die anderen – nicht explizit aber implizit – als minderwertig betrachtete. Hätte man die Gedanken von Martin Buber berücksichtigt, wäre die Geschichte anders verlaufen. 

Diese ethische Grundlage von Martin Buber …

Jochi Weil Sie hat sich nicht durchgesetzt. Buber, ein Kulturzionist, gehörte zu dieser Gruppe, die einen binationalen zionistischen Staat wollte, in dem Juden und Araber gleichwertig und gleichberechtigt miteinander leben. Der Begriff «Palästinenser» ist relativ neu. Er ist später entstanden im Zusammenhang mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in den 1960er Jahren. 

Dieser binationale Staat sollte auch sehr kulturell ausgerichtet sein. Bis zur Staatsgründung war auch der zionistische Hashomer Hatzair, die jüdische, zionistische, sozialistische Jugendbewegung, die ja auch international vertreten ist, einst stark von Martin Buber geprägt. Nach der Staatsgründung hat sich der Hashomer Hatzair nicht mehr für einen binationalen Staat geäussert. 

Anjuska Weil Es gab ja auch diese Stimmen, die sagten, «nicht vorpreschen mit der Staatsgründung», warten, bis die arabische Seite auch so weit ist. 

Jochi Weil Ja, das ist die berühmte Auseinandersetzung zwischen Ben Gurion und Nahum Goldmann, Gründer und Präsident des World Jewish Congress und Präsident der World Zionist Organisation. Beide waren Zionisten, aber sie haben sich unterschieden. Ben Gurion hat gesagt: «Nein, jetzt proklamieren wir diesen Staat.» Und damit war Goldmann nicht einverstanden. 

1982 haben Sie das Gedicht «Friede» geschrieben, in dem Sie von einer Zweistaatenlösung sprechen. 

Jochi Weil Das war vor der Konferenz in Algier von 1988, als Arafat mit «C’est caduc» (das ist hinfällig), Artikel 15 und 22 in der palästinensischen Nationalcharta ausser Kraft setzte, so unter anderem den Wortlaut «Beseitigung der zionistischen und imperialistischen Präsenz» in Palästina. 

Anjuska Weil Damals war eine Zweistaatenlösung möglich. Es gab die Siedler noch nicht so wie jetzt, noch nicht diese Festungsstädte. 

Jochi Weil Ja, vor allem noch nicht so viele Siedler. Und dann, wohlverstanden noch unter der sozialdemokratischen Regierung. Der Likud kam erst später. 

 

Ausgehend von der aktuellen Situation im Nahen Osten: Was bräuchte es für einen wirklichen Frieden? 

Anjuska Weil Nicht diese Politiker, die jetzt an der Macht sind. Das kann man ganz klar festhalten. Wie auch immer es jetzt weitergeht mit dem schrecklichen Krieg, in jedem Fall braucht es Menschen – jüdisch-israelische, aber auch jüdische in der Diaspora und palästinensische dort und in der Disapora – , die etwas Konstruktives miteinander machen können. Eine ganz wichtige Grundlage für die Zukunft ist, dass man einander vertraut und sich auf Augenhöhe begegnet. 

Jochi Weil Ja, das kann ich ohne Vorbehalt unterschreiben. Für einen wirklichen Frieden braucht es – die Schweiz müsste dabei mithelfen – eine internationale Konferenz, bei der die Frage Palästina/Israel wirklich aufs Tapet kommt, und zwar ernsthaft. Es hat schon viele Konferenzen gegeben mit bla, bla, bla. Es ist sehr wichtig, dass das auch national auf den Tisch kommt und in anderen Ländern auch. In dem Sinne folge ich meinem Freund, Alon Liel. Er war einst als israelischer Botschafter in Südafrika ein Gesprächspartner von Nelson Mandela. Vor einigen Jahren ist er in Europa zu verschiedenen Parlamenten gereist und hat sie aufgefordert, den Staat Palästina anzuerkennen. 

Anjuska Weil Noch etwas wäre wichtig. Immer wieder wird gesagt, auf palästinensischer Seite gäbe es keine Gesprächspartner. Es gibt aber jemanden, der den Konsens von allen palästinensischen Fraktionen hätte. Es ist Marwan Barghouti, der seit 2004 im Gefängnis ist. Es geht nicht darum, einfache Parallelen zu ziehen zu Südafrika. Dort hat es auch jemanden gegeben, der im Gefängnis war, Nelson Mandela. Der südafrikanische Staatspräsident Frederik Willem de Klerk hatte die Weisheit, diesen aus dem Gefängnis zu entlassen und ihn als Gesprächspartner zu akzeptieren. Wenn es möglich wäre, Marwan Barghouti als Gesprächspartner aus dem Gefängnis zu holen, wäre das ein ganz grosser und wichtiger Schritt. 

