Erklärung des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte, Volker Türk, zu Israel und zum besetzten palästinensischen Gebiet

Uno-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk (Bild wikipedia)
Uno-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk (Bild wikipedia)

Sabah al-khair*, ich danke Ihnen für Ihr Kommen.

Ich möchte Ihnen mitteilen, was ich in den letzten Tagen von Palästinensern und Israelis gesehen und gehört habe.

Ich habe gerade mit einem Kollegen von uns in Rafah telefoniert, der mit seiner im siebten Monat schwangeren Frau, seinen beiden kleinen Kindern und anderen Familienmitgliedern aus Gaza-Stadt fliehen musste, als die Gebäude um ihn herum durch israelische Bombardements zerstört wurden. Seine Kinder, neun und sieben Jahre alt, stellen ihm Fragen, auf die er keine Antwort weiss: «Warum geschieht das mit uns? Was haben wir getan?»

Eine andere palästinensische Uno-Kollegin in Gaza erzählte mir, wie sie mit ihren Kindern um 1 Uhr nachts fliehen musste, um weit weg von zu Hause Schutz zu finden, aber dass sie ihre Taschen immer in der Nähe hat, da sie vielleicht kurzfristig wieder fliehen müssen. Ihre Schwägerin wurde gestern getötet, enge Freunde am Tag zuvor. Das Wasser ist knapp, und die Angst ist allgegenwärtig. Mehrere andere Kollegen erzählten mir, dass sie im letzten Monat die Ermordung von Dutzenden ihrer Angehörigen zu beklagen hatten. Das zog sich wie ein beklagenswerter roter Faden durch die letzten Tage.

Bei einem kurzen Besuch im El Arish-Krankenhaus im ägyptischen Rafah habe ich viele Kinder gesehen, die im Gazastreifen verletzt wurden – einen dreijährigen Jungen mit zwei gebrochenen Beinen, einen fünfjährigen Jungen und ein fünfjähriges Mädchen mit schweren Verbrennungen, ein achtjähriges Mädchen mit Wirbelsäulenverletzungen und andere. Das waren die «glücklichen» Kinder, die schrecklich gelitten haben, aber noch leben und medizinisch angemessen versorgt werden.

Wie Sie wissen, sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen im vergangenen Monat rund 4400 weitere Kinder getötet worden. Viele andere sind möglicherweise unter den Trümmern der bombardierten Gebäude begraben. Mehr als 26 000 wurden verletzt – und können entweder aufgrund des zusammenbrechenden Gesundheitssystems in Gaza nicht medizinisch versorgt oder müssen ohne Betäubung operiert werden.

Ich habe auch von Menschen mit Behinderungen gehört, die ihre Betreuer und ihren Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten verloren haben. Die Menschen standen vor der unmöglichen Entscheidung, entweder ein behindertes Familienmitglied zurückzulassen und zu riskieren, unterwegs getroffen zu werden, oder bei ihm zu bleiben und zu riskieren, zu Hause getroffen zu werden.

Und ich hörte von israelischen Menschenrechtsaktivisten, die zutiefst erschüttert und empört über die Notlage der Zivilisten in Gaza sind. Sie waren auch beunruhigt darüber, was dies für Israel bedeutet. Sie sagten zu mir – ich zitiere: «Es ist uns nicht erlaubt, für den Frieden zu protestieren – wir werden aus diesem Krieg mit viel weniger Freiheit zurückkehren. Wir wissen nicht, welche Art von Gesellschaft am Ende dieses Krieges entstehen wird.» Und ich hörte von palästinensischen Menschenrechtsaktivisten, dass sie über die Doppelmoral besorgt sind. Sie betonten, dass die internationale Gemeinschaft es versäumt hat, ihrer Verpflichtung zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts nachzukommen und ihren Einfluss geltend zu machen, um das unzumutbare Leiden der Zivilbevölkerung inmitten dieses Wahnsinns zu beenden.

Die grausamen Angriffe der Hamas gegen Israel am 7. Oktober sollten jeden von uns empören. Den Opfern dieser grausamen Verbrechen muss Gerechtigkeit widerfahren und es muss ihnen geholfen werden, die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, die Geiseln müssen freigelassen werden, und der wahllose Raketenbeschuss auf Israel muss aufhören.

Es ist jedoch klar, dass dauerhafter Frieden und Sicherheit nicht  von Wut geleitet und durch Zufügen von Schmerz gegen Menschen erreicht werden können, die keine Verantwortung für die begangenen Verbrechen tragen – einschliesslich der 99 getöteten UNRWA-Mitarbeiter. Dies ist beispiellos, ungeheuerlich und herzzerreissend.

Die umfangreichen israelischen Bombardierungen des Gazastreifens, einschliesslich des Einsatzes von hochwirksamen Explosivwaffen in dicht besiedelten Gebieten, die Zehntausende von Gebäuden dem Erdboden gleichmachen, haben eindeutig verheerende Auswirkungen auf die humanitäre Lage und die Menschenrechte. Nach vier Wochen Bombardierung und Beschuss durch die israelischen Streitkräfte in Gaza sind die unterschiedslosen Auswirkungen solcher Waffen in einem dicht besiedelten Gebiet offensichtlich. Israel muss den Einsatz solcher Methoden und Mittel der Kriegsführung sofort beenden, und die Angriffe müssen untersucht werden. Wir beobachten weiterhin Angriffe und eine Reihe von Vorfällen mit einer hohen Zahl von Todesopfern im gesamten Gazastreifen, darunter Angriffe auf Wohngebiete in Jabalia, Gaza-Stadt, Al Bureij, Al Nuseirat, Al Meghazi und Khan Yunis. 

Angesichts der vorhersehbaren hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung und des grossen Ausmasses der Zerstörung von zivilen Objekten haben wir ernsthafte Bedenken, dass es sich um unverhältnismässige Angriffe handelt, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen.

Die Angriffe auf Krankenhäuser und auf die Umgebung von Krankenhäusern in Gaza-Stadt waren besonders heftig, vor allem auf die beiden grössten Krankenhäuser in der Region – das indonesische Krankenhaus in Beit Lahiya und das Al Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Inzwischen erschweren die Angriffe auf die umliegenden Gebiete den Zugang zu den Krankenhäusern – unter anderem durch die Zerstörung von Strassen.

Einige Krankenhäuser, darunter das Al-Quds-Krankenhaus und das Al-Shifa-Krankenhaus, haben zusätzlich zu den allgemeinen Evakuierungsanweisungen für alle Bewohner des nördlichen Gaza­streifens spezielle Evakuierungsanweisungen erhalten. Eine solche Evakuierung ist jedoch, wie die Weltgesundheitsorganisation gewarnt hat, ein «Todesurteil» in einem Kontext, in dem das gesamte medizinische System zusammenbricht und die Krankenhäuser im südlichen Gazastreifen keine Kapazitäten haben, um weitere Patienten aufzunehmen.

Das humanitäre Völkerrecht ist eindeutig: Es gewährt medizinischen Einheiten besonderen Schutz und verlangt, dass sie jederzeit geschützt und respektiert werden. Wenn bewaffnete palästinensische Gruppen Zivilisten und zivile Objekte nutzen, um sich vor Angriffen zu schützen, verstösst dies gegen das Kriegsrecht. Ein solches Verhalten palästinensischer bewaffneter Gruppen entbindet Israel jedoch nicht von seiner Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Zivilisten geschont werden und dass die Grundsätze der Unterscheidung, der Vorsicht bei Angriffen und der Verhältnismässigkeit eingehalten werden. Die Nichteinhaltung dieser Grundsätze stellt ebenfalls einen Verstoss gegen das Kriegsrecht dar  mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung. 

Während die Bombardierungen des Gazastreifens aus der Luft, zu Lande und zur See andauern, macht die seit über einem Monat andauernde vollständige Belagerung den Bewohnern des Gazastreifens die Beschaffung von lebensnotwendigen Gütern und das Überleben zur Qual. Alle Formen der kollektiven Bestrafung müssen ein Ende haben.

Die Forderung, die Zivilbevölkerung in eine von den israelischen Streitkräften ausgewiesene «sichere Zone» umzusiedeln, ist ebenfalls sehr bedenklich. Eine so genannte «sichere Zone» kann, wenn sie einseitig eingerichtet wird, die Risiken für die Zivilbevölkerung erhöhen und wirft die Frage auf, ob die Sicherheit in der Praxis gewährleistet werden kann. Gegenwärtig ist der Gazastreifen nirgendwo sicher, da aus allen Teilen des Streifens Bombardierungen gemeldet werden. Es muss auch absolut klar sein, dass Zivilisten nach dem Völkerrecht geschützt sind, egal wo sie sich befinden.

Es ist dringend erforderlich –und ich habe dies mehrfach gesagt, auch am Grenzübergang Rafah in Ägypten –, dass die Parteien einem Waffenstillstand auf der Grundlage entscheidender menschenrechtlicher Erfordernisse zustimmen, um Lebensmittel, Wasser und andere lebenswichtige Güter an die Menschen zu liefern, die sie dringend brauchen, und zwar dort, wo sie sie brauchen, nämlich im gesamten Gazastreifen, dass alle Geiseln freigelassen werden und dass ein Weg zu einem nachhaltigen Ausweg aus dieser albtraumhaften Situation im Gazastreifen geöffnet wird.

 Ich appelliere auch dringend an die israelischen Behörden, unverzüglich Massnahmen zu ergreifen, um den Schutz der Palästinenser im Westjordanland zu gewährleisten, die tagtäglich der Gewalt der israelischen Streitkräfte und Siedler, Misshandlungen, Verhaftungen, Vertreibungen, Einschüchterungen und Demütigungen ausgesetzt sind.

Dieses Jahr war für die Palästinenser im Westjordanland bereits das tödlichste seit Beginn der Aufzeichnungen, mit etwa 200 Toten noch vor dem 7. Oktober, und wir haben diese Warnungen bereits während des letzten Jahres ausgesprochen. Seit Anfang Oktober sind mindestens 176 weitere Palästinenser, darunter 43 Kinder und eine Frau, getötet worden – die meisten von israelischen Sicherheitskräften und mindestens acht von Siedlern. Mehr als 2000 Palästinenser wurden in gewaltsamen Übergriffen im gesamten Westjordanland festgenommen und inhaftiert, und wir haben beunruhigende Fälle von Misshandlungen der Verhafteten und ihrer Familien dokumentiert.

In diesem Jahr haben die israelischen Streitkräfte bei Strafverfolgungsmassnahmen zunehmend militärische Taktiken und Waffen eingesetzt. Allein gestern wurden mindestens 14 Palästinenser von israelischen Streitkräften im Flüchtlingslager Jenin getötet. Darüber hinaus gab es gestern im gesamten Westjordanland vier weitere Tote. Strafverfolgungsmassnahmen im besetzten Westjordanland müssen in strikter Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsnormen durchgeführt werden.

Auch die Gewalt der Siedler und die Landnahme haben im gesamten Westjordanland stark zugenommen. Seit dem 7. Oktober wurden fast 1000 Palästinenser aus mindestens 15 Beduinengemeinschaften aus ihren Häusern vertrieben. Angesichts der Zwangsbedingungen, unter denen sie leben, kann die Vertreibung dieser Gemeinschaften einer gewaltsamen Umsiedlung gleichkommen, was einen schweren Verstoss gegen die Vierte Genfer Konvention darstellt.

Ich fordere die israelischen Behörden auf, ihren Verpflichtungen als Besatzungsmacht zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung nachzukommen, den Sicherheitskräften klare und unmissverständliche Anweisungen zu erteilen, um den Schutz der palästinensischen Bevölkerung vor der Gewalt der Siedler zu gewährleisten, und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich nicht an diese Anweisungen halten. Israel hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle gewalttätigen Vorfälle unverzüglich und wirksam untersucht werden und dass die Opfer wirksame Rechtsmittel in Anspruch nehmen können. 

Weiterhin weit verbreitete Straffreiheit für solche Verstösse ist inakzeptabel, gefährlich und ein klarer Verstoss gegen die Verpflichtungen Israels gemäss den internationalen Menschenrechtsgesetzen. Und ich hoffe, dass unter diesen Umständen endlich Rechenschaft abgelegt wird.

In den letzten Monaten haben wir mehrere Vorfälle dokumentiert, bei denen Siedler sich formiert haben, um palästinensische Landwirte an der Olivenernte zu hindern – eine der Haupteinnahmequellen im Westjordanland –, indem sie sie unter anderem mit Schusswaffen angriffen und sie zwangen, ihr Land zu verlassen, die Ernte stahlen und Olivenbäume vergifteten oder zerstörten. Menschenrechtsaktivisten werden zunehmend mit Gewalt bedroht, wenn sie Verstösse dokumentieren. Das habe ich gestern direkt von ihnen erfahren.

Diese Menschenrechtsakt­ivisten  – und mein Büro – schlagen seit vielen Jahren wegen der zunehmenden Menschenrechtsverletzungen und der anhaltenden Straflosigkeit Alarm und warnen davor, dass die Situation ausser Kontrolle geraten könnte, wenn keine Schritte zur individuellen strafrechtlichen Verantwortung und zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit unternommen werden.

Anstatt Menschenrechtsaktivisten – und die Uno – zu diskreditieren und zu bestrafen, weil sie Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, müssen die Behörden die die Verantwortlichkeiten sicherstellen, was ein wesentlicher Schritt zur Deeskalation der Spannungen in dieser brisanten Zeit ist.

Wir haben im Laufe der Geschichte immer wieder gelernt, dass Extremismus nur weiteren Extremismus hervorbringt. Es müssen wirklich Schritte unternommen werden, um diesen Kreislauf aus Rache, Tod, Trauer und Wut zu durchbrechen.

Ich verurteile auch aufs Schärfste die Verwendung von entmenschlichenden Ausdrücken, insbesondere durch politische und militärische Führer in Israel und durch die Hamas. Der einzige Sieger in einem solchen Kontext ist der Extremismus, der zu immer mehr Gewalt führt. Die israelische Regierung muss alle Massnahmen ergreifen, um Vorfälle von Hassreden und Aufwiegelung gegen Palästinenser zu beenden. Einige der Äusserungen hochrangiger Beamter sind nicht nur verabscheuungswürdig, sondern können auch zu Hass und Gewalt aufstacheln – und in einigen Fällen könnten sie als Beweis für die Absicht dienen, Feindseligkeiten in einer Weise auszutragen, die gegen das Kriegsrecht verstossen.

Ich fordere die Entscheidungsträger auf, die Empfehlungen unserer zahlreichen Menschenrechtsberichte über das besetzte palästinensische Gebiet zu prüfen und umzusetzen und den Abgrund, in den der zunehmende Extremismus und die Gewalt geführt haben, zu überwinden.

Es bedarf aussagekräftiger Untersuchungen und einer Rechenschaftspflicht, um diesen Kreislauf von Gewalt und Rache gegen ganze Gemeinschaften zu beenden. Wenn die nationalen Behörden nicht willens oder in der Lage sind, solche Untersuchungen durchzuführen, und wenn es widersprüchliche Darstellungen zu besonders schwerwiegenden Vorfällen gibt, muss es unabhängige, internationale Untersuchungen geben.

Es ist klar, dass der Status quo unhaltbar ist und dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern. Die einflussreichen Mitgliedstaaten müssen sich mehr denn je dafür einsetzen, dass die Parteien ohne weitere Verzögerung einen Waffenstillstand schliessen.

