«Die USA sollen mit den Europäern, den Russen oder den Chinesen auf gleicher Ebene zusammenarbeiten»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, US-amerikanischer Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Was müssen die Prioritäten des neuen US-Präsidenten Joe Biden sein, wenn er die Regierungsgeschäfte von Donald Trump übernimmt?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Er muss alles daransetzen, das Land zu einen, denn die andauernde Polarisierung kann gefährlich werden. Alle, die Amerika ihre Heimat nennen, wollen das Allgemeinwohl für alle. Man muss die «Feindschaft» zwischen Demokraten und Republikanern überwinden bzw. Brücken bauen, Brücken des Dialogs, denn es geht nicht um A gegen B, sondern um A in Zusammenarbeit mit B. Es darf nicht schwarz-weiss werden, bedingungslose Kapitulation, das «Winner takes all»-Prinzip. Diese Polarität ist auch ein Resultat des zwei Parteiensystems.

Was ist hier zu tun?

Es muss ein neues System mit mehreren Parteien angestrebt werden, damit der Wille des Volkes auch besser repräsentiert ist, damit sich der demokratische Pluralismus entfalten kann. Auch sollte Biden die US-Verfassung und Rechtsstaatlichkeit stärken und sich gegen die «Machtergreifung» der Techno-­Giganten einsetzen, die eine tiefgreifende Manipulierung der öffentlichen Meinung betreiben, was die Demokratie unterminiert. Er muss die Idee des «Marketplace of Ideas» wieder gesellschaftsfähig machen. Das sichtbare, aber langsame Hineinschlittern in eine ­orwellsche Dystopie muss gestoppt werden. Heute lieber als morgen.

Was muss der neue US-Präsident im Bereich der Aussenpolitik tun?

Die amerikanische Aussenpolitik hat viel Leid verursacht, und zwar nicht nur durch Trump – sondern auch durch Bill Clinton, George W. Bush und Barak Obama, die das Völkerrecht mit Füssen getreten haben: Terrorbombardierungen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien veranlasst, undemokratische «regime changes» in Irak, Libyen, Ukraine betrieben. Ferner haben die US-Präsidenten durch nichtkonventionelle Kriege wie Embargos, Finanzblockaden und Sanktionen, Abertausende Menschen getötet. In mehreren Artikeln und in meinen Berichten an den Uno-Menschenrechtsrat und an die Uno-Generalversammlung habe ich das ausführlich erklärt: Sanktionen töten Menschen! Dessen muss man sich bewusst sein, diese Sanktionen sind nicht harmlos. Sie sind auch nicht nur gegen die Politiker eines Landes gerichtet, was auch schon illegal ist, sondern, das muss klar sein, gegen ein ganzes Volk.

Wer sind die Staaten, die unter den Sanktionen der USA besonders leiden?

Es bestehen Sanktionen gegen Kuba, gegen Venezuela, gegen Nicaragua, gegen Syrien, gegen den Iran, die Liste ist lang. Die Ärmsten der Armen bezahlen am meisten für diese Sanktionen. Hier stellt sich ganz klar die Frage, ist das ein Verbrechen gegen die Menschheit, weil auch die Zahl der Opfer enorm gestiegen ist, vor allem auch in Bezug auf Covid-19. Die Auswirkungen der Sanktionen müssen untersucht werden. Das ist im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) vorgesehen. Das fällt unter Artikel 7 des Statuts.

Laufen nicht schon Untersuchungen gegen die USA?

Fatou Bensouda, die Chef-Anklägerin des ICC, ist trotz Sanktionen von Trump gegen sie persönlich und gegen Mitglieder ihrer Mannschaft schon dabei, US-Verbrechen gegen die Menschheit und US-Kriegsverbrechen in Afghanistan und im Irak zu untersuchen. Sie könnte auch motu proprio (aus Eigeninitiative) eine Untersuchung über die Konsequenzen dieser Sanktionen beginnen, vor allem auch wegen Covid-19. Am 13. Februar 2020 erhielt Bensouda vom venezolanischen Aussenminister Jorge Arreaza eine ausführliche Dokumentation über die Toten, die die Sanktionen in Venezuela verursacht haben, mit der Bitte um eine Untersuchung gemäss Art. 7 des Statuts von Rom.

Inwiefern können die Sanktionen Verbrechen sein?

Es liegt auf der Hand, dass besonders in Hinblick auf Covid-19 Menschen sterben, wenn ein Staat nicht rechtzeitig den Impfstoff bekommt oder wie im Falle Kubas zu wenig Beatmungsgeräte erhält – Konzerne haben sich geweigert, diese Geräte an Kuba zu verkaufen, weil sie Angst hatten, Strafaktionen der USA zu gewärtigen. Dies muss für die Staaten, die solche Sanktionen verhängen, strafrechtliche Konsequenzen haben. 

Hat der Internationale Gerichtshof genügend Gewicht, um die USA zu einer Änderung ihrer Politik zu bewegen? 

Neben dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) könnte und sollte der Internationale Gerichthof (IGH) die Sanktionen als völkerrechtswidrig erklären, und zwar durch ein Gutachten, das die Generalversammlung gemäss Art. 96 der Uno-Charta anfordern kann. Aber auch dann würde ein Trump nicht einlenken. Vielleicht wird sich Biden respektvoller gegenüber dem ICC und IGH zeigen. Man hegt die Hoffnung, dass Biden auf Multilateralismus abstellt und die Meinung seiner Verbündeten jedenfalls berücksichtigen wird.

Was sollten die Europäer tun?

Es wäre eine Möglichkeit, dass europäische Staaten, jetzt, wenn Trump sein Amt abgegeben hat, sich gegenüber den USA nicht mehr wie Lakaien benehmen und ihre eigene Politik führen. Wenn die Europäer meinen, eine höhere Moral zu besitzen, dann sollten sie das beweisen. Als Erstes könnten sie ihre eigenen Sanktionen gegen Kuba und Venezuela aufheben und ihre Konzerne vor den Strafen des US-Finanzministeriums schützen. Sie sollten den ICC bei ihren Untersuchungen nach Kräften unterstützen und auch eine Untersuchung unter Artikel 7 ICC vorantreiben. Dies betrifft nicht nur die Sanktionen gegen Kuba und Venezuela, sondern auch die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, die in Afghanistan, Irak und Syrien begangen worden sind. Hier geht es darum, gegen die Impunität bzw. Straflosigkeit für die Verbrechen, die die Regierungen von Clinton, Bush, Obama und Trump begangen haben, konsequent zu agieren. Darüber hinaus besteht eine Möglichkeit, nach dem Prinzip der «universal jurisdiction» bzw. «universeller Rechtsprechung» Personen, die sich unter der Jurisdiktion der europäischen Staaten befinden (z. B. wenn amerikanische Militärs, die an Kriegsverbrechen im Irak beteiligt waren, in Europa weilen), zu verhaften und vor Gericht zu bringen.

Das können alle Staaten anwenden und umsetzen?

Das ist ein Konzept im Völkerrecht, wonach Personen, die sich z. B. der Folter schuldig gemacht haben, von jedem Staat verhaftet werden können und eine Person, z. B. für Folterungen in Guantanamo, bestrafen. Das kann jeder Staat, sei es Frankreich, Spanien. Italien, Deutschland, Schweiz etc. Sie könnten diese Personen verhaften und dann eine strafrechtliche Untersuchung gemäss den eigenen Strafgesetzbüchern einleiten. Neben der universellen Rechtsprechung bestehen auch vertragliche Verpflichtungen, z. B. gemäss Artikel 5 - 6 der Uno-Konvention gegen die Folter, dass alle Personen – egal welcher Nationalität – verhaftet und vor Gericht gebracht werden müssen, wenn Beweise vorliegen, dass sie gefoltert haben.

Sie haben Guantanamo erwähnt …

… und das ist absolut akut, denn mehrere Uno-Sonderberichterstatter haben verlangt und nicht erst jetzt an Joe Biden gerichtet, sondern grundsätzlich verlangt, Guantanamo zu schliessen. Vor Tagen jährte sich zum 19. Mal die Eröffnung dieser Sonderanlage in Guantanamo, in der über 700 Häftlinge in diesen 19 Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangengehalten und gefoltert wurden. Übrigens lohnt es sich, darauf hinzuweisen, dass die strafrechtliche Verantwortung für die Folteraktionen in Guantanamo nicht nur Trump, sondern auch George W. Bush, und Barak Obama tragen – alle haben bisher Straffreiheit genossen.

Wie viele sind dort noch illegal festgehalten?