Jochi Weil Ja, das vertrete ich auch. Israel müsste Marwan Barghouti  befreien. Er hat einen ähnlichen Weg gemacht wie Nelson Mandela. Irgendwann kam er zu der Erkenntnis «Nein, Gewalt ist es nicht. Diesen Weg gehen wir friedlich». Israel müsste  bereit sein, ihn frei zu lassen, und das sehe ich im Augenblick nicht. Aber auch Mustafa Barghouti, Präsident der Palestinian Medical Relief Society (PMRS), wäre ein palästinensischer Gesprächspartner für Friedensverhandlungen. Er ist eine wichtige Persönlichkeit, nur hat er keine Hausmacht. 

Anjuska Weil Die Frage ist, was man machen kann. Eine internationale Kampagne zur Freilassung von Marwan Barghouti könnte etwas bringen und würde ihn auch bekannter machen. 

Jochi Weil Das finde ich gut, sehr gut. Er gehört zur Fatah.

Was sind Ihre weiteren Überlegungen? 

Jochi Weil Ich würde der Hamas empfehlen: «Ergebt Euch, sonst gibt es eine unglaubliche Katastrophe. Ihr habt militärisch keine Chance – wirklich keine.» 

Ich kenne meine Leute, ich bin ja auch einer von ihnen, aber ich gehe mit dem anders um. Diese Härte, die sie haben und mit der sie im Gazastreifen vorgehen, das ist etwas, was sie durchziehen werden. Man hört deutliche Kritik von Uno-Generalsekretär Guterres, von der WHO, von Uno-Resolutionen und so fort. Ich gehe auch vom Individuum aus. Diese vielen Opfer, Tote und Verletzte, wir haben alle nur ein Leben auf dieser Erde. Und da muss ich sagen, das darf nicht sein. Das darf nicht sein! Und darum sage ich ganz bewusst: «Ergebt Euch». Das sage ich um der Menschen willen. Das hat kaum mit Gerechtigkeit zu tun, aber mit dem Leben von jedem einzelnen Palästinenser und jeder Palästinenserin. Das könnte zu einer gewissen Ruhe führen. Dann könnte man dann auch eine Konferenz realisieren. Das ist meine feste Überzeugung. 

Anjuska Weil Wir sind da unterschiedlicher Meinung. Ich respektiere, was Du sagst. Ich weiss, dass Du das nicht im billigen Sinne meinst, überhaupt nicht. Aber ich denke, es geht nicht. Was ihnen noch bleibt, ist die eigene Würde zu behalten, in dem Sinne, dass sie sich nicht ergeben. Im Laufe der Geschichte sind viele untergegangen. Aber was geblieben ist, ist, dass sie sich nicht ergeben sondern tapfer gekämpft haben. In Europa die Pariser Kommune (1871), die Spanische Republik (1931 bis 1939), in den USA der Aufstand der Indigenen von Wounded Knee oder die Sklavenaufstände seit Spartakus. Der Mythos jener, die sich nicht ergeben haben, ist immer wieder die Basis für andere, weiterzukämpfen. Natürlich gibt es auch Leute in der Bevölkerung, die sich lieber ergeben würden als weiter zu kämpfen, das muss man auch respektieren. Hier haben wir eine unterschiedliche Position. Die Latinos sagen dazu «Patria o muerte». Das ist eine Haltung bei vielen, vor allem auch bei jüngeren palästinensischen Menschen. Ich weiss nicht, wie respektiert die Palästinenser sein werden bei den eigenen Leuten, bei den internationalen Playern und bei den Israeli, wenn sie sich ergeben haben. 

Jochi Weil Ich muss vielleicht präzisieren: «Ergebt Euch im bewaffneten Kampf. Ihr habt keine Chance.» Und das mit der Würde möchte ich jetzt einfach einmal etwas in Frage stellen. Wenn ich jetzt sehe, wie die Hamaskämpfer am 7. Oktober gewütet haben, dann muss ich sagen, da ist nichts von Würde. Ich rede auch davon, wie die Hamas mit ihrer Zivilbevölkerung umgeht.

Anjuska Weil Ja, da bin ich mit Dir einverstanden. Aber es gibt nicht nur die Hamas. Es sind auch die palästinensischen Menschen in der Westbank, beispielsweise in Jenin und in Chalil (Nablus). Das sind nicht einfach «Hamas». Auch sie kämpfen für ihre Würde. Es ist die «ongoing Nakba» seit 75 Jahren. Es hat immer wieder Widerstand gegeben. Ich erinnere mich an eine Fahrt mit unserem palästinensischen Freund Saad in der Westbank. Als wir an hohen Felsen vorbeikamen, sagte er: «Schaut, von diesen Felsen haben sie unsere Kämpfer hinuntergestossen.» Es war klar, das überlebt man nicht. Ich habe dann gefragt: «War das in der Zeit der englischen Mandatsmacht?» Saad antwortete: «Jawohl, in dieser Zeit, aber ein Mandat von uns hatten die nie!» Die Art und Weise und die Würde, mit der er das gesagt hat, beeindruckte mich zutiefst. 