Beenden Sie die Gewalt. Garantieren Sie die Sicherheit der humanitären Helfer. Gewährleistung eines sicheren Zugangs, damit die humanitäre Hilfe alle Bedürftigen erreicht. Sorgen Sie dafür, dass die Menschen genug zu essen, sauberes Wasser zu trinken, medizinische Versorgung und Unterkünfte haben. Lassen Sie die Geiseln frei. Verurteilen Sie – im Einklang mit den Menschenrechtsgesetzen – diejenigen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben.

Die Lösung für diese Situation ist die Beendigung der Besatzung und die uneingeschränkte Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser. Wie ich immer wieder gesagt habe, muss die Besatzung beendet werden, um die Gewalt zu beenden. Die Mitgliedstaaten müssen alle erforderlichen Anstrengungen unternehmen, um einen dauerhaften Frieden für alle Palästinenser und Israelis zu erreichen.

Amman, Jordanien, 10.11.2023

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2023/11/Uno-human-rights-chief-visits-rafah-border-crossing-gaza

vimeo.com/882656946?share=copy

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus mit Hilfe von deepL

veröffentlicht 16.November 2023

Eine Besatzungsmacht hat kein Recht auf Selbstverteidigung gegen die Besetzten

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Das Vorgehen Israels verstösst gegen das Kriegsrecht

Zeitgeschehen im Fokus Hat der Mossad den Überfall vom 7. Oktober nicht vorhersehen können?

Jacques Baud Zunächst einmal ist nicht der Mossad dafür zuständig. Wir verwenden den Begriff «Mossad», um die israelischen Geheimdienste zu bezeichnen. Das ist nicht richtig. Es gibt mehrere Geheimdienste in Israel, und der Mossad ist nicht an vorderster Front für die Gazafrage zuständig. Die Aufgaben des Mossad sind mit denen der CIA in den USA vergleichbar: verdeckte Operationen und Auslandsaufklärung. Geheimdienstlich gesehen fällt Gaza in den Zuständigkeitsbereich des militärischen Geheimdienstes. Dazu gehören vor allem AMAN und die Geheimdiensteinheiten, die dem Militärkommando Süd-Israels (DAROM) unterstehen sowie die der Gaza Division, einer Formation, die für die Überwachung der Lage in Gaza verantwortlich ist.

Zu diesem Dispositiv gehören auch die elektronischen Aufklärungselemente (SIGINT) des Stützpunkts Urim, der 17 km von der Grenze zu Gaza entfernt liegt. Es handelt sich um eine der grössten Stationen für elektronische Aufklärung der Welt. Sie wird von der AMAN-Einheit 8200 betrieben. Sie setzt unter anderem Spionageballons ein, um Gaza zu überwachen. Diese Ballons haben nichts mit den chinesischen Wetterballons zu tun, die die NZZ auf recht kindische Weise mit Spionageballons verwechselte.¹

Mit einem solchen Aufklärungsapparat scheint es unglaublich, dass die Israelis die Operation vom 7. Oktober nicht vorhersehen konnten.

Wahrscheinlich muss man diese Operation in ihrem Kontext betrachten. Unsere Medien berichten nie über die Spannungen, die in Palästina herrschen. Seit Anfang des Jahres gab es jedoch sehr viele und heftige Spannungen in Palästina. Das Welternährungsprogramm der Uno sowie Katar haben ihre Finanzierung für den Gazastreifen gekürzt, was zu sozialen Spannungen geführt hat. Im Westjordanland haben sich die Siedlungen auf sehr gewalttätige Weise vermehrt, und obwohl sie illegal sind, hat die internationale Gemeinschaft absolut nichts dagegen unternommen. In Jerusalem fördert der geplante Bau des dritten Tempels Salomons die Unruhen von ultraorthodoxen und ultrarechten Aktivisten auf der Moscheen-Esplanade. Ägypten und der israelische Geheimdienst wussten, dass die Situation explosiv war. 

All das reicht nicht aus, um eine Operation wie die Al-Aqsa-Flut zu antizipieren. Es kann zwar Notmassnahmen auf Führungsebene bewirken, aber es ermöglicht keine operationellen Massnahmen.  Ausserdem ist es möglich, dass bei den vielen Brennpunkten überall die Signale, die auf eine solche Operation hindeuteten, in der Gesamtheit der Informationen, die die Dienste erreichten, «untergingen».

Allerdings ist nicht auszuschliessen, dass die Warnungen absichtlich ignoriert wurden, um eine Krise entstehen zu lassen, die es Netanjahu ermöglicht, die Situation nach monatelangen Protesten der Bevölkerung gegen seine Justizreform wieder unter Kontrolle zu bringen. Dies ist eine Möglichkeit, die jedoch zum jetzigen Zeitpunkt spekulativ bleibt.

Warum gelang es Israel nicht, die Raketen der Hamas mit dem Iron Dome abzufangen?

Was im Oktober geschah, war, dass die Palästinenser mehr Raketen abfeuerten, als Israel abschiessen konnte. Technisch ausgedrückt: Sie haben das israelische System gesättigt. Es kam also zu Abfangaktionen, aber ein Grossteil der palästinensischen Raketen konnte ungehindert passieren.

Die palästinensischen Raketen haben relativ bescheidene Sprengladungen, und die Zahlen zeigen, dass ihre Letalität sehr gering ist. Tatsächlich werden sie eher eingesetzt, um den Widerstandswillen zu demonstrieren.

Kann Israel einen Selbstverteidigungskrieg gegen ein von ihm besetztes Gebiet führen?

Zunächst einmal muss daran erinnert werden, dass Israel offiziell eine Besatzungsmacht ist und seine Präsenz in den palästinensischen Gebieten gemäss der Resolution 242 (1967) des Uno-Sicherheitsrats illegal ist. Folglich ist der Widerstand gegen diese Besatzung legal. Die Resolution 45/130 (1990) der Generalversammlung gibt den Palästinensern das Recht auf Widerstand «mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschliesslich dem bewaffneten Kampf».² 

Genau aus diesem Grund erkannte Russland vor seiner Intervention in der Ukraine am 21. Februar die Unabhängigkeit der Donbas-Republiken an. Dies ermöglichte es diesen beiden Republiken, Russland um Hilfe zu bitten, um einen Verteidigungskrieg gemäss Artikel 51 der Charta gegen die beginnende ukrainische Offensive zu führen. Ich hatte diesen Mechanismus in meinen Büchern über den Ukraine-Konflikt und in Ihrer Zeitung beschrieben. 

Würde – ironischerweise – Israel die Existenz eines palästinensischen Staates anerkennen, könnte es einen Verteidigungskrieg gegen ihn führen. Israels international anerkannter Status ist jedoch der einer Besatzungsmacht, und als solche ist es seine Verantwortung, die palästinensische Bevölkerung zu schützen, nicht sie zu zerstören.

Ist das Timing des Überfalls auf eine gewollte Störung der vorsichtigen Annäherung zwischen Israel und den arabischen Staaten zurückzuführen?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist vielmehr die Konsequenz einer Situation, die Israel auf seinem eigenen Territorium nicht mehr unter Kontrolle hat.

Man spricht von 10 000 toten Zivilisten in Gaza, davon ungefähr die Hälfte Kinder. Ist die Zahl realistisch?

Die Zahlen stammen vom Gesundheitsministerium in Gaza. Sie sind daher nicht mehr oder weniger zuverlässig als die von Israel angegebenen Zahlen. Im Gegensatz zu Israel, das noch nicht alle Namen seiner Opfer deklassifiziert hat, haben die palästinensischen Opfer jedoch einen Namen und eine feststehende Identität. Dies lässt vermuten, dass die palästinensischen Zahlen glaubwürdig sind.

Es ist bemerkenswert, dass Israel in einem Monat³ mehr Zivilisten getötet hat als die Russen und Ukrainer zusammen in mehr als 20 Monaten (nach der letzten Zählung der Uno).

Dies zeigt die Brutalität der israelischen Reaktion. Ich erinnere daran, dass nach dem humanitären Völkerrecht der Einsatz von Waffen im Kampf drei Prinzipien unterliegen muss:

- Die Differenzierung zwischen Zivilisten und Militärs (man muss das militärische Ziel wählen können, sonst schiesst man nicht);

- Verhältnismässigkeit (man muss eine verhältnismässige Reaktion auf den Angriff anwenden. Zum Beispiel ist die Eliminierung eines Hamas-Führers mit einer Fliegerbombe oder einer Rakete nicht verhältnismässig); a fortiori, der von einem israelischen Minister vorgeschlagene Einsatz der Atombombe gegen den Gazastreifen verstösst gegen dieses Prinzip.

- Das Vorsichtsprinzip (wenn man Gefahr läuft, Unschuldige zu töten, schiesst man nicht).

Israel wendet diese Grundsätze nicht an. So forderte die Eliminierung von Salah Shahada am 23. Juli 2002 mit einer 1000 kg schweren Bombe, die von einem F-16-Flugzeug abgeworfen wurde, 14 Tote (darunter mehrere Kinder) und 150 Verletzte, während die Eliminierung von Scheich Ahmed Yassin am 22. März 2004 durch eine Salve von Hellfire-Raketen den Tod von einem Dutzend unschuldiger Zivilisten zur Folge hatte. Kein westliches Land protestierte gegen diese Unverhältnismässigkeit, von der man wusste, dass sie zu erheblichen Kollateralschäden führen würde.

Beachten Sie, dass es keinerlei internationale Proteste gab. Im Juli 2014 hatte Präsident François Hollande Benjamin Netanjahu sogar ermutigt, «alle Massnahmen zu ergreifen, um seine Bevölkerung zu schützen», als die Operation Protective Edge begann, bei der mehr als 2200 Palästinenser getötet wurden, darunter mehr als 500 Kinder.⁶ Wir werden von fanatischen Dummköpfen regiert, denn die israelische Regierung hat zwar das Recht – und die Pflicht –, ihre Bevölkerung zu schützen, aber die Methoden und Massnahmen dazu sind nicht unbegrenzt und müssen dem humanitären Völkerrecht oder Kriegsrecht entsprechen.

Für die laufende Operation in Gaza haben die Israelis, wie die britische Zeitung The Telegraph berichtete, erklärt, dass sie nicht Präzisions-, sondern Vernichtungsfeuer durchführen. Die Situation ist also eindeutig: In einem Kampf in einem dicht besiedelten Gebiet verstösst das israelische Vorgehen gegen das Kriegsrecht.

Die Israelis haben die Palästinenser immer als ein minderwertiges Volk betrachtet. Wie der israelische Verteidigungsminister es ausdrückt, sind sie «menschliche Tiere»!

Im Jahr 2014 gingen die Einwohner von Sderot übrigens hin, um den israelischen Beschuss des Gazastreifens zu beobachten, und sie applaudierten den Schlägen.9 Diejenigen, die sich über das Unglück anderer freuen, verdienen keine Beachtung.

Ist eine Zwei-Staaten-Lösung von Israel noch gewollt?

Israel hat nie eine Zwei-Staaten-Lösung gewünscht. Aus diesem Grund hält es sich nicht an die Resolutionen der Uno, insbesondere nicht an die Resolution 181 vom November 1947, die die Gründung eines jüdischen und eines arabischen Staates vorsah. Sie werden feststellen, dass Israel und seine westlichen Verbündeten in den letzten 75 Jahren alles getan haben, damit diese Resolution nicht umgesetzt wird. Tatsächlich wurde sie nicht einmal an einem einzigen Tag umgesetzt. Am Tag vor der Abstimmung in der Generalversammlung der Uno hatte die CIA dem amerikanischen Präsidenten Truman einen geheimen Bericht übergeben. Darin hiess es:

«Auf lange Sicht wird kein Zionist in Palästina mit den territorialen Vereinbarungen des Teilungsplans zufrieden sein. Selbst die konservativsten Zionisten werden den gesamten Negev, den westlichen Teil Galiläas, die Stadt Jerusalem und schliesslich ganz Palästina erhalten wollen. Die Extremisten werden nicht nur ganz Palästina fordern, sondern auch Transjordanien haben wollen […].

In dem Chaos, das auf die Umsetzung der Teilung folgt, werden mit Sicherheit Gräueltaten von fanatischen Arabern begangen werden; diese Aktionen werden eine breite Öffentlichkeit erhalten und von der jüdischen Propaganda sogar übertrieben werden. Die Araber werden ungeachtet der tatsächlichen Umstände als Angreifer beschuldigt10

Zwanzig Jahre später, im November 1967, erklärte General de Gaulle in einer Pressekonferenz:

«Israel griff an und eroberte in einem sechstägigen Kampf die Ziele, die es erreichen wollte. Nun organisiert es in den eroberten Gebieten die Besetzung, die nicht ohne Unterdrückung, Repression und Vertreibung auskommt, und wenn es Widerstand dagegen gibt, bezeichnet es diesen als Terrorismus11

Wir hatten in den 1960er Jahren eine objektivere Wahrnehmung der Situation als heute. Aber wir stellen auch fest, dass es damals viel weniger antisemitische Handlungen gab. Das zeigt, was ich bereits vor zwanzig Jahren in meinem Buch über asymmetrische Kriegsführung erklärt hatte: Antisemitismus wird weniger durch Israels Handlungen ausgelöst als durch die Tatsache, dass es diese ungestraft durchführt. Wenn wir den Antisemitismus eindämmen wollen, müssen wir Israel wie ein anderes Land behandeln und dürfen ihm nicht das Recht zugestehen, das Völkerrecht zu missachten.12

Wo sehen Sie eine Lösung des Konflikts? 

Ich glaube, dass es keine militärische Lösung für diesen Konflikt geben wird, da der «globale Süden» heute das Diktat der westlichen Länder nicht mehr akzeptiert. Ausserdem zeigt die Straflosigkeit Israels für seine Missachtung des internationalen Rechts katastrophale Folgen und dass eine Lösung gefunden werden muss. Darüber hinaus erinnere ich daran, dass das Projekt des dritten Tempels Salomons, das die Zerstörung der dritten heiligen Stätte des Islam auf dem Haram al-Scharif bedeuten würde, einen echten Krieg auslösen könnte, der die gesamte muslimische Welt mobilisieren würde und bei dem es nicht sicher ist, ob Israel intakt bleiben würde.

