Was für Flugzeuge braucht ein neutraler Staat für die Landesverteidigung?

von Thomas Kaiser

Das Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen Joe Biden in Genf erfuhr internationale Beachtung. Beide Präsidenten konstatierten im Vorfeld des Treffens, dass die Beziehungen ihrer Länder auf dem Tiefpunkt seien und dämpften damit die mit dem Treffen verbundenen Hoffnungen auf eine Wende in den Beziehungen. Dennoch war der Tenor der beiden Akteure nach dem Treffen verhalten positiv, was zumindest eine Weisheit bestätigt, dass es immer besser ist, direkt miteinander zu sprechen, als sich auf Distanz gegenseitig zu attackieren. 

Eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielte hierbei das Gastgeberland Schweiz. Verschiedene Kommentatoren aus dem Ausland hoben denn auch die Neutralität des Landes als ideale Voraussetzung für solch ein Treffen hervor. Die Guten Dienste, ein Charakteristikum der Schweizer Diplomatie, rückten wieder vermehrt in den Fokus, auch in unserer einheimischen Presse. Bundesrat Guy Parmelin, dieses Jahr in der Funktion des Präsidenten, der im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit stand, spielte seinen Part als neutraler Gastgeber in angemessener Art und Weise. 

Die Neutralität der Schweiz – vor allem von EU-Sympathisanten und sogenannten Internationalisten immer wieder als alter Zopf der Ewiggestrigen geschmäht und in einer globalisierten Welt als überholt verurteilt – erwies sich als nach wie vor wichtiger Bestandteil schweizerischer Identität und als internationaler Wert, der bei innen- und aussenpolitischen Entscheidungen viel grössere Beachtung finden sollte.

Das gilt insbesondere auch für die Beschaffung neuer Kampfjets für die Schweiz. Nach Presseberichten liess es sich Joe Biden nicht nehmen, für die US-amerikanischen Kampfjets Werbung zu machen, um die Schweiz von einem Kauf von US-Kampfflugzeugen zu überzeugen.

Völkerrechtliche Anerkennung der Neutralität

Als auf dem Wiener Kongress 1815 die Schweizer Neutralität völkerrechtliche Anerkennung erfuhr, war klar, dass diese nur dann «immerwährend» sein kann, wenn der neutrale Staat auch in der Lage ist, diese Neutralität zu verteidigen. Andernfalls wird sie zur Makulatur und das Land im Kriegsfall zum Opfer der Begierde sich rivalisierender Grossmächte. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren es vor allem europäische Mächte, die gegenseitig konkurrierten und im Streben um Weltmacht zwei fürchterliche Kriege vom Zaune brachen. Mittendrin die neutrale Schweiz, der es gelungen war, Kampfhandlungen auf dem eigenen Territorium zu verhindern und somit nicht ins Kriegsgeschehen hineingezogen zu werden. Das muss auch heute die Richtschnur bleiben.

US-Frontstellung gegen China

Joe Bidens Versuche, die europäischen (Kriegs-)Partner in Frontstellung gegen China zu bringen, scheinen bis jetzt auf wenig fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Noch scheint China als Handelspartner und riesiger Absatzmarkt für die europäischen Industrienationen zu gross, zu bedeutend, als dass man es zu einer nachhaltigen Verstimmung mit China kommen lassen möchte. Wie lange die europäischen Nato-Länder diese Position halten können und wollen, ist ungewiss. Umso mehr stellt sich für unser Land die Frage nach dem konsequenten Umsetzen der Neutralität. In Umfragewerten gilt sie mit über 90%iger Zustimmung in breitesten Bevölkerungsschichten als unbestritten, dennoch scheint die Politik nicht in diesem Masse dem Verdikt der Bevölkerung folgen zu wollen. 

Eine eigenständige Verteidigung ist für einen neutralen Staat unerlässlich. Darum ist auch eine eigenständige und angemessene Luftraumverteidigung ein notwendiges Übel. Nachdem vor allem durch die Politik der Linken die Beschaffung des Gripen an der Urne gescheitert war, stimmte in der letzten Abstimmung eine knappe Mehrheit dem Kauf eines neuen Kampfflugzeugs zu. Ende Monat nun will der Bundesrat den Typenentscheid bekanntgeben. 

Tarnkappenbomber: ein Angriffsflugzeug

Zur Auswahl stehen neben zwei europäischen auch zwei US-Kampfflugzeuge, die vor allem für amerikanische Angriffskriege ­entwickelt wurden. Der sogenannte Tarnkappenbomber, der beim Eindringen in den Luftraum eines anderen Landes vom feindlichen Radar nicht erkannt werden kann – völlig unnötig für unser Land –, ist ein reines Angriffsflugzeug. Die Schweizer Luftwaffe muss im Ernstfall aber die eigenen Grenzen verteidigen und in Friedenszeiten luftpolizeiliche Aufgaben übernehmen können und nicht Angriffskriege führen, wie es die USA alleine oder im Verbund mit der Nato, vielfach unter Verletzung des Völkerrechts in den letzten Jahrzehnten getan haben. Dazu kommt noch, dass die Software von den USA geliefert und gewartet würde und die Schweiz somit auf Gedeih und Verderb von den USA abhängig wäre. Die beiden europäischen Modelle scheinen schon aus diesen Gründen besser zur Schweiz zu passen als die US-amerikanischen Angriffsmaschinen.

Tatsächlich hat der Bundesrat bei der Auswahl der Flugzeuge bereits einen grossen neutralitätspolitischen Fehler begangen. Er hätte nämlich sowohl russische als auch chinesische Flugzeuge ebenfalls in die Evaluation einbeziehen müssen. Möglicherweise hätten diese Modelle eher einer Verteidigungsarmee entsprochen als die auf Angriff ausgerichteten US-Jets. Hier zeigt sich, dass es der Bundesrat mit der Neutralität nicht immer so genau nimmt, was stossend und der Rolle, die die Schweiz im internationalen Geschehen einnehmen könnte, nicht förderlich ist. Die Schweiz muss in ihren Entscheidungen unabhängiger werden und sich nicht von den westlichen Grossmächten leiten lassen, auch was Sanktionen gegenüber anderen Ländern betrifft, die völkerrechtlich nicht legitimiert sind. 

US-Kriegspolitik lanciert

Die Neutralität kann nur dann ihre segensreiche Wirkung entfalten, wenn sie ehrlich gemeint ist, konsequent verfolgt wird und nicht dem Opportunitätsprinzip unterliegt. 

Auch wenn die europäischen Modelle nicht von neutralen Staaten fabriziert wurden, sind es doch vor allem die USA, die in der Welt Kriege anzetteln, um ihre Interessen nötigenfalls mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Ob ein Kauf einer dieser US-Flugzeuge den tatsächlichen Bedürfnissen der neutralen Schweiz Genüge tut, ist mehr als fraglich. Bidens Ankündigung, sich für die Verbreitung der (westlichen) Demokratie auf der ganzen Welt einzusetzen, weckt ungute Erinnerungen an die Kriege, die die USA in diesem Namen bereits geführt und dabei in den betroffenen Ländern ein Desaster hinterlassen haben, mit Hunderttausenden unschuldiger Opfer: in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien …

Eigentlich ist klar, dass nur ein europäisches Flugzeug in Frage kommt, ausser man verschliesst die Augen vor der Realität und macht sich zu einem Anhängsel der USA.

Ist unser Bargeld in Gefahr?

von Reinhard Koradi

Bargeld schafft Freiheit. Es ist daher auch wenig erstaunlich, dass Bargeld in weiten Kreisen der Bevölkerung sehr beliebt ist. Allerdings gibt es ein paar dunkle Wolken am Horizont. Die Corona-Pandemie greift auch auf unser Portemonnaie zu. Freiheit und Selbstbestimmung gehören dann auch zu den prominenten Opfern der Pandemie. So erleben wir derzeit hautnah, wie mit unserer Freiheit umgegangen wird. Die staatlichen Autoritäten bauen ihre Macht ständig aus.

Mit einer unglaublichen Dreistigkeit werden mündige Bürger in Ketten gelegt. Da ist ein Griff ins private Portemonnaie nichts Aussergewöhnliches. Und dass der Anschlag auf die privaten Vermögen erfolgen wird, ist mehr oder weniger eine logische Folge der aktuellen Chaospolitik. Weder Regierungen noch Volksvertreter scheuen sich davor, die Bürger, denen sie eigentlich dienen sollten, unter Bevormundung zu stellen.