Bräuchte es nicht eine Klage gegen Israel und die Hamas vor dem Internationalen Strafgerichtshof?

Jochi Weil Das läuft bereits. Karim Ahmad Khan, Chefankläger des ICC, war bereits in Israel. Er wird auf beiden Seiten untersuchen. Dann gibt es natürlich die pfannenfertigen Voruntersuchungen vor allem zu den früheren Gazakriegen von 2008/2009 und 2014 unter Fati Bensouda. Die kommen dann auch noch dazu. Also das läuft. 

Es gibt noch etwas, was mir sehr wichtig ist. Anjuska, kannst Du das erzählen? 

Anjuska Weil Ich bin so aufgewachsen, dass ich gegenüber palästinensischen Menschen nie Angst entwickelt habe. Wir lebten im Wadi Jamal, etwas südlich von Haifa. Unsere palästinensischen Nachbarn, bei denen ich ein- und ausgegangen bin als kleines Mädchen, sind die ersten Leute, an die ich mich erinnern kann, die freundlich zu mir waren – ausser meiner engsten Kleinfamilie. Die Nachbarn waren sehr gut zu mir. Etwas ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Etwas weiter weg wohnte eine Familie, bei der die Frau aus dem Konzentrationslager gekommen ist. Sie hatte immer wieder, so wie wir das erlebt haben, völlig unvermittelt Schreianfälle, so auch, als ihr Sohn und ich miteinander gespielt haben. Das war so grässlich, dass es einem die Knochen zersägte. Wir Kinder haben augenblicklich alles fallen gelassen und sind weggerannt. Weil unsere palästinensischen Nachbarn am nächsten waren, haben wir uns bei ihnen in Sicherheit gebracht. Diese gute Erfahrung, dass wir uns in Sicherheit bringen konnten bei palästinensischen Nachbarn, das ist mir geblieben. Das Arabische gehört auch zum Soundtrack meiner Kindheit, obwohl ich kein Arabisch verstehe. 

Jüdische und palästinensische Leute haben jedoch – beide aus ihrer Erfahrung heraus und natürlich auch auf Grund der Propaganda – in der Regel Angst voreinander. Wie Jochi immer sagt, es sind zwei hochtraumatisierte Bevölkerungen, die einander gegenüberstehen. Die jüdisch-israelische Seite hat Angst vor Attentaten von Palästinensern. Die palästinensische Seite – im Gazastreifen sowieso – hat Angst vor Krieg und Bombardierungen. Die Kinder, die dort aufwachsen, kennen gar nichts anderes. Im Westjordanland kennen sie Israelis praktisch nur als Siedler und Soldaten und nicht als sich normal benehmende Zivilpersonen. Ich erinnere mich an einen Besuch bei einer palästinensischen Freundin im Gazastreifen. Während die Erwachsenen miteinander geredet haben, hat ihr ältester Sohn, damals etwa acht Jahre alt, gezeichnet. Er zeichnete Panzer mit ganz bösen Gesichtern. Vor den Panzern hatte es so kleine Strichmännlein, tote Kinder. Immer wieder hat er dasselbe gezeichnet, immer wieder ein neues Blatt und immer wieder das. Das war nach dem Gazakrieg von 2008/2009. Jetzt ist er ein junger Mann, er muss 23 oder 24 Jahre alt sein. 

Jochi Weil Ja, das wollte ich auch ergänzen. Diese tiefen Verwundungen, die da sind und aufeinanderstossen, die sind ein hochexplosives Gemisch, eingerahmt von den Ängsten, von denen du erzählt hast. Das ist ein Kernpunkt, je aus diesen Geschichten, der palästinensischen und der jüdischen. Es ist kein Konflikt. Es ist eine absolute Tragödie. 

Anjuska Weil Ein Merkmal der Traumatisierung kann auch sein, dass man für andere keine Empathie mehr entwickelt. Hin und wieder sieht man das bei Flüchtlingsfrauen. Obwohl ihr Kind bitterlichst weint, reagieren sie nicht. Diese Unfähigkeit zur Empathie kommt dann noch zu allem anderen dazu. 

Jochi Weil Ja, das ist eine klassische Haltung. Gestern Abend ist das auch zum Ausdruck gekommen. Es ist Chanukkazeit. Gestern hat man das vierte Licht angezündet. Es war sehr friedlich, und es wurde der israelischen Opfer und Geiseln, die umgekommen sind, gedacht. Aber kein Wort, kein einziges Wörtchen zu den Opfern im Gazastreifen und das, das unterscheidet mich. 

Was für ein Friedensmodell wäre für die politische Zukunft von Israel und dem besetzten Palästinensischen Gebiet sinnvoll?