Wir müssen uns daher einer politischen Lösung zuwenden, die auf der Einhaltung der Uno-Resolutionen seit 1967 beruht. Dies wurde am 11. November 2023 von den in Riad versammelten arabischen Ländern vorgeschlagen. Die Vermittlung und die Lösungen sollten nicht mehr in den Händen der Amerikaner liegen, sondern in denen der internationalen Gemeinschaft und der Uno. Aber man muss realistisch bleiben. Von da an beginnen die Schwierigkeiten, denn das würde Israel dazu zwingen, insbesondere den Rückzug der Siedlungen in den besetzten Gebieten und  alle seine Verstösse gegen das Völkerrecht rückgängig zu machen …

Kurzfristig sollen sich Agenten des israelischen Mossad und der Hamas in Kairo getroffen haben, um die Modalitäten für einen Waffenstillstand zu besprechen. Es ist schwer zu bestätigen, aber nicht sehr überraschend, denn in diesem Konflikt haben die Geheimdienste im Gegensatz zu dem, was unsere Medien berichten, ziemlich viel dazu beigetragen, Friedensversuche zu diskutieren, die dann von den Politikern abgelehnt wurden …

Meine Befürchtung ist, dass angesichts der erhitzten Stimmung, die Wahrscheinlichkeit, dass Israel zerstört wird, grösser ist als die Wahrscheinlichkeit, dass es in den besetzten Gebieten einen Rückzieher macht …

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

¹ www.nzz.ch/international/pentagon-entdeckt-einen-spionage-ballon-ueber-den-usa-und-verdaechtigt-chinan-ueber-den-usa-und-verdaechtigt-china-ld.1724403?reduced=true
² www.un.org/unispal/document/auto-insert-184801/
³ www.ochaopt.org/content/hostilities-gaza-strip-and-israel-reported-impact-day-35
ukraine.un.org/en/248799-ukraine-civilian-casualties-8-october-2023
www.timesofisrael.com/liveblog_entry/far-right-minister-nuking-gaza-is-an-option-population-should-go-to-ireland-or-deserts/
www.btselem.org/press_releases/20160720_fatalities_in_gaza_conflict_2014
www.telegraph.co.uk/world-news/2023/10/11/israel-abandon-precision-bombing-eliminate-hamas-officials/
www.timesofisrael.com/liveblog_entry/defense-minister-announces-complete-siege-of-gaza-no-power-food-or-fuel/
www.theguardian.com/world/2014/jul/20/israelis-cheer-gaza-bombing
10 www.cia.gov/readingroom/document/0000256628
11 fresques.ina.fr/de-gaulle/fiche-media/Gaulle00139/conference-de-presse-du-27-novembre-1967.html
12 Jacques Baud: La guerre asymétrique ou la défaite du vainqueur. Editions du Rocher, Monaco 2003

veröffentlicht 16. November 2023

*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

«Ich stimme nicht mit dem überein, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod dafür kämpfen, dass Sie das Recht haben, es zu sagen»

Gedanken zum Buch «Putin – Herr des Geschehens»1

von Thomas Kaiser

Medien beeinflussen uns weitgehend und lenken unsere Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes Ereignis. Wir werden dort hingeführt, wo gerade etwas «Aussergewöhnliches» geschieht. Medien kanalisieren die Informationen und bestimmen damit in vielen Fällen, was wir zu denken haben. Um so wichtiger ist es, dass eine Vielfalt an Meinungen zur Verfügung steht, die eine breite Auseinandersetzung ermöglichen. Da diese Vielfalt seit Jahrzehnten durch die Bildung von grossen Medienkonzernen praktisch verschwunden ist, sind Bücher wie das von Jacques Baud mit dem Titel «Putin – Herr des Geschehens», das hier näher beleuchtet werden soll, eine lesenswerte Ausnahme. Der Autor, ein ehemaliger Oberst der Schweizer Armee und längjähriger Mitarbeiter des militärischen Nachrichtendienstes der Schweiz, der in verschiedenen interationalen Organisation wie Uno oder Nato als Spezialist gearbeitet hat, gehört zu der kleinen Spezies von unabhängigen Experten, die diese heute völlig erodierte Auszeichnung verdienen.

Das Buch lehnt sich an die französischsprachige Fassung an, die im März 2022 veröffentlicht wurde. Damals hatte der Krieg gerade begonnen und konnte so nicht mehr Gegenstand der Analyse sein. Vieles, was danach geschah, hat Jacques Baud in der deutschsprachigen Version aktualisiert und den Ukrainekrieg miteinbezogen. 

Er emotionalisiert nicht, wie wir es sowohl im Ukraine-Krieg als auch aktuell im Gaza-Krieg erleben.

Faktentreue

Die Motivation Jacques Bauds, dieses Buch zu schreiben, erklärt er im Vorwort: «Am 17. Oktober 2021 vermittelte uns eine Spezialausgabe der Sendung [«C dans l'air» auf dem Kanal France 5] unter dem Titel ‹Putin, Herr des Geschehens›, moderiert von Caroline Roux, einen Eindruck der Politik, die vom ‹Herrn des Kremls›, Wladimir Putin, betrieben wird. Ursprünglich war dieses Buch als Antwort auf diese Sendung gedacht. Die Experten, die dort zu Wort kamen, waren so ignorant, so völlig empathielos und so arrogant, dass sie eine Denkweise symbolisierten, die 1945 ausgestorben zu sein schien. Seitdem haben sich die Spannungen zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen verschärft und zu einem bewaffneten Konflikt geführt. Das Ziel dieses Buches ist es nicht, zu einer bestimmten Politik oder einem bestimmten Land Stellung zu beziehen, sondern zu zeigen, dass wir unsere Politik nicht auf Vorurteilen, sondern auf Fakten gründen sollten.» (S. 13)

Seit dem 24. Februar 2022 hat der Krieg in der Ukraine die mediale Berichterstattung dominiert. Auch wenn der Krieg noch nicht zu Ende ist, legen die Medien den Fokus seit dem 7. Oktober auf die Ereignisse im Nahen Osten. Wie im Ukraine-Krieg sind die Meinungen darüber, was am 7. Oktober geschehen sei, schnell gemacht. Vernünftige Stimmen werden ins Abseits gedrängt oder als «Hamas-Versteher» diffamiert. Eine international unabhängige Kommission unter der Führung der Uno müsste die Vorfälle untersuchen, die Israel als Berechtigung nimmt, bei seiner Vergeltung ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen Tausende in den sicheren Tod zu bomben. Bis die unabhängige Untersuchung abgeschlossen ist, bräuchte es Stimmen der Mässigung und der Vernunft. Aber anstatt konsequent zur Zurückhaltung und Vorsicht zu mahnen und zur Beendigung des Krieges aufzurufen, heizen manche Medien den Konflikt analog zum Ukraine-Krieg ständig an. Sprechen von Selbstverteidigungsrecht Israels und legitimieren damit alles. Diese Haltung ist nicht neu. Wir finden immer dasselbe Strickmuster. 

Ignorieren der Vorgeschichte

Was in der Analyse und Berichterstattung, sowohl im neuesten Krieg zwischen der Hamas und Israel als auch im Ukraine-Krieg nahezu identisch ist: Die Vorgeschichte wird weitestgehend ausgeblendet. Aber ohne deren Kenntnis ist kein Konflikt zu verstehen, ganz unabhängig davon, ob Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung verübt oder ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg geführt wurden. Das heisst nicht, dass man das jeweilige Vorgehen unterstützt oder legitimiert, sondern es geht darum, die Hintergründe zu verstehen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. 

Der Krieg in der Ukraine war kein spontaner Einfall Putins am Morgen des 24. Februar, sondern dazu gibt es eine Vorgeschichte, die man bei der Beurteilung und insbesondere bei Friedensverhandlungen nicht ausser Acht lassen darf, und die von entscheidender Bedeutung ist. Jacques Baud macht darauf aufmerksam, indem er folgerichtig die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen darlegt. Es hat sich eingebürgert, diejenigen, die auf den historischen Zusammenhang aufmerksam machen, als «Putinversteher» oder «Trolle Putins» zu entwerten. Geschichtliches Denken wird damit diffamiert.

Wertfreies Forschen gefragt

Unsere Medien beurteilen in der Regel Krisen aus dem Hier und Jetzt, um ihre vorgefasste Meinung bestätigt zu finden. Man beschäftigt sich nur mit dem aktuellen Geschehen und beurteilt die Dinge aus dieser Warte, aber nicht unter der Berücksichtigung der historischen Ursachen.

Hier ist es umso wichtiger, dass sich unabhängige seriöse Analysten und Historiker zu Wort melden und diese Arbeit leisten. Die von den grossen Medien häufig als «Experten» bezeichneten Pesonen heulen in der Regel mit den Wölfen und unterstützen die «political correctness». Die wird man im Buch von Jacques Baud nicht finden. Seine Sprachkenntnisse bis hin zum Russischen erlauben es ihm, ein breites Spektrum an Quellen zu konsultieren, deren wertfreie Zusammenstellung in den meisten Fällen ein völlig konträres Bild zu dem der offiziellen Medien zeichnen, die, wie Baud es formuliert, häufig bewusst lögen, Dinge wegliessen oder Halbwahrheiten erzählten. In seinem Buch benennt er unzählige solcher «Vergehen». Regierungen und Medien verbreiten Unwahrheiten, um eine Stimmung in ihrem Sinne zu erzeugen: «Als Chef der Nato-Einheit, die damals für den Kampf gegen die Weiterverbreitung von leichten Waffen zuständig ist, überwache ich das Auftauchen von neuen Waffen bei den Aufständischen, um festzustellen, ob Russland sie mit Waffen versorgt. Und in der Tat haben die Aufständischen gewisse Waffen, die nie zur Ausstattung der ukrainischen Armee gehörten. Das genügt bereits, um den Vorwurf einer russischen Intervention zu schüren… Wäre da nicht die Tatsache, dass die fraglichen Waffen sehr wohl zur Ausstattung des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes (SBU) gehören, dessen Agenten zu den Aufständischen übergelaufen sind.» (S. 142) Diese Behauptung bis hin zu den «grünen Männchen» geistert immer wieder durch unsere Medien – Behauptungen, die fern der Realität sind, sich aber in den unseren Köpfen festsetzen. 

ISBN 9783864894268

ISBN 9783864894268

Rückfall in den Absolutismus

Das Buch bietet unglaublich viele Facetten, die zu folgender Erkenntnis führen: Seit bald zwei Jahrzehnten fahren unsere westlichen Medien einen Kurs, der zur Dämonisierung Putins führen soll. Die emotionale Reaktion der Medien, der Politik und der Bevölkerung auf diesen Krieg ist der traurige Höhepunkt dieser Kampagne. 

Im Vorwort seines Buches wird auf eine Geisteshaltung verwiesen, die Journalisten oder Wissenschaftler als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrunderts verinnerlicht haben sollten: «Ich stimme nicht mit dem überein, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod dafür kämpfen, dass Sie das Recht haben, es zu sagen.» (S. 9) 

Der Satz wurde von Voltaire, einem der aufgeklärten Philosophen des 18. Jahrhunderts, formuliert, wohl gemerkt vor der Französischen Revolution, also während der Zeit des Absolutismus. Wenn man sieht, wie heute Diskussionen im öffentlichen Raum, in Talkshows oder in Nachrichtensendungen ablaufen, müssen wir konstatieren: Wir sind in die Zeit vor der Aufklärung zurückgefallen: Es darf nur noch eine Meinung vertreten werden. Louis XIV hat es im 17. Jahrhunderts so ausgedrückt: «L'Etat, c'est moi!». Was so viel heisst wie: Ich bestimme alles, auch die öffentliche Meinung. 

Verlust an Realität

Bei vielen Themen, die öffentlich diskutiert werden, erleben wir genau diese autoritäre Einstellung. Es ist klar, wie und was man zu denken hat und was die «Experten» dazu zu sagen haben; wissenschaftliche Auseinandersetzungen werden nur noch rudimentär geführt. Widerspruch wird nicht geduldet, unliebsame Kritiker als Querulanten, Verschwörungstheoretiker usw. abgetan. «Wir verbieten unbequeme Medien, und Menschen, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine eine andere Meinung haben, werden automatisch als ‹Putin-Agenten› verurteilt.» (S. 9ff) Jacques Baud hat die Courage, sich in den Wind zu stellen, der einem heftig entgegenbläst. Kaum hatte der Einmarsch in die Ukraine begonnen, wurden uns die Erklärungen serviert: Putin will «die alte Sowjetunion wieder herstellen». Nach der Ukraine «folgen das Baltikum, Polen etc.» Für andere steht er in der Tradition Katharinas der Grossen und möchte «das Zarenreich zu neuer Blüte» führen. Sein Militär, angeblich zu schwach, um die Ukraine zu besiegen, marschiert aber bis Mitteleuropa und erobert am Schluss noch unser Land. «Auf France 5 behauptet Jean-Dominique Giuliani, Präsident der Robert-Schumann-Stiftung: ‹Russland möchte einen Einflussbereich in den baltischen Ländern und Polen besitzen.› Das ist falsch. Russland hat niemals, weder offen noch heimlich, einen solchen ‹Einflussbereich› beansprucht. Weder das strategische Konzept der Nationalen Sicherheit 2000 noch die Strategie der Nationalen Sicherheit Russlands 2021 nennen auch nur ein einziges Mal diesen Begriff.» (S. 19) Wer es nicht glauben will, kann die Quellen konsultieren, die darüber Auskunft geben oder eben nicht. Solch unbegründeten Anschuldigungen spuken in den Köpfen der Menschen herum und führen zu einer völligen Fehleinschätzung aufgrund mangelnden Interesses an den realen Verhältnissen. Man hört es auch nicht nur auf einem Kanal, sondern ­bekommt es zigfach serviert. ­Irgendwann hat sich der Gedanke verselbstständigt. Wilde Spekulationen als Wahrheiten zu erklären, wird von Jacques Baud treffend beurteilt: «Wir leben in einer Gesellschaft, die urteilt, bevor sie weiss.» (S. 10)

Kalter Krieg lässt grüssen

In den ersten Kapiteln rollt Baud die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge des aktuellen Konflikts auf und beginnt damit in den frühen Neunzigern des 20. Jahrhunderts. Er geht systematisch-wissenschaftlich vor, indem er die Situation nach dem Kalten Krieg sowie die einseitige Einordnung durch westliche Medien und Politiker beleuchtet. Man kann irgendeine Seite im Buch aufschlagen und stösst auf Fehlinformationen grosser Medien, die die Politik und unsere Einstellungen beeinflussen (wollen). Die immer wieder angezweifelte Aussage, dass die Nato der damaligen Sowjetunion das Versprechen gegeben habe, sich nicht nach Osten auszudehen, wird nicht ausgelassen. Baud überlässt anderen das Wort und zitiert mehrere Aussagen massgeblicher Personen, die genau dieses Versprechen gaben. (S. 28ff) 

Im Verlauf seiner Abhandlung räumt er mit weiteren Vorurteilen und Unwahrheiten auf: von der «Skripal-Affäre» bis zum Einsatz Russlands in Syrien, von den Ohrenschäden des US-amerikanischen Botschaftspersonals in Kuba bis zur Zwangsumleitung der Ryan-Air Maschine über Weissruss­land. Kein Eisen ist ihm zu heiss, um es nicht auf seine Festigkeit zu prüfen. Und jedesmal ergibt sich ein ähnliches Bild. Es werden Behauptungen in die Welt gesetzt, kolportiert und als Realitäten in die Köpfe der Menschen gehämmert. 

War während des Kalten Kriegs die Sowjetunion an allem schuld, selbst am kalten Wetter, ist Putin derjenige, der das kalte Wetter ausnützt, die Energiepreise in die Höhe treibt und die Menschen im Westen frieren lässt. Heute sind wir kaum weiter als damals bzw. in die Zeit des Kalten Kriegs zurückgefallen. Tragisch, aber die westliche Politik scheint Sündenböcke und Konflikte zu brauchen: Die Waffenlobby freut’s. Erst waren es die kommunistischen Staaten, dann die islamischen, und heute sind es die Diktaturen. Der Westen muss stets das Böse bekämpfen und sich für das Gute «aufopfern». – Die wirklichen (menschlichen) Opfer kommen nicht aus dem Oval Office.

Russen schonen ihre Soldaten

Im Kapitel «Die russische Bedrohung und die Ukraine-Krise» (S. 105ff) zeichnet Baud auch die direkte Vorgeschichte vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine nach. 