Hoheitlicher Übergriff auf unser Privatvermögen

Die globale Finanzkrise hinterliess enorme Löcher in den Staatskassen. Mit einer generösen Geldpolitik seitens der Zentralbanken wurden die Ursachen der Krise aus der öffentlichen Wahrnehmung geflutet. Dabei hat die Verschuldung weltweit ein solches Ausmass angenommen, dass wir die Nullen hinter der Eins kaum mehr erfassen können; sie wird uns aber in Zukunft vor existenzielle und schmerzliche Herausforderungen stellen. 

Die Last der Krisenbewältigung dürfte mit grösster Wahrscheinlichkeit allein denen aufgebürdet werden, die bestimmt keinen Profit aus der vergangenen und aktuellen Finanz- und Geldpolitik generieren konnten, dem sogenannt einfachen Volk. Zu Recht erwarten die Drahtzieher, die hinter der desolaten Finanz- und Wirtschaftspolitik stehen, Widerstand gegen die einseitig auferlegten Bürden der Schuldentilgung. Neben Währungsreformen bieten sich für den Abbau der Schuldenberge Negativzinsen, Steuererhöhungen oder die Einführung neuer Fiskalabgaben sowie eine massiv vorangetriebene Geldentwertung (Inflation) an. Es gibt Signale, dass die Schuldentilgung wohl in dieser Art über die Bühne gehen soll. (Regierungen und Notenbanken verfolgen das Ziel, unser Geld durch Inflation zu entwerten, Negativzinsen, Forderung nach globalen Steuern, CO2-Abgaben usw.).

Dies alles sind Massnahmen, die als Griff auf das Volksvermögen deklariert werden müssen. Dieser Zugriff wird aber heftige Abwehr- und Gegenreaktionen seitens der Bevölkerung hervorrufen, wenn nicht gar zu sozialen Unruhen führen. Der Graben zwischen Arm und Reich vertieft sich weiter und wird den Mittelstand in die Bedeutungslosigkeit treiben. Gegen die sich anbahnende gewaltige Umverteilung der Schuldenlast weg von den auserlesenen systemrelevanten Finanzinstituten und den Zentralbanken (FED, Europäische Zentralbank) zur Allgemeinheit (Sozialisierung der Schulden) werden die Bürger versuchen, sich mit allen ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln zu wehren. Eines der wichtigsten «Kampfmittel» ist der Abzug von Privatvermögen von den Finanzinstituten. Um die Bürger zu «entwaffnen», wird die Abschaffung des Bargeldes mit einer hohen Priorität vorangetrieben. Der Köder zur Akzeptanz der Bargeldabschaffung ist geschickt ausgelegt. Noch tragen wir das Argument mit, dass durch Bargeld das organisierte Verbrechen, die Geldwäscherei usw. begünstigt werden. Wir haben die Bequemlichkeit schätzen gelernt, die uns der bargeldlose Zahlungsverkehr und die Einkäufe mit Kreditkarte bieten. Mit einer gewissen Nachlässigkeit nutzen wir die Digitalisierung, ohne darüber nachzudenken, dass wir mit unseren Gewohnheiten nicht nur einen Teil unserer Freiheit aufs Spiel setzen, sondern uns auch immer mehr zum gläsernen Kunden und später wohl auch zum gläsernen Bürger wandeln.

Wogen glätten

Gehen wir davon aus, dass die Zeit kommt, in der die Sanierung der tief verschuldeten Staaten an die Hand genommen werden muss. Dabei ist unbestritten, dass diese Sanierung auf die Bürger abgewälzt wird. Sie bezahlen die Zeche mit dem Verlust auf ihren Ersparnissen (Altersvorsorge inbegriffen) und durch höhere Steuern, höhere Sozialabgaben und andere neu eingeführte fiskalische Belastungen.

Es ist nicht auszuschliessen, dass in absehbarer Zeit der Druck auf die nationale Geld-, Finanz- und Steuerpolitik dereinst in diesen Bereichen souveränen Staaten massiv erhöht wird und diese gezwungen werden, ihre Schulden mit Hilfe neoliberaler, global ausgerichteter Sanierungsmassnahmen abzubauen. Unter Federführung der USA werden Weltbank, IWF und OECD, assistiert durch die Europäische Zentralbank, den Staaten einen Schuldenabbau aufzwingen, der die Bürger sehr hart treffen wird.

Dabei drängt sich eine Frage auf: Könnte es sein, dass die Bereitschaft der Bürger zur Schuldentilgung auf ihre Kosten positiv beeinflusst werden kann, wenn die ursprünglichen Ursachen der Krise unter den Tisch gewischt werden?

Etwas erstaunlich ist es ja schon, wie einmütig und widerspruchslos die Staaten mit einer kaum je gesehenen Generosität finanzielle Hilfeleistungen zur Abfederung der Coronakrise verteilen. Mit diesen milliardenschweren Finanzspritzen werden die Staatshaushalte noch weiter in eine kaum mehr zu bewältigende Verschuldung getrieben. Unbewusst oder vielleicht auch gewollt legt sich ein Teppich über die wahren Ursachen der völlig aus dem Ruder geratenen Finanzpolitik.

Unter dem Einfluss der Pandemie und den entsprechenden Bewältigungsstrategien bahnt sich eine Verschärfung der Wirtschaftskrise an, verbunden mit Steuerausfällen, höheren Arbeitslosenzahlen und steigenden Ansprüchen an die sozialen staatlichen Einrichtungen. Möglich, dass die Pandemie den notwendigen, jedoch erzwungenen Goodwill gegenüber den schmerzlichen Eingriffen zur Haushaltssanierung und Willkür der Regierungen schafft und damit die Wogen der Empörung etwas glättet.

Das letzte Wort gehört den Bürgern

In den vergangenen Monaten hat sich eine Entmachtung des Volkes und ihrer Vertreter eingeschlichen. Das Spielfeld für den Machtmissbrauch wurde schrittweise ausgedehnt. Ein Zustand, den wir nicht einfach hinnehmen können. Die Freiheiten, vor allem auch die Freiheit, eine eigene Meinung zu vertreten, wurden im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie massiv unterdrückt. Es scheint sich eine Kehrtwende anzubahnen, indem das Prinzip «von unten nach oben« auf den Kopf gestellt wird und sich je länger je mehr das Diktat der Obrigkeit durchsetzt. Als aufmerksamer Beobachter muss man sich ernsthaft die Frage stellen: Werden derzeit die Weichen gestellt, um die Machtkonzentration zu forcieren und den Willen der Bürger zum Widerstand zu brechen? Das wäre doch eine willkommene Gelegenheit, um die Sanierung der maroden Staatshaushalte hindernisfrei über die Bühne zu bringen. Sehr nützlich wäre dabei der Griff nach dem Bargeld. Wäre das Bargeld aus den Händen der Bürger genommen und zentral eingebunkert, dann eröffneten sich Sanierungsmassnahmen, die weitgehend am Bürger vorbei vorangetrieben werden könnten.

Neben der Einschränkung der Freiheit über sein eigenes Geld selbst zu verfügen, liesse sich auch die Kontrolle über das wirtschaftliche Verhalten der Bürger verfeinern. Der zentrale Zugriff auf das private Vermögen bietet sich gerade zu an. Werden Bargeld eingezogen und die Vermögen zentral verwaltet, dann kommen die «Aufsichtsbehörden» auf dem Weg zur Unterwerfung und Manipulation der Menschen einen gewaltigen Schritt weiter.

Bequemlichkeit gegen Freiheit eintauschen?