Es sind noch 40 Personen dort (von ursprünglich über 700), aber Prozesse wurde nur gegen 8 Personen geführt. Das heisst, hier hat man willkürliche Verhaftungen von Hunderten von Menschen durchgeführt. Ben Emmerson, Uno-Sonderberichterstatter für die Förderung und den Schutz der Menschen- und Grundrechte während der Terrorbekämpfung, hat einen Bericht für den Uno-Menschenrechtsrat verfasst. Dabei ging es um 54 Staaten, die mit den USA in dem «ausserordentlichen Auslieferungsprogramm» kolludierten und kooperierten, was nichts anderes bedeutet als das Entführen und Ausliefern einer Person an einen anderen Staat ohne juristische Grundlage oder rechtsstaatliche Verfahren. Menschen sind klammheimlich und ohne dass die Presse irgend etwas darüber berichtet hätte, verhaftet und dann an die CIA oder das amerikanische Militär ausgeliefert worden, die dann in US-Geheimgefängnissen (sogar auf hoher See) und in Guantanamo verschwanden. Das war in Tat und Wahrheit ein Programm für Kidnapping und Verschleppung, und 54 Staaten haben sich mitschuldig gemacht.

Warum ist Guantanamo, das auf Kuba liegt, immer noch ein Territorium der USA?

Es ist illegal besetzt. Es ist mit 117 km² so gross wie Manhattan-Island und die New Yorker Hafenanlagen. Der Vertrag von 1903, der ein Kolonialvertrag war, wurde von Kuba 1959 gekündigt. Er entstand nicht aufgrund freier Verhandlungen, sondern wurde den Kubanern aufgezwungen. Das Völkerrecht ist hier ganz klar, und ich habe das in einem Artikel in der Law-Review der University of British Columbia (Vancouver) dargelegt und auch diesbezüglich den Artikel «Guantanamo Naval Base» für die Oxford Encyclopedia of Public International Law (2012) geschrieben. Man sollte Guantanamo nicht nur als Folterzentrum schliessen, sondern auch das Territorium Kuba vollständig zurückgeben. Der Vertrag ist und war ungültig, aber Kuba ist nicht in der Lage, sein Recht durchzusetzen wie z. B. China, das den Briten 1997 klar signalisiert hat, dass sie Hong Kong verlassen müssen. Entweder gehen sie friedlich oder China hätte sie hinausgeworfen. 

Haben die USA schon je einmal ein Gebiet zurückgegeben?

Der US-Präsident Jimmy Carter hatte 1977 den Panamakanal der Souveränität Panamas übergeben. Es gab ebenfalls einen Kolonialvertrag, den man Panama aufgezwungen hatte. Motu proprio hat Carter, um ein Zeichen der Brüderlichkeit zu setzen, den Kanal an Panama zurückgegeben.

Auch der Premierminister Australiens, Kevin Rudd, entschuldigte sich 2007 zunächst für alle Verbrechen, die Australien an den Aborigines begangen hatte, und gab ihnen die Gebiete zurück, die heute von der Urbevölkerung verwaltet werden.¹ Das könnte Joe Biden auch mit Guantanamo tun, und er würde damit grosse Sympathien in der Welt und bei der Uno ernten.

Gibt es in Bezug auf die Ureinwohner in den USA nicht auch noch einiges zu tun?

Ja, Biden sollte auch an die Entschuldigung Obamas an die «First Nations» von Amerika – die Autochthonen Sioux, Iroquois, Crees, Cherokees, Navajos usw. – anknüpfen. 2008 hat Obama tatsächlich eine «Apologie Resolution» unterschrieben, die die vielen Ungerechtigkeiten gegen die «Indianer» anerkennt. Aber es hat gar keine Wiedergutmachung gegeben, und die Indianer werden nach wie vor diskriminiert und ausgebeutet. Ich hab Verständnis für die «Black Lives Matter» Bewegung – aber noch dringlicher wäre eine «Indigenous Lives Matter» Anerkennung samt Wiedergutmachung.

Zurück zu Guantanamo. Wer waren die Opfer, die in dieses illegale Gefängnis verschleppt wurden?

Auf die Annahme hin, dass irgendjemand eine Verbindung zur Al-Kaida oder zu den Taliban haben könnte, wurden die Menschen gekidnappt, dann der CIA ausgeliefert und nach Guantanamo verschleppt. Ich wiederhole noch einmal, 54 Staaten haben sich an der Revolte gegen das Völkerrecht und gegen das humanitäre Völkerrecht beteiligt. Das ist ein Skandal und eine riesige Schande, ist aber von den Medien sehr heruntergespielt worden. 

Waren europäische Staaten daran beteiligt?

Die meisten Menschen wissen nicht, dass in Polen oder in Rumänien gefoltert wurde. Man weiss, dass in Ägypten gefoltert wurde. Ägypten war einer der Partner der USA bei den Verbrechen und hat seine Folterexperten. Die USA wollten sich an diesen grausamen Methoden nicht die Finger schmutzig machen und haben das exportiert oder im Neusprech: geoutsourct. Das alles muss von Joe Biden gestoppt werden.

Wie sehen Sie das Verhältnis zu Iran, nachdem Trump den Atomvertrag gekündigt hat?

Natürlich müssten die USA in erster Linie in den Iranvertrag zurückkehren. Es ist wichtig, dass der Iran nicht genötigt wird, sein Nuklearprogramm wieder aufzunehmen. Kein Mensch will eine Proliferation der Atomwaffen. Deshalb muss man dem Iran Sicherheitsgarantien anbieten, damit sich das Land nicht bedroht fühlt. Die Iraner fühlen sich permanent bedroht, und es besteht auch eine Aggression ohne gleichen, die von den USA ausgeht. Der Staat wird regelrecht erdrückt. Obama hatte seinerzeit erkannt, dass die Sanktionspolitik der USA bisher total erfolglos war. Die Sanktionen sind da, um einen Regimechange durchzusetzen, und das ist den USA nirgends gelungen, weder in Kuba noch in Venezuela, in Nicaragua, in Syrien, im Iran etc. Aber Sanktionen haben vor allem den Effekt, den man «Collateral damage» nennen kann. Sanktionen töten Menschen, und zwar vor allem die Ärmsten der Armen.

Sie haben jetzt erwähnt, welche «Schandtaten» die USA sofort beenden müssen, und das scheint mir wichtig. Was aber könnten die USA nicht nur reaktiv, sondern proaktiv tun, um mehr Frieden und Gerechtigkeit in die Welt zu bringen? 

Die USA müssen zuallererst ihre internationale Glaubwürdigkeit wieder herstellen. Die USA sind kein glaubwürdiger Partner mehr. Es geht nicht an, dass man heute einen Vertrag unterschreibt und nach einem Regierungswechsel wie von Obama zu Trump diese Verträge reihenweise wieder gekündigt werden. Joe Biden wäre gut beraten, wenn er so schnell wie möglich die Pariser Klimavereinbarung wieder geltend machen würde sowie die Abrüstungsverträge über die Begrenzung der Nuklearwaffen mit Russland, den Vertrag mit dem Iran etc., etc.

Die Verträge mit Russland stammen doch noch aus alten Zeiten ...

Der Vertrag, der sehr wichtig ist, ist vor allem der «Open Skies»-Vertrag über Waffenbegrenzung, dem mehrere Staaten angehören. Aber die USA ist unter Donald Trump als einziger Staat ausgestiegen. Nun droht der Ausstieg der Russen, denn ohne die USA hat der Vertrag wenig Sinn. Der Rüstungswettlauf wird nicht aufhören, wenn es keine Transparenz gibt. Wenn ich nicht weiss, wie gross das Arsenal des anderen ist, wird jeder noch mehr Waffen produzieren, weil er Angst hat, sonst unterlegen zu sein. Begrenzte Ressourcen der Staaten werden schamlos für die Produktion von Nuklearwaffen verschwendet. Das muss geändert werden. Der «Open Skies»-Vertrag ist ein sehr vernünftiger Vertrag, auch der Start-Vertrag sowie der INF sind sehr sinnvolle Verträge.

Was müsste Joe Biden jetzt tun? Alle diese Verträge nochmals abschliessen?

Vielleicht müssen sie neu verhandelt werden, um einen Up-to-date-Vertrag in der Begrenzung von Nuklear- oder konventionellen Waffen zu erreichen. Biden muss der Welt beweisen, dass er den Multilateralismus als seine persönliche Politik annimmt. Die USA sollen mit den Europäern, den Russen oder den Chinesen auf gleicher Ebene zusammenarbeiten und nicht nur Befehle erteilen. Die USA mögen es nicht, Befehlsempfänger zu sein, die Russen mögen das nicht, die Chinesen wollen das auch nicht. Sie wollen, dass sie respektiert werden. Dieser gegenseitige Respekt, den Trump vollkommen vernichtet hat, muss wieder hergestellt werden

Wie müsste sich das Verhältnis zur Uno ändern?

Biden soll so schnell wie möglich versuchen, dass die USA in den Uno-Menschenrechtsrat gewählt werden. Trump ist vor bald drei Jahren ausgetreten und dabei hat er viele Staaten vor dem Kopf gestossen. Die USA geniessen an der Uno wenig Popularität. Eigentlich merkwürdig, denn 1948 waren die USA führend im Bereich der Menschenrechte und der Universellen Erklärung der Menschenrechte. 