Jacques Baud ist kein Hellseher und auch kein Wahrsager. Was er nahezu allen Analysten voraus hat, ist sein wissenschaftliches Vorgehen und sein konsequentes Abstützen auf Quellen – und zwar nicht geheimdienstlicher Provenienz, was einen bei seiner beruflichen Vergangenheit nicht wundern würde, sondern er greift auf öffentlich zugängliche Quellen zurück – sowie seine Fähigkeit, das Denken der Kriegsparteien zu erfassen und logische Schlüsse daraus zu ziehen. Jacques Bauds Erkenntnisse stützen sich «ausschliesslich auf westliche Quellen (…) meistens ­amerikanische oder französische, häufig Traditionsmedien, offizielle Quellen oder solche, die auf einem Gebiet massgebend sind.» (S. 15) Er hat schon zu Beginn des Krieges Dinge erklärt, wie zum Beispiel die Militärstratgie der Russen. Während andere den Abzug russischer Truppen aus verschiedenen ukrainischen Städten als Sieg der Ukraine feierten, erklärte er, warum die Russen diese Schritte getan hatten. Nicht aus Schwäche, sondern um die eigenen Truppen zu schonen. Doch von den grossen Medien wollte das keiner hören. Je länger die Auseinandersetzung andauert, um so mehr bestätigen sich Bauds Einschätzungen, weil er wertfrei und ohne vorgefasste Meinung an die Dinge herangeht. Selbst unsere Mainstream-Medien müssen eingestehen, was Jacques Baud schon lange vorher sagte: Die Ukraine wird am Ende keine Soldaten mehr haben. – Menschliches Leben für einen westlichen Wahn geopfert. 

Russland in den Krieg treiben

Die Aufarbeitung der Zeit vor der «militärischen Sonderoperation» zeigt, wie der Westen, insbesondere die USA, ein Interesse hatte, Russland in einen Krieg gegen die Ukraine zu treiben. Die Ukraine war dabei nur das Mittel zum Zweck und keinesfalls der «Freund», dem man im Kampf gegen den «bösen Feind» beistand und alle erdenklichen militärischen Mittel zur Verfügung stellt. «Im Grunde scheint nur der Westen – mit den Amerikanern an der Spitze – ein Interesse daran zu haben, die Lage zu verschlechtern, um Deutschland dazu zu bringen, sich den Sanktionen gegen Nord-Stream  2 und Russland anzuschliessen. Die Ukrainer befürworten solche Sanktionen, wollen sich aber auf keinen Konflikt einlassen.» (S. 176) Die von Biden an der Pressekonferenz mit Kanzler Scholz angekündigte Zerstörung der Pipline in der Ostsee bedeutet den endgültigen Vollzug lang gehegter US-amerikanischer Pläne. 

Jacques Baud hat am Anfang des Krieges bereits formuliert, dass Putin kein Interesse habe, die ganze Ukraine einzunehmen, sondern dass es ihm um eine Neutralisierung des ukrainischen Militärs gehe und die Ukraine als neutrales Land keiner Seite angehören solle: «Wladimir Putin hat nie – auch nicht im Jahr 2022 – versucht, die Ukraine ‹wiederzugewinnen›. Sein Bestreben war immer, dass sie frei von jedem Einfluss bleiben sollte.» (S. 154) 

Durchsetzung der Minsker Abkommen

Damit verfolgte Putin, wie es nach der Lektüre des Kapitels offensichtlich wird, vor allem das Ziel, die Minsker Abkommen durchzusetzen. Da dies auf diplomatischem Wege nicht möglich war, – heute wissen wir, warum – weil die Garantiestaaten (Frankreich und Deutschland) kein Interesse dran hatten – wollte er mit militärischen Mitteln die Umsetzung erzwingen: «In gewisser Weise hat Rus­s­land beschlossen, die Minsker Vereinbarung gewaltsam umzusetzen. Die Europäer betrauerten daraufhin den Tod der Abkommen, deren Umsetzung sie acht Jahre lang verhindert hatten.» (S. 188)  

Auch der ständig wiederholten Aussage, dass Putin nicht verhandeln wolle, setzt Baud die Realität entgegen: «Russland erklärt sich zu Gesprächen bereit, und eine erste Runde von Gesprächen wird in Gomel, nahe der weissrussischen Grenze, eingeleitet. Die Europäische Union ist jedoch anderer Meinung und kommt am 27. Februar mit einem Waffenpaket im Wert von 450 Millionen Euro, um die Ukraine zum Kampf anzuspornen.» (S. 183) Der Westen hatte, wie Jacques Baud es formuliert, nicht den Plan, die Ukraine zum Sieg zu führen. Ziel war es, Russ­land so zu schwächen, dass es in der Weltgeschichte keine Rolle mehr spielen würde. 

Das aktuelle Schweigen über den Krieg in der Ukraine hängt nicht nur mit dem Krieg im Gaza-Streifen zusammen. Es ist offensichtlich, dass der Westen seine Kriegsziele trotz medialer Propaganda und militärischer Unterstützung nicht erreicht hat und auch nicht erreichen wird. Opfer bleiben die getöteten und verwundeten Menschen. Doch wen hat das je interessiert?

Zum Schluss noch etwas Spekulation oder vielleicht auch nicht: Wer der Überzeugung ist, dass unsere Medien Recht haben und man ihnen vertrauen kann, wird, wenn er das Buch liest, möglicherweise staunen, welche Betrachtungsweisen es auch noch geben kann. Wer gewisse Zweifel hegt, ob das alles so stimmt, was wir vorgesetzt bekommen, wird zum Nachdenken angeregt. Wer grosse Zweifel hegt, wird Fakten an die Hand bekommen, die ihm Gewiss­heit über die Richtigkeit seiner Zweifel geben. Wer sich bewusst ist, dass vieles nicht stimmt, was berichtet wird, fühlt sich durch den Inhalt des Buches bestätigt. Man kann es also nur allen zur    empfehlen, auch denjenigen, die an der offiziellen Berichterstattung nicht zweifeln, aber es mit Voltaire halten wollen: «Ich stimme nicht mit dem überein, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod dafür kämpfen, dass Sie das Recht haben, es zu sagen.» 

Ein ausgezeichnetes Buch, das zuoberst auf der Spiegel-Bestsellerliste steht. 

¹ Jacques Baud: Putin – Herr des Geschehens? Frankfurt a.M. 2023. ISBN 9783864894268

veröffentlicht 16. November 2023

Deutschland: Die LINKE lehnt sich an die etablierten Parteien an

Zehn Bundestagsabgeordnete planen eine neue, links-konservative Partei

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, Die LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, Die LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was ist bei der Linken in Deutschland los?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Am 23. Oktober sind zehn Bundestagsabgeordnete aus der Partei DIE LINKE ausgetreten. Es gab eine öffentliche Pressekonferenz mit der Ankündigung, zusammen mit Sahra Wagenknecht eine neue Partei zu gründen. Das hat natürlich grossen Wirbel ausgelöst. Konkret haben wir einen Verein gegründet mit dem Namen: «Bündnis Sahra Wagenknecht für Vernunft und Gerechtigkeit», der die Gründung einer neuen Partei vorbereiten und unterstützen soll. Es ist geplant, um die Person von Sahra Wagenknecht herum für nächstes Jahr eine neue Partei ins Leben zu rufen, in der die Begriffe Vernunft und Gerechtigkeit vermutlich eine Rolle spielen.

Was hat den Ausschlag zu dieser Abspaltung gegeben?

Wir haben eine gemeinsame Austrittserklärung geschrieben, in der wir unsere Gründe darlegen. Es ist im Wesentlichen ein längerer Entfremdungsprozess gegenüber der Partei, den die meisten von uns schon durchlaufen haben. Als ich 2009 das erste Mal in den Bundestag gewählt wurde, hatte die Partei einen Wähleranteil von 11,9 Prozent. Damals war Oskar Lafontaine ein Spitzenkandidat, der danach leider schwer erkrankte. Als Sahra ­Wagenknecht 2017 eine der beiden Spitzenkandidaten war, hatten wir noch 9,2 Prozent, danach ging es eigentlich nur noch abwärts. Bei der Europawahl 2019 waren es noch etwas mehr als 5 Prozent. Es gab eigentlich eine Wahlniederlage nach der anderen. Bei der Bundestagswahl 2021 lag der Wähleranteil bei 4,9 Prozent. Eigentlich wären wir aus dem Parlament geflogen, konnten aber aufgrund dreier Direktmandate im Bundestag bleiben. 

Was hat man für Schlüsse daraus gezogen?

Ich war 7 Jahre im Parteivorstand, und es gab aus der Basis heraus Druck und Forderungen, die Gründe der schlechten Wahlergebnisse zu analysieren, was jedoch immer abgeblockt wurde. Es gab keine kritische Aufarbeitung. Es hiess immer: weiter so. Die Partei hat sich aus unserer Sicht immer mehr an ein junges, urbanes, aktivistisches Milieu gewandt, was aber nicht mehr die Vertretung weiter gesellschaftlicher Kreise darstellte.

Was brachte das Fass zum Überlaufen?

Für mich war der Höhepunkt, als die Partei entschied, die grosse Friedenskundgebung für Verhandlungen im Ukraine-Krieg am 25. Februar 2023 mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer in Berlin nicht zu unterstützen. Man hat sich in den Chor der Diffamierungen dieser seit Jahrzehnten wirkungsvollsten Anti-Kriegsaktion in Deutschland und der Petition, die bereits über 800 000 Menschen unterschrieben haben, eingereiht. Die Kundgebung und die Petition waren sensationell, aber die Partei hatte nichts Besseres zu tun, als sich in den Chor der Verunglimpfer einzureihen und darauf zu fokussieren, dass am Rande der Kundgebung AfD-Wähler dabei sein könnten und damit diese Demonstration nicht sauber sei. Sie haben die Unterstützung verweigert. Das war für mich der endgültige Bruch. Bruchlinien gibt es schon länger, aber das war der Punkt, bei dem ich dann in der Fraktion und auch dem Bundesgeschäftsführer sagte: «Ja, das war’s. Das hättet ihr nicht tun dürfen.» Es brauchte eine gewisse Zeit, aber jetzt ist es vollzogen.

Wo liegen thematisch die grossen Unterschiede zwischen den Ausgetretenen und der etablierten Partei?

In der Friedensfrage gibt es grosse Unterschiede. Wir beobachten eine Anpassung der alten Partei an die herrschenden Narrative, deren soziales oder friedlicheres Feigenblatt man sein will. Das ist im Ukraine-Krieg so, aber auch bei anderen Themen wie zum Beispiel bei Corona. Das kritische ­Potential ist aus meiner Sicht in dieser Partei schon lange verlorengegangen. Es gibt also sehr viele Gründe, die mich bewogen haben, diesen Schritt zu vollziehen.

Lassen Sie mich auf einen Punkt zurückkommen: Warum hat die Parteileitung die Aufarbeitung der Wahlniederlagen verweigert? Das wäre doch eine Chance für die Partei gewesen.

Das war immer Gegenstand innerparteilicher Kontroversen. Man hatte Angst, dass andere Teile der Partei vom Ergebnis der ­Evaluierung profitieren, und hat es deshalb abgeblockt. Das war vor allem unter den damaligen Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger auf der einen Seite und Sahra ­Wagenknecht auf der anderen ­Seite so. Man wollte verhindern, dass Sahra Wagenknecht und ihr Nahestehende Oberwasser bekommen. Deshalb hat man die Politik weiterhin in diese Richtung laufen lassen. Das wird alles nicht richtig realisiert. Es gibt Jubelnde innerhalb der Partei, die jetzt froh sind, dass wir «Störenfriede» endlich weg sind. Ich habe den Eindruck, dass sich hier viele etwas vormachen. Man hat kein Verständnis für die Tiefe der Gesellschaft. Man lebt in einer Blase von Aktivisten mit einem sehr gesinnungsethisch geprägten Verständnis von politischen Vorgängen. Es fehlt die Weite des Blicks und die kritische Distanz zum Geschehen.

Warum hat man die Friedenskundgebung nicht unterstützt, was dann letztlich zum Bruch geführt hat? Die Friedenspolitik ist doch ein wesentlicher Bestandteil linker Politik?

Das war im deutschen Kontext lange so, vor allem, weil die historische Linke in Deutschland eine zentrale Rolle bei der Opposition gegen die beiden Weltkriege gespielt hat. Diese lange bestehende Selbstverständlichkeit hierzulande bröckelt allerdings schon länger. Die ungefähr 80 Erstunterzeichner des 25. Februars bildeten ein breites politisches Spektrum ab. Politisch reichte das von links bis konservativ, aber sicher nicht rechtsextrem. Die Parteiführung beschwerte sich daraufhin, nicht gefragt worden zu sein.

Warum nicht? Hat man der Parteiführung dadurch nicht in die Hand gespielt?

Wenn man das gemacht hätte, wäre die Initiative zerredet und letztlich verhindert worden. Die Parteiführung hätte bei vielen Personen, die das öffentlich unterstützt haben, etwas einzuwenden gehabt. Es hat allerdings bezogen auf den Ukrainekrieg nirgends eine wirkmächtigere Antikriegsdemonstration in Deutschland gegeben, wenn nicht sogar in ganz Europa, die diese Durchschlagskraft in Kombination mit der Petition im Februar 2023 hatte. Da jeder unterschreiben kann, hat neben den 800 000 auch der AfD-Vorsitzende seine Unterschrift gegeben. Das wurde dann als Vorwand genommen, um die Kundgebung zu delegitimieren. Das entspricht schon seit Jahren einer Strategie, dass die Linken vor den politischen Themen immer weiter zurückweichen. Es braucht nur ein Rechter zu kommen, der sagt: «Ich unterstütze das auch», und die Linken machen sich aus dem Staub. Das Thema ist dann vergiftet, man will die Finger davon lassen. Ob das jetzt im Ukrainekrieg war oder bei der Sprengung von Nord-Stream  2, ob das die Frage von Sanktionen oder die Kritik an den Corona-Massnahmen, an dem Regime, das dort aufgezogen wurde, ob es die Forderung nach einer Untersuchung der Corona-Zeit ist und so weiter. Es braucht nur eine Unterstützung durch die AfD kommen, dann darf die Linke das nicht mehr vorantreiben. So geht man immer weiter von den Oppositionsthemen weg. Man lehnt sich immer mehr an die sogenannte Fortschrittsregierung an, an die Etablierten, und wird dadurch immer bedeutungsloser. Am Ende ist die Partei obsolet. Hinter dem Ganzen stehen natürlich auch strategische Fragen, wie man an eine Sache herangeht. Die damit zusammenhängenden Differenzen schwelen schon seit vielen Jahren.

Damit geht doch eine wichtige Auseinandersetzung um die Sache verloren, und der andere bestimmt dann, womit ich mich beschäftigen darf.

Ja, mit dieser Strategie überlassen wir den Rechten die politische Hoheit. Das geht, bildlich gesprochen, so weit, dass die Rechten sagen: «Der Himmel ist blau.» Dann sagt die Linke: «Nein, der Himmel ist grün.» Die Menschen schauen nach oben und sagen: «Das stimmt doch gar nicht, der Himmel ist doch blau.» Das Ganze ist so abstrus, und diese Haltung wird dann noch als Antifaschismus verkauft. Das hat mit dem historischen Antifaschismus nichts mehr zu tun. Das ist jedoch für viele jüngere Linke identitär, sie meinen, es sei Antifaschismus, wenn man das Gegenteil von dem tut, was die Rechten sagen.

In der Schweiz haben wir ein ähnliches Phänomen, zum Beispiel in der Frage der Neutralität. Es gibt im linken Spektrum Befürworter der Neutralität und im rechten. Die Schweizer Volkspartei (SVP) sieht nicht zu Unrecht die Neutralität schon längere Zeit in Gefahr…

Wenn ich als deutscher Parlamentarier etwas dazu sagen darf: Bitte behaltet eure Neutralität, gebt sie auf keinen Fall auf, verteidigt sie!