Jochi Weil Mein Fernziel ist jetzt, weil ich ein überzeugter Schweizer bin, das Schweizer Modell mit den Kantonen und der Gewaltenteilung. Ich kann mir einen Kanton rund um Hebron oder rund um Jenin oder dann rund um Nazareth oder in Tel Aviv und so weiter vorstellen. Ich meine aber auf keinen Fall ein «Copy-paste». Wir – die Schweiz – sind ja das «gelobte Land», das muss man einfach sehen. Am prominentesten vertritt das Micheline Calmy-Rey. Sie kennt die Schweiz, sie war ja Bundesrätin. Sie war auch Mitbegründerin oder Gründerin der Genfer Initiative im Jahr 2003. Das ist meine Vision. Es muss eine demokratische Lösung geben für alle. Wenn man zum Beispiel einen Kanton Nazareth hat, sind jüdische Menschen dort in der Minderheit. In Tel Aviv gibt es mehr Jüdinnen und Juden als Araber, die israelischen Palästinenser müssen dort genauso geschützt sein. In jedem Kanton müssten dann die Minderheiten gleichberechtigt sein, wie zum Beispiel bei uns die romanische Bevölkerung, das ist für mich sehr zentral. Unser Schweizer Modell gefällt mir trotz all den vielen Problemen, die wir im Land haben. Aber ich bin so dankbar, dass ich hier leben darf. Das möchte ich Israel-Palästina auch gönnen. Aber das ist das Fernziel, bis dann sind meine Knochen schon längstens verstaubt. 

Herr und Frau Weil, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

* Anjuska Weil (1946) verbrachte ihre ersten Lebensjahre in Jugoslawien und Israel. Sie war Kindergärtnerin und Hortnerin und gründete mit ihrem Mann die  Sektion Ostschweiz von Terre des hommes. Zusammen mit einem Knaben aus Tunesien und einem Mädchen aus Korea bilden sie eine Familie. Sie engagiert sich gegen Apartheid und Rassismus und für Frieden und Solidarität mit den Völkern des Südens, so auch gegen den US-Krieg in Vietnam. Sie arbeitete mit an Projekten von medico international schweiz in Vietnam. Seit 1994 ist sie Präsidentin der Vereinigung Schweiz-Vietnam. 2006 wurde sie von Vietnam mit der Freundschaftsmedaille ausgezeichnet, 2016 für 25 Jahre Engagement für die Leprakranken sowie für 50 Jahre Vietnam-Solidarität. Von 2001 bis zu ihrer Pensionierung 2013 war sie Geschäftsführerin der Kampagne Olivenöl aus Palästina. Für die FraP! (Frauen Macht Politik!) sass sie 1991 bis 99 im Zürcher Kantonsrat. 

 

* Jochi Weil (1942) lebt mit seiner Frau Anjuska in Zürich. Er war Lehrer an der Volksschule und an der Berufsschule und engagierte sich für Reformen im Strafvollzug Er amtete als Schlichter in Mietsachen, als Arbeitsrichter und als Beisitzer an Arbeitsgerichten. Er war engagiert bei medico international schweiz, vormals Centrale Sanitaire Suisse CSS Zürich, und Mitbegründer der «Kampagne Olivenöl aus Palästina». Er ist im Vorstand der Religiös-Sozialistischen Vereinigung der Deutschschweiz (Resos) und arbeitet mit im Komitee Brückenschlag Zürich-Amed/Diyarbakir in der Solidarität mit Kurden und Kurdinnen. Jochi Weil ist Mitglied der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich ICZ.

 

¹ www.hagalil.com/israel/independence/azmauth.htm

 

Friede

 

Wir Juden

grüssen einander

mit Schalom

 

Ein schöner Gruss –

Friede 

heisst dieses Wort

 

Friede, Schalom

ist aktiver Prozess

des Widerstands

unter Wahrung

und Findung

eigener Identität

 

Friede erfordert

Kompromiss

Echten -

Verzicht

Teilverzicht

in Anerkennung 

von Tatsachen

 

Der Staat Israel

ist eine solche

Da ist Trauer darüber, 

dass es in absehbarer Zeit

keinen binationalen Staat 

von unten her gibt

 

Kompromiss

heisst jedoch auch:

Die Palästinenser 

haben 

unveräusserliches Recht

auf ihren eigenen Staat

aufgrund 

der eigenen Geschichte

und des Selbstbestimmungsrechts

der Völker

 

Utopia - light years away

ist ein Staat

in welchem

Juden und Palästinenser 

friedlich

miteinander leben

 

Der Hass

und die Wunden 

sind so tief

dass es heute

bereits ein Höchstmass

an Hoffnung ist

auf ein einigermassen

friedliches Nebeneinander

von Juden und Palästinensern

hinzuarbeiten

 

Konkret heisst das:

Schaffung eines

palästinensischen Staates

in der Westbank

und im Gazastreifen

unter Anerkennung 

des Existenzrechtes 

des Staates Israel

in Grenzen vor

dem Junikrieg 1967

 

Jochi Weil

 

In: seegfrörni, halbjahresheft für kultur & politik, Nr. 15, frühjahr 1982 zum Thema «light years away»

 

veröffentlicht 22.Dezember 2023

Vom pädagogischen Wert der Zuversicht 

von Dr. phil. Carl Bossard 

Die Welt als gigantischer Problemberg! Diesen Eindruck erhält, wer momentane Publikationen und schulische Lehrpläne liest. Gerade darum braucht es Zuversicht. 