In einer Demokratie haben die Bürger die Pflicht, ihre Freiheiten zu verteidigen, und die Behörden und die Amtsträger die Pflicht, die Freiheiten der Bürger zu respektieren. Bezogen auf unser Bargeld, geht es um unsere Unabhängigkeit in finanziellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Wollen wir weiterhin unser Geld gemäss unseren individuellen Bedürfnissen einsetzen und die Verfügungshoheit über unser Vermögen erhalten, dann müssen wir das Bargeld verteidigen, indem wir es täglich beim Einkaufen, Reisen usw. einsetzen. Bargeld als Symbol der Freiheit darf seine Bedeutung als Zahlungsmittel nicht verlieren. Bargeld gegen den bargeldlosen Zahlungsverkehr einzutauschen, bedingt einen Verlust an Freiheit und Souveränität. Ein Verlust, den wir weder als Privatperson noch als Staat hinnehmen dürfen. Bargeld und direkte Demokratie haben viel mehr gemeinsam als wir auf den ersten Blick annehmen. Denken Sie einmal darüber nach, wie es um Ihre demokratischen Rechte bestellt ist, wenn Sie Ihr Geld in den Zentralbanken eingelagert haben, und der Zugriff auf Ihr Geld durch ein paar staatliche Dekrete für Sie eingeschränkt, dafür für die Banken und den Staat geöffnet wird? (Zypern)

US-Sanktionen gegen Kuba – ein Verbrechen gegen die Menschheit

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Seit 1960 haben die USA ­gegen Kuba verschiedentlich einseitige Wirtschaftssanktionen verhängt, die der kubanischen Bevölkerung massiv zugesetzt haben. Zudem verlor Kuba mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten seine wichtigsten Handelspartner und Zuckerrohrabnehmer. Ein Bericht der Uno-Menschenrechtskommission wies im Jahr 2000 auf die Folgen der Sanktionen hin: Unterernährung, schlechte Wasserqualität, Mangel an medizinischer Ausrüstung und Medikamenten. Zwischen 1989 und 1993 stieg die Anzahl von Kindern mit zu geringem Geburtsgewicht um 19 %. Die Müttersterblichkeit stieg zwischen 1993 und 1994 um 50 %. Im «New England Journal of Medicine» wurden die Sanktionen gegen Kuba und den Irak als «Krieg gegen die öffentliche Gesundheit» bezeichnet.1 Der Völkerrechtler Alfred de Zayas charakterisiert – bezugnehmend auf Artikel 7 des Römer Statuts – die amerikanischen Sanktionen gegen Kuba als «Verbrechen gegen die Menschheit».2 Es ist an der Zeit, mächtige Staaten für ihre Verbrechen vor dem International Criminal Court zur Verantwortung zu ziehen. 

1 UN-Commission on Human Rights, 21 June 2000, Mr. Marc Bossuyt, The adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights, p. 22 – 23.

2 Alfred de Zayas: Die USA treten das Völkerrecht mit Füssen. «Zeitgeschehen im Fokus» vom 9. April 2018.

 

Die Blockade behindert die Produktion von Medikamenten für das kubanische Gesundheitswesen

von Susana Anton Rodriguez

Führungskräfte der Unternehmensgruppe der biotechnologischen und pharmazeutischen Industrie Kubas (BioCubaFarma) prangerten die Auswirkungen auf ihre Forschung und Produktion an, die durch die von der Regierung der Vereinigten Staaten gegen Kuba verhängte Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockade verursacht werden.

Sie führten genauer aus, dass die kriminelle Politik die Beschaffung von Rohstoffen, Ersatzteilen und Verbrauchsmaterialien beeinträchtige, die notwendig seien, um die Medikamente für das nationale Gesundheitswesen sowie für die Entwicklung von Forschungsprojekten zu gewährleisten.

Sie fügten hinzu, dass die Kosten für die zur Herstellung der Impfstoffkandidaten notwendigen Materialien gestiegen seien, da sie über Drittländer bezogen werden müssten, weil die üblichen Anbieter sich aus Angst vor Repressalien gegen ihre Firmen aufgrund des völkermörderischen Blockadegesetzes geweigert hätten, sie zu liefern. 

Die Industrie wird jedes Jahr in Bezug auf Forschung, Herstellung und Vermarktung ihrer Produkte beeinträchtigt, und der akademische und wissenschaftliche Austausch ist eingeschränkt. So  berichtete das kubanische Zentrum für Gentechnik und Biotechnologie gegenüber Prensa Latina, dass es beträchtliche Einnahmen verloren habe, weil es das Medikament Heberprot-p, das einzige seiner Art auf der Welt für die Behandlung von diabetischen Fussgeschwüren, nicht in die USA exportieren darf.

Quelle: GRANMA INTERNATIONAL, Mai 2021, S. 1

 

Römer Statut des Inter­nationalen Strafgerichtshofs

Abgeschlossen in Rom am 17. Juli 1998 

[…]

Art. 7 Verbrechen gegen die Menschlichkeit

1. Im Sinne dieses Statuts bedeutet «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» jede der folgenden Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wird:

[…] die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen – unter anderem das Vorenthalten des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Medikamenten –, die geeignet sind, die Vernichtung eines Teiles der Bevölkerung herbeizuführen

Wer wacht über die Wächter?

Eine Auseinandersetzung mit Nils Melzers neustem Buch zum Fall Assange

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger 

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus: Professor Nils Melzer ist Uno-Sonderberichterstatter über Folter und hat ein Buch über den Fall des Wikileaks-Gründers, Julian Assange, geschrieben.¹ Was für eine Bedeutung hat das Buch?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Das Buch von Nils Melzer ist nicht nur eine Anklage gegen «Lawfare» im Falle von Julian Assange. Es ist ein Weckruf an alle, die die Rechtsstaatlichkeit für eine zentrale Errungenschaft der Zivilisation betrachten, denn der Autor sieht diese besonders in Gefahr. Seit eh und je bestehen Spannung zwischen Macht und Recht, zwischen Willkür und Justiz. Die römischen Kaiser betrachteten sich als legibus solutus (befreit von den Rechtsnormen bzw. über diesen stehend) und trotzdem wurden sie oft gestürzt, wenn sie bestimmte rote Linen überschritten.

Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist doch ein Produkt der Aufklärung?

Dem Philosophen und Staatstheoretiker der Aufklärung, Baron de Montesquieu, verdanken wir die Idee, dass der Rechtsstaat auf einer Verfassung beruht und dass diese Verfassung die legislative, exekutive und judikative Gewalt definiert – drei Gewalten, die gemäss geschriebenen Regeln Macht ausüben, die aber im Gleichgewicht zueinander stehen und nicht gegeneinander arbeiten sollten. (De l’Esprit des Lois, 1749)

Damit sollte Macht verteilt bzw. sollten Kontrollmechanismen etabliert werden…

Ja, denn eine zentrale staatsrechtliche Frage ist jene der Kontrolle. Wer kann diese Gewalten beaufsichtigen, denn niemand darf über der Verfassung stehen, und alle Handlungen sollen transparent und damit überprüfbar sein, und zwar durch eine objektiven, neutrale Instanz. Die Frage, «Wer wacht über die Wächter?» ist eine wesentliche Frage der Rechtsstaatlichkeit, und Juvenal (55-127 n. Chr.) stellte bereits in seinen Satiren die nicht nur rhetorische Frage: «Quis custodiet ipsos custodes?» (Satiren VI, 347–348). Aber was passiert, wenn alle drei Gewalten versagen? Wenn es keine obere Instanz gibt, die nicht korrumpiert ist?

Die betreffenden Personen wollen mit Sicherheit nicht, dass so etwas an die Öffentlichkeit kommt…

Geheimhaltung war immer ein Feind der Rechtsstaatlichkeit, denn sie ermöglicht die Vertuschung von Verfassungsbrüchen. Ja, sie ermöglicht Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, so wie der Führerbefehl Nr. 1 über die Geheimhaltung jede Kontrolle des Staatsapparats gefährlich, wenn nicht gar unmöglich machte. So wurde die «Endlösung der Judenfrage» zur «geheimen Reichssache» erklärt, und jedes Gerücht, jeder «Leak» wurde mit grausamer Härte geahndet. Das Nazi-Reich war aber kein Rechtsstaat, sondern eine fürchterliche Diktatur.

Wie sieht es heute aus mit den modernen Demokratien – den USA, dem Vereinigten Königreich, Schweden usw.?

Der Rechtsstaat ist akut in Gefahr. Heute haben wir das Internet, und es gibt manche mutige Whistleblower, die die staatlichen Verfehlungen aufdecken. Aber auch heute lebt man als Whistleblower gefährlich, wie man in Melzers Buch ungeschminkt und ohne Polemik, orientiert an den Fakten, nachlesen kann. Es ist empörend, wie im Fall Assange alle Rechtsstaatlichkeit mit Füssen getreten wird. 

