Editorial

In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die vor einer weiteren Eskalation des Ukraine-Konflikts warnen. Besonders aus Kreisen ehemaliger ranghoher Militärs, die sich getrauen, offen zu sprechen, werden schwerste Bedenken gegenüber einer Ausweitung des Konflikts durch Waffenlieferungen oder gar Entsendung fremder Truppen ge­äussert. Doch die Politik ist taub. Man hat den Eindruck, für die USA und ihre Verbündeten ist der provozierte Krieg eine willkommene Gelegenheit, ihren Einflussbereich weiter auszudehnen und die Welt nach US-Vorstellungen umzugestalten, zuerst mit verstärkter Aufrüstung und Ausweitung der internationalen US-Kriegstruppe, genannt Nato, und im zweiten Schritt die wirtschaftlichen Konkurrenten auszuschalten und das neoliberale Prinzip und die amerikanische Lebensweise durchzusetzen. Das betrifft Länder, die sich als Verbündete verstehen und alles, was aus den USA kommt, mittragen, selbst ihren eigenen wirtschaftlichen Untergang. 

Sogar traditionell neutrale Staaten wie Finnland, Schweden und allen voran die Schweiz lassen sich in den Strudel der unsäglichen Kriegsrhetorik und der Propagandageschichten von der Bedrohung der «freien Welt» durch heute Russland und morgen China ziehen und beabsichtigen eine völlig unbegründete Annäherung an die Nato. Wozu das Ganze? 

Anstatt sich für ein sofortiges Ende des Krieges einzusetzen, wird er befeuert. Menschen, die dabei zu Tode kommen, spielen wohl keine Rolle, wenn der deutsche Kanzler sich zum Sprachrohr der USA macht und mit eiserner Miene verkündet: «Russland darf nicht gewinnen.» Seine Idee, T-72 Panzer aus Slowenien in die Ukraine zu liefern, die von den Ukrainern bedient werden könnten, dafür im Austausch an Slowenien deutsche Panzer zu schicken, zeigt, dass nur noch die Logik des Krieges das Denken beherrscht. Ein Engagement für den Frieden ist in weite Ferne gerückt. «The fog of war» nannte es einst der US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara, der die Kubakrise und den Vietnamkrieg hautnah miterlebt hatte. Ist die Menschheit nach über 100 Jahren (Kriegs-)Geschichte immer noch nicht weiter?

Die Vernunft und das realistische Betrachten der aktuellen Situation ist einer völligen Emotionalisierung gewichen. Man kann sich nur schwerlich des Eindrucks erwehren, dass gewisse Mainstreammedien Regierungen vor sich hertreiben und ihnen vorschreiben, wie sie in der Ukrainekrise zu agieren haben. Und sie machen das mit. Eine absurde Situation. 

In diesem Dschungel von Propaganda und Gegenpropaganda ist grösste Zurückhaltung geboten. Deshalb ist es entscheidend, dass andere Stimmen als Kriegstreiber zu Wort kommen und ihre Positionen darlegen können. Nur eine sachliche, nicht von Emotionen geleitete Auseinandersetzung führt zu einer tragfähigen und dauerhaften Lösung. Mit dieser aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift wollen wir weiter zu einer Versachlichung der Auseinandersetzung und damit zu einem möglichst raschen Ende des Krieges beitragen.

Die Redaktion

 

«Das Ziel ist nicht, der Ukraine zu helfen, sondern Putin zu bekämpfen»

Zur aktuellen Lage in der Ukraine

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Man erkennt die Schweiz im gewissen Sinn nicht wieder. Alles, was für den Staat von Bedeutung war, wird fast handstreichartig über den Haufen geworfen. Wie nehmen Sie das wahr?

Jacques Baud Man ist tatsächlich in einer Hysterie, und es ist unglaublich, wie man die fundamentalen Prinzipien des Rechtsstaats vergisst. Das ist ein grundsätzliches Problem, man vergisst die eigenen Grundlagen, die eigene Identität. Unabhängig davon, wer gegeneinander kämpft, es ist nicht unser Kampf, und es ist ein Vorteil, nicht am Kampf beteiligt zu sein, denn das schafft die Möglichkeit, bessere Lösungen zu entwickeln und zur Entschärfung des Problems beizutragen. 

Der neutrale Staat könnte hier einen positiven Beitrag leisten?

Ja, aber das ist genau das, was die Schweiz nicht macht. Sie benimmt sich so, als ob sie eine Partei in diesem Kampf wäre. Das verhindert, dass die Schweiz eine ausgewogene, objektive und unparteiische Lösung finden kann. Das ist der Kernpunkt – nota bene nicht nur für die Schweiz, sondern mehr noch für die anderen. Der Unterschied ist nur, dass wir neutral wären.

Inwiefern ist das von Bedeutung? 

Diese Neutralität könnte man ausnützen, nicht um Partei zu ergreifen, sondern um mitzuhelfen, das Problem zu lösen, unabhängig davon, wer schuldig oder unschuldig ist. Das hat nichts miteinander zu tun. Es ist wie bei einem Schiedsrichter. Er darf nicht Partei sein. Das haben wir vergessen. Es spielt keine Rolle, was der Schiedsrichter über einen Teilnehmer denkt, ob er ihn sympathisch findet oder nicht, er muss die gleiche Distanz gegenüber beiden Teilnehmern wahren. Die Schweiz wäre in dieser Situation, sie profitiert aber nicht davon. Damit meine ich natürlich nicht finanziell, sondern intellektuell, rechtlich und moralisch.  Das Problem ist, dass die Schweiz vergisst, dass sie keine Kriegspartei in diesem Konflikt ist.

Wenn man den Bundesrat oder auch gewisse Parlamentarier sprechen hört, dann ist diese neutrale Position völlig aufgeweicht, auch wenn man immer wieder das Gegenteil beschwört.

Interessant ist auch, dass man, wenn man gegenüber der Beurteilung des Konflikts Distanz einnimmt und sich nicht auf die Seite der Ukraine stellt, zum «Putin-Versteher» erklärt wird. Das ist unglaublich. Was ich über Putin denke, hat mit der Beurteilung der Situation nichts zu tun. Das ist die Sache der Ukrainer. Ich habe das schon mehrmals gesagt: Wenn ich Ukrainer wäre, dann hätte ich wahrscheinlich zu den Waffen gegriffen. Aber, darum geht es nicht. Ich als Schweizer werde mein Schweizersein nicht aufgeben. Um der Ukraine zu helfen, muss ich nicht Ukrainer werden, sondern die Distanz, die ich als Schweizer habe, nutzen, um einen weniger leidenschaftlichen, dafür aber konstruktiveren Blickwinkel einzubringen. Die Journalisten, die mich kritisieren, sind mehr Russen-Hasser als Ukraine-Liebhaber. 

Wo könnte denn die Rolle der Schweiz in diesem Konflikt liegen?

Wenn ein Beobachter sieht, dass eine alte Dame auf der Strasse von einem Schläger angegriffen wird, ermutigt er sie nicht, sich zu wehren, sondern versucht, die beiden zu trennen. Wir befinden uns in der Situation dieses Beobachters, aber unsere Antwort ist, Waffen zu geben, damit die Ukraine kämpft. Für einen Ukrainer ist es
legitim, kämpfen zu wollen, aber für einen Schweizer oder einen anderen Europäer besteht die Rolle darin, zu versuchen, den Schaden zu begrenzen. Aber niemand versucht das im Westen. Als Selenskij einen Mediator suchte, wandte er sich an die Türkei, China und Israel. Er wählte kein Land der Europäischen Union und auch nicht die Schweiz. Er hat verstanden, dass die Schweiz kein unabhängiger Partner mehr ist.

Ist das nicht das Resultat der aktuellen Schweizer Politik?

Ja, das zeigt die Natur des Problems. Wir müssen einen Unterschied machen zwischen dem, was man über Putin denkt und was man politisch tut. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Dazu stellt sich mir immer wieder die Frage, warum wir uns so gegen den Angreifer stellen. Warum handelten wir nicht so bei den USA oder bei Frankreich, als sie einfach andere Länder überfallen hatten? 

Ja, diese Frage stellt sich tatsächlich…

Wenn man heute bei der Ukraine von Solidarität und Humanität redet und dem Land alle erdenkliche Hilfe zukommen lässt, dann sehen wir die von den USA Angegriffenen als andere Menschen, die unsere Hilfe und Solidarität nicht verdient haben. Das wird in der Zukunft Folgen haben. Viele haben das bei den Flüchtlingen gemerkt. Den «blonden, blauäugigen» Flüchtlingen hilft man gerne, den anderen nicht. Man kann das nachvollziehen, auch wenn man es nicht billigen kann. Aber, was unverständlich ist, bleibt die Tatsache, dass man bei dem einen Angreifer schweigt, während man einen anderen mit mehr als 6 000 Sanktionen bestraft.

Ist das nicht die bekannte Doppelmoral?

Doch, es bedeutet auch nicht, dass man für Russland sein muss, das hat nichts damit zu tun. Wenn man die Justitia anschaut, dann ist sie blind und hält eine Waage in der Hand. Das ist genau das, was heute fehlt. Die Schweiz ist nicht blind, und sie ist nicht ausgewogen. Das gilt auch für die Europäische Union. Ein Rechtsstaat sollte nicht durch Leidenschaft, sondern durch Vernunft geführt werden. Diese Grundsätze wurden von Montesquieu, Voltaire und Rousseau im 18. Jahrhundert aufgestellt. Unsere «woke»-Kultur hat sie vergessen. Wir lassen uns von unseren Gefühlen leiten und folgen ihnen. Das ist das Problem.

Damit sind die rechtsstaatlichen Prinzipien verschwunden?