Wer mit Kindern unterwegs ist, wer Jugendliche auf ihrem Lern- und Lebensweg begleitet, der muss ein Geschwisterpaar an seiner Hand führen: die Zuversicht auf der einen und den Optimismus auf der anderen Seite. Nicht den blinden Optimismus und nicht die naive, illusionäre Zuversicht mit dem schnell zitierten positiven Denken. Auch nicht der kitschige Blick durch die rosa-rote Brille. Nein, es ist das Aufklärungsvertrauen, die Zuversicht als menschliche Grundhaltung – für junge Menschen eine Art mentale Lebensversicherung und damit grundlegender Treibstoff des Lebens. Seelische Ressourcen leben von dieser Antriebsenergie der Zuversicht.

«Resignatio» ist keine schöne Gegend

Wer die aktuelle Bücherliste konsultiert und die Titel studiert, stösst auf schwere Kost mit bedrückenden Befunden: «Der Zerfall der Demokratie», «Wie Demokratien sterben», «Die Menschheit schafft sich ab», «Leere Herzen». Die Liste ist lang und der Tenor oft eher düster, der gesellschaftliche Abgesang hörbar und die Resignation spürbar. Da und dort ist es gar ein Spiel mit apokalyptischen Ängsten, mindestens mit pessimistischen Vokabeln. Doch «Resignatio», so der scharfe politische Denker und kauzig-kluge Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller, sei «keine schöne Gegend».¹ Das gilt auch für die Schule. Sie darf nicht einerseits eine positive Anthropologie pflegen und anderseits doch ins pessimistische Horn stossen. «Resignatio» bedeutet für die Kinder Gift. Es wäre eine Klimakrise der andern Art. Die Schule muss gegenhalten und zur Zuversicht erziehen.

Der Lehrplan 21 – ein Spiegelbild der Zeit? Das fragt sich, wer die 470 Seiten durchgeht und die 363 Kompetenzen mit ihren 2300 Kompetenzstufen studiert. Da wird das Rätselwesen Mensch tendenziell auf den Kompetenzbegriff zurückgestuft, und die Welt erscheint im Wesentlichen als ein gigantischer, monotoner Problemberg, an dem primär eines zu tun ist: Probleme lösen und kontrollierbare Kompetenzen erwerben. Da werden hochkomplexe Weltprobleme formuliert, verbunden mit einer Menge irgendwo abrufbarer Antworten.² Kompetenzorientiert und selbstgesteuert sollen sie bearbeitet werden. Jeder Schüler wird so sein eigener Lernmanager und Lernen damit der Selbsterfahrung überlassen. Diese Komplexität überfordert viele Kinder, vor allem lernschwächere und mittelstarke Schüler. Sie erleben zu wenig, wie Lernen gelingen und Freude bereiten kann und wie dabei Sinn entsteht. Genau das aber brauchen junge Menschen; das stärkt sie und vermittelt Zuversicht.³ Nichts stimuliert so sehr wie (Lern-)Erfolg.

Natürlich, Probleme knacken können, das gehört zum menschlichen Dasein. Das ist zwingend. Doch muss man deswegen die ganze schulische Bildung aufs Können reduzieren und sie instrumental handhaben? Das aber geschieht. «Alle Ziele im Lehrplan 21 werden mit dem Verb ‹können› formuliert», verkündete vor kurzem die Zuger Bildungsdirektion der Öffentlichkeit.⁴ Das tönt dann beispielsweise so: «Die Schülerinnen und Schüler können ihren Körper sensomotorisch differenziert wahrnehmen, einsetzen und musikbezogen reagieren.» Und weiter: «[Sie] können sich zu Musik im Raum und in der Gruppe orientieren.»

Es gibt eine Bildung jenseits des überprüfbaren Könnens

Wenn alles zum Problem wird, die Musik und die Poesie, auch die Kommunikation und das Ästhetische – dann vergisst die Schule, dass uns die Welt noch zu ganz anderem einlädt, nämlich zum Staunen und Unbeschwert-Sein, zur Empfänglichkeit fürs Schöne und Geheimnisvolle, zur Leidenschaft, zur Hingabe an eine Aufgabe, zur Zuversicht. Auch zum eigensinnigen Verhalten, zum Querdenken und Gegenhalten. Kompetenz ist eben nicht nur das, was man kann und weiss. Beides kann man erwerben und darüber verfügen; beides kann man unter Kontrolle halten und es testen und zertifizieren. Doch darüber hinaus gibt es noch etwas Drittes: das menschliche Sein, die humane Grundhaltung. Bin ich meine Kompetenz? Bin ich neugierig und zuverlässig, einfühlsam und engagiert, achtsam gegenüber der Mit- und Umwelt, zuversichtlich?