Wie könnten die USA zu diesem Standard zurückkehren?

Wie ich oft gesagt habe, wenn die USA wieder angesehen werden möchten, wenn sie nicht nur respektiert, sondern auch geliebt werden möchten – brauchen sie bloss, die multilaterale menschenrechtliche Arbeit von Eleanor Roosevelt wieder aufzunehmen. 

Wo könnte Joe Biden beschwichtigend auf Konflikte wirken?

Die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist und bleibt eine konfliktpräventive Massnahme. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Hunderte von Kriegen begonnen, nicht wegen des Selbstbestimmungsrechts, sondern weil das Selbstbestimmungsrecht verweigert wurde. Es gab die Kriege auf dem Balkan, im Kaukasus, in Sri Lanka in der Westsahara. Und es ist natürlich ein Jammer, wenn die wirtschaftlichen Interessen über dem Selbstbestimmungsrecht stehen. So bestand kein Interesse an der Situation der Tamilen und Massaker an der Bevölkerung konnten geschehen. Das Gleiche widerfuhr auch den Igbos und den Ogonies in Biafra. Sie sind in Nigeria Opfer von Völkermord geworden. Hier hatte Nigeria die Unterstützung von Royal Dutch Shell. Es ging um viel Geld wegen des Öls in Biafra und die Bevölkerung sollte ausgerottet werden.

Was muss sich dann mit der neuen Regierung konkret ändern?

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muss ein leitendes Prinzip der USA werden. Biden müsste mit Aktionen beweisen, dass er etwas anderes will. Er müsste die Kündigung der Verträge, die ich vorher erwähnt habe, rückgängig machen. Eine Initiative dazu wäre an der Uno-Generalversammlung eine Erklärung abzugeben: Wir wollen künftig multilateral zusammenarbeiten mit der Uno und mit dem Rest der Welt. Wir wollen gemeinsam friedliche Lösungen finden. Das muss er sagen. Er muss etwas tun zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der USA. Es wird nicht einfach automatisch eine neue Normalität geben. Er muss das tun.

Wird das gelingen?

Das wissen wir nicht. Er könnte es tun und damit eine neue Ausgangslage für die USA schaffen. Aber wir müssen uns schon bewusst sein, dass es einflussreiche Lobbys in den USA gibt, von denen z. B. schon Präsident Eisenhower in seiner «Farewell-Rede» 1961 sprach², als er von zu grossem Einfluss des militärisch-industriellen Komplex warnte. Diese Lobbys sind heute auch alle noch da und haben wenig Interesse an einer Änderung der US-Politik. Aber wenn man es langfristig sieht, dann werden auch sie erkennen, dass sie früher oder später einen anderen Weg gehen müssen. Ich hoffe, dass es Biden gelingt, sie zu überzeugen, dass ein multilateraler Weg in der Völkergemeinschaft sinnvoller ist. Sie werden nach wie vor gut verdienen, aber wenn man schon Milliardär ist, ist es nicht notwendig, noch mehr Milliarden zu besitzen. Sie müssen sich wieder einen Sinn für Verhältnismässigkeit erschaffen. Der scheint abhandengekommen zu sein. Biden muss vor allem dafür sorgen, dass die Prioritäten im Haushalt geändert werden. Niemand braucht ein Billionen-Dollar Budget für das Militär, im Gegenteil. Steuergelder sollen vor allem dafür eingesetzt werden, Arbeitsplätze zu schaffen, den Unterricht zu stärken, die Krankenhäuser zu modernisieren, die Forschung im Bereich der Genesung zu beschleunigen. Hätten die Vereinigten Staaten bessere Haushaltsprioritäten gehabt, wären wir für die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie besser vorbereitet gewesen. Biden muss dafür sorgen, dass das Volk über den Profiten der Konzerne steht. Dabei kann er sich auch auf die Kirchen in den USA stützen. Wir brauchen nämlich eine religiöse und ethische Epiphanie.

Der neue US-Präsident Joe Biden könnte also viele positive Zeichen für eine friedlichere Politik setzen, was auf andere Staaten sicher eine Signalwirkung hätte.

Was wäre eine noble Handlung, die Biden am Anfang seiner Präsidentschaft noch ausführen könnte?

Biden sollte die Verfolgung von Julian Assange und Edward Snowden sofort beenden. Assange hat viel für die USA und für die Welt getan. «Whistleblowers» sind in Wirklichkeit notwendige Verteidiger der Menschenrechte. Wir haben ein Recht zu wissen (Art. 19 Abs. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte), ein Recht auf Information, die uns von der Regierung vorenthalten wird. Wir müssen wissen, was von unseren Regierungen in unserem Namen geschehen ist. Die Vertuschung von Verbrechen ist den USA unwürdig. Assange ist Australier, und die USA sollten Assanges Rückkehr in sein Heimatland ermöglichen. Aber Edward Snowden, der ein sehr patriotischer Amerikaner ist, sollte in die USA zurückkehren können – ohne Prozess, ohne Bestrafung, ohne weitere Verfolgung. Beide sind Helden des 21. Jahrhunderts!

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ www.youtube.com/watch?v=xiLnsFyAVqE

² www.youtube.com/watch?v=PCEOgamC1p0

Deutschland: Widersprüche und Schieflagen

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie ist die Stimmung in Deutschland bezüglich Covid-19 und der neuerlichen Massnahmen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die Lage ist angespannt. Die Zahl der täglich an oder mit Corona-Infektion Gestorbenen ist auf einem sehr hohen Niveau, und die teils drastischen Massnahmen scheinen keinen durchschlagenden Effekt auf das Infektionsgeschehen zu haben. Deshalb wird immer wieder über Verschärfungen diskutiert, derzeit unter den Schlagworten «Mega-Lockdown» und «Zero Covid». Zwischen Weihnachten und Neujahr genossen vermehrt Tagesausflügler den Schnee und sind in die Mittelgebirge gefahren, um zu wandern. Es gab in den Medien eine regelrechte Stimmungsmache gegen diese Menschen, das Verhalten wurde als unverantwortlich bezeichnet.

Interessant, womit sich die Medien beschäftigen.

Auf das Verhalten im Privaten wird sehr viel mediale Aufmerksamkeit gelenkt, während die Arbeitswelt im Wesentlichen weiter funktioniert wie bisher. Da besteht in der Diskussion eine gewisse Schieflage, auch wenn die Kritik daran zuletzt lauter geworden ist. Es wird sehr moralisch auf das Verhalten des Individuums, besonders im privaten Bereich reagiert, aber nicht im Arbeitsbereich. Wenn die Menschen in vollen öffentlichen Verkehrsmitteln pendeln, weil sie zum Arbeitsplatz müssen, ist das Risiko sicherlich höher, als wenn sie an einem Wochenendtag wandern gehen.

Was soll mit den massiven Einschränkungen erreicht werden?

Ausdruck dieser Stimmungsmache ist für mich der aberwitzige Beschluss, im Falle von hohen Infektionsraten den Bewegungsradius auf 15 Kilometer einzuschränken. Das ist eine neue Forderung, die natürlich auf den privaten Bereich abzielt. Wenn ich beruflich unterwegs bin, kann ich auch weiter fahren. Das ist eine neue Qualität, das hat es so bisher noch nicht gegeben. Die Nachvollziehbarkeit dieser Massnahme fällt nicht nur mir schwer.

Wie wurde die Bestimmung von der Bevölkerung aufgenommen?

Es gab schon eine Aufregung darüber, und sie wurde teilweise auch kritisiert. Viele Menschen haben aber auch Angst vor dem Virus und fordern härtere Massnahmen. Am 5. Januar wurden die bestehenden Massnahmen erneut verschärft, aber ausschliesslich im privaten Bereich.

Wie muss man sich das erklären, dass die Bürger hier so rangenommen werden. Es ist doch eine grosse Einschränkung der Freiheit, wenn sich Menschen nur noch in einem Radius von 15 Kilometern bewegen dürfen?

Hier war die Vorstellung, dass man mit diesen Massnahmen die 7-Tagesinzidenz, also die Zahl der positiven Tests pro 100 000 Einwohner in einer Woche, unter 50 drücken kann. Das ist aber nicht der Fall, wir stehen bei 100 bis 150. Die Frage ist natürlich, wie realistisch das im Winter überhaupt ist. Es gibt Virologen und Epidemiologen, die sagen, das sei eine völlig unrealistische Vorstellung, in der Wintersaison an so einer Zahl festzuhalten. Andere wollen die Zahlen noch tiefer ansetzen auf 35 oder gar 20, was noch unrealistischer ist. Hinzu kommt, dass die Inzidenz von vielen Variablen abhängt, also vor allem der Anzahl der Tests und der Testkriterien. Das macht sie ziemlich unzuverlässig. Beispielsweise gelten die Zahlen seit den Feiertagen als wenig aussagekräftig. Die Massnahmen haben nicht so gewirkt, wie sich die Regierung das vorgestellt hat. Auf der Linie der bestehenden Massnahmen hat man jetzt nochmals ein paar «Schippen» draufgelegt. 