Einen Rechtsstaat führt man nicht mit Gefühlen oder Intuitionen, sondern auf der Grundlage von Fakten. Deshalb gibt es in allen modernen Staaten Nachrichtendienste. Somit kann der Entscheidungsträger auf der Grundlage von Fakten und nicht aufgrund göttlicher Inspiration entscheiden. Dies ist ein grundlegender Unterschied zwischen aufgeklärter Regierungsführung und despotischem Obskurantismus. Die Tatsache, dass wir gegen eine Diktatur kämpfen, berechtigt uns nicht dazu, auf rechtsstaatliche Prinzipien zu verzichten. Seit dem Balkankrieg scheint der Westen zu glauben, dass der Zweck die Mittel heilige. Es ist unerheblich, was einzelne Bundesräte persönlich denken, sie dürfen Putin hassen, das ist ihr Recht als Menschen, aber nicht als Bundesräte. Das kann nicht die Grundlage ihrer Politik sein. Hier möchte ich auf Henry Kissinger verweisen. Er hat 2014 gesagt: «Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik; sie ist ein Alibi, um keine Politik zu haben». Das sagte Henry Kissinger¹, nicht Putin oder Lukaschenko. Der Bundesrat hat das nicht verstanden. Er verhält sich wie ein Monarch, wie Louis XIV, der von einer göttlichen Eingebung geleitet wurde.

«Es geht nicht um die Lösung des Problems ‹Krieg›, sondern um die Beseitigung des Problems ‹Putin›.»

Damit hat der Bundesrat seine Vernunft den Emotionen untergeordnet?

Er ist leider nicht der einzige. Dieses «Management by Twitter», das im Moment in der gesamten westlichen Welt die Oberhand hat, ist absolut unangemessen. Das führt zu dieser Situation, in der man reagiert, bevor man genau weiss, was geschehen ist. 

Ausserdem stellt man fest, dass die Dinge dadurch nicht besser werden. Die Türen schliessen sich. Es wird nicht mehr kommuniziert. Die Diplomatie ist ins Stocken geraten. In Wirklichkeit geht es nicht um die Lösung des Problems «Krieg», sondern um die Beseitigung des Problems «Putin».

Das Reagieren, bevor man Genaueres weiss, ist gängige Praxis?

Ja, nach dem Raketenangriff auf Zivilisten am Bahnhof von Kramatorsk am 8. April hat Ignazio Cassis den russischen Botschafter zu sich zitiert. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch noch nicht alle Einzelheiten des Angriffs bekannt. Trotzdem hat man die Russen angeklagt. Heute deuten Indizien wie die Seriennummer der Rakete, die Richtung des Abschusses, der Raketentyp und die Strategie eher auf eine ukrainische Verantwortung hin. Doch ohne unparteiische internationale Untersuchung bedeutet eine direkte Beschuldigung Russ­lands eine Billigung eines möglichen Kriegsverbrechens der Ukraine. So kann man keine Staaten führen. Was ich sehr bemängele, ist, dass man keine Distanz zu den Ereignissen hat. 

Ohne Distanz ist es wahrscheinlich äusserst schwierig, eine Situation angemessen zu beurteilen?

In den meisten Fällen sind wir nicht in der Lage, zwischen einem Kriegsverbrechen und einem «Kollateralschaden» zu unterscheiden. Zum grossen Teil liegt das daran, dass uns die Medien eine Antwort diktieren. Was war Provokation, was war Reaktion, was ist Propaganda? Wir wissen es nicht. Trotz allem beschuldigen und sanktionieren wir Russland. Aber wenn man etwas verurteilen will, dann braucht es zuerst eine internationale und unparteiische Untersuchungskommission, die herausfinden muss, was geschehen ist. Was wir tun, tendiert dazu, jede Möglichkeit eines Dialogs auszuschliessen, und das verhindert die Formulierung einer Strategie zur Krisenbewältigung.

Der Bürger und der Staat können also nicht denselben Ansatz haben?

Der Bürger kann glauben, was er will. Was der einfache Bürger meint, das ist ihm völlig freigestellt. Er kann über Putin, über Russ­land meinen, was er will. Er kann die Menschen hassen, wenn er das will. Aber ein Staat und staatliche Medien können sich das nicht leisten. 

Warum nicht?

Die Rolle eines Staates besteht nicht darin, die Emotionen seiner Bevölkerung auszudrücken, sondern ihre Interessen zu vertreten. Das Interesse der Ukraine besteht darin, ihre Bürger vor einer Aggression zu schützen. Das Interesse der Schweiz besteht nicht darin, einen Krieg zu unterstützen, sondern eine friedliche Lösung zu erreichen. Die Rolle der Schweiz besteht nicht darin, anzuklagen oder zu verurteilen. Im Übrigen hat sie weder die USA noch Grossbritannien oder Israel verurteilt. Das bedeutet, dass wir einige Verbrechen tolerieren und andere verurteilen. 

Seit langem ist bekannt, dass die ukrainischen Milizen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Die Schweiz hat sie nicht verurteilt. Derzeit beginnen viele ukrainische Kriegsverbrechen von westlichen Zeugen und humanitären Helfern² angeprangert zu werden. Ihre Enthüllungen werden zensiert, wie die von «Reuters» und «Der Spiegel» zensierte Enthüllung von Natalia Usmanova³, die erzählt, dass es ukrainische Milizen und nicht die Russen waren, die Zivilisten daran hinderten, durch die humanitären Korridore zu gehen. De facto unterstützt die Schweiz Praktiken, die nach den Genfer Konventionen, deren Depositarstaat sie ist, verboten sind. 

«Kiew und der Westen führen einen Medienkrieg gegen Russland und die Donbas-Republiken.»

Das bedeutet, dass der Westen Krisen fördert?

Ja. Im Jahr 2014 war ein ähnlicher Mechanismus zu beobachten. Westliche «Experten» und Medien spielten den Widerstand der Ukrainer gegen den Regimewechsel herunter. Es musste gezeigt werden, dass die Maidan-Revolution demokratisch war. Also baute man den Mythos einer ukrainischen Armee auf, die gegen die Rebellen siegreich war. Nach der Niederlage der Regierung in Donezk musste die Ausrede einer russischen Intervention erfunden werden, um die westliche Propaganda zu rechtfertigen. So kam es zu den ersten Vereinbarungen von Minsk (September 2014). Unmittelbar danach brach Kiew das unterzeichnete Abkommen, um die Anti-Terror-Operation (ATO) zu starten. Diese führte zu einer zweiten Niederlage bei Debalzewo und zum zweiten Minsker Abkommen (Februar 2015). Erneut wurde die ukrainische Niederlage der russischen Intervention zugeschrieben. Daher behaupten westliche «Experten» weiterhin, dass diese Abkommen zwischen der Ukraine und Russland unterzeichnet worden seien, was jedoch nicht stimmt. Das Abkommen von Minsk wurde zwischen Kiew und Vertretern der selbsternannten Republiken Lugansk und Donezk unterzeichnet. 

Wie ist denn die Kriegssituation aktuell einzuschätzen?

Heute ist zu beobachten, dass Kiew und der Westen einen Medienkrieg gegen Russland und die Donbas-Republiken führen. Russ­land hingegen führt einen Krieg auf dem Schlachtfeld. Daraus ergibt sich, dass die Ukrainer und der Westen im Informationskrieg stärker sind, Russland und seine Verbündeten sind jedoch auf dem Schlachtfeld stärker. Wer wird gewinnen? Wir wissen es nicht. Aber was seit Mitte April in Mariupol und im Donbas zu beobachten ist, deutet eher darauf hin, dass die ukrainischen Truppen von ihrer Führung «im Stich gelassen» wurden. Diese Feststellung wird auch von westlichen Freiwilligen gemacht, die das Schlachtfeld aufgrund der Unzulänglichkeiten des ukrainischen Kommandos verlassen haben und dies in den Medien berichten. 

Was heisst das konkret betreffend die russischen Kriegsziele?

Russland begann mit einer kleinen Zielsetzung. Danach fiel der Entscheid weiterzugehen. Es wollte das östliche Gebiet von Waffen befreien. Aufgrund des ersten Erfolgs wollte es Verhandlungen über die Neutralität der Ukraine beginnen. Das war eine neue Zielsetzung, die erst später definiert wurde. Putin hat eine Chance gesehen, das Ziel über Verhandlungen zu erreichen. Sollte die Ukraine das nicht akzeptieren, würde er die Zielsetzung entsprechend anpassen. Die Ukrainer wollen die Verhandlungen nicht, also geht Russland entsprechend weiter, bis sich die Ukraine auf eine Verhandlungslösung einlässt.

«Die Russen verstehen den Krieg aus einer clausewitzschen Perspektive: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.»

Was waren die ursprünglichen Kriegsziele?

Am 24. Februar hat Putin die zwei Kriegsziele klar genannt: «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung», die Bedrohung gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbas zu beenden. Ausserdem erklärte Wladimir Putin, dass er nicht die Übernahme der gesamten Ukraine anstrebe. Genau das wurde beobachtet. 

Die Russen verstehen den Krieg aus einer clausewitzschen Perspektive: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Daher gehen sie fliessend von einem zum anderen über. Die Idee ist, die ukrainische Seite dazu zu bringen, in einen Verhandlungsprozess einzutreten. 

Hat die Ukraine sich ernsthaft auf eine Verhandlungslösung eingelassen?

Am 25. Februar deutet Selenskij an, dass er bereit sei, mit Russland zu verhandeln. Die Europäische Union kommt daraufhin am 27. Februar mit einem 450 Millionen Euro schweren Waffenpaket, um die Ukraine zum Kampf anzuspornen. Am 7. März, als das Ziel der «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» fast erreicht war und die Ukraine keine Fortschritte bei den Verhandlungen gemacht hatte, fügte Russland hinzu, dass Kiew die Rückkehr der Krim zu Russland und die Unabhängigkeit der beiden Donbas-Republiken anerkennen müsse. Es stellte klar, dass sich seine Position ändern könnte, wenn die Ukraine nicht verhandeln wolle. 