Damit wird die Neutralität ein rechtes Thema, und die Linke tut sich schwer, das zu unterstützen, auch wenn wahrscheinlich viele im Kern das ähnlich sehen.

Das ist exakt das Problem. Genau das Gleiche haben wir auch in Deutschland. Mit dieser Haltung lassen sich keine Probleme mehr lösen, und man überlässt der anderen Seite die Hoheit, zu bestimmen, was politisch unternommen werden kann.

Was es in einer Demokratie immer wieder braucht, ist auch eine gewisse Kompromissfähigkeit. Man muss doch versuchen, immer ein breites Spektrum der Bevölkerung zu berücksichtigten, sonst steht man am Schluss auf verlorenem Posten.

Ja, natürlich. Deswegen habe ich gerade den Begriff der ­Gesinnungsethik verwendet. Max Weber unterscheidet zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Eine Handlung ist dann gesinnungsethisch gut, wenn die Handlungsabsicht meinem eigenen moralischen Kompass entspricht. Verantwortungsethisch ist eine Handlung dann gut, wenn sie in ihrer Auswirkung ethisch gut ist. Es geht doch nicht um meine eigene Befindlichkeit. Sanktionen gegen Afghanistan etwa, weil die Taliban Mädchenschulen verboten haben, sind gesinnungsethisch nachvollziehbar. Es ist ein Unrecht, dass die Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen. Die Sanktionen führen jedoch dazu, dass 20 Millionen Menschen hungern, darunter auch Mädchen, die nicht zur Schule gehen dürfen. Insgesamt werden die Wirtschaftssanktionen dazu führen, dass sich die ­Hardliner politisch durchsetzen werden. Verantwortungsethisch muss ich die Sanktionen aufheben. Das kann man übertragen auf die Innenpolitik. Gesinnungsethisch lehne ich den Rassismus der AfD ab und kann nicht mit ihr zusammenarbeiten, das kann man nachvollziehen, verantwortungsethisch kommen wir in die Sackgasse, wenn wir alles ablehnen, was die AfD sagt. Am Schluss gibt es nur noch Einheitsbrei. Man hat kein Profil, keine eigenständige Position, keine Oppositionsfähigkeit. Die Linke übernimmt dann die herrschenden Narrative, wer Feind, wer Freund, wer gut, wer böse ist, und sagt dann nur noch dazu, es sollte ein bisschen friedlicher und ein bisschen sozialer sein. Das ist entschieden zu wenig für eine Oppositionspartei.

Wie wird in den deutschen Medien diese Entwicklung aufgenommen?

Es gab eine unheimlich starke Medienresonanz auf die Pläne, eine neue Partei zu gründen. Es ist seit Wochen und Monaten ein Dauerthema, durchaus kontrovers. Die These ist, dass wir in Deutschland eine Repräsentationslücke haben von Menschen, die die Politik der Ampel ablehnen. Die Regierung hat äusserst niedrige Zustimmungswerte. Die Leute haben die «Schnauze voll». Die ganze Unzufriedenheit wendet sich zur Zeit in Richtung AfD. Es braucht eine seriöse Opposition für die Themen wie soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Vernunft, Frieden und gegen einen immer stärker eingeschränkten Meinungsdiskurs. Das sind die vier Kernpunkte. Darüber wird jetzt durchaus in den deutschen Medien diskutiert. 

Wie reagiert die AfD?

Ganz negativ, sie ist offensichtlich nervös. Solange das Projekt nicht öffentlich war, gab es keine negativen Töne, man versuchte, Sahra Wagenknecht zu umarmen. Jetzt, wo es bekannt ist, wird Sahra Wagenknecht von der AfD als radikale Kommunistin hingestellt. Linke wiederum sagen, wir seien jetzt Rechte geworden. Es gibt einen breiten Diskus um dieses Parteienprojekt. Das ist grundsätzlich gut. Es gibt Diffamierungen, aber ebenfalls eine positive Resonanz. Umfragen von verschiedenen Instituten sagen, dass das Wählerpotential bei 27 bis 29 Prozent liege. Das basiert auf der Frage: Könnten Sie sich grundsätzlich vorstellen, die neue Partei zu wählen?» Die Sonntagsfrage dagegen heisst: Wen würden Sie konkret wählen, wenn morgen gewählt würde. Hier läge der Wähleranteil bei 12 bis 14 Prozent. Das ist natürlich hervorragend, und wir würden uns glücklich preisen, wenn wir das umsetzen könnten. Bei der so gestellten Frage hat man natürlich eine Aufmerksamkeit auf die Partei, das gibt bekanntermassen eine Verzerrung. Deshalb muss man die Zahlen mit grosser Vorsicht geniessen. Es gibt das Potential, und es ist die grosse Aufgabe, vor der wir jetzt stehen, diese Stimmung in die Realität umzusetzen. Das braucht noch sehr viel Kleinarbeit.

Wie sieht der zeitliche Fahrplan aus?

Im Januar ist die Parteigründung geplant. Der erste Testfall wird die Wahl zum EU-Parlament sein. Bis dahin muss man gewisse Strukturen aufbauen. Letztlich muss es eine Partei sein, die überall vertreten ist. Eine Partei ist ein sehr grosser Organismus.

Wie erklären Sie sich den Medienhype?

Es ist für die Medien etwas Interessantes, aber auch für Politikwissenschaftler, denn in der Form hat es noch keine Parteigründung gegeben. Der Austritt aus einer Partei, die Gründung eines Vereins in Vorbereitung auf eine Partei­gründung, die Spaltung der Fraktion. Das sind so viele Vorgänge, die in der deutschen Geschichte ­präzedenzlos sind.

Die Parteien, die die Bedürfnisse breiter Bevölkerungskreise nicht mehr abbilden, werden über einen komplizierten Mechanismus handzahm gemacht. Dadurch entsteht auch in anderen europäischen Ländern ein Raum, in dem man mit glaubwürdigen populären Personen hineinstossen kann. Das liess sich bei Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn in Grossbritannien, bei Jean-Luc ­Mélenchon in Frankreich erkennen, der für ein von links kommendes neues Projekt relativ erfolgreich kandidiert hat. Wir sehen gegenwärtig in den Niederlanden etwas Ähnliches, wo, aus dem christdemokratischen Spektrum herauskommend, Pieter Omtzigt um seine Person ein neues Parteiprojekt mit Namen «Nieuw Sociaal Contract», also neuer Gesellschaftsvertrag, im August gegründet hat und jetzt aus dem Nichts heraus die Umfragen vor den Wahlen im November anführt. Das ist ein Phänomen, was mit der ­Repräsentationskrise der alten Parteien zu tun hat, die die gesellschaftlichen Bedürfnisse so nicht mehr abbilden. Das verstehen klügere Journalisten und Politik­wissenschaftler. Für die ist das spannend.

Wieso haben wir eigentlich diese grosse Repräsentationskrise? Hängt das damit zusammen, dass unsere Parteien sich immer mehr an die USA anlehnen ober schweben die Politiker in einem Raumschiff hoch über der Gesellschaft und haben den Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern verloren?

Die Politiker werden nach meiner Beobachtung mehr von den grossen Medien gesteuert, als von den Bürgerinnen und Bürgern. Bei den Medien ist der starke transatlantische Einfluss klar nachweisbar. Das «Raumschiff» ist also eher die Medienblase, von der dann wiederum die Abgeordneten abhängen. Hinzu kommt, dass auch die politischen Begrifflichkeiten so oft missbraucht wurden, dass sie gar nicht mehr das abbilden, was sie eigentlich abbilden sollten: Begriffe wie links, rechts, Solidarität und so weiter. Erinnern wir uns der Corona-Zeit. Wer hier die leiseste Kritik geäussert hatte, galt als unsolidarisch oder Ähnliches. Das wiederholt sich im Ukraine-Krieg: Waffenlieferungen werden zum Akt der Humanität. Einen Krieg verlängern, der zu mehr Toten und zu einer schlechteren Verhandlungsposition der ukrainischen Seite führt, wird als Akt der Solidarität verkauft. Alle politischen Begriffe sind inhaltlich entwertet worden, so wie die Parteien, die mit entleerten Begriffen arbeiten. Viele der hierfür zugrunde liegenden Kampagnen sind in der Tat der US-amerikanischen Politik entlehnt.

Das ist doch nichts anderes als orwell’scher Neusprech …

Ja, Krieg ist Frieden und Frieden ist Krieg. Unwissenheit ist Stärke, links ist rechts. Das ist die orwell’sche Entwicklung der politischen Begriffe. Das ist ein wichtiger Aspekt in dieser Repräsentationskrise. Das können glaubwürdige Personen ein Stück weit aufbrechen. Sie stehen als Person für etwas. Bei Sahra Wagenknecht ist es so, dass sie sich solchen Narrativen nicht beugt, die einer Gesellschaft aufgezwungen werden. Und zum anderen ist sie sehr klug und in der Lage, einen Shitstorm, der über sie ergeht, lächelnd zu kontern. Es gibt nicht so viele Menschen, die das können. Pieter Omzigt erlebt Ähnliches, und es ist wichtig, eine Sprache zu entwickeln, die mit anderen Worten beschreibt, was einmal ihr Inhalt war. Nicht mit der gleichen Terminologie, aber mit der gleichen Substanz in einer anderen Sprache. Das ist auch ein Ansatz, den Sahra ­Wagenknecht verfolgt. Daher der Begriff linkskonservativ, den sie auch verwendet. Ich denke, die Zeit ist reif für ein Projekt, wie es hier geplant ist. Es geht darum, mit einer glaubwürdigen Politik, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.

Die etablierte Politik bewegt sich in der Regel in einem links-rechts Schema. Wenn sich die neue Partei als linkskonservativ bezeichnet, dann wird doch das Schema aufgebrochen. Wäre das nicht die Zukunft einer konstruktiven Politik?

Die Begriffe links und rechts sind im Grunde genommen ihres Gehalts entwertet worden. Historisch kommen diese Begriffe aus der Französischen Revolution und der Sitzordnung im französischen Parlament. Rechts sassen der Adel und der Klerus, denen es um die Bewahrung ihrer Privilegien ging. Links sass das aufstrebende Bürgertum, später die Arbeiter. Die rechten haben jeweils ihren Standpunkt vertreten wie ererbte Privilegien, ihr Vermögen, ihren Reichtum und so weiter. Bei den Linken musste alles der Vernunft unterworfen werden. Später nahm die Arbeiterbewegung das auf. Für mich sind zwei Standbeine für eine im klassischen Sinne linke Partei entscheidend: die soziale Frage bzw. soziale Gerechtigkeit und die Friedensfrage. Dann gibt es viele andere Themen, die auf diesen beiden Beinen ruhen und aktuell sehr wichtig sind. Diese Vorstellung von den zwei Standbeinen wurden in meiner ehemaligen Partei in einem Mosaikpluralismus aufgelöst. Historisch ist gerade die Linke in Deutschland einerseits stark aus der Arbeiterbewegung kommend, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, entstanden sowie aus er Ablehnung von Krieg. Das spielt in Deutschland eine besondere Rolle. Damals, im Ersten Weltkrieg, stand die Frage der Kriegskredite im Raum. Die Rolle von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als die entschiedenen Stimmen gegen den Ersten Weltkrieg. Deshalb ist in Deutschland für eine linke Partei die soziale Frage und die Friedensfrage immer elementar gewesen. Dass man heute hingeht und Friedens­demonstrationen als rechts diffamiert, ist historisch völlig verdreht. Der Hitlerismus ist ja entstanden aus dem Ersten Weltkrieg heraus durch Offiziere, die nach dem verlorenen Krieg vom «Dolchstoss» geredet haben. Das ist das Milieu, in dem der Hitlerfaschismus entstanden ist. Heute wird alles komplett auf den Kopf gestellt. Man ist ein Faschist, wenn man für den Frieden ist. Die Begriffe sind ihrer Substanz entleert oder ins Gegenteil verkehrt worden. Ein Stück weit ist das unvermeidlich, weil Herrschaftssysteme die Begriffe nutzen und in ihrem Sinne umdrehen. Die Begriffe des Sozialismus und Kommunismus sind von Stalin und anderen Leuten missbraucht worden, das Christentum von der Inquisition. Das ist ein fundamentales Problem, das man nicht einfach gelöst bekommt. Darüber muss man einen offenen Dialog führen: Was ist für die jetzige Zeit die richtige Wortwahl, um die Substanz zum Ausdruck zu bringen, die man ausdrücken möchte? Wenn man diese den Menschen vor Augen führt, kann das freie Denken neu beginnen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht 16.November 2023

«Komm‘ mal bitte in mein Büro»

Zensur von aussen und von innen – über den schwierigen Alltag des Journalisten

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Als kleiner Bub lernte ich den Ausdruck «Ein Mann, ein Wort». Ein moralischer Imperativ, der gleichbedeutend ist mit dem 8. Gebot der Bibel: Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Wenn es eine Branche gibt, wo dieses «ein Mann – ein Wort, eine Frau – ein Wort» wenig Geltung hat, dann sind es die Informations-Medien. Der News-Journalismus funktioniert nach dem Prinzip: Ein anderer hat etwas gesagt. Nicht ICH, der Journalist, habe es gesagt, sondern ein ANDERER hat es gesagt.

Als in einem Vorort von Damaskus im August 2013 Giftgas eingesetzt wurde, schrieben die Journalisten, Aussenminister John Kerry habe gesagt: «Wir wissen, dass es Assad war.» 

Kerry hat dasselbe bei etwa dreissig Gelegenheiten gesagt. Die grossen Presseagenturen haben jeweils in Sekundenschnelle rund um die Welt gejagt, was Kerry gesagt hatte. Von diesem Moment an wurde der syrische Präsident in den Kommentarspalten unserer Zeitungen zuverlässig als «Giftgasmörder» bezeichnet.

Ob Erzählungen wirksam werden oder nicht, ist eine Frage von Macht und Schnelligkeit. Wer die Macht hat, sich bei den Medien Gehör zu verschaffen, wird sein Narrativ durchsetzen, und dieses Narrativ wird in der öffentlichen Meinung flugs zur Wahrheit gerinnen. Wer keine Macht hat, ist Prediger in der Wüste. 

Ein solcher ist Ray MacGovern, lange Zeit einer der herausragenden Analysten der amerikanischen CIA. Ray sagte mir 2016 in Berlin: «Die Regierung in Washington hat über den Krieg in Syrien genauso gelogen wie über den Krieg im Irak.» Er bezog sich auf seine Kontakte in den Geheimdiensten und namhafte amerikanische Waffenexperten, die zu dem Schluss kamen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit die sogenannten «Rebellen» waren, die mit dem Giftgas-Anschlag einen Kriegseintritt der USA erreichen wollten.

James Harff, ehemaliger Chef der Werbeagentur Ruder Finn, gestand in Bezug auf die Propaganda-Erzählungen, die seine Agentur im Balkankrieg verbreitete: «Die Schnelligkeit ist entscheidend. Denn wir wissen genau, dass die erste Nachricht von Bedeutung ist. Ein Dementi hat keine Wirkung mehr.»

Am 29. Oktober publizierte die NZZ am Sonntag einen Artikel mit dem Titel «Kinderfänger Putin». Dort wurden die Berichte über Kinderdeportationen wiederholt, die von Menschenrechts-Aktivisten der Regierung in Kiew seit Monaten verbreitet werden. 