ISBN 978-3-492-07076-8

 

 

In einem Kommentar schrieben Sie, dass die Julian Assange Affäre noch extremer ist als die Dreyfus Affäre von 1898. (vgl. «Zeitgeschehen im Fokus» Nr. 8/2021) Wie meinen Sie das?

Das ist zweifelsohne so, denn hier haben wir es mit der Kollusion von vier Staaten zu tun – und mit der Korrumpierung der drei Gewalten eines demokratischen Staates. Am schlimmsten aber sehen wir, wie die Wächter des Staates – nämlich die Staatsanwälte, die Richter usw. – ebenfalls kolludierten, um einen Journalisten zu verfolgen und zu vernichten.

Wo sieht man das am deutlichsten? 

An der Dreistigkeit, wie sie operiert haben: durch die Unterminierung der Justiz, die Komplizenschaft der Medien, die unbegründeten Anschuldigungen gegen Assange. Melzer belegt haarklein, wie sie Assange gezielt und geplant in der Öffentlichkeit desavouierten und eine Karikatur dieses Journalisten verbreiteten. Strikt nach der Methode «calumniare audacter, semper aliquid haeret»: Kühn verleumden, irgendetwas bleibt immer hängen. 

Das ist ein massiver Verstoss gegen Treu‘ und Glauben…

Die Menschen lassen sich belügen, und sie glauben der Lügenpresse. Etwas bleibt immer von den ganzen Verleumdungen haften. Der Betroffene hat keine Zeitung oder Medienkonzerne hinter sich, um die Verleumdungen und Diffamierungen richtigzustellen.

Wo bleibt hier die Aufgabe einer objektiven Berichterstattung der Presse in einem demokratischen Staat?

Der Konformismus der meisten Journalisten stört mich besonders, als ob sie nicht verstanden hätten oder nicht sehen wollten, dass mit dem Umgang mit Assange ihr Beruf als Journalist in Frage gestellt wird. Dass die Medien in zunehmendem Masse Sprachrohre der Regierungen geworden sind und kaum etwas wirklich Kritisches berichten, wird immer offensichtlicher. Melzer hat ja ausführlich darüber geschrieben. Wenn aber ein Journalist bestraft wird, der seine Arbeit gewissenshaft macht, und die Verbrechen, die er aufgedeckt hat, weiter vertuscht werden, wenn der Journalist der «Böse» ist, und nicht die Soldaten oder Geheimdienstagenten, die mordeten und folterten; wenn Straffreiheit für Kriegsverbrecher geduldet wird – und der Bote gelyncht wird – dann erleben wir den Zusammenbruch des Rechtsstaats.

In seinem Buch weist Nils Melzer auf diese weitreichende Entwicklung deutlich hin – das ist ein wesentlicher Aspekt.

Ja, aber es ist in gewissem Sinn seine Pflicht – seine Pflicht als Uno-Sonderberichterstatter. Obwohl Melzer nicht prädestiniert war, dieses Buch zu schreiben. Er war zunächst nicht nur skeptisch, sondern eigentlich gegen Assange eingestellt. Es war ein langsamer Prozess, und allmählich verstand Melzer, was los war. Je mehr er untersuchte, umso grotesker wurde die Geschichte.

Die USA waren an der Kampagne gegen Assange massgeblich beteiligt?

Nicht nur die USA, die nicht verzeihen wollten, dass jemand ihre Verbrechen aufdeckte und öffentlich machte, auch die drei anderen Staaten haben gemäss Melzers Recherchen aktiv mitgewirkt – Grossbritannien, Schweden und Ecuador. Hinzu kam noch ein vierter Staat – Australien, der Heimatstaat Assanges, der Staat, dessen Staatsbürger er ist und der ihm diplomatischen Schutz gewähren müsste, der Staat, der gegen die Machenschaften der anderen drei hätte protestieren müssen. Aber nichts geschah. Australien hat seinen Bürger verraten – und somit dem Völkerrecht und dem Prinzip des diplomatischen Schutzes einen Bärendienst erwiesen. Nils Melzer widmet dem Land ein Kapitel «Australien: Der grosse Abwesende» (252ff.). Darin beschreibt er das Versagen des Staates beim Schutz seines Staatsbürgers.

Wie beurteilt Melzer diesen Zustand der Staaten?

Auf Seite 13 schreibt er: «Für mich ist dieses Buch ein dringender Appell. Ein Mahnruf an die Staatenwelt, weil das von ihnen erstellte System zum Menschenrechtsschutz auf ganz fundamentale Weise versagt. Ein Weckruf an die Öffentlichkeit, weil dieses Systemversagen jede Bürgerin und jeden Bürger unserer demokratischen Rechtsstaaten in Alarmbereitschaft versetzen sollte.» Genauso ist es. Er bringt es auf den Punkt.

Melzer hat wahrscheinlich viele Fälle auf seinem Pult, die sicher genauso dringend sind. Was macht die Situation von Assange so bedeutend?

Die Bedeutung des Falles reicht weit über Julian Assange als Person hinaus, wie Melzer erklärt: «Ich schreibe dieses Buch, weil ich bei meiner Untersuchung […] auf konkrete Hinweise von politischer Verfolgung, schwerer Justizwillkür und vorsätzlicher Folter und Misshandlung gestossen bin.» Melzer dokumentiert, dass ein generelles Systemversagen sichtbar wird, das die Integrität unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionen untergräbt. (S. 13)

Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Melzer belegt ein Zusammenspiel mehrerer Staaten, die konsequent gegen die Rechtsstaatlichkeit gearbeitet haben – mit Lügen, mit Verdrehung der Fakten, mit willkürlicher Anwendung von Gesetzen. Ja, sie haben gegen Geist und Buchstabe des Rechts verstossen – und den Aquis der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten verworfen. Alle diese Staaten geben Lippenbekenntnisse über die Menschenwürde ab, und gleichzeitig treten sie den Journalisten Assange, der nichts anderes getan hat, als staatlich sanktionierte Verbrechen öffentlich zu machen, mit Füssen. Die Heuchelei wird offensichtlich – und ist für die betroffenen Staaten mehr als peinlich.  

Melzer wurde vom Menschenrechtsrat zum Uno-Sonderberichterstatter ernannt. Damit ist seine Aufgabe, den Dingen, die mit seinem Mandat im Zusammenhang stehen, auf den Grund zu gehen. Welche Rolle spielen dabei der Menschenrechtsrat und die Hochkommissarin? 

Auf Seite 15 lesen wir: «Ich bat die Hochkommissarin für Menschenrechte wiederholt um eine persönliche Besprechung in dieser Angelegenheit und wurde abgewimmelt. Ich forderte andere Staaten zur Einflussnahme auf, stiess aber fast durchwegs auf eine Wand betretenen Schweigens. Ich erlebte, wie die rechtsstaatlichen Institutionen, an deren Funktionstüchtigkeit ich immer geglaubt hatte, vor meinen eigenen Augen versagten.»

Haben Sie in Ihrer Funktion als Unabhängiger Uno-Experte ähnliche Erfahrungen gemacht?

Ähnlich, vielleicht sogar schlimmer. Als ich 2017 als erster Uno-Sonderberichterstatter eine Einladung nach Venezuela bekam – und zwar nachdem Venezuela die Gesuche von etwa 15 Kollegen abgeschlagen hatte – war ich stolz, denn ich hatte die Gelegenheit, die Türen für andere Sonderberichtserstatter zu öffnen. Ich wollte auch, dass das Büro des Hochkommissars eine Präsenz in Venezuela eröffnet – nicht nur um zu kritisieren, sondern auch um technische Hilfe und Beratungsdienste anzubieten. Erstaunt war ich aber, als der damalige Hochkommissar sich weigerte, mich zu empfangen – weder vor noch nach meiner offiziellen Mission. Mir wurde sogar jede substantielle Unterstützung versagt – wohl hat das Büro mein Flugticket nach Venezuela und mein Hotel dort bezahlt – aber Recherchen, Fotokopien usw. – das musste ich selbst erledigen.

Hier funktioniert das System nicht sehr zuverlässig. Wie kooperierten die Staaten?