Hat die Ukraine darauf reagiert?

Nach der Einnahme von Mariupol schwächte sich die Lage in der Ukraine ab, und am 21. März machte Selenskij ein Angebot, das Russland entgegenkam. Doch wie im Februar kommt die EU zwei Tage später mit einem zweiten Paket von 500 Millionen Euro für Waffen zurück. Grossbritannien und die USA übten in der Folge Druck auf Selenskij aus, damit er sein Angebot zurückzog. Die Verhandlungen in Istanbul gerieten daraufhin ins Stocken.

Inwiefern hat Russland seine Ziele geändert?

Ende März wurde das Ziel der «Entnazifizierung» mit der Einnahme von Mariupol erreicht und im Rahmen von Verhandlungen aus den russischen Zielen entfernt.⁴

Am 22. April passten die Russen ihr Ziel an. Das Verteidigungsministerium gab bekannt, dass das neue Ziel darin bestehe, den südlichen Teil der Ukraine bis nach Transnistrien unter Kontrolle zu bringen, wo die russischsprachige Minderheit schlecht behandelt wird.

Wie man sieht, passt die russische Strategie die Ziele je nach militärischer Lage an. Was die Russen eigentlich anstreben, ist, ihre operativen Erfolge in einen strategischen Erfolg umzuwandeln. 

Heisst das, dass die russischen Ziele, von denen die Medien berichten, nie existiert haben?

Das ist richtig. Wladimir Putin hat nie gesagt, dass er Kiew einnehmen wolle. Er hat nie gesagt, dass er die Stadt in zwei Tagen einnehmen wolle. Er hat nie gesagt, dass er Präsident Selenskij stürzen wolle. Er hat nie gesagt, dass er die gesamte Ukraine übernehmen wolle. Er hat nie gesagt, dass er einen Sieg am 9. Mai anstrebe. Er hat nie gesagt, dass er diesen Sieg bei der Parade am 9. Mai verkünden wolle. Er hat nie gesagt, dass er am 9. Mai «den Krieg erklären» wolle, um eine allgemeine Mobilmachung auszulösen. 

Der Westen hat also die Zielsetzung bestimmt und kann jetzt behaupten, Putin habe seine Ziele nicht erreicht. Die Geschichte, dass Russland verlieren würde, basiert auf diesen Behauptungen.

Was soll am Ende der Militäraktion herauskommen?

Natürlich wissen wir nicht, was in Wladimir Putins Kopf vorgeht. Aber offensichtlich gibt es eine Logik. Der Westen macht es den Ukrainern nicht leichter, und die Russen kommen immer weiter voran. In der unmittelbaren Zukunft sehen wir, dass die russische Koalition Gebiete «befreit». Einige Provinzen haben bereits beschlossen, den Rubel einzuführen. Es geht also langsam auf die «Wiedererstellung» von Noworossija zu. 

Was muss man sich unter Noworossija vorstellen und wie soll das territorial aussehen? 

Nach der Aufhebung des Amtssprachengesetzes im Jahr 2014 erhoben sich nicht nur die Oblaste Lugansk und Donezk, sondern der gesamte russischsprachige Süden der Ukraine. In der Folge formierten sich die vereinigten Kräfte von Noworossija mit Truppen aus der Republik Odessa, aus den Republiken Charkow, Dnipropetrowsk und natürlich Lugansk und Donezk. Überlebt haben nur Lugansk und Donezk. Die übrigen «Republiken» sind von den paramilitärischen Kräften brutal bekämpft worden. Heute sehen wir, dass es den Russen darum geht, mit den Ukrainern zu verhandeln. Wenn sie das nicht wollen, erhöht Russland den Druck. 

Hat Russland so Aussicht auf Erfolg?

All dies ist sehr unsicher. Was man jedoch sagen kann, ist, dass der Widerstand der Bevölkerung gegen Russland in den von ihm besetzten Gebieten viel schwächer ist als von westlichen Experten geschätzt. Darüber hinaus ist klar, dass die ukrainische Führung der Operationen nicht effektiv war. Es scheint, dass das ukrainische Militär wie schon 2014 das Vertrauen in seine Behörden verloren hat.

Woher weiss man das?

Die Aussagen westlicher freiwilliger Kämpfer⁵ die aus der Ukraine zurückgekehrt sind, bestätigen, dass die ukrainische Führung schwach ist. Es scheint, dass das ukrainische Militär selbst Opfer seiner Propaganda ist, die die Leistung der Ukrainer überbewertet. Man hat das Gefühl, dass die höheren Kommandoebenen sich mehr mit den vom Westen übermittelten Botschaften zufrieden geben als mit den tatsächlichen Ergebnissen auf dem Schlachtfeld. Natürlich nutzen die westlichen Medien die von der Ukraine angegebenen Zahlen über zivile und militärische Verluste, um den möglichen Sieg der Ukraine zu erklären und die russische Niederlage zu verkünden.

Was können wir aus dieser gesamten Situation für Schlüsse ziehen?

Es gibt tatsächlich Aktivitäten vom Westen, diesen Krieg zu verlängern und keinen Raum für Verhandlungen zu lassen. Das ist genau das gleiche, was Bundesrätin Keller Sutter und Bundesrat Cassis machen. Sie machen bei der Verlängerung des Krieges mit. 

Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat ganz deutlich gesagt: «Russland darf den Krieg nicht gewinnen.» Damit wird der Krieg weitergehen? 

Das ist kindisch. Die operative Situation zeigt, dass sich die Ukraine in einer sehr schwierigen Lage befindet. Ich weiss nicht, ob Russland diesen Krieg «gewinnen» oder «verlieren» wird. Aber ich weiss, dass die Ukraine nicht mehr in der Lage ist, militärisch zu siegen … Auf politischer Ebene mag die Situation anders aussehen. Das ist umstritten, und die Zukunft wird es zeigen. Aus der Sicht des Westens ist es sicherlich eine politische Niederlage für Russland. Für den Rest der Welt ist dies jedoch wahrscheinlich nicht unbedingt der Fall. Tatsächlich wird der neue eurasische Block, der aus diesem Konflikt hervorgehen wird, eine erheblich stärkere Macht gegenüber dem Westen sein. Wir sind es gewohnt, dass sich das Schicksal der Welt um den Westen dreht. Aber vielleicht wird Asien das nächste «Zentrum der Welt» sein. Indem man Russland politisch vom Westen isoliert, drängt man es in den asiatischen Block. Und in diesem Modell könnte es einen Vorteil gegenüber Europa und den USA haben.

Ist das ukrainische Militär nicht mehr existent?

Es gibt sozusagen fast kein ukrainisches Militär mehr. Der Grossteil der ukrainischen Armee gerät in die Kämpfe im Donbas und wird nach und nach von der russischen Koalition neutralisiert. Die ukrainische Regierung beginnt damit, die territorialen Milizen aus dem Westen des Landes nach Donbas zu verlegen. Dies hat zu Spannungen geführt, insbesondere in den Gebieten der ungarischen und rumänischen Minderheiten, deren Bevölkerung nicht gegen die Russen in den Kampf gehen will. Wir sehen Demonstrationen von Müttern und Ehefrauen im Westen des Landes und in Kiew.

Es fällt auf, dass sich nahezu alle westlichen Staaten so verhalten, als ob sie keinen Frieden wollten. Keiner mahnt zur Vorsicht. Bevor man irgendetwas Genaues weiss, werden Schlüsse gezogen, Verurteilungen vorgenommen, Waffen geliefert. Der Krieg wird am Leben gehalten. Wie ordnen Sie die angekündigten verstärkten Waffenlieferungen ein?

Zu den Waffen gibt es verschiedene Dinge zu überlegen. Erstens, einen Krieg zu füttern und damit am Leben zu halten, ist nicht die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Unter internationaler Gemeinschaft verstehe ich vor allem Organisationen wie die Uno oder die EU. Ob ein Land diese Politik betreibt wie die USA oder Polen, das ist deren Entscheid. Aber der Sinn und Zweck einer internationalen Organisation ist nicht, internationale Konflikte zu alimentieren. 

«Waffen verschwinden, bevor sie an der Front ankommen.»

Zweitens ist nicht bekannt, wohin die gelieferten Waffen tatsächlich gehen. Selbst die US-Geheimdienste gestehen, dass sie es nicht wissen.⁶ Es ist jedoch klar, dass alle diese Waffen verschwinden⁷, bevor sie an der Front ankommen. Es gibt Berichte über einen Anstieg der Kriminalität in Kiew. Tatsächlich schüren die westlichen Länder das, was der «Global Organized Crime Index» als «einen der grössten Waffenhandelsmärkte in Europa» bezeichnet.⁸ 

Was bringen denn die Waffen der Ukraine?

Das ist der dritte Aspekt, den man betrachten muss. Die Waffen helfen nichts. Die Waffenlieferungen beruhen auf dem Mythos, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und Russland verlieren wird. Diese Idee ist das Resultat dessen, dass der Westen die Zielsetzung der Russen bestimmt hat. Selenskij fordert zusätzliche Waffen, weil die ukrainische Armee bereits Hunderte von Kampfpanzern und Artilleriegeschützen verloren hat. Die wenigen Dutzend, die vom Westen geliefert werden, werden die Situation nicht ändern. Wie schon im Jahr 2014 ist das Hauptproblem der ukrainischen Streitkräfte nicht die Entschlossenheit der Soldaten, sondern die Unfähigkeit der Stäbe.

Wie kann die Ukraine diese Waffen finanzieren oder übernehmen die Kosten die Liefer-Staaten aus Solidarität? 