Demzufolge entführt die russische Armee hunderttausende Kinder, unterzieht sie einer Gehirnwäsche und schickt sie dann als Soldaten an die Front. Im Bericht der NZZ wird suggeriert, der Uno-Sicherheitsrat habe diese Anschuldigungen als Fakten bestätigt. Das erweist sich bei genauerem Hinsehen als Manipulation.¹ Im Sitzungsbericht der Uno wird explizit darauf hingewiesen, dass der Sicherheitsrat keine Möglichkeit hatte, die Vorwürfe zu überprüfen. 

Der NZZ-Bericht ist ein Beispiel für das perfekte Funktionieren von Manipulation nach der Methode «Ein anderer hat es gesagt»: Die Uno hat es gesagt. Nein. Sie hat es nicht gesagt. Aber niemand hat Zeit nachzuprüfen. Und ein Dementi wird, wie der oben zitierte PR-Profi wusste, keine Wirkung mehr haben. 

«Komm‘ mal bitte in mein Büro»

Im Januar 2012 war ich 64 Jahre alt und absolvierte mein letztes Arbeitsjahr in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen, an einen Telefonanruf des damaligen Chefs der Tagesschau: «Komm' mal bitte in mein Büro.»

Was war der Anlass? Kurz vorher war ein aufsehenerregender Video-Clip publik geworden. Da sah man, wie einige amerikanische Soldaten auf Leichen urinierten. Unter grossem Gelächter und mit grossem Vergnügen. Es wurde allgemein angenommen, dass die Leichen gefallene Taliban-Kombattanten waren. 

Es hätten aber auch unbewaffnete Zivilisten sein können, denn bei dieser Art von Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) unterscheidet die kriegführende Armee oft nicht zwischen bewaffneten Kombattanten und ihren Unterstützern in der Bevölkerung. Das Vorgehen der israelischen Armee im Gaza-Streifen mag als Beispiel genügen. 

Die Bilder von den urinierenden Soldaten verursachten eine gewisse Empörung in den USA. Die amerikanische Aussenministerin Hillary Clinton sagte, dieses Verhalten entspreche nicht den amerikanischen Werten. Verteidigungsminister Leon Panetta sagte dasselbe und ordnete eine Untersuchung an.

Ich habe damals unter dem Titel «Pinkeln in Afghanistan» einen Kommentar publiziert, in dem ich die Frage stellte, wo denn diese amerikanischen Werte zum Ausdruck gekommen seien. Im Einsatz des Entlaubungsmittels Agent Orange, durch das hunderttausende vietnamesische Kinder als Krüppel zur Welt kamen? In der entsetzlichen Folterpraxis im afghanischen Baghram? In Abu Ghraib? In Guantánamo? In den systematischen Drohnen-Angriffen, denen zwanzigmal mehr unbeteiligte Zivilisten zum Opfer fallen als mutmassliche Terroristen?

Der Chef erklärte mir, ich täte besser daran, mich derartiger Kommentare zu enthalten. Denn damit würde ich gegen meinen Arbeitsvertrag verstossen. In diesem stünde nämlich, die öffentliche Äusserung von «extremen politischen Positionen» seien nicht erlaubt. 

«Du willst doch sicher keine Probleme am Arbeitsplatz»

Auf meine Frage, woran denn die extreme politische Position in meinem Artikel festzumachen sei, schliesslich hätte ich im Tenor die gleiche Kritik geäussert, die auch in der «Washington Post» oder der «New York Times» zu lesen war, kam die Antwort:

«Ich habe es noch nicht richtig gelesen, aber es hat sich jemand beschwert.»

«Wer hat sich denn beschwert?»

«Das kann ich dir nicht sagen.»

Es kommt mir heute vor wie eine Nummer aus der ZDF-Satire-Sendung «Die Anstalt». Aber damals konnte ich nicht darüber lachen. Ich habe nie in Erfahrung bringen können, wer der ominöse «Jemand» war. Er kam mit Sicherheit von einem Ort, wo Macht konzentriert war. Es ist wahrscheinlich, dass die Einschüchterung aus dem Dunstkreis derselben Leute kam, die mich seit Jahren anonym diffamieren. 

Das Gespräch in der Tagesschau-Redaktion endete mit dem erstaunlichen Satz: «Du willst ja in deiner letzten Zeit, die du hier in der Redaktion verbringst, sicher keine Probleme haben.»

Wohl eher eine versteckte Drohung als ein gutgemeinter Ratschlag. Ich musste damals gute Miene zum bösen Spiel machen. Meine Pensionskasse war nicht üppig gefüllt, und mit 64 ist es nicht leicht, eine andere Arbeitsstelle zu finden. 

Man darf sich keine Illusionen machen: Wenn ich heute in der Tagesschau arbeiten und auf meiner Kritik der Nato-Politik beharren würde, würde ich meinen Job verlieren. Der amerikanische Sprachwissenschafter und Medienkritiker, Noam Chomsky, wurde einmal in einem Fernsehinterview von einem Journalisten gefragt: «Wollen Sie etwa behaupten, dass ich lüge?» Chomsky entgegnete: «Ich sage nicht, dass Sie lügen. Ich sage nur: Sie sässen nicht da, wo Sie sitzen, wenn Sie nicht das schreiben würden, was Sie schreiben.»  

Andere sitzen folgerichtig nicht mehr da, wo sie sassen. Der deutsche Journalist Birk Meinhardt hat 2012 das Handtuch geworfen. Der Mann war mit dem Egon Erwin Kisch-Preis ausgezeichnet worden und hatte zehn Jahre für die Süddeutsche geschrieben. Weil seine Texte nicht hinreichend politisch korrekt waren, wurden sie am Ende immer weniger gedruckt. Man verlangte, dass er sie umschrieb oder korrigierte. 

Er hat diese ganze Geschichte, die Gängelung, die Ausflüchte und Erpressungen, ausführlich in seinem Buch «Wie ich meine Zeitung verlor» beschrieben. Dort hat er auch einige der Texte publiziert, die für seine Chefs zu unbequem waren. Brillante Reportagen. Aber wenn einer zum Beispiel über die US-Airbase in Ramstein schreibt, muss er schwer aufpassen, dass da kein falsches Wort drinsteht, das den grossen Freund Deutschlands auf der anderen Seite des Atlantiks verärgern könnte. 

Zürcher Tages-Anzeiger: «Es gibt Bedenken im Haus»

Ray MacGovern war zehn Jahre lang für das Daily Briefing verantwortlich, das den jeweiligen Präsidenten der USA über die Sicherheitslage aufklärt. Aus Protest gegen den Irak-Krieg gab Ray all seine Verdienstorden an die CIA zurück. Als ich ihn in Berlin traf, hatte er die russische Prawda dabei. Er sagte, er wolle nicht nur wissen, was in der Washington Post steht, sondern auch was in Moskau, Peking, Kapstadt oder Mexiko die Meinung sei. 

Ich habe 19 Jahre lang im Fernsehen gearbeitet und selten erlebt, dass News-Leute für die tägliche Arbeit irgendeine andere Quelle benutzen als die grossen westlichen Presseagenturen wie AP, Reuters oder Agence France Presse. Zu mehr reicht die Zeit nicht in diesem Job, der Zeitdruck ist meist enorm. Eine kurze Recherche im Netz liegt wohl drin, aber die Regel ist: Die Texte der Tagesschauen beruhen auf Agenturmeldungen, und auf diesen beruhen auch die sogenannten «Dope sheets», welche die rund um die Uhr einlaufenden Bildsequenzen erläutern.

2016 hatte ich ein langes Interview mit Ray MacGovern dem Zürcher Tages-Anzeiger angeboten, und man sagte mir am Telefon, das sei hochinteressant, da könnte man sicher eine Doppelseite machen. 24 Stunden später erhalte ich einen Anruf, wo mir unter spürbaren Kontorsionen erklärt wird, es gebe «Bedenken im Haus». Kein Wunder, dass mir in dem Moment ein bekannter Satz in den Sinn kommt: «Es hat sich jemand beschwert.»

Der Tages-Anzeiger hatte bei MacGovern ein «Glaubwürdigkeitsproblem» erkannt. Habe dieser Mann doch sage und schreibe «auf einem russischen Sender schon mal ein Interview gegeben». Russia Today hiess damals der Sender, der heute in der Europäischen Union offiziell verboten ist, weil man im Brüsseler Europa nicht wissen darf, was in Moskau gesagt und gedacht wird.

Google hat erklärt, man werde auf YouTube alles löschen, was russische Propaganda sein könnte. Millionen von Einträgen verschwinden täglich vom Netz. Ich habe in meinem Syrien-Archiv Links, die ich öffne, und es erscheint eine schwarze Fläche mit dem Hinweis: Video not available.

Ich hätte mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass eine umfassende Zensur, das heisst die Liquidation von unbequemen Meinungen mit einer solchen Offenheit und Selbstverständlichkeit betrieben würde, wie es heute der Fall ist

«Deine widerlichen Artikel schaden unserem Image»

2018 war ich in Syrien. Es kam mir vor, wie wenn es zwei verschiedene Länder gäbe. Das eine war das Land der europäischen und US-amerikanischen Medienbilder, das andere Land das real existierende Syrien, das sich mir präsentierte. Ich war in Homs, in Hama, in ­Latakia, in Damaskus und konnte mit vielen Leuten sprechen. Viele können ein wenig englisch oder französisch. Man wurde angesprochen auf der Strasse. Ohne Aggressivität, aber mit sichtlichem Erstaunen.

Es war überall das Gleiche: Auf dem Bazar, im Restaurant, in der Primarschule, in der Moschee. Die Leute sagten: Was ist los mit euch in Europa und USA? Was haben wir euch getan? Warum bezahlt und bewaffnet ihr mit Milliarden Dollar aufständische Milizen, die unseren Präsidenten stürzen sollen? Warum nennt ihr fundamentalistische Gotteskrieger «Rebellen»?  Wann und wo hat unsere Regierung euch bedroht? Was hat Bashir al-Assad Frau Merkel angetan? Oder Herrn Sarkozy? Oder Herrn Obama? 

Italienische Nonnen sagten mir: «Ohne den Schutz der syrischen Armee wären wir nicht mehr am Leben». Ich sah uralte Klöster, wo diejenigen, die in unseren Medien als «Freiheitskämpfer» figurierten, der Gottesmutter Maria auf den Mosaiken mit dem Hammer das Gesicht herausgeschlagen hatten. 

Als ich zurückkam und meine Eindrücke publizierte, wurde ich als «Putin-Troll» beschimpft. Ein ehemaliger Chefredaktor des Sonntagsblicks und des Tages-Anzeigers schrieb auf dem Portal watson.ch: «Der Verdacht liegt nahe, dass Scheben Teil der russischen Propaganda-Maschine ist.» Eine Internetzeitung, für die ich lange geschrieben hatte, teilte mir mit, ich sei für sie nicht länger tragbar: «Mit deinen widerlichen Artikeln schadest du unserem Image.» 

Das tönt wie ein Satz aus einer leicht hysterischen Telenovela. Es ist aber die platte und lapidare Wirklichkeit im Jahre 2023 in der Eidgenossenschaft. So einfach geht die Durchsetzung der Medien-Einfalt. Und so wenig Rückgrat haben manche Leute auf ihrem Chefsessel im Medien-Betrieb. Sie knicken ein, «wenn sich jemand beschwert». 

Nichts schreiben, was der «guten Sache» schaden könnte

In der ersten Hälfte der achtziger Jahre habe ich im Pressebüro einer salvadorianischen Aufstandsbewegung in Mexiko-Stadt gearbeitet. Eine Guerrilla-Bewegung, die sich FMLN nannte, Frente Farabundo Martí de Liberación Nacional. Das Pressebüro hiess Salpress (Salvador-Press). Dort wurden nicht nur Fakten berichtet, sondern auch massiv Propaganda-Erzählungen entwickelt.

Zum Beispiel die Darstellung, dass die Soldaten der salvadorianischen Armee in den Dörfern überall Frauen vergewaltigten. Ich war mehrmals in den umkämpften Gebieten in El Salvador und habe herausgefunden, dass das in den Fällen, die ich überprüfen konnte, nicht die Wahrheit war. Ein Einzelfall wurde schnell einmal extrapoliert auf allgemeine Zustände. 

Ich habe damals auch erfahren müssen, dass linke Guerrilla-Kämpfer nicht immer die Guten sind, und dass ihre Feinde, die in den USA ausgebildeten Armeesoldaten, nicht nur die Bösen sind. Es gab Guerrilla-Kommandanten, die sich als kleine Che Guevaras aufspielten, aber charakterlich grosse Schweinhunde waren.  

Ich habe damals diese Dinge für mich behalten und kein Wort darüber geschrieben. In den linken Zeitungen, für die ich als Korres­pondent arbeitete, wäre das auch gar nicht erst gedruckt worden. Darunter war zum Beispiel die Berliner Tageszeitung (taz), die eine Spendenaktion betrieb unter dem Titel: «Waffen für El Salvador». Die sammelten Geld, um Waffen für die FMLN-Guerrilla zu kaufen. Ich wäre nicht erstaunt, wenn sie heute «Waffen für Selenskyj» fordern würden.

Man war als braver linker Kalaschnikow-Revolutionär auf Seiten der Aufständischen, und man hütete sich, Dinge zu publizieren, die der «gerechten Sache» hätten schaden können. Ab 1983 arbeitete ich in der Presseagentur Agencia Periodística de Información Alternativa (apia) in Nicaragua. Wir Journalisten, da bin ich keine Ausnahme, waren nicht in der Lage oder nicht willens, zu erkennen, dass die Hälfte der Bevölkerung nicht wirklich hinter der Revolution in Nicaragua stand. 1990 verloren folglich die Sandinisten die Wahlen und die Macht. Wir hatten es nicht kommen sehen, oder wir hatten es nicht sehen wollen.

Seit damals bin ich skeptisch gegenüber den grossen Wahrheiten. Gegenüber den grossen Gewiss­heiten der Ideologen. Es ist wichtig, dass wir uns klar werden: Wir Journalisten sind nicht immer nur Opfer eines ideologischen Machtapparates, der unmittelbar Druck auf uns ausübt («Komm' mal bitte in mein Büro»), sondern wir sind auch in gewissem Mass Überzeugungstäter, somit «Opfer» unserer eigenen Sozialisation. 

Wir gehen durchs Leben mit der Weltanschauung, die uns mitgegeben wurde, und mit der Ideologie der Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen. Ich weiss nicht, wie weit wir uns diesem «Über-Ich» entziehen können. Ich habe auch keine Ahnung von Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie, aber ich bin mir sicher, dass jener Kameramann recht hatte, der – wie mir Karin Leukefeld kürzlich sagte – der Ansicht ist: Du siehst nur, was du weisst. Was ausserhalb unseres Denkgebäudes liegt, können wir kaum wahrnehmen. 

«Dazugehören ist wichtiger als Wahrheit»

Ein befreundeter Psychologe hat mir kürzlich geschrieben: «Dazugehören ist wichtiger als Wahrheit. Da liegt das Problem.» 

Es geht um die Frage, warum Journalisten (oder Menschen allgemein) oft nicht schreiben und sagen wollen, was sie als Tatsache erkannt haben. Oder warum sie es in vielen Fällen lieber nicht so genau wissen wollen. Oder als feindliche Propaganda abtun. Oder leichtfertig behaupten, es handle sich sowieso um Verschwörungstheorien. 

Verschwörungstheoretiker, schrieb einmal sarkastisch die Journalistin Eva C. Schweizer in New York, litten unter dem Wahn, dass es Menschen gebe, die sich zusammentun, um etwas Böses zu planen. In Wirklichkeit gebe es natürlich solche Menschen nicht. Ausser in Russland oder China. 