Was waren das für zusätzliche Massnahmen?

Der schon erwähnte Radius von 15 Kilometern, dazu kommen noch weitere Kontaktbeschränkungen. Man darf jetzt nur noch eine Person aus einem anderen Haushalt treffen. Das ist natürlich ganz verheerend auch für Kinder, die bekanntlich besonders unter dieser Situation leiden. Wenn sie Begleitung brauchen, läuft die Regel darauf hinaus, dass sie legal keine anderen Kinder treffen dürfen. Andererseits können solche strikten Regelungen ohnehin nicht wirklich kontrolliert werden.

Es ist eine Fortsetzung der bisherigen Politik mit einer Verschärfung, auch wenn die bisherige Politik nicht die gewünschten Ergebnisse gezeigt hat. Wenn wir die täglichen Corona-Zahlen in Deutschland betrachten, fällt im Vergleich zu anderen Ländern auf, dass wir jetzt anders als im Frühjahr eine hohe Sterblichkeit haben. In Bezug auf die Bevölkerungsgrösse ist sie aktuell sogar höher als in den USA, auf die man hier lange verächtlich herabgeblickt hat. Schweden, dessen weniger strikte Strategie gegen Corona unter anderem wegen der hohen Todeszahlen im Frühjahr immer als gescheitert dargestellt wird, hat aktuell eine ähnliche Sterblichkeit wie Deutschland.

Hätte man diese Entwicklung verhindern können?

Ich denke ja. Und zwar zunächst mit strukturellen und zielgerichteten Schutzmassnahmen, die weniger auf die Grundrechte der Bürger abzielen. Die hätte man konsequent planen und dann umsetzen müssen. Erst wenn das nicht reicht, sollte man über drastischere Massnahmen nachdenken. Man liess aber sehr viel Zeit verstreichen. Das wurde praktisch versäumt, obwohl viele Monate Zeit war.

Wie kann man sich diese Massnahmen konkret vorstellen?

Dazu gehört der Schutz der älteren Bevölkerung, dazu gehören die Pflege- und Altenheime oder auch die Organisation des Schulunterrichts unter Pandemie-Bedingungen, der Einbau von Luftfiltern. 

Es gibt einzelne Städte, die sich etwas haben einfallen lassen. Ein ganz interessantes Modell besteht in Tübingen. Dort können die über  65-jährigen ein Taxi zum Preis des öffentlichen Personennahverkehrs benutzen, anstatt in den vollen Bus steigen zu müssen. Sie bekommen von der Stadt die FFP2-Masken gratis zugeschickt. Und in Supermärkten gibt es Zeiten, die für Ältere reserviert sind. Auch existieren vor den Altenpflegeheimen umfangreiche Testkapazitäten. Das Ganze scheint auch zu wirken. Sicher kann man nicht jede Infektion verhindern, und es braucht Massnahmen, um die Ansteckungen insgesamt zu bremsen. Aber das sind zielgerichtete Massnahmen, die die Situation insgesamt verbessern, ohne auf die Grundrechte der Bürger abzuzielen. Wir haben hier eine ganz starke Schieflage in Richtung generelle Einschränkung der Grundrechte aller Menschen, und das ist verheerend. 

Wie begründet die Regierung diese Einschränkungen?

Als ich mir die Neujahrsbotschaft der Kanzlerin anschaute, war ich wirklich schockiert. So wie in dieser Rede hatte sie sich bisher noch nicht geäussert. Es war eine sehr martialische Sprache, die sie an den Tag legte. Sie charakterisierte das Virus als Feind, die Ärzte und das Pflegepersonal beschrieb sie als Helden. Und dann gibt es noch die grausamen Verräter, das sind die «Verschwörungstheoretiker». Sicher haben in der Corona-Zeit auch absurde und unhaltbare Theorien Hochkonjunktur. Ich sehe jedoch mit Sorge, dass unter diesem Begriff häufig auch diejenigen gefasst werden, die vielleicht etwas substantiellere und kritische Fragen stellen. Und es ist doch beachtlich, dass Merkel und ihre Regierung immer warme Worte für die Angestellten im Gesundheitssystem haben, aber praktisch nichts tun, um deren Arbeitsbedingungen zu verbessern.

In welchem Zeitraum hat sich der Sprachduktus verändert? 

Im Sommer hat Merkel noch ganz anders argumentiert, nämlich man habe Grundrechte eingeschränkt und dagegen habe es viel Kritik und Reaktionen gegeben, aber das sei auch richtig so, denn, wenn eine Gesellschaft die Grundrechte einschränke und es keine Reaktionen darauf gebe, dann sei das keine demokratische Gesellschaft. Sie argumentierte, dass man diese Einschränkungen habe vornehmen müssen und sie für die Reaktionen auch Verständnis habe. Jetzt hat sie eine ganz andere Sprache verwendet, und das fand ich schon etwas erschütternd. 

Warum hat sie diese verständnisvolle Haltung geändert? Worum geht es jetzt?

Das ist die grosse Frage. Was ich feststelle, sind diese Widersprüche und diese Schieflagen, wie ich sie gerade beschrieben habe. Auch denke ich immer wieder darüber nach und frage mich, wohin sich die Gesellschaft durch diese Krise entwickeln wird.

Ja, die Frage beschäftigt viele Menschen …

Ich bin in einer Diskussionsrunde gefragt worden, ob wir auf eine Diktatur zusteuern. Ich nehme die Sorgen der Menschen sehr ernst, doch ich sehe diese Gefahr aktuell nicht. Aber die Frage, ob nach der Pandemie wirklich alle Grundrechtseinschränkungen wieder zurückgenommen werden, stellt sich natürlich schon. Der jetzige Zustand darf jedenfalls nicht zur Normalität werden.

Kurz vor Jahresende wurde in vielen Ländern mit dem Impfen begonnen. Ist das die Lösung zur Überwindung der Pandemie?

Die Impfung, die jetzt in Rekordzeit entwickelt wurde, kann ein wichtiger Baustein sein. Wenn dadurch ein weitgehender Schutz zumindest vor der Erkrankung besteht, würde dies dem Virus einigen Schrecken nehmen, vor allem für den älteren Teil der Bevölkerung. Wichtig ist, dass die Sicherheitsstandards eingehalten werden und dass transparent kommuniziert wird, zumal es sich um ein neues Impfverfahren handelt. Auch braucht es unbedingt Transparenz über die Nebenwirkungen.

Es gab doch auch schon Todesfälle.

Es gab Todesfälle in zeitlicher Nähe zu Impfungen. Ob es einen kausalen Zusammenhang gibt, muss jedoch untersucht werden. Es gab zum Beispiel einen Fall in der Schweiz, den ich mir genauer angeschaut habe. Hier ist jemand kurz nach der Impfung gestorben. Es wurde sofort argumentiert, dass die Person Vorerkrankungen gehabt habe und an diesen gestorben sei. Das ist gut möglich und zu hoffen. Aber es fällt doch auf, dass hier genau entgegengesetzt zu den «an oder mit Corona» Gestorbenen argumentiert wird. Bei den allermeisten Corona-Toten können wir bis heute nicht sagen, ob die Infektion bzw. die Erkrankung ursächlich für den Tod war oder zumindest einen wesentlichen Anteil hatte. Fordert man diese Differenzierung und weist auf den Umstand hin, dass die meisten Toten eine oder mehrere Vorerkrankungen hatten, dann landet man schon fast in der Schublade, ein «Corona-Leugner» oder «Verschwörungstheoretiker» zu sein. Im Falle der Impfung ist es genau andersherum. Das ist schwer nachzuvollziehen.

Wie müsste denn die Transparenz beim Impfstoff aussehen?

Bis jetzt bekommt man Einzelfälle mit, wie der in der Schweiz oder bei der mexikanischen Ärztin, die schwerste Nebenwirkungen hatte. Wichtig ist, dass solche Fälle systematisch erfasst und ausgewertet werden. Wird in diesen Fragen nicht transparent kommuniziert, dann wird das verständlicherweise die Impfbereitschaft senken.

Was kann man in dieser Situation tun?

Man sollte das Ganze aufmerksam und kritisch beobachten. Man sollte auch gegen die Angst argumentieren, sie ist nie eine gute Beraterin. Ich sehe derzeit drei wesentliche Quellen der Angst, die eine sachliche und respektvolle Auseinandersetzung zunehmend erschweren und die Diskussion zuspitzen: Die Angst vor dem Virus, die Angst vor einer Verstetigung von Grundrechtseinschränkungen und die Angst vor dem sozialen Absturz, vor der Armut aufgrund der Massnahmen. Diese Ängste müssen wir ernstnehmen, unabhängig davon, ob wir sie teilen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

 

Der Verlust des freien Denkens und der freien Meinungsäusserung sät Zwietracht

von Reinhard Koradi

Wer hätte vor Jahresfrist gedacht, dass an Silvester Partys verboten sind oder dass Polizisten Bürger von der Strasse weisen, weil sie Unterschriften für das Referendum gegen das neue, unverschämte Antiterrorgesetz sammeln? 