Die Waffen werden der Ukraine auf der Grundlage des «Leih-Leasing»-Gesetztes⁹ zur Verfügung gestellt. Dies ist eine Form des «Leasings», das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zur Lieferung von Waffen an Grossbritannien und die UdSSR eingeführt worden war. Mit anderen Worten: Die Ukraine muss die Waffen, die sie erhält, zurückzahlen. Zum Vergleich: Grossbritannien und Russ­land beendeten die Zahlung ihrer Schulden aus dem Zweiten Weltkrieg an die USA im Jahr – 2006! 

Ausserdem häuft die Ukraine bei internationalen Finanzinstitutionen (wie dem IWF und der Weltbank) enorme Schulden an. Das Paradoxe daran ist, dass diese Institutionen aufgrund der westlichen Rhetorik von einem Land, dem es gut geht und das kurz vor einem Sieg über Russland steht, nicht breit sind ihm seine Schulden zu streichen.10

Die gelieferten Waffen und die freiwilligen ausländischen Kämpfer haben also keinen Einfluss auf den Verlauf des Krieges?

Nur zum Teil. Ein Beispiel: Afghanistan konnte gegen die US-Armee gewinnen, obwohl sie viel mächtiger war. Die Afghanen hatten fast keine schweren Waffen, höchstens Kleinwaffen. Weder die Anzahl der Waffen noch ihre Qualität sind für einen Sieg ausschlaggebend. Die grösste Schwäche der ukrainischen Streitkräfte ist: die Führung. 

Warum ist das so?

Die ukrainische Militärführung ist schlecht, weil sie nicht alle Parameter in die Planung und Durchführung ihrer Kämpfe einbezieht. Sie macht die gleichen Fehler wie die Nato-Truppen in Afghanistan. Dies ist nicht überraschend, da die letzteren die ersten ausbilden. Ausserdem muss man diese Waffen beherrschen, um taktisch das Maximum aus ihnen herauszuholen. Sie wurden für monatelang ausgebildete Berufssoldaten entwickelt und nicht für Gelegenheitssoldaten, die in zwei Wochen ausgebildet werden. Das ist völlig unrealistisch. 

«Die Waffen, die man in die Ukraine liefert, haben keine militärische Wirkung.»

Verstehe ich Sie richtig: Die Effizienz dieser gelieferten Waffen ist absolut gering und führt zu mehr Zerstörung in der Ukraine?

Man liefert Waffen, die zum Teil veraltet sind und gegen die Russen keine Veränderung bringen werden. Das hat nur den Effekt, Feuerkraft in gewisse Gebiete zu bringen. Ein Beispiel: Die Slowakei hat der Ukraine das Luftabwehrsystem S-300 geliefert, und es wurde, so viel ich weiss, in die Nähe von Nikolajew gebracht. Innert kürzester Zeit ist es von den Russen zerstört worden. Die Russen wissen genau, wo diese Dinge stehen, wo die Waffenlager sind. In Saporoschje waren ganz neue Waffen aus dem Westen gelagert. Mit einer Rakete haben die Russen das Depot punktgenau zerstört. Die Waffen, die man in die Ukraine liefert, haben keine militärische Wirkung. 

Ein paar Haubitzen sind wirkungslos, weil sie die Russen sofort zerstören können. Die Ukrainer müssen natürlich diese Systeme so schnell wie möglich an die Front bringen. Das müssen sie mit der Eisenbahn machen. Die Ukrainer haben im Westen des Landes elektrische Eisenbahnen. Die Russen zerstörten die meisten elektrischen Substationen des Eisenbahnsystems und die Haupteisenbahnwege. Heute fahren keine elektrischen Lokomotiven mehr auf dem Netz. In der Folge müssen sie die Waffen, z. B. Panzer, mit Transportern einzeln auf der Strasse an die «Front» bringen. Das Problem ist, dass diese Zerstörungen nicht nur die militärische Logistik betreffen, sondern auch das Wirtschaftsleben des Landes.

Wie reagiert Russland darauf?

Es ist anzumerken, dass die Russen vor den westlichen Waffenlieferungen das Eisenbahnnetz nicht angegriffen haben. Wenn das Ziel besteht, die Ukraine total zu zerstören, dann muss man genau das tun, was der Westen jetzt macht. Wenn man das will. Ob das der Westen will oder nicht, das weiss ich nicht. Aber wenn das Ziel besteht, muss man es genauso machen.

Ausserdem wird gesagt, dass Russland derzeit den grössten Bestand an Javelin-Raketen der Welt besitzt. Ich weiss nicht, ob das stimmt, aber es deutet darauf hin, dass viele der vom Westen gelieferten Waffen nicht zu den ukrainischen Kämpfern gelangen.

Der Gepard-Panzer, den die Deutschen liefern wollen, ist in der Bundeswehr ausgemustert. Es gibt in den Beständen der Bundeswehr auch keine Munition mehr dazu. Ist das nicht so ein Punkt, den Sie vorhin erwähnt haben? 

Der Gepard ist ein Flugabwehrpanzer, der auf dem Fahrgestell des Kampfpanzers Leopard 1 basiert. Es handelt sich um ein Fahrzeug, dessen Entwicklung bis in die 1970er Jahre zurückreicht. Es ist ein gutes Waffensystem, das jedoch nicht mehr an die modernen Bedrohungen angepasst ist. Ein Waffensystem bedeutet auch Logistik, Wartung und eine besondere Ausbildung für die Besatzungen und Mechaniker. Ausserdem muss ein solches System, um effektiv zu sein, in ein Führungssystem integriert werden. All dies kann jedoch nicht in wenigen Wochen realisiert werden. Im Grunde genommen ziehen diese Waffensysteme nur das russische Feuer auf sich. 

«Ein aus der Ukraine zurückgekehrter britischer freiwilliger Kämpfer spricht von ‹Kanonenfutter› von den an die Front geschickten Kämpfern.»

Haben die westlichen Länder die Hoffnung, es bringe trotzdem etwas?

Sicher ist, es bringt nichts. Die Engländer machten eine Studie über die Waffen, die sie den Ukrainern geliefert hatten. Die Resultate sind extrem schwach, und zwar enttäuschend. Sie haben gemerkt, ihre Waffensysteme sind zu kompliziert, und die ukrainischen Soldaten können diese nicht bedienen, weil sie nicht ausreichend ausgebildet sind. Was die freiwilligen Kämpfer anbelangt, ist das Bild auch enttäuschend. Ein aus der Ukraine zurückgekehrter britischer freiwilliger Kämpfer spricht von «Kanonenfutter» von den an die Front geschickten Kämpfern.11 Die Engländer selbst haben gemerkt, dass es nichts bringt. Aus diesem Grund machte Boris Johnson einen Schritt zurück12, nachdem er junge Menschen dazu aufgefordert hatte, in der Ukraine zu kämpfen. Alles, was man macht, dient also nur einer Fortsetzung des Krieges, ohne eine Lösung zu bringen oder Russland entscheidend zu bekämpfen. Es führt nur zur Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur. 

Es handelt sich also nicht um eine Hilfe für die ukrainische Armee? 

In der Theorie, ja. In der Praxis, nein. Die Ukraine hat bereits enorme logistische Probleme bei ihren Truppen im Donbas. Sie kann diese kaum noch mit Waffen und Munition versorgen. Und jetzt kreiert man ein neues Problem mit Waffen, die man nicht reparieren kann. Die Mechaniker sind dafür nicht ausgebildet, genauso wenig wie die Besatzung für die Bedienung der Geräte. Ausserdem sind bei den vom Westen gelieferten Systemen die Beschriftungen und Benutzerhandbücher auf deutsch, englisch oder französisch, aber nicht auf ukrainisch. Das klingt so banal, aber das ist ein Problem. 

Deshalb sage ich, auch Deutschland will die Krise erhalten. Das ist die Haltung der deutschen Politiker wie Scholz, Baerbock etc. Sie wollen Putin bekämpfen «bis zum letzten Ukrainer». Das hat keinen Sinn. 

Aber wenn das so offensichtlich ist, warum geht der Westen diesen Weg?

Ich behaupte, der Westen nutzt die Ukraine gegen Russland aus. Das Ziel ist nicht, der Ukraine zu helfen, sondern Putin zu bekämpfen. In den englischsprachigen Medien bestätigen viele Analysten13, dass der Westen durch die Ukraine einen Krieg gegen Russland14 führt. Dies wird als «Proxy-War» bezeichnet. Darum geht es. Wir helfen der Ukraine nicht. Alles andere ist eine Lüge. Wenn ich Ukrainer wäre, würde ich Putin genauso verurteilen wie Ursula von der Leyen oder auch Ignazio Cassis. Denn anstatt eine vermittelnde Rolle zu spielen, befriedigen diese Politiker ihre Ambitionen, indem sie den Krieg auf ungesunde Weise anheizen.15

Guterres hat verlauten lassen, dass der Krieg aufhöre, wenn Russland den Krieg beenden würde.

Ein Krieg hat immer zwei Parteien, und in unserem Fall sind es sogar drei. Wir haben Russland, die Ukraine und die sogenannte internationale Gemeinschaft, das heisst die westliche Welt. Es ist klar, wenn der Krieg beendet werden soll, dann braucht es beide Parteien, nicht nur eine. Dazu sind in der Türkei Verhandlungen im Gange, die aber nicht richtig vorwärts gehen. Warum hat die Ukraine ihre eigenen Vorschläge zurückgenommen? Damit ist klar, die Lösung ist nicht nur auf der russischen Seite. 

Man hat den Eindruck, die Geschichte wiederholt sich.

Ja, heute befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie 2014. Der Westen will nicht mit Putin reden, weil er ein Diktator sei, und drängt Selenskij, keine Zugeständnisse zu machen. Ein Dialog ist daher unmöglich. Das Problem ist, dass Russland operative Erfolge erzielt und seine Gewinne steigert, wenn keine Verhandlungen stattfinden. Der Westen versteckt sich hinter der Illusion eines ukrainischen Sieges. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass er eintritt, wird mit der Zeit immer geringer, auch wenn auf strategischer und kommunikativer Ebene Russland scheinbar verloren hat.