Wenn wir immer die Wahrheit sagen würden, hätten wir Liebesentzug oder Bestrafung zu fürchten. Wir lernen lügen von klein auf. Wenn Papi und Mami unaufhörlich Streit haben, und Tante Emma kommt unverhofft zu Besuch, dann weiss der kleine Max sehr genau, dass er der Tante nicht sagen darf, dass Papi und Mami Streit haben. Dass die Wahrheit immer mal wieder verschwiegen werden muss, ist eine wichtige Lektion unserer Sozialisation. Denn wir wollen ja akzeptiert werden von unserem sozialen Umfeld. 

Wer diese Haltung nicht einnimmt, das heisst, wer glaubt, er könne gegen den Strom schwimmen, der wird schnell einmal ausgegrenzt, gemieden, verliert seine Freunde. Die soziale Isolation kann so hart werden, dass Menschen psychisch daran zerbrechen. 

Also halten viele mit ihrer Meinung hinter dem Berg, gehören schnell einmal zu einer Minderheit, die nicht mehr genug Courage hat, zu sagen, was sie denkt. Ein sozial-psychologischer Prozess, den Elisabeth Noelle-Neumann in ihrem Klassiker «Die Schweigespirale» schon in den siebziger Jahren beschrieben hat. 

«Assange ist vor uns in dieses Gefängnis gegangen»

Der oben zitierte Birk Meinhardt will trotzdem nicht kleinbeigeben. Er wendet sich ab von Nachrichten-Medien und Zeitungen. Er zitiert den Rat eines Freundes: «Desillusion ist Fortschritt. Begib dich in die Desillusionierung. Nur so kommst du weiter. Ausharren im Nicht-dazugehören-wollen.»

Leichter gesagt als getan. Ein kleiner Mann oder eine kleine Frau kann sich ein wenig innere Emigration leisten. Wer sich aber im Widerstad profiliert, für den kann es gefährlich werden. Ein Edward Snowden wird von den USA gejagt wie ein Verbrecher, und ein Julian Assange wird in einem Hochsicherheitsgefängnis in London physisch und psychisch kaputt gemacht.

Der Publizist Milosz Matuschek hatte eine sehr erfolgreiche Kolumne in der Neuen Zürcher Zeitung und wurde dort rausgeworfen, weil er die Corona-Massnahmen zu heftig kritisierte und weil er seine Texte auch Plattformen zur Verfügung stellte, denen die «Kontaktschuld» vorgeworfen wurde, sie beherbergten Querdenker und Verschwörungs-Phantasierer.  Er hatte auch zu stark Partei ergriffen für Leute wie Julian Assange. Matuschek schreibt heute: 

«Assange ist als Beispiel physisch in das Gefängnis gegangen, in dem wir alle zumindest geistig ebenfalls schon sitzen.» 

Aus meiner Zeit in Nicaragua ist mir der Amerikaner Gary Webb in Erinnerung. Der Journalist wies nach, dass die Regierung Reagan in den achtziger Jahren Kokain von Medellín in die Staaten fliegen liess und mit dem Erlös Waffen für die Contra-Truppen kaufte, die die Sandinisten-Regierung in Nicaragua stürzen sollten. Webb wurde durch eine Kampagne der US-Geheimdienste und ihrer zugewandten Medien in den finanziellen Ruin und schliesslich in den Suizid getrieben. Allerdings ein seltsamer Suizid mit dem forensischen Befund: zwei Kopfschüsse. Der Chefpilot jener ominösen Kokain-Flüge wurde übrigens auf offener Strasse in Louisiana erschossen,² bevor er 1986 vor einer Grand Jury aussagen konnte. 

Wie geht es weiter mit unserer Branche? 

Für diejenigen, die darauf beharren, mit eigenem Kopf zu denken, wird es kurzfristig kein Pardon geben. Sie werden auch künftig ausgegrenzt und diffamiert werden, und sie werden lernen müssen, dass sie Selbstbestimmung und Mündigkeit mit ein wenig Einsamkeit bezahlen müssen. 

Aber man soll die Kirche im Dorf lassen. Die Schweiz ist immer noch ein ruhiges Pflaster und bietet keine Bühne für grosse Opferrollen. Vom Matterhorn bis zum Bodensee, vom Fendant bis zum suure Moscht, ist das Leben hierzulande für einen Journalisten oder eine Journalistin kein Kreuzweg. Für «en tüüfe gsunde Schlaf» brauche ich gemäss Schweizer Matratzenwerbung kein Schlafmittel. Die Altersrente wird man mir nicht abnehmen können, und ich brauche keinen Tranquilizer, nur weil manche behaupten, ich sei von Putin bezahlt.

Bislang habe ich keine entsprechenden Eingänge auf meinem Konto festgestellt. Mein einziges Guthaben unter Bestechungsverdacht ist ein Gegenstand mit der Aufschrift Rossijskaja Federazija: Russische Föderation. Es handelt sich nicht um eine Rolex, sondern um einen Kugelschreiber aus ­Moskau. 

¹ globalbridge.ch/kinderfaenger-putin-ein-lehrstueck-ueber-fakten-chirurgie/

² https://www.infosperber.ch/politik/welt/barry-seal-only-in-america/

 

Der vorliegende Text wurde als Vortrag an der Tagung «Das Zeitgeschehen im Fokus – Vernunft und Menschlichkeit eine Stimme geben» am 4. November in Zürich gehalten.

* Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

veröffentlicht 16.November 2023

 

Agrarwirtschaft ohne Zukunft?

von Reinhard Koradi

Es ist verhältnismässig ruhig um die bäuerliche Nahrungsmittelproduktion geworden. Zwar erheben sich immer wieder Stimmen, die einen gerechten Preis für die Produkte aus Feld und Stall reklamieren. Handfeste Aktionen werden wohl durch die geballte Marktdominanz seitens der Nachfrage schon im Keim erstickt. In der Schweiz nehmen die Grossverteiler Migros und Coop in diesem Segment eine marktbeherrschende Position ein und lassen sich kaum beeindrucken. Doch ist es im Ausland besser als in unserem Land? 

Konzerne beherrschen die Agrarwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion

«Heute bestimmen einige wenige globale Konzerne die grossen Trends in der Landwirtschaft und beim Nahrungsmittelkonsum. Die Player sind bemerkenswert langlebig. Viele der heute führenden Unternehmen gehörten schon zu den Begründern des modernen Systems: Cargill, Deere, Unilever, Nestlé, McDonald’s, Coca-Cola. Erst die Verlagerung hin zum Finanzkapital und die Auswirkungen der Biotechnologien haben seit den 1980er-Jahren zu Fusionen und Übernahmen geführt, die den Sektor seither schnell und tiefgreifend verändern.» Es ist eine unheilige Allianz, die die Kontrolle über die Agrarwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion übernommen hat. Sie setzt sich nicht nur über ­nationale und ethische Grundrechte hinweg, sondern schafft einseitige Abhängigkeiten sowohl auf ­Produzenten- wie auf Konsumentenseite. Eine ausreichende Versorgung mit qualitativ einwandfreien Nahrungsmitteln ist lebensnotwendig. Wer diesen Markt beherrscht, kann diese Herrschaft sowohl zum Wohle als auch zum Nachteil der gesamten Menschheit nutzen.

Globale Konzerne zerstören die Ernährungssouveränität

Die globalen Agrarkonzerne orientieren sich am Prinzip industrieller Produktion. Monokulturen auf grossflächig ausgelegten Böden, Massentierhaltung sind für die industrielle Produktion Grundvoraussetzung. Chemie, genmanipuliertes Saatgut und die digitale Steuerung von Pflanzen, Tier und Natur werden genutzt, um die Gewinne zu maximieren. Da bleibt kein Platz mehr für Menschen, Tierwohl und Schutz der natürlichen Ressourcen. Der bäuerliche Familienbetrieb und die regionale Selbstversorgung werden dem Moloch Globalisierung geopfert. Strukturen, wie wir sie noch teilweise in der Schweiz und weiteren ländlichen Regionen vorfinden, können dem Druck seitens der Konzernwirtschaft kaum standhalten. Es sei denn, die Konsumenten streiken und kehren der Monopolwirtschaft den Rücken.

Ob es jedoch genügend aufgeklärte Konsumenten gibt, ist eine offene Frage. Solange Lebensmittel nichts kosten dürfen, sind Mittel- und Kleinbetriebe in preislicher Hinsicht wenig konkurrenzfähig. Es bräuchte ein Umdenken – übrigens nicht allein in Bezug auf die Nahrungsmittelwirtschaft – indem die Qualität und nicht der Preis allein die Nachfrage bestimmt. Wer ­Ernährungssouveränität fordert, muss in erster Linie seine eigene Souveränität über sein Einkaufsverhalten und seine Gewohnheiten zurückholen. Ebenso unbeantwortet bleibt die Frage inwieweit die nationalen Eliten und Regierungen sich für die mittelständische Agrarwirtschaft und Lebensmittelproduktion einsetzen und den Schutz der Selbstversorgung fördern. In der Eidgenössischen Bundesverfass­ung wird im Landwirtschaftsartikel dem Bund zwar die Förderung und der Schutz der Selbstversorgung vorgegeben, doch wenn wir die laufenden Revisionen der Gesetzgebung für die Landwirtschaft verfolgen, dann beobachten wir eine fortschreitende Dezimierung der natürlichen Grundlagen zur Förderung der Selbstversorgung in unserem Land. Ökologisierung und Administration im Agrarbereich schränken die Produktionsmöglichkeiten immer mehr ein und fördern auch in unserem Land die Tendenz zur industriellen Landwirtschaft.

Die Entfremdung von der Natur und von kleinräumigen Versorgungsstrukturen

In den letzten Jahrzehnten wird die natürliche Nahrungsmittel- produktion immer mehr durch moderne Technologien ersetzt (zum Beispiel genetisch ­veränderte Organismen). In Labors entwickeltes Saat- und Zuchtgut ­verdrängt immer mehr die natürlichen Aufzucht- und Anbaumethoden. Die Agrarforschung und die Lebensmitteltechnologie arbeiten mit Hochdruck an neuen Produktionsmethoden, die ausserhalb der Natur eingesetzt werden können. Hors-Sol Anlagen im Gemüseanbau, Milch- und Fleischprodukte aus dem Reagenzglas ersetzen die Natur, löschen natürliche Begrenzungen aus und fördern damit die Entwicklung der industriellen Produktion mit globalen Dimensionen. Ein Prozess, der dank diffuser Klimahysterie und dem anhaltenden Druck auf die herkömmlichen Ernährungsgewohnheiten erheblichen Auftrieb bekommen hat. 

Konzernherrschaft über unsere Essgewohnheiten?

Es liegt ganz im Interesse der Konzernwirtschaft, dass kleinräumige Produktions- und Versorgungsstrukturen verschwinden. Aber ist das auch im Interesse der souveränen Staaten und deren Bevölkerung?

Die globale Herrschaft über die gesamte Wertschöpfungskette vom Acker/Stall/Weide bis zum Teller auf dem Familientisch erstreckt sich weit über den Tellerrand hinaus. Sie beeinflusst unser gesamtes Denken und Handeln, greift unser Recht auf Selbstbestimmung an und treibt die Menschen in ungemütliche Abhängigkeiten, was wiederum Raum für Erpressung und Bevormundung schafft.

Die Agro-Multis kennen keine Grenzen. Wenn Labor und Digitalisierung nicht ausreichen, dann gibt es immer noch die Aneignung von fruchtbarem Kulturland. (Land-Grabbing). Vor allem in Afrika werden die Bauern von ihrem Grund und Boden verdrängt. Deutlicher kann man den absoluten Herrschaftsanspruch über die globale Lebensmittelversorgung nicht unterstreichen. Spätestens jetzt sollten wir die Gefahren der Konzernherrschaft über unsere Ernährung erkennen. Die Agrar-Multis setzen rücksichtslose ­Methoden ein, um die Grundvoraussetzungen für eine lokal-regionale Selbstversorgung durch bäuerliche Familienbetriebe ausser Kraft zu setzen. Eine zerstörerische Strategie, deren Folgen schwerwiegender sind, als wir erwarten. Mit dem Verlust der Selbstversorgung handeln wir uns Abhängigkeiten ein, die unseren Anspruch auf Selbstbestimmung und Eigenständigkeit zunichte machen.

Warum reagieren die souveränen Staaten nicht auf diesen Angriff?

Eigentlich kaum nachvollziehbar, dass sich die «freie Welt» beinahe widerstandslos der Unterdrückung durch die Konzerne unterwirft. Offensichtlich haben viele das Bewusstsein über die Bedeutung der Selbstbestimmung für unsere Freiheit und Unabhängigkeit verloren. Verschiedene «Schocks» hinterliessen zudem eine verheerende Wirkung. Finanz- und Wirtschaftskrise, eine Pandemie, deren Ursprung immer nebulöser wird, haben uns die Überzeugung genommen, dass wir durch Eigenverantwortung und -initiative Probleme und Herausforderungen angehen können. Viele Regierungen sind Gefangene des globalen Systems, welches dem Diktat der Finanzwirtschaft respektive der Finanzaristokratie folgt. 

Die Souveränität zurückholen

Im ersten Moment sehen die Perspektiven eher düster aus. Es geht um die Befreiung vom Joch der globalen Diktatur durch eine Minderheit. Es gibt aber auch eine grosse Mehrheit von Menschen, die ihre Selbstverantwortung und -bestimmung verteidigen wollen. Wir müssen bereit sein, den Ansprüchen einer kleinen Elite entgegenzutreten. Es braucht unseren Widerstand, denn es geht nicht nur um Nahrungsmittel. Die nationale Identität wird in vielen anderen Bereichen unterwandert. Wirtschaft, Gesundheits- und Bildungswesen, die Grundversorgung im Allgemeinen sind im Visier der Kreise, die den grossen «Reset» vollziehen wollen. Wenn unsere Regierungen den Mut nicht aufbringen können, dann liegt es an uns, unsere Souveränität zurückzuholen. 

veröffentlicht 16. November 2023

Gedanken zum Uno-Welternährungstag

«Kleinbäuerliche, auf Vielfalt ausgerichtete Familienbetriebe sind die Garanten einer nachhaltigen Landwirtschaft»

von Susanne Lienhard

Am 16.  Oktober fand wie jedes Jahr der Uno-Welternährungstag statt. Noch nie hat die Menschheit mehr Lebensmittel pro Kopf produziert als heute und dennoch hungert mehr als jeder zehnte Mensch auf dem Globus. Die Ursachen sind vielschichtig: Krieg, Korruption, Klimawandel, Landraub, ungerechter Welthandel und anderes mehr. Grund genug, an den vor rund 15 Jahren erarbeiteten Weltagrarbericht zu erinnern.

Rund 400 Expertinnen und Experten aller Kontinente und Fachrichtungen haben vier Jahre lang intensiv gearbeitet, um gemeinsam folgende Frage zu beantworten: «Wie können wir durch die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von landwirtschaftlichem Wissen, Forschung und Technologie Hunger und Armut verringern, ländliche Existenzen verbessern und gerechte, ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung fördern?»¹ Der 2007 veröffentlichte Bericht zeigt gangbare Wege auf, wie dem Hunger und der Mangel­ernährung weltweit begegnet und eine gerechtere, ressourcenschonende Nahrungsmittelproduktion und -verteilung realisiert werden kann.  