Melzers Erfahrungen decken sich mit den meinigen. Er hat sich zwei Jahre lang intensiv mit Assange beschäftigt, aber zwei Jahre lang nahezu erfolglos versucht, die verantwortlichen Staaten zur Zusammenarbeit zu bewegen, und obwohl er seine Einschätzungen und Bedenken zwei Jahre lang öffentlich kommunizierte – haben die Staaten weiterhin ihre verbrecherische Haltung fortgesetzt, ja intensiviert. Die Presse hat nicht geholfen, im Gegenteil. «Es ist die Geschichte manipulierter und manipulativer Berichtserstattung in den etablierten Medien zum Zweck der gezielten Dämonisierung, Entwürdigung und Zerstörung einer Einzelperson. Es ist die Geschichte eines Mannes, der von uns allen zum Sündenbock gemacht wurde für das Versagen unserer Gesellschaft im Umgang mit Behördenkorruption und staatlich sanktionierten Verbrechen.» (S. 16)

Sie haben auch Berichte zu bedeutenden Organisationen, wie Weltbank und IWF, aber auch zu Staaten wie Venezuela und Ecuador verfasst. Wie wurden diese Berichte aufgenommen?

Ähnlich. Die Staaten haben sich nichts sagen lassen. Meine offiziellen Mitteilungen wurden weitestgehend ignoriert oder banalisiert. Als ich in Venezuela war und gewisse Behauptungen in ein richtiges Licht stellte – war ich plötzlich der «Böse», der nicht einlenken und nicht das gewünschte Lied singen wollte. Ich bin sicher, wenn Melzer das gewünschte Lied gesungen hätte, nämlich dass Assange kein Journalist, sondern ein Hacker sei, dass er Frauen belästigt habe und kein politischer Gefangener sei, dann wären die Medien ganz zufrieden mit Melzer. Seine «Intransigenz» wird mit Totschweigen bestraft.

Das Thema Assange müsste doch von den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aufgegriffen werden. Wie haben die sich im Fall Assange verhalten?

Melzer versteht heute, wie sehr die Menschenrechtsorganisationen von Spenden abhängig sind und ihre Sorgen, dass «politisch inkorrekte» Kampagnen eine NGO schnell trockenlegen können. Hinzu kommt, dass es eine gekaufte Menschenrechtsindustrie gibt, welche die Menschenrechte verraten hat, und die Menschenrechte politisiert.

Woran erkennt man das?

Wir sehen, wie manche NGOs sich richtiggehend auf bestimmte Fälle stürzen und dabei über das Ziel hinausschiessen – anderes wird total ignoriert, ja totgeschwiegen. Melzer schreibt: «Nicht umsonst hatte sich etwa Amnesty International zehn Jahre lang nicht dazu durchringen können, Assange als politischen Häftling – ‹prisoner of conscience› – anzuerkennen.» (S. 99) Allerdings hat sich Human Rights Watch (HRW) etwas besser – aber keinesfalls kämpferisch – verhalten. Immerhin hat HRW die journalistische Arbeit Assanges verteidigt. Auch die internationale Organisation der Schriftsteller P.E.N. International (Poets-Essayists-Novelists), dessen Charta PEN-Mitglieder verpflichtet, für die Pressefreiheit zu kämpfen, hat es auch – allerdings schüchtern – gewagt, sich für Assange einzusetzen, auch das P.E.N. Centre Suisse romande, dessen Präsident ich von 2013 bis 2017 war.

Schweden geniesst bis jetzt eine gute Reputation in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Was meint Melzer dazu?

Es ist ein Trauerspiel – und man kann viel daraus lernen. Nils Melzer widmet ein ganzes Kapitel der Rechtsbeugung in Schweden. Das 6. Kapitel des Buches hat die Überschrift «Schwedische Justizwillkür». Man kann nur staunen. Man liest über «erforderliche Änderung an Vernehmungsprotokollen», über die «Unterdrückung von Entlastungsbeweisen», von drei Verfahren gegen Assange, die sämtliche mangels Beweisen eingestellt werden mussten. Aber die ganze Zeit stand Assange unter Verdacht und die schwedischen Behörden und Medien haben die Diffamierungskampagne fortgesetzt. Nichts – aber gar nichts – von Unschuldsvermutung. Nichts von der Pflicht der Behörden, den Fall schnell und gewissenhaft zu untersuchen. Nichts von der Unbefangenheit des Staatsanwalts und der Richter.

Wenn die Beweislage, wie Nils Melzer schreibt, so dünn ist, warum werden dann drei Verfahren angestrengt? 

Um die Sache in die Länge zu ziehen – in der Hoffnung, dass entweder Assange an die USA ausgeliefert oder vielleicht sterben würde? «Mit Assanges Abreise aus Schweden war nun der Boden bereitet für die perfekte Inszenierung eines Drehbuches, welches am Tag von Assanges erster Verhaftung in London am 7. Dezember 2010 in einer internen Mail-Korrespondenz der US-Global Intelligence Beratungsfirma Stratfor wie folgt zusammengefasst wurde: ‹Legt nach. Treibt ihn von Land zu Land, bedrängt ihn mit allerlei Anklagen für die nächsten 25 Jahre. Nehmt alles, was er, seine Familie und alle Personen aus dem Wikileaks-Umfeld besitzen.›» (S. 174) Dreimal wurden Verfahren ohne Beweise begonnen. Assange hat sich stets zur Verfügung gestellt, hat kooperiert in der sogenannten «Untersuchung», aber die Staatsanwälte Kjellstrand, Marianna Ny, Erika Lejnefors wollten ihn physisch in Schweden.

Er hat doch zugesagt, nach Schweden zu kommen und sich dem Verhör zu stellen…

Ja, das hat er! Assange hat seine Verfügbarkeit wiederholte Male bekundet – allerdings nur gegen eine «Non-Refoulement» - Garantie, die die Staatsanwaltschaft leicht hätte geben können. Aber nein, sie wollten ihn festnehmen und an die USA ohne Prozess oder «due process» [ohne ordentliches Verfahren] übergeben. Dafür gab es Präzedenzfälle während des sogenannten «war on terror» bzw. der «extraordinary rendition» – Kooperation mit den USA. Melzer konstatiert: «Offenbar hatte sogar der Skandal um die völkerrechtswidrige Überstellung der beiden Ägypter Agiza und Alzery durch die schwedische Sicherheitspolizei in die Folterkeller der CIA nicht dazu beigetragen, die Sensibilität der schwedischen Regierung gegenüber ihren rechtstaatlich-demokratischen Pflichten zu schärfen.» (S. 171) Im Kapitel 7 lernen wir noch mehr, wie kompromittiert die schwedische «Justiz» war: «Schweden verweigert ein Verhör in London», Melzer schreibt von einer «britisch-schwedischen Kollusion». Das wird einen grossen Schaden an ihrer Glaubwürdigkeit hinterlassen.

Was bedeutet das Non-Refoulment im Falle Assanges?

Assange hat zugesagt, sich in Schweden einvernehmen zu lassen, aber unter der Garantie, dass man ihn nicht an die USA ausliefert. Assange war misstrauisch, ob diese Nichtauslieferungsgarantie von Schweden auch befolgt wird. «Angesichts der sich akkumulierenden Unregelmässigkeiten im schwedischen Verfahren und der sicherheitspolitischen Nähe des skandinavischen Landes zu den USA wird Assange immer miss­trauischer und wittert Gefahr, bei der Rückkehr nach Schweden im Rahmen einer ‹temporary surrender› gleich an die USA weitergereicht zu werden.» (S. 176) «Temporary surrender» bedeutet eine zeitlich begrenzte Auslieferung. Diese Methode bedeutet die Umgehung des Non-Refoulement Gebots und verletzt sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention als auch die Europäischen Menschenrechtskonvention von 1951.

Wie äussert sich Melzer über die Rechtsstaatlichkeit Grossbritanniens?

Die Beobachtungen und Fakten, die Nils Melzer zusammengetragen hat, sind erschreckend. Auch wie man Melzer als Uno-Sonderberichterstatter behandelt hat, schreit zum Himmel. Das 13. Kapitel «Britische Folter durch Zermürbung» beschreibt das Vorgehen der britischen Behörden gegenüber Assange und die Schikanen gegenüber dem Sonderberichterstatter und seiner ärztlichen Begleiter.

Wie sieht Melzer die Haftsituation von Assange?