Was hätte die Ukraine tun sollen?

Man muss nur die Minsker Abkommen lesen, um zu verstehen, dass ihre Umsetzung im wesentlichen von Verfassungsreformen in der Ukraine abhängt. Diese Reformen erfordern jedoch einen Dialog mit den Autonomisten. Kiew hat diese Schritte jedoch nie eingeleitet, und der Westen hat nie versucht, die ukrainischen Behörden dazu zu bewegen, dies zu tun. 

Was 2014 geschah, geschah alles aufgrund des Verhaltens der Ukraine. Diese Abkommen werden nicht umgesetzt, sondern die Lage verschlimmerte sich immer mehr. Das führte zur heutigen Situation, und diese ist ein Resultat der Vorgeschichte, der Dinge, die vorher abgelaufen sind. 

Bei den Minsker Abkommen waren doch Frankreich und Deutschland Garanten. Was haben sie gemacht, damit diese Abkommen umgesetzt werden?

Das Versagen der westlichen Staaten ist eklatant. Die Ukrainer selbst haben ein neues Wort erfunden. Das heisst «macronieren».  Das bedeutet, alles zu tun, um besorgt auszusehen, das auch allen zu zeigen, aber nichts zu tun. Das fasst die Situation der Ukraine gut zusammen. Nein, die westlichen Staaten haben ihre Verantwortung in keiner Weise wahrgenommen. Russland hat jetzt auf einen bewaffneten Konflikt reagiert, der seit 2014 im Gange ist und mit dem Sprachengesetz im Februar 2014 seinen Anfang genommen hat. Die europäischen Staaten unternahmen nichts, um Frieden zu schaffen. Das ist der Grund, warum Putin nicht von Krieg reden will, denn der Krieg hat 2014 begonnen. Mit den Minsker Abkommen war eine Lösung gefunden. So ist die Situation. Guterres ist ein Politiker, und das Problem ist, wir haben weder in der Uno noch in unserem Land für die Politiker einen Spielraum, um eine ausgewogene Meinung zu äussern. Wir sind heute genau dort, als George W. Bush gesagt hatte: «Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.» Wir befinden uns heute genau in dieser Situation, und es gibt überhaupt keinen Raum dazwischen, es gibt nur noch gut oder böse. 

Aber das ist doch hausgemacht?

Der gesamte Konflikt ist das Ergebnis eines vom Westen sorgfältig ausgearbeiteten Szenarios. Seine Grundelemente wurden 2019 in zwei Publikationen der RAND Corporation, dem Think Tank des Pentagon, unter den Titeln «Overextending and Unbalancing Russia» und «Extending Russia» beschrieben. Darin wird der Ablauf der Ereignisse beschrieben, die zur russischen Offensive im Februar 2022 führten. Danach wurden der Ukraine Versprechungen gemacht, dass sie Mitglied der Nato werden würde, wenn sie einen Krieg anzettle, der zur Niederlage Russlands führe, wie Oleksey Arestovitch in einem Interview16 mit einem ukrainischen Fernsehsender im März 2019 sagte. Tatsächlich wurden die Ukrainer belogen, wie Selenskij am 21. März 2022 auf CNN feststellte.

In Tat und Wahrheit wussten die Russen schon lange, dass es zu dieser Konfrontation kommen würde. Deshalb bereiteten sie sich militärisch und wirtschaftlich darauf vor. Aus diesem Grund halten sie den Sanktionen und dem Druck besser stand als erwartet. Deshalb bemüht der Westen seine Fantasie, um neue Sanktionen oder neue Methoden zu ihrer Verhängung zu finden wie etwa die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips in der EU. Wir sind in eine Phase des «Hahnenkampfs» zwischen dem Westen und Russland eingetreten. Das Problem ist, dass die internationalen Institutionen ihre Rolle als Schiedsrichter nicht mehr wahrnehmen, sondern zu Konfliktparteien geworden sind.

Die EU hat doch vor ein paar Jahren den Friedensnobelpreis bekommen. Wo ist das Engagement für den Frieden?

Obama hat ihn auch bekommen. Und Obama war der amerikanische Präsident, der sein Land vom ersten bis zum letzten Tag seines Mandats im Krieg gehalten hatte. Er fing drei Kriege an, und die Zahl der Luftschläge verzehnfachte sich im Vergleich zu seinem Vorgänger. Der Nobelpreis wird im Moment wohl von niemandem mehr ernst genommen. Er ist rein politisch. 

Herr Baud, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

¹ www.henryakissinger.com/articles/how-the-ukraine-crisis-ends/

² www.youtube.com/watch?v=ZoKnhXnp-Zk

³ www.youtube.com/watch?v=kdYUbVaFNRw

www.ft.com/content/7f14efe8-2f4c-47a2-aa6b-9a755a39b626

www.lapresse.ca/actualites/2022-05-06/retour-du-tireur-d-elite-wali/la-guerre-c-est-une-deception-terrible.php

https://edition.cnn.com/2022/04/19/politics/us-weapons-ukraine-intelligence/index.html

https://responsiblestatecraft.org/2022/03/07/big-risk-of-weapons-vanishing-as-over-20-countries-send-arms-to-ukraine/

https://ocindex.net/country/ukraine

https://www.nytimes.com/2022/05/09/world/europe/biden-lend-lease-act-ukraine.htm

10 https://www.opendemocracy.net/en/odr/why-ukraine-needs-foreign-debt-cancellation-now/

11 https://www.telegraph.co.uk/world-news/2022/03/17/wanted-us-cannon-fodder-say-british-medical-volunteers-tricked/

12 https://www.ft.com/content/efd1f8b1-928a-407d-884f-915c2252e58f

13 https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2022-05-10/russia-ukraine-war-putin-s-right-that-u-s-is-waging-a-proxy-war

14 https://thehill.com/news/administration/3482310-leaks-raise-concern-ukraine-will-spill-into-us-russia-proxy-war/

15 https://responsiblestatecraft.org/2022/04/27/the-horrible-dangers-in-pushing-a-us-proxy-war-in-ukraine/

16 https://www.youtube.com/watch?v=PVSh0vjrLDg

 

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995–1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

Türkischer Angriff auf Irak

«Was nicht der westlichen Vormacht dient, wird ignoriert, auch wenn dabei Unschuldige ihr Leben lassen müssen»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Die Türkei hat als Nato-Mitglied den Irak angegriffen. Haben Sie in der Öffentlichkeit eine Empörung darüber verspürt und wurden irakische Flaggen in Genf gehisst? 

Prof. Dr. Alfred de Zayas Empörung setzt voraus, dass man informiert ist. Wie Goethe bereits feststellte, «Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss». Die ­Medien aber verschweigen, was den geopolitischen Interessen Washingtons und Brüssels nicht dient. Die Medien berichten auch nicht über die türkischen und israelischen Angriffe auf Syrien oder über die Greueltaten Saudi-Arabiens in Yemen. Man muss die Fakten über diese völkerrechtswidrigen Angriffe kennen, aber man findet sie nur in der Alternativ-Presse. 

Nein, natürlich habe ich auch keine Flaggen gesehen. Was nicht der westlichen Vormacht dient, wird ignoriert, auch wenn dabei Unschuldige ihr Leben lassen müssen. 

Was sagt das Völkerrecht zu dem türkischen Vorgehen?

Zweifellos hat die Türkei Artikel 1 und 2 der Uno-Charta verletzt, zweifellos geht es hier um eine gemeine Aggression im Sinne des Artikels 5 des Statuts von Rom und der Kampala Definition von 2010. Zweifelsohne stellt die türkische Aggression eine ernste Verletzung der Nürnberger Prinzipien und des Artikels 6(a) des Statuts des Nürnberger Tribunals dar. Gewiss sind es Verletzungen der Resolutionen 2625 und 3314 der Generalversammlung. Die Angriffe sind so offensichtlich illegal, dass der Uno-Generalsekretär António Guterres und die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte an den Uno-Sicherheitsrat appellieren sollten, um den Angriff zu verurteilen und eine Resolution gemäss Artikel 39 der Charta zu verabschieden. Hinzu kommen die Verletzungen der Genfer Rotkreuzkonventionen von 1949 und der Protokolle von 1977. Aber wer weiss das?

Gibt es irgendwo Empörung in der westlichen Presse?

Kaum. Man weiss nichts davon, es sei denn, man ist Kurde oder Fachmann auf dem Gebiet. Bin ich überrascht? Nein. Hier sehen wir zum tausendsten Mal, wie die öffentliche Meinung manipuliert wird, wie das Völkerrecht nach Belieben angewandt wird. Wir alle kennen die Selektivität der Uno in Sachen Aggression. Deshalb hat die Uno so wenig Glaubwürdigkeit. Aber Lippenbekenntnisse gibt es zuhauf. 

Die Türkei spricht von Selbstverteidigung. Ist das völkerrechtlich zulässig?

Selbstverteidigung gemäss Artikel 51 der Uno-Charta gilt, wenn ein anderer Staat einen Angriff durchgeführt hat. Auch dann gilt das Recht auf Selbstverteidigung nur zeitlich begrenzt, denn der Konflikt muss sofort vor den Uno-Sicherheitsrat kommen. Aber auf keinen Fall kann man sich auf Selbstverteidigung berufen, wenn es um den legitimen Kampf der Völker um ihre Selbstbestimmung geht.

Das Muster der Mainstreammedien ist immer das Gleiche.