Die Welt lieben und ihr Sorge tragen

Es gibt die Pflicht zur Zuversicht, schrieb Immanuel Kant. Gerade in prekären Zeiten. Kinder müssen dies von den Erwachsenen vorgelebt erhalten. Auch in der Schule. Unterricht, so sagt die Wirksamkeitsforschung, ist eine Begegnung von Mensch zu Mensch, ein dialogisches Geschehen. Das wissen alle sokratischen Pädagogen. Entscheidend sind die Kompetenz und Haltung der Lehrperson – ihr Vertrauen und Zutrauen, ihr Vorbild und ihre Erwartungshaltung, ihre Zuversicht und ihre Leidenschaft für die Welt.⁵ Daraus entsteht die Leidenschaft für die Päda­gogik und den Unterricht.

Nicht umsonst sagte die Politphilosophin Hannah Arendt: «In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen.»⁶ Die Welt lieben, um ihr mitverantwortlich Sorge zu tragen. Vielleicht trifft der französische Dichter Romain Rolland mit seinem Satz aus dem Michelangelo-Roman das Gemeinte: «Es gibt keinen anderen Heroismus, als die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie dennoch zu lieben.» Wie trivial das ist! Und doch so schwer.

Kinder brauchen menschliche Brückenköpfe

Gerade lernschwächere Schülerinnen und Schüler brauchen Lehrpersonen, die sie ermutigen und ihnen so eine Brücke zum Gelingen bauen – und damit zur Zuversicht und zur Einsicht: «Ich kann es!» Oft sind diese Brückenköpfe eben nicht die Köpfe, sondern die Herzen. Was in der Schule zwischen Lehrerin und Schüler, zwischen Schülerin und Lehrer läuft, passiert nicht zuerst von Hirn zu Hirn, sondern von Auge zu Auge, von Sinn zu Sinn. Also körperlich und seelisch. Auch die Ermutigung und das Vorleben der Zuversicht. Die pädagogische Pflicht zur Zuversicht steht heute ganz weit vorne.

Die Welt braucht Menschen, die sich hinauswagen in die Welt und sie mittragen, Menschen, die wie Faust zuversichtlich sagen: «Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen.» 

¹ Karl Pestalozzi (2018): Gottfried Keller – Kursorische Lektüren und Interpretationen. Basel: Schwabe Verlag, S. 237.
² Vgl. Jürgen Kaube: Illusionen der Pädagogik. In: FAZaS, 19.05.2019, S. 33.
³ Vgl. Ulrich Schnabel (2018): Zuversicht – Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je. München: Blessing Verlag.
⁴ Endspurt für den Lehrplan 21 in den Zuger Gemeinden. In: Zuger Zeitung, 22.04.2019, S. 21.
⁵ John Hattie und Klaus Zierer (2018): VISIBLE LEARNING. Auf den Punkt gebracht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 146f.
⁶ Hannah Arendt (1994): Die Krise der Erziehung. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Übungen im politischen Denken I. München: Piper, S. 276.

veröffentlicht 22.Dezember 2023

«Ich sehe in dir viel Potenzial  – was brauchst du, um etwas daraus zu machen?»

von Susanne Lienhard, Gymnasiallehrerin

Kürzlich hat mich eine Klasse, die vor 15 Jahren die Matura gemacht hatte, zu einer Klassenzusammenkunft eingeladen. Ich war sehr gespannt, die ehemaligen Schülerinnen und Schüler wieder zu sehen, zu erfahren, wie es ihnen heute geht, was sie im Leben machen und natürlich auch was sie rückblickend über die Zeit am Gymnasium denken. 

Die Klasse war für Lehrerinnen und Lehrer und die Schulleitung eine Herausforderung, zusammengewürfelt aus ganz unterschiedlichen jungen Menschen, alle mit ihrer ganz persönlichen Geschichte, ihrem eigenen «Rucksack», nicht wenige in der jugendlichen Sturm und Drang-Phase, wo es gilt, Grenzen auszutesten. Eine Klasse, die nicht einfach so zu einer guten Gemeinschaft zusammenwuchs. 

Gerade deshalb war es eine helle Freude, viele an diesem Abend wiederzusehen und mitzuerleben, was aus ihnen  geworden war: junge ernsthafte Menschen, die mitten im Leben stehen und ihren Platz auf unterschiedliche Art und Weise gesucht und gefunden haben. Die einen auf direktem Weg, die anderen auf  verschlungeneren Pfaden:  eine Pilotin, ein Journalist und Redaktor, ein Arzt, eine Lehrerin, ein Holz- und Metallbautechniker, eine junge Mutter und Sozialpädagogin, ein IT-Fachmann, eine selbstständige Unternehmerin, um nur einige zu nennen. Wir verbrachten einen sehr anregenden und spannenden Abend mit Gesprächen über Gott und die Welt und natürlich auch über die gemeinsam verbrachte Zeit am Gymnasium und über Lehrerinnen und Lehrer. 