Besuche von Familienangehörigen werden reglementiert, um die weitere Ausbreitung des Virus einzuschränken. Skipisten sind teilweise geschlossen oder nur für eine begrenzte Zahl von Wintersportlern befahrbar. Skihütten dürfen keine Gäste bewirten, und wer aus einem Risikogebiet einreist, wird unter Quarantäne gestellt. Freizeitbeschäftigungen wie sportliche Aktivitäten oder kulturelle Änlässe werden massiv eingeschränkt oder gar verboten. 

Wo sind die Freiheiten geblieben? Sie sind einem Virus zum Opfer gefallen, von dem wir nicht einmal genau wissen, wie es sich so schnell verbreiten konnte. Das Virus macht uns krank, aber es verursacht auch erhebliche Folgeschäden.

Jede Krankheit kann unser Leben je nach Verlauf und Schwere gefährden, und daher ist es bestimmt angezeigt, Prävention wie auch Therapie mit allen vorhandenen Mitteln voranzutreiben. Wir müssen uns aber auch mit den Folgeschäden auseinandersetzen, die primär durch einschneidende behördliche Massnahmen verursacht werden. Die Schweiz gilt zwar als reiches Land. Doch was geschieht, wenn die Verschuldung ins Unermessliche steigt, Steuerausfälle immer grössere Löcher in die ­öffentlichen Kassen reissen und die Sozialwerke infolge steigender ­Arbeitslosenzahlen überbeansprucht werden?

Die Löcher werden irgendwann einmal gestopft werden müssen. Und die Flickarbeit kann allein durch Inflation (Geldentwertung) und Steuererhöhungen geleistet werden. Einmal mehr werden die Sparer und Steuerzahler den angerichteten Schaden beheben müssen. Dies ist umso schmerzlicher, da die Schweiz auf Druck von aussen die Steuerbelastung von Unternehmen in unserem Land massiv gesenkt hat. Genau dieselben Kreise (Unternehmen und Unternehmerorganisationen), die heute Hilfe durch die öffentliche Hand fordern, haben sich vor einem knappen Jahr durch eine entsprechende Abstimmungspropaganda Steuererleichterungen erschlichen. Ich spreche hier nicht vom mittelständischen Gewerbe, von Restaurants und Fitnesszentren. Sie sind die Notleidenden der doch eher schwach begründeten, von der Obrigkeit angeordneten Einschränkungen, die einmal mehr den Mittelstand ausdünnen werden. Dabei setzt das Krisenmanagement rund um Corona nur fort, was wir in der Politik in unserem Land leider seit Jahren beobachten müssen. Dem Grosskapital und den transnationalen Konzernen respektive Organisationen wird wegen dem verblassenden Bekenntnis zur Souveränität und Selbstbestimmung untertänigst entgegengekommen, selbst wenn es den Interessen der Schweiz widerspricht.

Das politische Leben leidet ebenfalls erheblich

Öffentliche Versammlungen sind aus allen Traktanden gefallen. Das Elixier der direkten Demokratie wurde einfach unterbunden. Demokratie und damit das politische Leben in der Schweiz braucht den Dialog, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und Positionen, ansonsten werden die Bürger zu reinen Befehlsempfängern. Und diese Situation haben wir derzeit in unserem Land. Der Bundesrat ordnet an, und das Volk spurt. Rund um das Virus wurde ein Klima der Angst geschaffen. Eine nicht unbekannte Strategie, um Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Leben einfacher durchzubringen. 

In diesem Zusammenhang ist auch auf die massiv bedrohte freie Meinungsäusserung hinzuweisen. Wer nicht in den Chor der Massenmedien und Behörden einstimmt, wird sanktioniert, indem man ihn als «Verleumder» oder als «unsolidarisch» diskreditiert oder ganz einfach seine Meinung unterdrückt. Diese Brandmarkung anderer Meinungen verletzt die ­Bundesverfassung und damit die grundlegenden Voraussetzungen der direkten Demokratie.

Der innere Zusammenhalt geht in Brüche

Eine nicht zu unterschätzende Kraft in unserem Land ist der innere Zusammenhalt. Dieser hat seinen Ursprung in der Kompromissbereitschaft, der ehrlichen Rede und in der Sicherheit, selbst bei abweichenden Meinungen immer respektiert zu werden. Leider ist uns diese Sicherheit abhandengekommen. Dabei spielen die Medien eine doch eher unrühmliche Rolle. Unter dem Deckmantel der Hüterin der freien Meinungsäusserung manövrierten sich die Massenmedien in eine Monopolstellung, die ihnen eine weitgehende Herrschaft über Meinungsbildung und -äusserung einräumt. Mit geradezu unheimlicher Übereinstimmung erfolgt ein Meinungsdiktat, das jeden Widerspruch einschränkt. Der Verlust des freien Denkens und der freien Meinungsäusserung sät Zwietracht, spaltet die Gesellschaft und untergräbt damit den inneren Zusammenhalt.

Aufwind für die Digitalisierung 

Seit Jahren beklagen verschiedene Kreise den fehlenden Enthusiasmus für die Schaffung von digitalen Welten. Ob Schule, Verwaltung oder Arbeit, so richtig vorwärts sind wir gemäss Urteil einer eher elitären Minderheit in der Schweiz nicht gekommen. E-Gouvernement, E-Learning, E-Banking, Homeoffice usw. hatten es schwer, in der realen Welt Fuss zu fassen. Mit Covid-19 ist eine Wende eingetreten. Es werden kaum mehr Fragezeichen hinter den digitalen Aufschwung gesetzt. Dabei sollten die mittel- und langfristigen Folgen einer von sozialen Kontakten und Beziehungen «befreiten Welt» ernsthaft ausdiskutiert und nicht durch die Wirren rund um das Coronavirus unter den Tisch gewischt werden.

Die virusveränderte Welt ist ein Werk von Menschen

Was Menschen geschaffen haben, können sie auch wieder rückgängig machen. Die Redewendung «nach Corona wird die Welt nicht mehr so sein wie früher» ist ein sicheres Indiz dafür, dass es bestimmte Kreise geben muss, die bewusst Profit aus der Pandemie schlagen wollen. Für uns geht es jedoch darum, so schnell wie möglich wieder in ein normales Leben zurückzukehren.  Zurück auf die angestammten Plätze heisst die Forderung. Der Bundesrat und die kantonalen Regierungen sollen sich wieder als ausführende Organe des Bürgerwillens verstehen, die Hoheit der Kantone (Föderalismus) und die Gemeindeautonomie sollen wieder respektiert werden. Und wie soll es mit der Digitalisierung weitergehen? Sie verschlingt Milliarden (davon ein erheblicher Teil durch Fehlinvestitionen in den Sand gesetzt), vernichtet bestehende Strukturen – und wo liegt ihr Nutzen? Eine Kosten-Nutzen-Analyse wäre schon längst angebracht. Solange wir Bürger keinen realen Nutzen erkennen können, gibt es keine Gründe, weiterhin in die kostspielige Digitalisierung zu investieren. Nicht das Virus, sondern die Menschen werden bestimmen, wie die Zukunft nach der Pandemie zu gestalten ist. Dabei stehen keine kommerziellen Ziele im Vordergrund, sondern die Rückkehr zur Verfassungstreue, zur Glaubwürdigkeit, zu einem offenen Dialog, der auch den Widerspruch zulässt. Ebenso drängt sich die Rückbesinnung auf eine verantwortungsvolle Fiskal- und Haushaltspolitik und das Hochhalten der grundlegenden Voraussetzung einer funktionsfähigen direkten Demokratie auf. Es liegt in unserer Hand, wie sich die Schweiz nach der Pandemie präsentiert. Doch dazu sind wir als freie Bürger aufgefordert, unsere Stimme zu erheben. 

Was läuft falsch in den Schulen?

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

In der Ausgabe 17/2020 von Zeitgeschehen im Fokus hat eine Mutter über beunruhigende Veränderungen in der Volksschule berichtet. Sie erzählte vom Durcheinander in den Klassen, von Mobbing, dass Kinder das meiste sich selber erarbeiten müssten und ihr Sohn wegen des Lärms in der Klasse mit Kopfhörern arbeite. Schockiert war die Mutter über die Aussage der Lehrerin, es würden nur zweimal Erklärungen abgegeben und man könne nicht jedes Kind mitnehmen. Aber ihr Kind sei ja nicht betroffen (sic!). Als Konsequenz arbeitet die Mutter nun jeden Tag mindestens eine Stunde mit ihrem Buben den Schulstoff nach.