Ja, der «Informationskrieg» schreitet voran. Die grossen Medien wollen nicht, dass die Menschen irgendwie anfangen zu denken, Fragen zu stellen, Rechtssicherheit zu verlangen. Es ist offensichtlich, dass das kurdische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Etliche Resolutionen der Uno-Generalversammlung bestätigen das Recht aller Völker, für die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes zu kämpfen. Gewaltanwendung durch die Kurden ist kein Terrorismus, sondern eine legitime Selbstverteidigung gegen die türkische Unterjochung und ungerechte Herrschaft. Dieses Recht auf Selbstbestimmung ist in Artikel 1 und 55 der Uno-Charta sowie auch im Artikel 1 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte verankert.

Warum reagiert der «Westen» nicht bei der «militärischen Operation» der Türkei?

Die grossen Mächte wollen keine «National Liberation Movements» mehr anerkennen. Man will den Status quo beibehalten. Die Kurdenfrage hat aber eine sehr lange Geschichte. Das 40-Millionen zählende kurdische Volk hätte seine Selbstbestimmung und einen eigenen Staat nach dem Ersten Weltkrieg erhalten sollen. Der Vertrag von Sèvres aus dem Jahre 1920 hat eine gewisse Selbstbestimmung für die Kurden beschlossen. Aber der kriminelle Putschist Mustafa Kemal Atatürk hat den Vertrag von Sèvres verworfen und einen brutalen Krieg gegen die Engländer und Franzosen erfolgreich geführt. Da kümmerten sich die Briten und die Franzosen genauso wenig um die Rechte der Kurden, wie sie auch nichts für die Verteidigung der armenischen und griechischen ­Christen unternommen haben.

Der Westen ist gewiss mitschuldig für die mehr als 100-jährige Unterjochung des kurdischen Volkes. So scheren sich die USA, England, Frankreich, Deutschland einen Dreck um die Rechte der Kurden, der Palästinenser oder der Jemeniten 

Die Türkei gehört zur Nato. Wo ist der «Werte-Westen»?

Die «Werte» des Westens sind Geld und Rechthaberei. Wenn er sich auf die universellen Menschenrechte beruft, sind es oft nur Lippenbekenntnisse. Die Türkei ist ein Nato-Staat, und die anderen Nato-Staaten tragen auch Verantwortung für das Elend, das die Türkei verursacht.

Meines Erachtens könnte man rechtfertigen, die Nato als «kriminelle Organisation» im Sinne des Artikels 9 des Statuts des Nürnberger Tribunals zu bezeichnen. Nato-Länder haben so viele Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien begangen, dass die Bedingungen für die Aufnahme unter der Kategorie der «kriminellen Organisation» wohl erfüllt sein dürfte. Bekanntlich haben kriminelle Organisationen wie die Mafia ihre eigenen Gesetze und ihre eigenen «Werte» und «Loyalitäten». Man hält zusammen und beschimpft Kritiker als «Verräter» oder «Terroristen». 

Welche Konsequenzen müsste dieser Einmarsch der Türkei in den Irak haben?

Der Einmarsch stellt eine Bedrohung des Weltfriedens im Sinne des Artikels 39 der Uno-Charta dar. Der Uno-Sicherheitsrat hätte eine Sondersitzung einberufen sollen und Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei auferlegen können, genauso wie die Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika und Rhodesien in den 70er Jahren, als beide Länder die Rechte der afrikanischen Mehrheit verletzten.

Es scheint so zu sein, dass Erdogan innerhalb der Nato völlige Narrenfreiheit besitzt. Er hat bereits Teile des souveränen Syriens besetzt. Warum gibt es hier kein Sanktionsregime gegen die Türkei?

Erdogan erpresst Europa am laufenden Band. Und die Europäer lassen sich erpressen. Es ist ja ein Skandal, dass keine Uno-Sanktionen gegen die Türkei oder gegen Israel auferlegt worden sind. Aber, wenn ein Resolutionsentwurf vor den Uno-Sicherheitsrat käme, so würden die USA und Grossbritannien sicher ein Veto einlegen. Allenfalls könnte die Uno-Generalversammlung sich dazu äussern.

Wenn man das mit der Reaktion des Westens auf die militärische Aktion in der Ukraine vergleicht, lässt sich eine grosse Diskrepanz in der öffentlichen Beurteilung feststellen. Können Sie das erklären, warum es hier keine Stellungnahme gibt?

Wie überall geht es um die «Wahrnehmung» der Realität. Die Medien informieren uns falsch über die Ukrainekrise und deren Ursachen. Die Medien lügen. Unliebsame Kontextualisierung sowie Informationen und Interpretationen der Fakten werden verschwiegen, unterdrückt, manipuliert. Wie etliche Male festgestellt, haben wir eine Lügen- bzw. eine Lückenpresse, die im Dienste Washingtons und Brüssels berichtet. 

Der Krieg in der Ukraine war bekanntlich eine Reaktion auf eine ständige Bedrohung und Verletzung der Uno-Charta Artikel 2(4) durch die Nato. Eigentlich ist die Situation gar nicht vergleichbar mit dem Angriff der Türkei gegen die Kurden. Zweifellos hat Russ­land ein Recht auf Sicherheit, das die Nato verweigert. Zweifellos hat die Türkei ein Recht auf Sicherheit, aber dies könnte die Türkei auf längere Sicht sichern, wenn sie das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung akzeptieren würde. Es ist nicht das Selbstbestimmungsrecht an sich, das Konflikte verursacht – sondern dessen ungerechte Verweigerung. Ohnehin ist die Türkei ein Negationisten-Staat und leugnet den Völkermord an den Armeniern, Griechen und anderen christlichen Minderheiten.

Seit Jahren führt Saudi-Arabien, unterstützt von den USA, einen Krieg gegen den Jemen. Er ist kaum eine Schlagzeile in unseren Medien wert. Die Zivilbevölkerung leidet enorm unter den Angriffen Saudi-Arabiens. Auch hier regt sich nichts? Warum?

Im Jemen herrscht die grösste humanitäre Krise in der heutigen Welt. Eine künstliche Krise mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, auch ein Stellvertreterkrieg. Hier sind die Medien auch mitschuldig, denn sie erfüllen ihre Informationspflicht nicht, und wenn sie informieren, dann wohl mit «Verständnis» für die Interessen Saudi-Arabiens und der USA. Die Medien spielen sich als «Saudi-Versteher» auf, was von der grossen Mehrheit der Leser gar nicht negativ empfunden wird – ganz anders mit der Bezeichnung «Putin-Versteher», die stets abwertend wirkt.

Hier auch sehen wir, wie das Völkerrecht und wie die Menschenrechte à la carte wahrgenommen werden. Leider nehmen wir kaum eine «Empörung» seitens der Uno-Institutionen wahr, seitens António Guterres und Michelle Bachelet. Eben – wie Juvenalis in seinen Satiren treffend fragte – Quis custodiet ipsos custodes? Unsere Wächter wachen nicht. Unsere Institutionen sind korrumpiert worden und deshalb auch mitschuldig.

Wäre es ein Weg, sowohl die Türkei als auch Saudi-Arabien vor den Internationalen Gerichtshof oder gar Strafgerichtshof zu ziehen?

Natürlich gehören sie vor ein Gericht, aber da sind Probleme mit der Jurisdiktion. Der Internationale Gerichtshof z. B. kann nur einen Fall akzeptieren: erstens, wenn der Staat die Jurisdiktion anerkannt hat (weder die Türkei noch Saudi-Arabien haben die Erklärung ­gemäss Artikel 36 des IGH Statuts abgegeben); zweitens, der Uno-Sicherheitsrat schickt den Fall an den IGH, was durch US- und britisches Veto verhindert werden würde; drittens, man bedient sich des Artikels IX der Völkermordkonvention, der für ALLE Vertragsstaaten gilt. Eigentlich könnte dies klappen, aber keiner hat es bisher versucht. Was den Internationalen Strafgerichtshof betrifft, haben weder die Türkei noch Saudi-Arabien das Statut von Rom ratifiziert.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

«Der Krieg in der Ukraine ist eine Gaunerei»

von Ron Paul*

Ron Paul (Bild wikimedia)
Ron Paul (Bild wikimedia)

«Der Krieg ist eine Gaunerei», schrieb US-Generalmajor Smedley Butler im Jahr 1935. Er erklärte: «Ich glaube, dass sich eine Gaunerei am besten mit etwas beschreiben lässt, was nicht das ist, was es für die Mehrheit der Menschen zu sein scheint. Nur eine kleine ‹Insider›-Gruppe weiss, worum es sich handelt. Er wird zum Vorteil einiger weniger auf Kosten vieler betrieben. Mit dem Krieg machen einige wenige Leute ein riesiges Vermögen.»

 

Diese Bemerkung von General Butler beschreibt die Reaktion der USA/Nato auf den Krieg in der Ukraine perfekt.

Die Propaganda stellt den Krieg in der Ukraine weiterhin als den eines unprovozierten Goliaths dar, der einen unschuldigen David dezimieren will, es sei denn, wir in den USA und der Nato stellen der Ukraine massive Mengen an militärischer Ausrüstung zur Verfügung, um Russland zu besiegen. Wie immer bei der Propaganda wird diese Version der Ereignisse so manipuliert, dass sie eine emotionale Reaktion hervorruft, die speziellen Interessen zugute kommt.

Eine Gruppe von Sonderinteressen, die massiv von dem Krieg profitiert, ist der militärisch-industrielle Komplex der USA. Der Vorstandsvorsitzende von Raytheon, Greg Hayes, erklärte kürzlich auf einer Aktionärsversammlung: «Alles, was heute in die Ukraine geliefert wird, stammt natürlich aus den Lagerbeständen des Verteidigungsministeriums oder unserer Nato-Verbündeten, und das ist eine gute Nachricht. Irgendwann werden wir sie wieder auffüllen müssen, und dann werden wir einen Nutzen für das Geschäft sehen.»