Nicht nur, dass man Assange im Hochsicherheitsgefängnis Bel­marsh, nachdem die Briten Assange aus der ecuadorianischen Botschaft herausgeholt haben, in Isolationshaft gesetzt hat, sondern er unterliegt auch einer ständigen Überwachung. Melzer schreibt dazu «Isolationshaft von mehr als 15 Tagen fällt grundsätzlich unter das Folter- und Misshandlungsverbot. Auch die ständige Überwachung ist ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte», er erwähnt die «willkürliche Isolation und Überwachung» sowie die «Aushöhlung der Verteidigungsrechte…» (S. 283) Über das Verhalten der britischen Richterin, keine Prozessbeobachtung zuzulassen, was Amnesty International schwer kritisiert hat, und für einen Rechtsstaat unerlässlich ist, schreibt Melzer folgendes: «Dass die britische Justiz damit in Sachen Verfahrens­transparenz hinter Guantánamo, Bahrain und Türkei zurückfällt, wo Amnesty International gemäss eigenen Angaben zur Prozessbeobachtung zugelassen wurde, scheint sie nicht zu beunruhigen. Rechtsstaatlichkeit ist ohnehin nicht Teil des Plans.» (S. 303)

Nach all den Ausführungen scheint es wahrscheinlich, dass Assange irgendwann doch nach Amerika ausgeliefert wird?

Nein, das glaube ich nicht, denn das Prinzip des Non-Refoulement ist absolut. Kein Mensch hat einen stärkeren Anspruch auf Flüchtlingsstatus, auf Asyl, als Assange. Die Genfer Konvention von 1951 wurde eben dafür geschaffen, um Individuen, die verfolgt werden, nicht an ihre Folterer auszuliefern. Ich glaube nicht, dass ein Gericht in England der Auslieferung zustimmen kann, ich glaube nicht, dass das House of Lords dies bestätigen könnte. Der Präzendenzfall wäre verheerend, denn das gesamte Flüchtlingsrecht und Asylrecht würde in Frage gestellt werden. Ausserdem würde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Auslieferung nicht erlauben, auch der Uno-Menschenrechtsausschuss und der Uno-Ausschuss gegen Folter würden dagegen stimmen.

Melzer zeigt uns, dass Politiker lügen, dass Staatsanwälte und Richter das Gesetz und die Justiz beugen, dass internationale Organisationen das alles vertuschen. Wie sind wir so weit gekommen?

Zum Teil sind wir selber schuld, denn wir haben teilweise nicht sehen und nicht hören wollen. Zum Teil sind wir belogen worden, aber wir haben den Lügen geglaubt. Aber die Zäsur ist da. Die Zeit des Aufwachens ist gekommen. Wir müssen die Konsequenzen ziehen. Ein Staatsmann lügt nicht. Wenn ein Politiker lügt, verliert er die demokratische Legitimation. Ein seriöser Journalist lügt nicht, und wenn er lügt, verliert er seine Glaubwürdigkeit – und zwar für immer.Das wäre eigentlich selbstverständlich…

Ja, wir verraten uns selber, wenn wir weiterhin glauben wollen, was «New York Times», «Washington Post», BBC etc. berichten. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu fragen und zu hinterfragen, Beweise zu verlangen, Fakten selbst zu prüfen. Es muss Konsequenzen haben. Am schlimmsten aber ist es, wenn Staatsanwälte und Richter lügen. Wenn ich den Zustand, der im Bereich der Rechtsstaatlichkeit herrscht, sehe, kommt mir immer die Aussage von Max Liebermann in den Sinn: «Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.» Das klingt zwar hart, aber wenn man sich vorstellt, wie sich eine selbsternannte Elite aller Mittel und Wege bedient, um ihre Macht und den militärisch - finanziellen Komplex auszubauen, dann ist es kaum zum Aushalten.

Hier kommen wir wieder zu der Frage, die der römische Dichter Juvenal schon vor mehr als 2000 Jahren aufgeworfen hat und deren Relevanz immer grösser wird: «Quis custodiet ipsos custodes?» Wer soll über die Wächter wachen? Was meint Melzer dazu, was meinen Sie?

In der Schweiz leben wir noch in einer semi-direkten Demokratie, die allerdings bedroht ist – bedroht von der Macht der Globalisierer, der transnationalen Konzerne, von der Europäischen Union und ihrem totalitären Rahmenvertrag – Gott sei Dank hat Bundespräsident Parmelin ihn abgelehnt – und von anderen undemokratischen Pressionen. Wir haben aber eine verhältnismässig intelligente, ausgebildete Bürgerschaft, die sich wehren kann.  Also wir – niemand anders – können und müssen über die Wächter wachen. Und dies müssen wir jetzt tun, nicht morgen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir unser Initiativrecht klug anwenden, dass wir über Referenden und Initativen jeweils auch abstimmen. Wir können uns auf viele gute Bundesräte verlassen, aber wir müssen ständig wachen. Wir müssen verlangen, dass die Schweiz Assange offiziell Asyl anbietet. Am Samstag, den 5. Juni wurde am Genfer See eine Skulptur zu Ehren Assanges, Mannings, Snowdens eingeweiht [s. Bild S. 9] Nils Melzer hat dort gesprochen. Wir müssen jetzt handeln.

Welche Lehren können wir aus der Geschichte um Julian Assange ziehen?

Nils Melzer zitiert den deutschen Rechtshistoriker und Gelehrten Otto Gritschneiders, dessen kluges Wort «Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktaur wieder auf» als Leitmotiv im ganzen Buch gilt. Wir dürfen die Korrumpierung des Rechtsstaates nicht dulden. Wir müssen aus der «Komfortzone» heraus und müssen die korrupten Politiker rausschmeisen. Wir müssen aber auch die Lügen- und Lückenpresse anprangern, denn sie betreibt die Demontage unserer Demokratie.

Nils Melzer macht es uns eigentlich vor. Nach anfänglichem Zögern hat er sich in den Fall vertieft…

…und ihn konsequent weiterverfolgt. Er hat die Fakten studiert und sich vor Ort informiert über den Zustand und die Haftbedingungen, denen Assange jetzt seit Jahren ausgesetzt ist. Er hat auch mit seinen Interventionen Erfolg gehabt. Im Kapitel 13 zeigt er auf, wie seine Stellungnahme zu dem ganzen Vorgehen und den Haftbedingungen gewisse Auswirkungen gehabt hat. Wer das Buch liest und durch Melzers seriöse Arbeit einen Einblick bekommt, sieht, wie wichtig es ist, sich dort, wo man steht, für die Erhaltung unserer Demokratie und unserer Rechtsstaatlichkeit einzusetzen. Dazu muss man kein Uno-Mandat besitzen, sondern die innere Überzeugung, dass unsere demokratischen und freiheitlichen Rechte geschützt und verteidigt werden müssen, sonst wachen wir tatsächlich in der Diktatur auf.

Diese Frage nach dem Erhalt der Rechtsstaatlichkeit stellt sich dringender denn je. Man kann seit Jahren einen stetigen Abbau feststellen. Nils Melzers Buch oder auch der Genfer Appell vom 4. Juni setzen hier einen Kontrapunkt.

Ja, das beobachte ich auch mit Sorge. Die transnationalen Konzerne bestimmen immer mehr die Agenden der Politik und deren Ausgestaltung. Die Umsetzung des Volkswillens wird immer mehr zur Farce. Während meiner Mandatszeit habe ich das immer wieder thematisiert und sowohl die Staaten als auch die Nichtregierungsorganisationen zum Handeln aufgefordert. Neben Nils Melzer, der hier einen hervorragenden Einsatz zeigt, gab und gibt es immer wieder ausgezeichnete Rapporteure, die sich nicht scheuen, sich mit den Mächtigen anzulegen. Jean Ziegler war einer dieser streitbaren Berichterstatter, der deutliche Worte für die Ursachen des Hungers in der Welt fand und sich nicht scheute, Ross und Reiter zu benennen. Auch Ben Emmerson war fantastisch. Als er seine Berichte über die ausserordentlichen Verhaftungen und Auslieferungen (extraordinary renditions) veröffentlichte, war das genauso schockierend wie das Buch von Nils Melzer. Emmerson prangerte wie Melzer die Unterminierung des Rechtsstaats an. Hier müssen wir ansetzen, wenn wir die Errungenschaften der letzten 300 Jahre erhalten und nicht ins Mittelalter zurückfallen wollen.