Wohl kein Elternpaar wird verstehen, was in unseren Schulen abläuft. Mit dem Lehrplan 21 und mit der entsprechenden Neuorientierung der Lehrerausbildung an den Pädagogischen Hochschulen hat sich die Schule in einer Weise verändert, wie sich das vorher niemand hätte vorstellen können. Man hat der Bevölkerung ja vorgeschwindelt, es würde sich mit dem neuen Lehrplan gar nichts verändern, weshalb er auch von einer Mehrheit angenommen wurde. Und ob sich etwas verändert hat! Es wurde ein Paradigmenwechsel vollzogen; ein völlig anderes Lehrerbild hat Einzug gehalten in den Klassenzimmern, und ein ebenso radikaler Wechsel wurde im Unterricht mit der Kompetenzorientierung eingeleitet. Ich werde im Folgenden versuchen, etwas Licht in die für viele Eltern unverständlichen Veränderungen zu bringen. Wie alle Veränderungen brauchen sie Zeit – aber mit der Einstellung an neu ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern wird sich die von der Mutter beschriebene Entwicklung zum Nachteil vieler Kinder beschleunigen.

Die Aussage der Lehrerin, man könne nicht jeden mitnehmen, lässt aufhorchen. Eine solche Aussage hätte vor noch nicht langer Zeit kaum ein Pädagoge über die Lippen gebracht. Es wäre alles unternommen worden, einem Kind mit Schwierigkeiten zu helfen. Vor dreissig Jahren hatte die OECD dem Schweizer Schulsystem noch attestiert, es würde alle Kinder gleichermassen fördern. Heute haben die frisch ausgebildeten Heilpädagogen nicht mehr den Auftrag, Kinder mit Lerndefiziten an das Niveau der Klasse heranzuführen (auch wenn das bis heute noch viele machen), sondern sie müssen ihnen beibringen, mit ihren Schwächen umzugehen und sie zu akzeptieren. So werden viele Kinder auf der Strecke bleiben, die intelligent genug wären, den Stoff zu bewältigen. 

Ein Bub kann nicht lesen und schreiben – nach zwei Jahren Primarschule

Im folgenden Fall mussten die Eltern feststellen, dass ihr Sohn nach fast zwei Jahren Primarschule überhaupt nicht lesen und schreiben konnte. Von den beiden jungen Lehrerinnen erfuhren sie von der Lernzielbefreiung ihres Sohnes im Fach Sprache. Auch bei der Heilpädagogin bekam der Knabe keinen Unterricht in Lesen und Schreiben. Sämtliche Abklärungen hatten keine Ursachen für das Versagen des Buben ergeben. Darum meldete der Vater seinen Sohn an unserer Privatschule zum Lesen an. Ich lernte ihn als sehr intelligenten Buben kennen, aber vom Lesen und Schreiben hatte er tatsächlich nicht die geringste Ahnung. Wir machten uns also gemeinsam ans Werk. Sein Problem war einfach zu erkennen. Er war so ehrgeizig und verbissen, dass er sich gar keine Zeit lassen konnte, die Buchstaben in aller Ruhe, einen nach dem anderen, zu lesen. Es musste immer ganz schnell gehen, und wenn er angehalten wurde, alles etwas gemütlicher zu nehmen, konnte er nicht darauf eingehen. Auch beim Sprechen stolperte er über die Buchstaben, sprach so schnell, dass man ihn kaum verstehen konnte. Aber in der Familie wurde er immer verstanden, er galt als das herzige Baby der Familie und genoss viele Freiheiten, die sich die anderen Geschwister nicht herausnehmen konnten. Als jüngster mit zwei älteren Brüdern und als Sohn eines überaus tüchtigen und leistungsorientierten Vaters stand er unter einem grossen Druck, etwas leisten zu müssen. Er besass aber beim Lernen gar kein Stehvermögen. Bei der kleinsten «Niederlage» strich er die Segel und wollte nicht mehr üben, sondern lieber spielen, worin er sehr gut war. Auf diesem Gebiet besass er dann eine grosse Ausdauer und Beharrlichkeit. Als Klassenclown und umtriebiger Anführer von Freizeitaktivitäten hatte er in der Klasse ein gewisses Ansehen gewonnen. Aber seine Defizite begannen sich zunehmend auf seine Stimmung auszuwirken. Er wurde auch mehr und mehr gehänselt. Es ging ihm nicht gut, das konnte man sehen. Ich fing also an, ihn ans Lesen heranzuführen, behutsam, aber hartnäckig und mit der festen Überzeugung, dass jedes Kind lesen und schreiben lernen kann. Tatsächlich begann er bald zu lesen, und er machte ganz langsame Fortschritte. Da der Bub in der Schule aber nach wie vor nicht gefördert wurde und sein Rückstand gegenüber den anderen Kindern immer deutlicher zu Tage trat, nahmen ihn die Eltern aus der Schule und meldeten ihn bei uns an der Privatschule an. Es brauchte viel Geduld und Arbeit der Lehrerin, ihn zu einem geordneten Unterrichtsablauf hinzuführen. Er hatte sich sehr daran gewöhnt, sich bei Schwierigkeiten zu verweigern und selbst zu entscheiden, was er gerade machen wollte. 

Heute wagt er sich ans Lesen und Schreiben, aber es fehlt ihm noch an Sicherheit und Übung. Was immer klarer zu Tage tritt, sind die seelischen Folgen dieser beiden erfolglosen Jahre in der öffentlichen Schule. Er fühlt sich den anderen Kindern stark unterlegen und ist sehr eifersüchtig und in starker Konkurrenz. Solange er besser ist als andere, kann er mitmachen, sobald ihn aber ein Gefühl der Unterlegenheit beschleicht, weicht er aus, zieht sich zurück und beginnt, etwas anderes zu machen. Dabei ist er sehr hartnäckig und lässt sich kaum mehr gewinnen. In seinem tiefsten Innern ist er entmutigt und denkt bis heute nicht, dass er es schaffen wird. Wir rechnen noch mit mehreren Jahren, bis die Wunden aus der ersten Schulzeit verheilt sind. Dabei hätte wenig gefehlt: Eine Lehrerin, die verstanden hätte, was in ihm vorgeht, und ihn nicht hätte ausweichen lassen, die nicht mit falschen Theorien arbeitet und die darauf bestanden hätte, dass er seine Sachen macht wie alle anderen. Leider sind Erklärungsansätze, die das familiäre Umfeld und die individuelle Gangart, Probleme zu lösen, als Ursache sehen, den heutigen Lehrerinnen und Lehrern kaum mehr bekannt. Sobald ein Kind Schwierigkeiten in der Schule bekommt, werden irgendwelche Konzentrationsschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsprobleme diagnostiziert und entsprechende Massnahmen wie z. B. Förderstunden eingeleitet, die das Kind meist zusätzlich schwächen. Eine pädagogische Haltung, eine Zuversicht, dass jedes Kind lernen möchte und auch kann sowie das Wissen über innerseelische Vorgänge werden den Lehrerstudenten nicht mehr vermittelt. Sie werden dahingehend geschult, dass nicht jeder lernen müsse, wenn er nicht wolle, dass man ihm lediglich dabei helfen müsse, mit seinen Beeinträchtigungen auszukommen. 

Dahinter steckt eben ein Menschenbild, das dem humanistischen Bild des Menschen diametral entgegensteht. Ein biologistischer Ansatz, d. h., die Annahme, dass schulische Schwierigkeiten hirnorganische Ursachen hätten, beherrscht heute die Pädagogik und die Schulpsychologie. Als Lösung werden Medikamente eingesetzt, die Symptome zwar mildern, aber das zugrundeliegende Problem nicht lösen. Darum müssen Eltern schnell reagieren und dürfen nicht lange zuwarten, wenn sie solche Entwicklungen beobachten. 

Das Menschenbild des Konstruktivismus

Es ist das Menschenbild des Konstruktivismus, das heute fatalerweise an den Pädagogischen Hochschulen als Grundlage der Pädagogik gelehrt wird. Der Ansatz geht, vereinfacht gesagt, davon aus, dass es keine objektive Realität gebe, jeder konstruiere sich selbst eine Realität. Davon abgeleitet, müsse sich auch jedes Kind eine eigene Lernwelt erschaffen und individuell erfahren lernen. Es kann hier nicht im Detail auf die philosophischen Hintergründe des Konstruktivismus eingegangen werden, aber als Konsequenz für den pädagogischen Auftrag in der Schule ergibt es sich, dass jeder Mensch für seinen Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich ist. Die Lehrerinnen und Lehrer sind nicht mehr für die Fortschritte der Kinder direkt verantwortlich. Ihre Aufgabe besteht darin, als Organisatoren von Lernprozessen das passende Material zusammenzustellen, das die Schüler dann individuell bearbeiten. In einzelnen Klassenzimmern lernen die Kinder bereits in abgetrennten Boxen mit einem Tablet an ihren Programmen. Die Computer nehmen dabei eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Sie arbeiten mit Algorithmen, welche die Schüler, abgestimmt auf ihre Fähigkeiten, durch den Lernstoff führen. Individualisieren heisst eben: jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Vorstellungen. Wenn ein Kind nicht lernen will, dann kommt es eben nicht vorwärts, was in der Aussage der Lehrerin zu Beginn ganz klar zum Ausdruck kommt und ebenso im Beispiel mit dem leseunwilligen Buben. 