Was macht den guten Lehrer aus? 

Viele haben zum Ausdruck gebracht, dass sie gerne an diejenigen Lehrerinnen und Lehrer zurückdenken, die ihr Fach mit Begeisterung unterrichteten, etwas verlangten und dabei aber die einzelnen Schülerinnen und Schüler nicht aus dem Auge verloren. So meinte ein ehemaliger Schüler: «Ich war in dieser Zeit so sehr mit mir selber beschäftigt, dass ich wenig Erinnerungen an den Unterricht habe. Ich werde es aber meinem Deutschlehrer nie vergessen, dass er mich immer wieder mal zur Seite genommen und zu mir gesagt hat: ‹Ich sehe in dir viel Potenzial, was brauchst du, um etwas daraus zu machen?› Er hat an mich geglaubt, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.» 

Begeisterung fürs Fach, Menschlichkeit und Zuversicht 

Die Worte meines ehemaligen Schülers erinnern mich an den Brief, den der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus 1957 an seinen ehemaligen Lehrer geschrieben hat: « […] Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, was Sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, dass Ihre Mühen, die Arbeit und die Grossherzigkeit, die Sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem Ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, Ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.»¹ 

Auch die deutsche Lyrikerin Ulla Hahn hat Ähnliches in einem Brief an ihren Volksschullehrer zum Ausdruck gebracht: «Dass Sie damals bei meiner Geschichte vom Pückelschen keine Miene verzogen, im Gegenteil, immer wieder nickten und mich für mein schönes Vorlesen sogar noch lobten: Das erstürmte mein Kinderherz wie Liebe auf den ersten Blick […] ich spürte, Sie würden gut zu mir sein. Gut für mich sein. Ich fühlte mich bei Ihnen geborgen. Geliebt im Sinne von Dostojewski: Einen Menschen lieben heisst, ihn zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat. Wie mich das anspornte! Zu wissen, zu lernen gefiel mir. Und, genauso wichtig: Ich wollte Ihnen gefallen. Ich lernte für zwei. […]  Und dann sprachen Sie am Ende unseres vierten gemeinsamen Jahres die magischen Worte. Alle, die auf weiterführende Schulen gehen wollten, sollten aufstehen. Ich blieb sitzen. Ihre Augen schauten in meine und durch mich hindurch. In mein Herz. […]  Steh auf! sagten Sie. Steh auf! Bis heute wohl die zwei wichtigsten Wörter in meinem Leben.»² 

Fördern und Fordern

Vor zehn Jahren hat die Westschweizer Zeitung LE TEMPS  verschiedene Persönlichkeiten gebeten, ihre beste Erinnerung an eine Lehrerin oder einen Lehrer zu erzählen.³ Wer denkt, dass Pädagogen, die viel verlangten, nicht zu den beliebtesten zählten, sieht sich getäuscht. Im Folgenden seien ein paar Auszüge aus der Reportage zitiert: 

Mathias Reynard, ehemaliger Lehrer und Staatsrat: «Daniel Imholz, er war mein Französisch- und Geschichtslehrer am Collège des Creusets in Sion. Mitreissend, sehr fordernd, ich hatte kaum je einen, der mehr gefordert hat, und er war sehr offen gegenüber der Meinung von uns Schülern. Er war Perfektionist bis aufs Komma in der Fussnote. Ich fand ihn charismatisch, humorvoll, feinfühlig, leidenschaftlich. Ich studierte Französisch, Geschichte und Philosophie. Er war es, der in mir den Wunsch, Lehrer zu werden, geweckt hat.» 

Marc Donnet-Monay, Comedian: «Jean-Claude Martin war mein Chemielehrer am Collège von Saint-Maurice. […] Eines Tages war ich den Tränen nahe, weil ich das Verhalten der Elektronen rund um den Atomkern einfach nicht verstand. […] Am Schluss der Stunde nahm er mich zur Seite und erklärte es mir persönlich nochmals, indem er eine meiner nicht allzu dummen Bemerkungen mit einem ‹Ah, das ist sehr gut überlegt!› wertschätzte. Ich habe die Reise des Elektrons nicht unbedingt besser verstanden (es war sehr kompliziert, aber ich verstand es erst später, während meines Physikstudium), aber das spielte keine Rolle, er hat es verstanden, mir Vertrauen zu geben und mich dazu gebracht, nicht aufzugeben.»

Adèle Thorens Goumaz, ehemalige Ständerätin: «Fräulein Post und Claude Aubert waren meine Französischlehrer am Collège in Nyon. […] Sie forderten sehr viel, was mich bis zum äussersten motivierte. Sie haben mich die Kunst des Aufsatzschreibens, des Erörterns gelehrt: meine Gedanken zu strukturieren, zu argumentieren, mich klar auszudrücken. […] Ich wünsche allen Kindern, dass sie in ihrem Leben solchen Persönlichkeiten begegnen.»