Er hat nicht gelogen. Raytheon, Lockheed Martin und zahllose andere Waffenhersteller freuen sich über einen Geldsegen, den sie seit Jahren nicht mehr erlebt haben. Die USA haben der Ukraine mehr als drei Milliarden Dollar an Militärhilfe zugesagt. Sie nennen es Hilfe, aber in Wirklichkeit handelt es sich um Unternehmensförderung: Washington schickt Milliarden an Waffenhersteller für Waffenlieferungen nach Übersee.

Vielen Berichten zufolge werden diese Waffenlieferungen wie die Javelin-Panzerabwehrraketen (die gemeinsam von Raytheon und Lockheed Martin hergestellt werden) in die Luft gesprengt, sobald sie in der Ukraine ankommen. Das stört Raytheon nicht im Geringsten. Je mehr Waffen von Russ­land in der Ukraine in die Luft gesprengt werden, desto mehr neue Aufträge kommen vom Pentagon.

Ehemalige Warschauer-Pakt-Länder, die jetzt Mitglieder der Nato sind, sind ebenfalls an dem Betrug beteiligt. Sie haben herausgefunden, wie sie ihre 30 Jahre alten sowjetischen Waffen loswerden und modernen Ersatz von den USA und anderen westlichen Nato-Ländern erhalten können.

Während viele, die mit der Ukraine sympathisieren, jubeln, wird dieses milliardenschwere Waffenpaket kaum etwas bewirken. Wie der ehemalige US-Marinegeheimdienstler Scott Ritter letzte Woche im Ron Paul Liberty Report sagte: «Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass diese Hilfe, selbst wenn sie auf dem Schlachtfeld ankommt, keinerlei Auswirkungen auf die Schlacht haben wird. Und Joe Biden weiss das.»

Was wir sehen, ist, dass die Russen tonnenweise moderne Waffen der USA und der Nato erbeuten und sie sogar dazu verwenden, noch mehr Ukrainer zu töten. Welch eine Ironie. Und welche Möglichkeiten bieten sich den Terroristen, wenn Tausende Tonnen tödlicher Hightech-Waffen in Eu­ropa herumliegen? Washington hat zugegeben, dass es keine Möglichkeit hat, die Waffen, die es in die Ukraine schickt, zu verfolgen, und dass es keine Möglichkeit gibt, sie von den Händen der Bösewichte fernzuhalten.

Krieg ist ein Geschäft, das ist klar. Die USA haben sich seit dem Ende des Kalten Krieges in der Ukraine eingemischt und sind sogar so weit gegangen, die Regierung 2014 zu stürzen und die Saat für den Krieg, den wir heute erleben, zu legen. Der einzige Weg aus einem Loch ist, mit dem Graben aufzuhören. Das ist in nächster Zeit nicht zu erwarten. Krieg ist zu profitabel. ν

 

Quelle: ronpaulinstitute.org/archives/featured-articles/2022/april/25/the-ukraine-war-is-a-racket/

 

Übersetzung Antikrieg:
www.antikrieg.com/aktuell/2022_04_25_derkrieg.htm

 

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

* Ron Paul ist ein US-amerikanischer Arzt und Politiker. Er ist Mitglied der Libertarian Party und war zwischen 1976 und 2013 (mit Unterbrechungen) als Republikaner Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Paul war bei der US-Präsidentschaftswahl 1988 Kandidat der Libertarian Party und bewarb sich parteiintern um die republikanische Kandidatur zu den US-Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012.

 

Die lange Kette mörderischer USA-Provokationen und ihrer Lügengebilde 

Ein Blick auf den Völkermord in Vietnam

von Gerhard Feldbauer

 

Mit mörderischen Provokationen, begleitet von Lügengebilden, haben die USA für die im Rahmen ihrer Weltherrschaftspläne geführten kolonialen Eroberungen, Aggressionskriege, Regime Change-Operationen immer Vorwände geschaffen. Begonnen mit der Explosion auf dem US-Panzerschiff «Maine» im Hafen von Havanna 1898, die den Vorwand für den Krieg gegen Spanien (das zu dieser Zeit Kuba beherrschte) und zur Errichtung des US-Protektorats über Kuba lieferte, geht das bis zum heutigen Schüren des Konflikts in der Ukraine. 

 

Erinnert werden soll hier an den von Völkermord begleiteten Aggressionskrieg gegen Vietnam, bei dem im Süden über drei Millionen Menschen ums Leben kamen. Mit dem Eindringen der US-Zerstörer «Maddox» und «Turner Joy» in die Hoheitsgewässer der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) im Golf von Tonking und der Reaktion Hanois wurde 1964 der Krieg mit Luftüberfällen auf Nordvietnam ausgedehnt.¹ Der völkerrechtswidrige Luftkrieg gegen die DRV begann ohne Kriegserklärung unter Bruch der Haager Landkriegsordnung. Systematisch wurden die Terrorangriffe in den folgenden Monaten auf das gesamte Gebiet Nordvietnams zu einem mörderischen Bombenkrieg ausgeweitet. 1965 flogen bereits 4 000 Flugzeuge monatlich 12 000 bis 15 000 Angriffe. Ein Ausschuss des US-Senats stellte 1968 fest, dass US-Präsident Lyndon B. Johnson «mit geradezu ungeheuerlichen verlogenen Behauptungen», sich dazu die Ermächtigung des Kongresses erschlichen hatte.²

Ungeheure Opferzahlen und Kriegsschäden

Während des dreijährigen Luftkriegs wurden in Nordvietnam eine halbe Million Menschen getötet, ebensoviele wurden Kriegswaisen. Die Hälfte der Städte, 2 923 Schulen, 250 Krankenhäuser, 1 500 Pflege- und Entbindungsstationen, 448 Kirchen, 495 Pagoden und Tempel wurden zerstört, die Industrieanlagen, alle Eisenbahnlinien und die meisten Brücken und Bahnhöfe teilweise, 1000 Deichanlagen, Hunderttausende Hektar Reisfelder und andere Anbauflächen wurden völlig zerstört.³ 

Glückwünsche aus Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland hatte Bundespräsident Heinrich Lübke US-Präsident Johnson zu den ersten Angriffen auf Hanoi am 29. Juni 1966 beglückwünscht und geäussert, der Luftterror möge «von Erfolg gekrönt sein». Kanzler Erhard begrüsste «alle Massnahmen der Amerikaner». Springers Westberliner BZ schrieb am 18. Juli, notwendig sei «ein kompromissloser Krieg, der auch vor Fabriken, Häfen, Bewässerungsanlagen und Staudämmen nicht mehr Halt macht.» Diese Kriegspsychose setzen heute an der Seite des USA-Kriegspräsidenten Joe Biden EU-weit die Mainstreammedien und Regierenden, so der deutsche SPD-Kanzler Scholz, EU-Präsidentin von der Leyen von der CDU und Aussenministerin Baerbock von den Grünen gegen Russland fort. Sie scheuen sich nicht, zu behaupten, die in Butscha, jüngst in Kramatorsk, in Mariupol bei der Sprengung des Theaters und vorher schon in Odessa begangenen Verbrechen seien das Werk der Russen. Butscha soll «Russlands My Lai» sein, hiess es dazu in Kommentaren.

Das Massaker von My Lai

In My Lai (in Vietnamesisch Son My) ermordete am 16. März 1968 die Kompanie von Leutnant William Calley fast alle Einwohner des Dorfes. Gian Luigi Nespoli und Giuseppe Zambon haben, gestützt auf Zeugenaussagen, geschildert, was sich zutrug: Calley, dessen Kompanie zum 1. Bataillon der 11. US-Infanteriebrigade gehörte, befahl, «den Feind aufzustöbern und unverzüglich zu erledigen, auch die Hütten des Dorfes zu verbrennen, alles, was sich bewegte, zu töten und jede Form von Leben, auch die Lebensmittel, zu vernichten.» Leutnant Calley entdeckte etwa 150 Personen, die sich in einem Graben versteckt hatten, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Als einige von ihnen furchtsam aus ihrem Versteck hervorkamen, mähte er sie erbarmungslos nieder und forderte seine Soldaten auf, seinem Beispiel zu folgen. Es wurde geschossen, bis kein Lebenszeichen mehr kam. 

In My Lai wurde – wie Berichte und Zeugenaussagen bestätigten – kein einziger Soldat der Befreiungsfront (FNL) angetroffen. Offizielle Angaben meldeten jedoch, dass 128 «Feinde» getötet wurden. Nach Untersuchungen der Befreiungsfront FNL waren es 502 Einwohner – alle Zivilisten, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Der Kommandeur des 1. Bataillons, Hauptmann Ernest L. Medina, berichtete jedoch, es seien «69 Vietcong-Soldaten getötet» worden. Im offiziellen Kriegsbulletin, das die New York Times am 17. März 1968 veröffentlichte, hiess es: «Zwei amerikanische Kompanien näherten sich von entgegengesetzten Seiten den feindlichen Stellungen und mit schwerem Sperrfeuer und unter Einsatz von Kampfhubschraubern vernichteten sie die nordvietnamesischen Soldaten.»

«Ein Verbrechen im Stile der Nazis» 

Zeugenaussagen in den USA riefen eine Welle der Proteste hervor. Seymour Hersh nannte My Lai «ein Verbrechen im Stile der Nazis». Ein Gericht musste sich schliess­lich damit befassen. Als einziger wurde Leutnant Calley angeklagt und verurteilt, auf Weisung Präsident Nixons jedoch freigelassen. Seine zunächst lebenslange Haftstrafe wurde auf 20, dann auf zehn Jahre herabgesetzt. Im November 1974 wurde er begnadigt. Er hat keinen einzigen Tag im Gefängnis gesessen, sondern bis zur Aufhebung des Urteils nur unter Hausarrest gestanden. In einem Interview, das der US-amerikanische Journalist John Sack 1971 aufzeichnete, erklärte Calley: «Ich verkörpere nur die Vereinigten Staaten von Amerika, mein Vaterland», und bekannte: «Ich war gern in Vietnam».⁴

Kein Einzelfall 

My Lai war kein Einzelfall, wie Präsident Nixon während des Prozesses der Weltöffentlichkeit einzureden versuchte. Es war gängige Praxis, um die Bevölkerung Südvietnams davon abzubringen, den Befreiungskampf zu unterstützen. Lieutenant Colonel David H. Hackworth, Bataillonskommandeur der 9. Infantry Division, räumte ein, im kriegerischen Alltag in Vietnam habe es «Tausende derartiger Gräueltaten» gegeben.⁵ Viele Vorfälle wurden erst sehr spät bekannt, andere bis heute nicht. Selten waren, wie in My Lai, Journalisten dabei, die dann auch den Mut hatten, solche Massaker an die Öffentlichkeit zu bringen. 