Lernen ist Beziehungsgeschehen

Dabei ist alles Lernen ausgerichtet auf die Mitmenschen. Lernen macht nur Sinn als Beziehungsgeschehen. Kleine Kinder lernen für die Eltern, für die Lehrerinnen und Lehrer. Auch später, wenn die Kinder grösser werden. Wenn Lehrerinnen und Lehrer sich zurückziehen und sich nur noch als Begleiter sehen und zunehmend das Lernen dem Computer übergeben, haben sie ihr wichtigstes Instrument aus der Hand gegeben, damit Kinder lernen: nämlich ihre Beziehung zu den Heranwachsenden. Der Mensch wird nicht mehr als erziehungs- und anleitungsbedürftiges Lebewesen gesehen, darum fällt auch jede Erziehungsaufgabe und jede Vorbildfunktion der Lehrerinnen und Lehrer dahin. Wie soll sich ein Schüler an einem «Organisator und Begleiter von Lernprozessen» orientieren oder gar aufrichten? An einem blutleeren, papierenen Etwas, das keine Stellung zu Vorgängen in der Klasse nimmt, das nicht fordert und fördert?

Die Folgen

Ein etwas scheues und zurückhaltendes Mädchen wurde an unserer Schule angemeldet, das ein ganzes Jahr an der vorherigen Schule ausgeschlossen worden war. Trotz vielfacher Bitten der Eltern an die Lehrer, etwas dagegen zu unternehmen, geschah nichts. Was war der Grund? Maja, so hiess sie, betrieb in ihrer Freizeit Pontonier-Sport (Rudern und Staken mit Weidlingen auf Flüssen) und hatte nicht viel übrig für Tik Tok, für Instagram, fürs Chatten und all diese Dinge, die heute Mädchen zum Teil stundenlang machen. Sie lernte auch gerne und war eine gute Schülerin. In ihrer Freizeit las sie interessante Bücher. Das hat gereicht für das Ausgrenzen und Mobben. Keine Lehrerin, kein Lehrer – auch der Schulleiter nicht –  fühlte sich aufgerufen, da einzuschreiten, was wieder darauf hindeutet, dass manche Lehrer – im Grunde genommen gegen ihre Natur – nicht mehr Stellung beziehen und in solchen Situationen nicht mehr eingreifen. Dabei hätten wir Erwachsene allen Grund, Jugendliche zu unterstützen, die einer konstruktiven Freizeitbeschäftigung nachgehen und nicht nur shoppen, chatten, herumhängen und Parties feiern. Es wäre für einen Lehrer ein Leichtes gewesen, Kontakt mit Maja zu knüpfen und Interesse an ihrem Leben zu zeigen. Das wäre für die anderen Schüler schon einmal ein deutliches Signal gewesen, wie er zu dieser Schülerin steht. Es wäre darum gegangen, die Mitschüler für sie zu erwärmen und eine Stimmung in der Klasse zu schaffen, in der Gruppenbildung und Ausschluss keinen Platz haben. Wie ein solcher Prozess gelingen kann, hat die Erziehungswissenschafterin F. Alsaker in vielen Beispielen beschrieben.¹ Warum gegen ihre Natur? Weil der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist und alle seine Handlungen immer auf die Mitmenschen ausgerichtet sind. Alfred Adler hatte es als Gemeinschaftsgefühl bezeichnet und später andere Psychologen wie Daniel Goleman mit emotionaler Intelligenz. Dieses Gefühl gehört zur Grundausstattung des Menschen, es ist Teil seiner Natur. Darum ist es im eigentlichen Sinne widersinnig, wenn Pädagogen heute zuschauen, wie ein Kind schulisch untergeht oder sich in der Gemeinschaft nicht zurechtfindet, und da nicht beispringen. So stark können falsche Theorien wirken! Glücklicherweise ist das aber bei vielen Lehrerinnen und Lehrern bis jetzt noch nicht der Fall. Aber wenn das so weitergeht mit den neu Ausgebildeten?

Wirtschaftsstrukturen in der Schule?

Auffallend sind die parallelen Entwicklungen in Wirtschaft und Schule. Wie überall in unserer Gesellschaft haben marktwirtschaftliche Strukturen auch in unseren Schulen Einzug gehalten: Autonome Schuleinheiten, Corporate Governance, Logos für die Schuleinheiten, Klassenzimmer als Grossraumbüro, in denen sich die Kinder wie in den Grossbanken jeden Tag neu ihren Platz suchen müssen, Portfolios, Manager als Schulleiter undsoweiter undsofort.

Neoliberale Grundsätze, die heute die Wirtschaft beherrschen, breiten sich auch in den Schulen aus. Der freie Wettbewerb verlangt auch in der Schullandschaft Vergleichsmöglichkeiten unter den Schulen. Darum wurde der ganze Schulstoff in Hunderte von Kompetenzen und Teilkompetenzen zerhackt. Damit soll jeder Lernschritt eines Schülers messbar und eben vergleichbar werden. Mit dem Begriff Kompetenz wird uns vorgegaukelt, es gehe in der Schule immer noch um die Bildung des Menschen. Bildung heisst aber, Schulung des Intellekts, Verständnis der Welt, Verständnis für die Mitmenschen und auch Bildung des Gemüts. Kompetenzen sind aber losgelöst von einer Ethik, sie lassen sich an jedem beliebigen Gegenstand erwerben. Das Lesen kann man auch mittels Gebrauchsanleitungen lernen, das braucht keine Geschichten mehr, die Kinder gemüthaft bilden. Der heutige Kompetenzbegriff läuft auf eine ständige Selbstanpassung an die Bedürfnisse des Marktes hinaus.²  Am Ende wird auch jeder Schüler zu seinem eigenen «Kleinunternehmer», der für seinen Erfolg oder Misserfolg selber verantwortlich ist.³ Die Kompetenzen werden von der OECD (Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit – ein Wirtschaftsverband) als Normen vorgegeben und entsprechen deren Vorstellung, was «in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben» notwendig ist.⁴ Die Eltern in Europa sollen sich gemäss einiger Akteure eines privaten Wirtschaftsverbandes vorschreiben lassen, was ihren Kindern in der Schule vermittelt werden soll. Die gleiche Stelle überprüft das dann auch noch mit ihren PISA Tests.

Kompetenzen sind messbar, sie werden einfach abgehakt, die Lehrerinnen und Lehrer führen Buch über die erledigten Kompetenzen und Teilkompetenzen. Am Schluss wird es wie beim Bankangestellten in das Portfolio eingetragen und gilt als Ausweis für die erworbenen Fähigkeiten. Aber was hat das mit Bildung zu tun, auf der unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Zusammenleben bis heute gefusst hat? Kann man eine Lehrerin gebildet nennen, die, ohne mit der Wimper zu zucken, zu einer Mutter sagt, man könne nicht jeden mitnehmen? Und dazu noch meint, es würde sie nicht betreffen, da ihr Sohn ja nicht dazugehöre? Betrifft mich denn das Los meines Nachbarn nicht? Hätte sie nur einen Funken Mitgefühl für die, die man «nicht mitnehmen» kann, könnte sie das nicht sagen. Und das gehört doch vor allem auch zur Bildung: Verständnis für den anderen, Einbettung des Könnens und Wissens in die Geschichte und in die Abläufe in einer demokratischen Gesellschaft.

Die ganzen Reformen haben einen wirtschaftspolitischen Hintergrund. Mit Pädagogik haben sie, wie die Beispiele überdeutlich zeigen, überhaupt nichts zu tun. Wollen wir Eltern unsere Kinder wirtschaftlichen Vorgaben und Interessen opfern oder wollen wir dafür sorgen, dass sie in einer Welt aufwachsen können, in der die Mitmenschlichkeit und die Beziehung unter den Bürgerinnen und Bürgern im Vordergrund stehen? ν

¹ Alsaker, F. D.: Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule. Bern 2012, Huber Verlag 

² vgl. Pongratz, L. A.: Plastikwörter. Notizen zur Bildungsreform. In: Engagement 3/2007, S. 161–170

³ vgl. Pongratz, L.A. Konstruktivistische Pädagogik als Zauberkunststück. In: Pongratz, L.A./Nieke, W./ Masschelin, J.Kritik als Pädagogik-Pädagogik als Kritik. Opladen 2004

⁴ vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) 2001, S. 16

Junge Freiwillige in Kirgistan – Zuwendung für Ältere

von Franziska Bundi

Die 64-jährige Aitbubu Soltonalieva lacht und plaudert, während Ayana Kadyrova das Mittagessen zubereitet. Die erst 16-jährige Freiwillige vom Kirgisischen Roten Halbmond schenkt der alleinstehenden Frau lebensnotwendige Zuwendung. Sie ist die Einzige, die sich stets nach dem Befinden der gesundheitlich angeschlagenen Seniorin erkundigt. Wie so viele ältere Menschen in städtischen Gebieten Kirgistans hat Aitbubu Soltonalieva keine Angehörigen, die sich um sie kümmern, und lebt in grosser Armut.