Lernen ist immer ein zwischenmenschlicher Prozess

Aus diesen Zeugnissen wird nur allzu deutlich, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung von ganz zentraler Bedeutung ist, und zwar nicht nur für das schulische Lernen, sondern auch für die Persönlichkeitsentwicklung und den weiteren Lebensweg. 

Die Erfahrungen aus den Corona-Jahren zeigen, dass der computergestützte Selbstlernunterricht eine absolute Notlösung war. Zu viele Schülerinnen und Schüler blieben dabei auf der Strecke, gingen trotz aller Bemühungen der Lehrerinnen und Lehrer verloren. Insbesondere Jungs im Alter von 15 bis 18 Jahren gestanden, dass sie beim verlockenden Angebot von Online-Spielen nicht die Selbstdisziplin hatten, am Computer die Mathe- oder Deutschaufgaben selbstständig zu lösen. Die stützende Hand, der aufmunternde Blick, die ermutigende Bestätigung der Lehrerin oder des Lehrers fehlten, auch wenn sich alle noch so Mühe gaben, die Kinder und Jugendlichen online zu begleiten. 

Nur im Präsenzunterricht kann die Lehrerin oder der Lehrer den fragenden Blick eines Schülers sehen, der nicht verstanden hat, aber nicht wagt, zu fragen. Nur in der persönlichen Begegnung, beim gemeinsamen Erarbeiten eines Stoffes kann sich eine menschlich tragfähige Vertrauensbeziehung zwischen der Lehrerin und den Kindern und Jugendlichen entwickeln. Die zufällig in einer Klasse zusammengewürfelten Kinder und Jugendlichen brauchen die geduldige, humorvolle und menschliche Begleitung, um auch wichtige soziale Fähigkeiten zu erwerben, wie anderen zuzuhören, sich gegenseitig zu helfen und einander im Auge zu behalten. Dann kann die Klasse zu einer tragfähigen Lerngemeinschaft werden und nicht selten entstehen daraus auch Freundschaften fürs Leben.

Die aktuellen Reformbestrebungen auf gymnasialer Stufe tendieren allerdings in eine ganz andere Richtung. Der Klassenverband soll zu Gunsten von mehr Wahlmöglichkeiten zusehends aufgelöst werden, selbstorganisiertes Lernen und fächerübergreifende Projektarbeiten nehmen mehr Raum ein, und die Präsenzpflicht für Schülerinnen und Schüler soll in den oberen Klassen gelockert werden. Die Lehrerin oder der Lehrer sollen nur mehr Lernprozesse organisieren, begleiten und bewerten. Organisation und technischer Support werden gross geschrieben, von Pädagogik ist kaum mehr die Rede. Die Begründung: Die Welt bewegt sich, deshalb muss sich auch die Schule bewegen. Die Frage ist nur, wohin! 

Zu befürchten ist, dass die so allein gelassenen Schülerinnen und Schüler in ihrer Not bei ChatGPT, YouTube, DeepL, Google und Co. schnelle Lösungen suchen, anstatt selbst nachzudenken und Lösungen zu entwickeln. Warum sich die Mühe nehmen, wenn es doch auch einfacher geht? Genau hier fehlt die helfende Hand, das ermutigende Wort, das menschliche Vorbild. 

Die Schule als Gegenentwurf zur virtuellen Welt

Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Kinder und Jugendliche schon in ihrer Freizeit sehr viel Zeit am Handy und vor dem Computer verbringen, das heisst sich in virtuellen Welten bewegen, stellt sich die Frage, ob nicht gerade die Schule Raum für analoge Begegnungen bieten sollte: gemeinsames Erarbeiten eines neuen Stoffes, gemeinsame und tiefgehende Lektüre von Texten, deren Reflexion und Diskussion, Chor- und Orchesterprojekte etc. Kurz, Raum, in dem Ruhe, Zeit und Musse ist, über Dinge nachzudenken, sich auszutauschen, Neues zu lernen und Altes in Frage zu stellen. Die Schule als Gegenentwurf zur hektischen, von Wettbewerb und Konkurrenz geprägten Welt. 

Vielleicht würde die Kinder- und Jugendpsychiatrie entlastet, wenn die Kinder und Jugendlichen in der Schule wieder mehr Halt finden könnten bei Lehrerinnen und Lehrern, die Zeit für sie haben, die für sie da sind, wenn sie Hilfe brauchen, an denen sie sich orientieren und aufrichten können, und in einer Klassengemeinschaft, wo sie echte Freunde finden können. 

¹ Abdruck in: Albert Camus: Der erste Mensch, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 182
² Auszug aus: Ulla Hahn: Steh auf! sagten Sie. In: DIE ZEIT Nr. 45/2015.
³ Florence Gaillard: Avec mon meilleur souvenir. In: LE TEMPS vom 24/08/2013.

veröffentlicht 22.Dezember 2023

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