Herr Professor de Zayas, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Piper Verlag, München 2021. ISBN 978-3-492-07076-8

Genfer Aufruf zur Freilassung von Julian Assange*

Wir, Bürger von Genf und darüber hinaus, lancieren den «Genfer Aufruf», um die sofortige Freilassung von Julian Assange zu fordern. In strenger Isolation im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London droht dem Gründer von WikiLeaks die Auslieferung an die Vereinigten Staaten, wo ihm eine Haftstrafe von 175 Jahren droht. Sein einziges Verbrechen ist es, die Wahrheit gesagt zu haben! 

Mit Respekt vor den unveräusserlichen Menschenrechten und den Werten, die von den in Genf ansässigen Menschenrechtsorganisationen gefördert werden, fordern wir von

- den britischen Behörden, die Auslieferung von Julian Assange zu verweigern und ihm die Freiheit zu gewähren;

- der US-Regierung, die angestrengten Verfahren gegen Julian Assange unverzüglich einzustellen;

- allen demokratischen Staaten, einschliesslich der Schweiz, Julian Assange einen sicheren Zufluchtsort vor weiteren Strafverfolgungen wegen der WikiLeaks-Veröffentlichungen zu gewähren;

- internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen in Genf, ihre Kompetenzen und Befugnisse zu nutzen, um Julian Assange zu befreien;

- den Medien, weiterhin mutig, unabhängig und unparteiisch über den Fall Assange und seine Auswirkungen auf die Meinungs-, Recherche- und Publikationsfreiheit zu berichten;

- den Menschen in Genf, der Schweiz und der Welt, den Genfer Aufruf für die sofortige Freilassung von Julian Assange zu unterstützen.

Unter Beteiligung und mit der Unterstützung von:

Nils Melzer, UN special rapporteur on torture; Stella Morris, fiancée of Julian Assange; Frédérique Perler, Mayor of Geneva; Yves Daccord, former General Director of ICRC; Christophe Deloire, General Secretary of Reporters Without Borders (RSF) secrétaire général de Reporters Sans Frontières; Carlo Sommaruga, Swiss Parliamentarian; Jean Rossiaud, Former Parliamentarian and Initiator of Humanitarian Visa for Assange; Blaise Lempen, président Press Emblem Campaign (PEC); Pierre Ruetschi, Executive Director of the Geneva Press Club/Club suisse de la presse; Antoine Vey, Julian Assange’s Attorney; Davide Dormino, sculptor (anythingtosay?); Joseph Farrell, Amabassador for WikiLeaks UK; Sarah Ducret, Association des Usagers des Bains des Pâqui

Nils Melzer und Stella Morris anlässlich der Präsentation der Skulptur «AnythingToSay» für die Whistleblower Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning. (Bild © Club Suisse de la Presse)

 

Am 4. Januar dieses Jahres lehnte die britische Justiz die Auslieferung von Julian Assange mit der Begründung ab, dass sein Leben im US-Strafvollzug in Gefahr sei. Argumente, die Transparenz und Julian Assanges Recht auf Veröffentlichung geltend machen, wurden jedoch zurückgewiesen. Eine Berufung des US-Justizministeriums ist hängig, und das Risiko einer Auslieferung bleibt bestehen, ebenso wie die Gefahr einer beispiellosen Einschränkung der Pressefreiheit.

Julian Assange wird seit mehr als zehn Jahren willkürlich festgehalten unter Bedingungen, die laut dem UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, unter «psychologische Folter oder grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung» fallen. […]

Julian Assange muss sofort freigelassen werden, weil es keine Rechtfertigung dafür gibt, ihn so lange in nahezu vollständiger Isolation zu halten. […]

Julian Assange muss sofort freigelassen werden, weil seine Enthüllungen einem grundlegenden und wesentlichen öffentlichen Interesse dienen. […]

Julian Assange muss sofort freigelassen werden, weil das Verfahren gegen ihn eine nicht tolerierbare Bedrohung für investigative Journalisten darstellt und sie unter Druck setzt. […]

Wir, Bürger von Genf und anderswo, lancieren diesen Appell zur Freilassung von Julian Assange am heutigen Tag, dem 4. Juni 2021, in Genf, einer Stadt des Friedens und der Verhandlungen, der Wiege des humanitären Rechts und der Menschenrechte und dem Sitz unzähliger internationaler und nichtstaatlicher Organisationen, die sich für die Achtung unserer Grundfreiheiten einsetzen.

Genf, 4. Juni 2021 / Übersetzung ZiF

* Die vollständige Fassung dieses Aufrufs und weitere Informationen finden Sie auf www.pressclub.ch | www.change.org/p/la-justice-du-royaume-uni-genève-lance-un-appel-pour-libérer-assange

Protest gegen Atomwaffenlager in Deutschland: «Ich fuhr mit einem Bolzenschneider nach Büchel»

von Dr. phil. Helmut Scheben*

In Deutschland stand erneut ein Friedensaktivist vor Gericht, weil er am Atombombenlager in der Eifel demonstriert hatte.

Jan Birk hat Hausfriedensbruch begangen. Das Haus, in dem der 63-jährige Mann den Hausfrieden gebrochen hat, ist das Atombomben-Depot in Büchel in der Eifel. Auf dem Flugplatz liegen 20 taktische Atombomben, wahrscheinlich von Typ B-61. Dass sie da sind, ist erwiesen, Genaueres weiss man nicht, denn die deutsche Regierung gibt keine exakten Auskünfte über die Nato-Nuklearwaffen, die in unterirdischen Silos auf dem Stützpunkt lagern.

Aufs Militärgelände vorgedrungen

Jan Birk ist am 30. April 2019 zusammen mit 16 weiteren Friedensaktivisten auf das Militärgelände vorgedrungen. Sie haben Absperrungen durchtrennt und Transparente gezeigt, auf denen die Regierung aufgefordert wird, Deutschland frei von Atomwaffen zu machen und abzurüsten. Sie störten somit den Betrieb des Luftwaffengeschwaders 33 der Bundeswehr. Dieses hat im sogenannten Ernstfall den Auftrag, die Atombomben dort abzuwerfen, wo die Nato-Führung den Feind treffen will. Nach aktuellen Drehbüchern also zum Beispiel in Moskau. Die Verpflichtung Deutschlands, an einem Atomkrieg teilzunehmen, wird im Nato-Wording «nukleare Teilhabe» genannt. Das diesem Ausdruck zugrunde liegende PR-Narrativ wurde oft kritisiert.

Am 26. Mai steht Jan Birk am Ende der Verhandlung auf und sagt dem Richter: «Ich komme aus Schleswig Holstein, geboren wurde ich in Oldenburg, was die deutsche Übersetzung des ursprünglich slawischen Namens Starigrad ist.» Dann resümiert er seinen Lebenslauf: Schulbesuche in verschiedenen deutschen Bundesländern und an der deutschen Schule in Paris, Landwirtschaftsstudium an der Universität Kiel, Auslandsemester in Japan, Zivildienst in der Altenpflege, zwei Jahre Entwicklungsarbeit mit dem ökumenischen Friedensdienst Eirene in Niger und schliesslich seit 1989 Arbeit im Umweltamt der Stadt Preetz in Schleswig Holstein und zahlreiche Ehrenämter in Gewerkschaft und Landwirtschaft.

Verantwortung fürs Gemeinwesen

Und weiter zum Richter: «Warum erzähle ich Ihnen das? Zum einen möchte ich Ihnen deutlich machen, welche Vita mich zu der Überzeugung gebracht hat, dass ein friedliches Zusammenleben der Völker möglich ist. Zum andern möchte ich Ihnen deutlich machen, dass ich überzeugt bin, dass jeder Mensch – und so auch ich – eine persönliche Verantwortung für unser Gemeinwesen und für die Zukunft trägt. Und dass ich diese Verantwortung annehme.»

In Deutschland ergeben alle Umfragen seit Jahren, dass eine grosse Mehrheit der Menschen keine Nuklearwaffen im Land haben will. In der Schweiz wäre dieser politische Wille mit dem Mittel der Volksbefragung wohl durchsetzbar, aber Deutschland kennt keine direkte Demokratie auf Bundesebene. Hinzu kommt, dass Deutschland in Bezug auf Krieg und Militär nicht souverän ist. Die Atomwaffen und ihr Einsatz unterstehen im sogenannten Ernstfall dem Nato-Kommando. Die deutsche Regierung ignoriert seit Jahrzehnten alle politischen Bestrebungen, die Atomwaffen zu entfernen. Auch alle Vorstösse der Legislative, Deutschland atomwaffenfrei zu machen – zuletzt 2010 mit der Zustimmung aller Parteien – sind offensichtlich am Veto der USA gescheitert.