 

Die 64-jährige Aitbubu Soltonalieva lacht und plaudert, während Ayana Kadyrova das Mittagessen zubereitet. Die erst 16-jährige Freiwillige vom Kirgisischen Roten Halbmond schenkt der alleinstehenden Frau lebensnotwendige Zuwendung. (Foto: Danil Usmanov/SRK/Fairpicture)

Die 64-jährige Aitbubu Soltonalieva lacht und plaudert, während Ayana Kadyrova das Mittagessen zubereitet. Die erst 16-jährige Freiwillige vom Kirgisischen Roten Halbmond schenkt der alleinstehenden Frau lebensnotwendige Zuwendung. (Foto: Danil Usmanov/SRK/Fairpicture)

Jahrzehntelang war Aitbubu Soltonalieva alleine an Weihnachten. Ihr ganzes Leben hat die 64-Jährige in der kleinen kirgisischen Stadt Tokmok verbracht. Heute zeigt sie uns stolz ein Foto. Inmitten älterer Menschen lächelt sie in die Kamera für das Weihnachtsfoto. Sie ist das jüngste Mitglied des Elderly Club des Kirgisischen Roten Halbmondes. Dort singt sie, fertigt Handwerk und feiert Weihnachten mit den anderen Seniorinnen und Senioren.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion verlor sie wie so viele Landsleute ihre Arbeit und erhielt nie mehr ein ausreichendes Einkommen.

Vor zwei Jahren haben Mitarbeitende des Kirgisischen Roten Halbmondes ihre Not erkannt. Seit sie vor acht Jahren an Polyarthritis erkrankt ist, plagen sie immer wieder qualvolle Schmerzen. Ohne Gehhilfe kann sie nicht mehr aus dem Haus. Die Hausarbeit wuchs ihr über den Kopf. Die eigentlich unternehmenslustige Frau hatte kaum mehr Kontakte zu anderen Menschen.

Sie hat früh geheiratet, mit 17 Jahren. Ein Jahr später gebar sie ihr einziges Kind. Nach vier Jahren zerbrach ihre Ehe. Erinnerungen, die schmerzen. Während Sowjetzeiten hatte sie eine gute Anstellung als Sekretärin und wurde sogar zur stellvertretenden Direktorin einer lokalen Firma befördert. Doch nach dem Zerfall der Sowjetunion verlor sie mit 39 Jahren wie viele ihrer Landsleute ihren Job. Die kirgisische Wirtschaft erlitt einen schweren Einbruch. Seither hat sie Verschiedenes ausprobiert, konnte aber nur knapp davon leben.

Ayana bringt jeweils auch die Lebensmittel, die der Rote Halbmond in Armut lebenden Menschen zur Verfügung stellt. (Foto: Danil Usmanov/SRK/Fairpicture)

Ayana bringt jeweils auch die Lebensmittel, die der Rote Halbmond in Armut lebenden Menschen zur Verfügung stellt. (Foto: Danil Usmanov/SRK/Fairpicture)

 

 

Niemanden zum Reden

Heute lebt Aitbubu Soltonalieva in einem Zwei-Zimmer-Häuschen, das früher ein kleiner Laden war. Das schmale Schlafzimmer dient gleichzeitig als Vorratskammer, hinter dem Bett stapeln sich Lebensmittel. Auch der Kühlschrank steht hier, in der Küche fand er keinen Platz. Gekocht wird im Sommer draussen auf einer behelfsmässigen Herdplatte. Fliessend Wasser hat sie keines. Man muss das Wasser mühsam über eine alte Wasserpumpe hochpumpen. Das Plumpsklo befindet sich ebenfalls draussen, eine Dusche gibt es nicht. 

Die 16-jährige Freiwillige erledigt zwei Mal die Woche was nötig ist im Haushalt und ruft ansonsten an.

Die kirgisischen Winter sind sehr kalt, unter minus zwanzig Grad kann es werden. Vor zwei Jahren gingen Aitbubu Soltonalieva bei Eiseskälte die Kohlen aus. Sie hatte kein Geld, um neue Kohlen zu kaufen und erfror fast. Mitarbeitende des Roten Halbmondes sorgten dafür, dass sie Kohle erhielt, um den Winter durchzustehen. Bis zur Lieferung der Kohle wurde sie im vom Roten Halbmond geführten Pflegeheim untergebracht.

Um über die Runden zu kommen, baut Aitbubu Soltonalieva etwas Gemüse an. Ihre karge Rente von umgerechnet 59 Franken pro Monat reicht trotz ihres bescheidenen Lebensstils nicht aus. Allein ihre Medikamente kosten bis zu 75 Franken monatlich. Öfters lässt sie in der Apotheke ihre Schulden aufschreiben. Manchmal erhält sie dann von ihrem jüngeren Bruder einen Zustupf. Der Kirgisische Rote Halbmond unterstützt sie mit Lebensmittelpaketen. «Ja, der Rote Halbmond hilft mir sehr», sagt Aitbubu Soltonalieva sichtlich dankbar. «Sie waren da, als meine Not am grössten war.»

Am meisten zu schaffen machte ihr die Einsamkeit, dass niemand da ist, der ihr zuhört. «Wenn ich traurig bin, dann oft, weil ich alleine bin», sagt sie. Warum sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter habe, darüber möchte sie nicht reden. Der Schmerz sitzt tief. «Für meine Tochter habe ich alles gegeben, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen», sagt sie nur.

Sich wieder gebraucht fühlen

Umso grösser ist ihre Freude, wenn Ayana Kadyrova sie besucht. Ayana Kadyrova ist eine erst 16-jährige Freiwillige des Kirgisischen Roten Halbmondes. Die Schülerin betreut Aitbubu Soltonalieva seit sechs Monaten. Zweimal die Woche besucht sie die Seniorin, schenkt ihr Zuwendung und greift ihr unter die Arme mit dem Haushalt. Wenn sie nicht vorbeikommen kann, ruft sie sie abends an. Ayana Kadyrova hat beim Roten Halbmond ein Training in Erster Hilfe sowie einen Betreuungskurs absolviert. Dort lernte sie, wie man kommuniziert, wenn Menschen an Demenz erkrankt sind oder ihre Seh- und Hörkraft beeinträchtigt ist. Die junge Freiwillige erledigt für Aitbubu Soltonalieva die Einkäufe, zahlt Rechnungen, besorgt Medikamente, hilft die Wohnung zu putzen und das Wichtigste: Sie verbringt Zeit mit ihr.

Als es an das schwere Eisentor zum Garten klopft, erstrahlt ein Lächeln auf dem Gesicht von Aitbubu Soltonalieva. In freudiger Erwartung öffnet sie das Tor und begrüsst ihre Helferin aufs Herzlichste. Es fällt ihr sichtlich schwer, das Mädchen nicht zu umarmen. «Ayana ist an meinem Leben interessiert. Sie gibt mir das Gefühl, wieder gebraucht zu werden», sagt die alte Frau. Innert kurzer Zeit haben die beiden Nähe zueinander aufgebaut. «Aitbubu ist wie eine zweite Grossmutter für mich», erwidert die junge Freiwillige. Sie schätzt die grosse Lebenserfahrung der älteren Frau, die ihr in schwierigen Situationen gute Ratschläge erteilt. Ausserdem lernt sie von ihr, wie man Blumen wässert, im Garten arbeitet und den Haushalt erledigt. Ayana ist zwar noch jung, aber hat ein grosses Herz und Einfühlungsvermögen. Von ihrer Mutter hat sie früh gelernt, sich für ihre Mitmenschen einzusetzen.

Dank dem Roten Halbmond hat Aitbubu Soltonalieva wieder Zuversicht und viele lebenswerte Momente. Sie trifft sich nun regelmässig mit ihresgleichen im Seniorenclub des Roten Halbmondes. Besonders mag es Aitbubu Soltonalieva, wenn dort Tanz­musik erklingt. Dann wippt sie mit dem gesunden Bein und dem Stock im Takt. Für einen Moment vergisst sie ihre Sorgen und Gebrechen.

Erstveröffentlichung in: Humanité, 4/2020. Wir danken dem SRK und der Autorin für die Abdruckgenehmigung.

www.redcross.ch/de/thema/magazin-humanite

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