Weltagrarbericht – kleinbäuerliche Familienbetriebe fördern

Der Bericht räumt mit dem Mythos der Überlegenheit industrieller Landwirtschaft aus volkswirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht gründlich und ehrlich auf. Als neues Paradigma der Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts formuliert er: «Kleinbäuerliche, arbeitsintensivere und auf Vielfalt ausgerichtete Strukturen sind die Garanten einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Lebensmittelversorgung durch widerstandsfähige Anbau- und Verteilsysteme.»² Die Experten stellten das bis anhin geltende Credo «Wachse oder weiche» in Frage und kamen zum Schluss, dass die kleinräumige bäuerliche Landwirtschaft ein gewaltiges Produktions- und Nachhaltigkeitspotenzial hat, sich viel besser und flexibler den Erfordernissen und Veränderungen ihrer Standorte anpassen und mehr Existenzen auf dem Land sichern kann. Voraussetzungen sind unter anderem Kenntnisse über verbesserte Anbaumethoden, Zugang zu Boden und geeignetem Saatgut, ein Mindestmass an Rechtssicherheit, auskömmliche Einkünfte und den Bedürfnissen entsprechende Infrastrukturen. 

Uno-Dekade der Familienlandwirtschaft (2019 – 2028)

Die Uno trugen dem Bericht Rechnung und riefen 2014 das «Jahr der Familienlandwirtschaft» und auf Grund des Erfolgs 2019 die «Uno-Dekade der Familienlandwirtschaft (2019 – 2028)» aus, um die Mitgliedsländer weltweit dazu aufzufordern, Initiativen zur Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft zu ergreifen. Mehr als 90 Prozent der 570 Millionen landwirtschaftlichen Betriebe auf der Welt werden von Kleinbauern betrieben und sie produzieren mehr als 80 Prozent der weltweit konsumierten Nahrungsmittel. Laut dem FAO-Generaldirektor José Graziano da Silva ist die Familienlandwirtschaft eine wesentliche Alliierte in der Entwicklungsstrategie, sowohl in ihrem Potenzial zur Überwindung von Armut, Hunger und allen Formen von Fehlernährung, als auch in der Erhaltung der natürlichen Ressourcen und der Biodiversität.³ Der zentrale Aspekt, der gleichzeitig die grösste Herausforderung darstellt, ist die engagierte Verpflichtung, die die Regierungen übernehmen müssen, um Ressourcen für diese Bevölkerungsgruppen bereitzustellen und öffentliche Politiken zu entwickeln, die die Food and Agriculture Organization of the United Nations» (FAO) als «differenziert, effektiv und intersektoral» definiert, wie auch einen sozialen Dialog mit allen Beteiligten zu führen, die einen Impuls für eine erfolgreiche Strategie geben. 

Was unternimmt die Schweiz zur Stärkung der Familienlandwirtschaft?

Wie man einem Factsheet der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) von 2014 entnehmen kann, orientiert sich die Schweiz im Bereich der Entwicklungszuammenarbeit durchaus am Weltagrarbericht und den Initiativen der Uno: «Im Kampf gegen Armut und Hunger hat sich die DEZA schon immer auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft konzentriert.»⁴ Sie setzt jährlich 240 Millionen Franken für die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit ein. Sie unterstützt Bauernfamilien in Entwicklungsländern bei der Produktion und Vermarktung ihrer Produkte und bei der nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen. Doch inwiefern werden die Empfehlungen des Weltagrarberichts und die Initiativen der Uno auch in der inländischen Landwirtschaftspolitik ernstgenommen und umgesetzt? 

Schweizer Landwirtschaftspolitik folgt noch immer dem Credo «wachse oder weiche»

Was für den globalen Süden gilt, scheint für die Schweizer Landwirtschaft nicht zu gelten. Jedes Jahr müssen bäuerliche Familienbetriebe aufgeben, da sie von ihren Erzeugnissen nicht leben können. Die Landwirtschaftspolitik des Bundes fördert den sogenannten Strukturwandel, sprich das «Bauernsterben» oder das «wachse oder weiche». Die Ansiedlung von Grossraubtieren macht den Bauern das Leben zusätzlich schwer und führt zu hohen Investitionskosten für den Schutz ihrer Nutztiere, so dass viele Landwirte die Alpwirtschaft aufgeben müssen. Dem nicht genug: Die neue vom Bund veröffentlichte «Klimastrategie für Landwirtschaft und Ernährung»⁵ fordert nun explizit eine massive Reduktion der Nutztierbestände, um das CO₂-Netto-Null-Ziel 2050 zu erreichen! Die Schweizer Bauern leben aber von der Fleisch- und Milchproduktion. Über die Hälfte des landwirtschaftlichen Produktionswertes stammt aus der Tierhaltung. Franz Hagenbuch, Präsident von Swiss Beef, sagt in der Neuen Zürcher Zeitung vom 9. Oktober: «Viele Bauern können nicht auf pflanzliche Produktion umstellen und davon leben. Für Bergbauern ist das keine Option und auch in den weiten Voralpengebieten können viele Bauern nur Grasland nutzen, also Milch- und Viehwirtschaft betreiben.» Die Massnahme ist ausserdem auch ökologisch unsinnig, da das Grünland (Weide- und Grasland) nachweislich am meisten CO₂ speichert.  Grünland gibt es aber nur, wenn es auch Grasfresser gibt!⁶

Die unabhängige Bäuerinnen- und Bauernorganisation «Uniterre» stellt fest, dass zwischen 1990 und 2021 in der Schweiz von insgesamt 93 000 Landwirtschaftsbetrieben noch 48 864 aktiv sind, von 254 000 in der Landwirtschaft Beschäftigten nur noch 148 000 verbleiben und dass die Produzentenpreise im selben Zeitraum um mehr als 30 Prozent gesunken sind. Trotz dieser besorgniserregenden Entwicklung, betont Bundesrat Parmelin in seiner Antwort auf die Petition «Jeder Hof zählt»: «Allgemein verläuft der Strukturwandel in der Schweizer Landwirtschaft aus Sicht des Bundesrates in sozialverträglichen Bahnen.»⁷ Welch ein Hohn!

Laut dem Bundesamt für Statistik wächst die Bevölkerung schneller als die inländische Nahrungsmittelproduktion (kein Wunder, wenn jährlich rund 1000 Höfe verschwinden, obwohl unzählige Jungbauern auf Hofsuche sind!), was zur Folge hat, dass der Selbstversorgungsgrad der Schweiz kontinuierlich sinkt. Lag er 1990 noch bei über 60 Prozent, belief er sich 2020 nur noch auf 56 Prozent. Der Netto-Selbstversorgungsgrad, der ausschliesslich die mit einheimischen Futtermitteln produzierten Nahrungsmittel berücksichtigt, betrug sogar nur noch 49 Prozent.⁸ Die Landwirtschaft hat aber laut Verfassung einen wesentlichen Beitrag zur sicheren Versorgung der Bevölkerung zu leisten. Die Krisen der letzten Jahre haben deutlich gezeigt, wie wichtig ein möglichst hoher Selbstversorgungsgrad für die Unabhängigkeit des Landes ist. 

Schweizer Verfassung und Uno-Mitgliedschaft verpflichten

Warum misst der Bund mit zweierlei Ellen, wenn es um die Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft im In- und Ausland geht? Warum werden die Erkenntnisse des Weltagrarberichts in der Entwicklungszusammenarbeit angewandt und in der Schweizer Landwirtschaftspolitik ignoriert? Der Bund setzt zunehmend auf Nahrungsmittelimporte und unterläuft damit das Ziel der Uno, die lokale kleinräumige Familienlandwirtschaft zu stärken. Die Schweiz verliert dadurch nicht nur ihre eigene Ernährungssouveränität, sondern schwächt auch  diejenige der Erzeugerländer, da diese ihre Produkte auf dem lukrativeren Weltmarkt absetzen, anstatt sie im eigenen Land für einen erschwinglichen Preis der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. 

Der Bundesrat hat die verfassungsmässige Pflicht (BV Art. 104 und 104a61), die landeseigene landwirtschaftliche Produktion zu stärken. Die Schweizer Mitgliedschaft bei der Uno verpflichtet ihn zudem auch im Inland, die Erkenntnisse des Weltagrarberichtes umzusetzen und die lokale, kleinräumige bäuerliche Landwirtschaft zu fördern. 

 

¹ Wege aus der Hungerkrise: Die Erkenntnisse und Folgen des Weltagrarberichts: Vorschläge für eine Landwirtschaft von morgen.
ISBN 978-3-00-044819-5 
² www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/baeuerliche-und-industrielle-landwirtschaft/baeuerliche-und-industrielle-landwirtschaft-volltext.html
³ amerika21.de/analyse/224204/dekade-baeuerliche-familienlandwirtschaft
www.eda.admin.ch/dam/deza/de/documents/themen/landwirtschaft-ernaehrungssicherheit/228261-baeuerliche-familienbetriebe-ernaehrungssicherheit_DE.pdf
www.blw.admin.ch/blw/de/home/nachhaltige-produktion/umwelt/klima0.html
www.deutschlandfunk.de/bodenregeneration-humusrevolution-fuer-welternaehrung-und-100.html
www.kleinbauern.ch/wp-content/uploads/2022/12/20221212_PetitionJHZ_AntwortParmelin.pdf
www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/monitoring-legislaturplanung/alle-indikatoren/leitline-3-sicherheit/selbstversorgungsgrad.html

 

Schlüsselbotschaften zur Uno-Dekade der Familienlandwirtschaft (2019 – 2028)

Die bäuerliche Landwirtschaft bewahrt traditionelle Lebensmittel und trägt gleichzeitig zu einer ausgewogenen Ernährung, zum Schutz der weltweiten Agrobiodiversität und zur nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen bei. […]

Die bäuerliche Familienwirtschaft unterstützt diversifizierte Lebensmittelsysteme, die eine nachhaltige Integration zwischen städtischen und ländlichen Gebieten fördern. Mit innovativen Marktlösungen können Stadtbewohner gesunde, nährstoffreiche und sichere Lebensmittel geniessen. 

Die Jugend ist die Zukunft der bäuerlichen Familienbetriebe. Die Aufrechterhaltung des Interesses an der Landwirtschaft als Beruf ist für die künftige Ernährungssicherheit und die Entwicklung der Landwirtschaft von entscheidender Bedeutung. Junge Landwirte sind die Brücke zwischen traditionellem, lokalem Wissen und innovativen Ideen.

Bäuerliche Familienbetriebe können die Lebensmittelsysteme nachhaltiger machen. Die Politik sollte sie dabei unterstützen, Lebensmittelverluste zu verringern und die natürlichen Ressourcen nachhaltig und effizient zu bewirtschaften. […]

Durch die Verbindung von traditionellem Wissen mit angemessenem technischem Know-how fördert die Familienlandwirtschaft Nahrungsmittelsysteme, die dem Klimawandel besser standhalten. 

Die bäuerliche Familienlandwirtschaft bietet eine einmalige Gelegenheit, die Ernährungssicherheit zu gewährleisten, den Lebensunterhalt zu verbessern, die natürlichen Ressourcen besser zu verwalten, die Umwelt zu schützen und eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, insbesondere in ländlichen Gebieten.

Quelle: https://www.fao.org/family-farming-decade/en/

 

veröffentlicht 16 .November 2023

Bundesrat will mit der EU verhandeln

von Reinhard Koradi

Der Bundesrat soll veranlasst haben, Vorbereitungsgespräche mit der EU für ein neues Abkommen zwischen der Schweiz und der EU hinter verschlossenen Türen zu führen. Dagegen gibt es zwei ernsthafte Einwände. Erstens ist die Geheimdiplomatie für ein demokratisches Land absolut verwerflich. Zweitens sind Verhandlungen mit der EU zum heutigen Zeitpunkt nicht zweckmässig.

Offensichtlich weiss der Bundesrat genau, dass die Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten keine Annäherung an die EU wünscht und daher entsprechende Verhandlungen strikt ablehnt. Diese Ablehnung will der Bundesrat mittels Verhandlungen hinter verschlossenen Türen austricksen.

Geheimdiplomatie – der Schweiz unwürdig

Wer das Tageslicht, also die Transparenz fürchtet, hat etwas zu verbergen. Nur Verrat, kriminelle Handlungen und geheime Agenden werden unter Verschluss gehalten. Wo und wie man die ­Geheimdiplomatie der Schweiz einordnet, überlasse ich dem Leser oder der Leserin dieses Beitrags. Trotz Geheimhaltung ist bereits durchgesickert, dass die Schweiz gegenüber der EU sowohl bei der Personenfreizügigkeit als auch bei der EU-Bürgerschaft und der automatischen Übernahme von EU-Recht Zugeständnisse gemacht haben soll. Das wären dann schon Annäherungsschritte, die der Bundesrat nur allzu gern vertuschen möchte. 

Tatsache bleibt, dass Geheimdiplomatie gegen das Prinzip, dass in der direkten Demokratie das Volk oberstes Organ ist, verstösst.

Zum heutigen Zeitpunkt ist es falsch, mit der EU zu verhandeln

Die EU ist zurzeit kein verlässlicher Verhandlungspartner. Vielleicht war sie das nie, doch seit einigen Jahren ist die EU in extremer Schieflage. Aufgrund einer enormen Verschuldung ihrer Mitgliedsländer hat die Europäische Zentralbank Massnahmen ergriffen, die die Stabilität und Zukunftsperspektiven im Euro-Raum sehr gefährden. Der Euro hat in den letzten Monaten massiv an Kaufkraft verloren. Die Menschen werden unter der Last, die der Zentralismus aus Brüssel bewirkt, noch mehr leiden. Zusätzlich erhöht sich diese Belastung, weil sich die EU aufgrund ihrer USA-Hörigkeit bedingungslos den durch die USA ausgerufenen Sanktionen anschliesst, obschon diese Sanktionen den USA Vorteile bringen und die EU-Wirtschaft schwächen. Die Beteiligung am Konflikt in der Ukraine ist ein weiterer Faktor, der die EU nahe an den Abgrund führt. 

Die EU ist massiv unter Druck und hat derzeit keine Vorteile anzubieten, die der Schweiz dienlich sein könnten. Aus der Wirtschaftsgeschichte haben wir gelernt, dass Fusionen zwischen einem schwachen und einem starken Unternehmen beide in die Insolvenz führen werden. Eine weitere Erfahrung ist, dass die Unternehmenskulturen der fusionswilligen Unternehmen nicht zu unterschiedlich sein dürfen, ansonsten zerbricht die Zusammenarbeit. Diese Grundregeln können wir sehr wohl auch auf Länder übertragen. Sollte sich die Schweiz wirklich der instabilen EU annähern, dann laufen wir Gefahr, selbst geschwächt und in unvorhersehbare Konflikte eingebunden zu werden, die unsere Freiheit, Souveränität und Sicherheit bedrohen oder gar schmälern. Polarisierend sind auch die sehr grossen Unterschiede der politischen Kulturen. In Brüssel herrscht Zentralismus mit annähernd diktatorischen Tendenzen, und in der Schweiz kennen wir die direkte Demokratie. Diese sehr differierenden politischen Kulturen werden eine zukunftsfähige Zusammenarbeit verhindern, es sei denn, die Schweiz gibt ihre eigene politische Kultur zu Gunsten einer EU-Annäherung auf – ein Preis, der viel zu hoch ist und von den Stimmberechtigten in unserem Land nicht goutiert wird.

Die Schweiz muss ihren eigenen Weg finden, der gewährleistet, dass Souveränität, direkte Demokratie und die bewaffnete Neutralität unantastbar bleiben. Zusammen mit der EU ist dieser Weg nicht gangbar! 

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