Verpackungskünstler in der Regierung

Das geht so seit dem Zweiten Weltkrieg, das heisst, seit dem Besatzungsstatut von 1949, dem Truppenstatut von 1951 und dem Aufenthaltsabkommen von 1954. Jeder Versuch, Klarheit über die beschränkte deutsche Souveränität zu schaffen oder diese wiederherzustellen, wird abgeblockt oder endet an sicherheitsrelevanter Geheimhaltung. Mit der Anstrengung, diese Tatsache mit juristischem Kauderwelsch zu verhüllen, haben sich deutsche Regierungen von Bonn bis Berlin als wahre Verpackungskünstler erwiesen.

Die Strassenproteste gegen die deutsche Aufrüstung haben Tradition seit den achtziger Jahren, als sich die Friedensbewegung gegen die Stationierung von US-Raketen wehrte, die Atomsprengköpfe trugen. Die Kampagne «Büchel ist überall! atomwaffenfrei jetzt» wurde 2019 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. Aber es sind nur wenige Mutige, die nach Büchel fahren, um gegen die Militärübungen zu protestieren, die sie «Vorbereitung eines Atomkriegs» nennen. Jan Birk ist einer dieser wenigen.

Berufung aufs Grundgesetz

Er sagte dem Richter, mit den Atombomben in Büchel verstosse die Regierung gegen das deutsche Grundgesetz und gegen den Vertrag über Nichtverbreitung von Atomwaffen. Deshalb fühle er sich aus Gewissengründen zum zivilen Ungehorsam verpflichtet:

«Ich habe einen Bolzenschneider gekauft und bin nach Büchel gefahren. Meine Absicht war, das Treiben der Bundeswehr so wirksam wie möglich zu stören, wobei jede Aktion ausschied, die einem anderen Menschen körperlichen Schaden zufügen würde.» Den Soldaten auf dem Militärflugplatz habe er gesagt: «Wir wollen nicht um jeden Preis – also um den Preis der eigenen Vernichtung und um den Preis der Unbewohnbarkeit von Teilen dieser Erde – verteidigt werden.» Es müsse doch allen klar sein, dass es nach dem Einsatz von Nuklearwaffen nichts mehr zu verteidigen gebe.

Eine Billion Dollar für die Nachrüstung

Die Kampagne für die Ächtung von Atomwaffen (ICAN), hinter der weltweit 500 Organisationen stehen, bekam 2017 den Friedensnobelpreis, und am 22. Januar 2021 trat der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen in Kraft. Aber er hat nur Symbolkraft, denn die Atommächte und die Nato-Staaten haben diesen Vertrag nicht unterschrieben. Und nach dem Beschluss der USA, das «updating» ihres Nuklear-Arsenals in den nächsten drei Jahrzehnten mit einer Billion Dollar (engl. 1 trillion $) zu budgetieren, geht die atomare Aufrüstung in die nächste Phase der Eskalation.

Insgesamt 16 Leute nahmen mit Jan Birk an der Aktion im April 2019 teil. Kennzeichnend für alle ist, dass sie auf Recht und Gesetz vertrauen. Irgendwann auf dem Weg durch die Instanzen, so hoffen sie, werde wohl ein deutsches Gericht die Legitimität des Widerstands gegen Atomkrieg anerkennen müssen. Jan Birk hat einen Kurs in gewaltfreier Kommunikation absolviert. Am Telefon sagt er mir: «Ich habe mich bemüht, soweit es irgend möglich ist, auf den Richter zuzugehen.» Die Atmos­phäre im Gerichtssaal schildert er als erstaunlich freundlich. Der Richter sei zugewandt gewesen, und selbst der Staatsanwalt habe Birk «hehre Ziele» zugestanden.

Das Urteil

Am Ende seines Plädoyers zitiert der Angeklagte Immanuel Kant: «Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.» Und er schliesst mit Luthers «Ich stehe hier und kann nicht anders.» Der Richter verurteilt den Mann wegen Hausfriedensbruchs zu 30 Tagessätzen à 30 Euro. Jan Birk wird Widerspruch einlegen.

«Ich bin zwischen Bücherregalen gross geworden», sagt er mir später am Telefon. Seine Kindheit war ein wenig Nomadentum. Der Vater arbeitete bei IBM und musste oft den Arbeitsort wechseln. Eine Familie, in deren Vergangenheit im 20. Jahrhundert von links bis rechts alle Lebensläufe zu finden waren. Birks Bruder hat Sinologie in China studiert und eine jüdische Rabbinerin geheiratet. In Büchel hat ihn vor allem eines beeindruckt: «Dass Menschen aus ganz Deutschland, von denen ich die meisten vorher nicht kannte, dort zusammenkommen, um gegen den Atomkrieg zu protestieren.»

Als ich ihn frage, welche historischen Figuren Vorbilder gewesen seien, nennt er als ersten Lew Tolstoi. Was nicht erstaunlich ist. Der grosse russische Schriftsteller und christliche Prediger gegen den Krieg wäre heutzutage wohl einer von denen, die mit einem Bolzenschneider nach Büchel fahren. 

Quelle: infosperber, 03.06.2021

www.infosperber.ch/politik/atomwaffen-ich-fuhr-mit-einem-bolzenschneider-nach-buechel/

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

Ein differenzierter Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Frieden

Nachruf auf Walter P. Suter

Walter P. Suter (Bild thk)
Walter P. Suter (Bild thk)

Eine traurige Nachricht erreichte letzte Woche unsere Redaktion. Walter P. Suter, ehemaliger Schweizer Botschafter, ist am 7. Juni verstorben. 

thk. Walter P. Suter war ein Botschafter der besonderen Art. In unzähligen Interviews, die er nicht nur unserer Zeitung gab, zeichnete er ein differenziertes und objektives Bild von der Situation in Venezuela. Wenn er etwas nur vom Hörensagen wusste, war er stets vorsichtig in seinen Aussagen: «Das habe ich nur gehört, ich bin nicht sicher, ob es zutrifft.» Seine Antworten waren entsprechend abgewogen und zeugten von einer grossen Kenntnis der Verhältnisse und Umstände, besonders in Venezuela. Häufig empörte er sich über die einseitige und verzerrte Darstellung in den Mainstreammedien, die vor allem die US-amerikanische Sichtweise übernahmen. Darin sah er auch ein riesiges Problem: im ständigen Versuch der USA und ihrer Handlanger, die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Venezuelas und anderer lateinamerikanischer Staaten zu stören und die Länder zu destabilisieren. 

Was Walter P. Suter besonders auszeichnete, war seine fundamentale Sachkenntnis, die er über die lange Zeit im Dienst der Schweizer Diplomatie erworben hatte, sowie sein zutiefst mitmenschliches Engagement für die Unterprivilegierten. 

Im Jahre 1964 begann er beim Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten seine diplomatische Laufbahn, die ihn in viele Teile der Welt führte, u. a. nach Paris, Peking, Buenos Aires, Santiago de Chile, Asunción, Madrid, Bombay und Freiburg i. Br. etc. Im Jahre 1998 übernahm er den Posten des Generalkonsuls in Vancouver. Seine letzte Station im diplomatischen Dienst war Venezuela. Hier amtete Walter P. Suter in Caracas als Missionschef, bevor er 2007 seinen verdienten Ruhestand antrat. Doch von Ruhestand war keine Rede. Er blieb weiterhin engagiert, sowohl in der Schweiz als auch für Lateinamerika. Als Mitbegründer der Organisation ALBA-Suiza und Mitglied des Koordinationskomitees setzte er sich bis zu seinem letzten Atemzug für eine solidarische Unterstützung lateinamerikanischer Länder ein.  

Bei allem internationalen Engagement zeigte er viel Leidenschaft für die Schweiz. Die Unabhängigkeit des Landes, seine Selbstbestimmtheit bis hin zu einer effizienten Landesverteidigung waren für ihn unabdingbare Grundbedingungen staatlicher Souveränität, die er nicht als Widerspruch zur internationalen Solidarität sah. 

Mit Walter P. Suter verlieren wir einen differenzierten Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Frieden, wofür er sich sein ganzes Leben lang eingesetzt hat. Adieu, lieber Walter! 

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