Operationen wie in My Lai gingen auf direkte Weisungen des Oberkommandierenden in Südvietnam, General Westmoreland, zurück, die eine Reaktion auf die Tet-Offensive der FNL im Februar 1968 waren. Darin wurde gefordert, «unterschiedslos das gesamte Terrain zu neutralisieren». In die Provinz Quang Ngai, in der My Lai lag, wurden zusätzlich 120 Experten für Aufstandsbekämpfung mit dem Auftrag geschickt, «die Jagd auf Funktionäre, Helfer und Helfershelfer der Guerilla zu forcieren». Sieben Monate nach My Lai forderte US-Präsident Johnson General Creighton Abrams, seit Sommer 1968 Nachfolger Westmorelands als Oberkommandierender, auf, mit derartiger Unterdrückung jedes Widerstandes fortzufahren. «Ihr Präsident und Ihr Land erwarten von Ihnen, dass Sie dem Feind ohne Unterlass nachstellen. Gewähren Sie ihm nicht einen Moment der Ruhe. Geben Sie es ihm wie gehabt. Lassen Sie den Feind den Druck all dessen spüren, was Ihnen zur Verfügung steht.» Die Armee wurde danach angewiesen, enger mit der CIA und allen für das Programm «Phoenix» (der CIA zur Liquidierung «Vietcong-Verdächtiger») zuständigen Stellen zu kooperieren. Die Truppen erhielten, schrieb Bernd Greiner, «eine beispiellose Handlungsfreiheit», die «einer Einladung zur unbefristeten Willkür» gleichkam.

Der Weisung folgten die entsprechenden Taten. Unter dem Kommando von Brigadier General Howard Harrison Cooksey von der «Americal» Division wurden in nur drei Wochen – von Mitte Januar bis Anfang Februar 1969 – in zwei Distrikten der Provinz Quang Ngai zahlreiche Ortschaften niedergebrannt, 300 Bauern exekutiert, 11 000 Bewohner zwangsweise umgesiedelt, 1 300 von ihnen als Sympathisanten des Vietcong verdächtigt und ermordet. Wie heute in der Ukraine wurden die Enthüllungen der USA-Verbrechen weiter als Lügen- und Greuelpropaganda Nordvietnams und des «Vietcong» hingestellt und alles geleugnet. 

Nach den oben zitierten Quellen (SIPRI u. a.) haben in Südvietnam eine Million Soldaten den Tod gefunden, 500 000 waren Kriegsversehrte, zwei Millionen Zivilisten kamen ums Leben, zwei Millionen wurden verstümmelt. Es gab 800 000 Waisenkinder, über zehn Millionen durch Bomben oder Gewalt aus ihren Dörfern vertriebene Bauern (das war fast die Hälfte der Einwohner Südvietnams), drei  Millionen Arbeitslose, 500 000 Prostituierte, 500 000 Drogenabhängige, 25 000 Bettler und Vagabundierende, 300 000 Geschlechtskranke, eine Million Tbc- und 10 000 Leprakranke, eine Million Agent Orange-Opfer, vier Millionen Analphabeten.

Niederlage der USA

Die Niederlage war nicht aufzuhalten. Mit der Einnahme von Saigon im April 1975 siegte der vietnamesische Befreiungskampf über die Militärmacht der USA, die stärkste der westlichen Welt. Der Erfolg der Vietnamesen ist massgeblich auf den nicht zu brechenden Widerstandswillen zurückzuführen. 

Sinnlos Gefallene und keine Entschuldigung

Die Niederlage hinterliess ein Trauma in den USA. Über 58 000 Soldaten waren gefallen. Wofür?, fragten Hinterbliebene. Um ihren Forderungen nach Würdigung zu entsprechen, verkündete Bidens Vor-Vorgänger, Friedensnobelpreisträger Barack Obama, 2012 ein auf 13  Jahre ausgerichtetes Vietnam War Commemoration (Vietnamkriegsgedenken), zu dem er erklärte, die US-Soldaten hätten im Vietnamkrieg als «amerikanische Patrioten» die «Ideale» der «grossen amerikanischen Geschichte» verkörpert, ihrem Land mit «Tapferkeit ehrenhaft gedient» und sich damit in die «Annalen der Militärgeschichte ­eingeschrieben». Er würdigte alle, als «wahre Helden», die «alle in Erinnerung bleiben».⁶

Eine Verurteilung der Verbrechen wie in My Lai war nicht auszumachen, von einer Entschuldigung ganz zu schweigen. ν

 

¹ Le Monde et les «Incidents du Golf du Tonking», Hanoi 1964 

² Neil Sheehan (Hg): Die Pentagon-Papiere. Die geheime Geschichte des Vietnamkrieges, München/Zürich 1971.

³ nach SIPRI-Jahrbüchern 1976, 1980, 1982, dem Uno-Bericht 1978 und weiteren Quellen. 

⁴ John Sack: Ich war gern in Vietnam, Leutnant Calley berichtet. Frankfurt/Main 1972. 

⁵ Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg 2014.

⁶ Rede Obamas, in: «New York Times», 29. Mai 2012.

Flucht aus dem Schulzimmer 

von Dr. phil.Carl Bossard

Die Personalnot ist spürbar: Lehrerinnen reduzieren ihr Pensum, Lehrer steigen aus, Klassenverantwortliche zu finden wird schwieriger. Die Zürcher Lehrerverbände schlagen Alarm. Doch die Bildungsdirektion wiegelt ab. Ein Zwischenruf.

 

Die Aufgabenfülle von Lehrerinnen und Lehrern wird grösser, der Berufsauftrag anspruchsvoller. Der administrative Aufwand steigt. Die verstärkte Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Klasse führt zu zusätzlichen Störungen. Der Beobachter spricht gar vom «Tohuwabohu im Klassenzimmer» und davon, dass es heute selten mehr eine Klasse gäbe, «in der man sich auf die Vermittlung des Schulstoffs konzentrieren kann».¹ Konsequenz aus dem Wegfall der Kleinklassen? Das ­erschwert das Unterrichten und erhöht den Zeitbedarf für jedes einzelne Kind. Die vielen Koordinationsabsprachen mit der Heilpädagogin und dem Schulpsychologen, der Lehrerin für Integrierte Förderung IF und dem Schulsozialarbeiter sind aufwendig und rauben Energie. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Viele fliehen darum in Teilpensen. Ein Fakt mit Folgen.

«Lehrer sollen mehr arbeiten»

Von den Zürcher Lehrerinnen und Lehrern arbeiten 80 Prozent in einem Teilzeitpensum; im Durchschnitt beträgt ihr Arbeitsumfang 69 Prozent eines regulären Pensums. «Lehrer sollen mehr arbeiten», fordert darum die Zürcher Bildungsdirektion.² Sie will damit den akuten Lehrermangel bekämpfen. Doch nach den Gründen der reduzierten Pensen fragt kaum jemand. Vielfach begnügt man sich mit ein paar kruden Klischees: Frauen- und Teilzeitberuf, Lehrerlarmoyanz und ähnliche Stereotype. Doch solche Vorurteile verdrängen die realen Ursachen. 

Ziel: mehr Schule – weniger Formulare

Bereits 1999 hat die Studie von Hermann J. Forneck, ehemaliger Direktor der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, die strukturell bedingten Überzeiten von Lehrpersonen der Volksschule bestätigt: zu wenig Zeit für den Kernauftrag des Unterrichtens, zu viel Aufwand für zusätzliche Aufgaben, oft auch Nebensächliches. Die Kennziffern beziehen sich zwar auf den Kanton Zürich, dürften aber kantonsübergreifend relevant sein. Ein klar definierter «neuer Berufsauftrag» soll Abhilfe schaffen mit dem Ziel: mehr Schule – weniger Formulare. Er quantifiziert die gesetzlich verankerten Aufgaben und basiert auf einer Jahresarbeitszeit – dies in Analogie zu den kantonalen Angestellten. 2017 trat er in Kraft.

Der Berufsauftrag sollte Lehrerinnen und Lehrer vor Überlastung schützen. Doch das Problem blieb. Krux ist die knappe Zeit fürs päda­gogisch Eigentliche und Wesentliche: die Arbeit im Schulzimmer mit den Kindern und Jugendlichen. Pro Schulstunde sind fürs Vorbereiten und Nachbereiten lediglich 30 Minuten eingeplant. Dazu gehören auch die Korrekturen. Wer selber unterrichtet und allen didaktischen Postulaten genügen will, der weiss: Das ist zu wenig. Ungenügend bemessen sind auch andere Aufgaben: Eine Klassenlehrerin beispielsweise erhält für ihre vielen Elterngespräche, die Zeugnisse, die Abklärungen pro Kind, die Absprachen im Team und die gesamte Verantwortung für ihre Klasse einen Zusatzaufwand von 100 Stunden zugesprochen. Auch hier korrigiert die Berufserfahrung: Das reicht nicht.

Noch nie so viele offene Stellen

Vor Kurzem veröffentlichte die Züricher Bildungsdirektion einen eigenen Evaluationsbericht. Die hohe Überzeit der Volksschullehrerinnen und -lehrer sei problematisch, lautet der Befund. Er bestätigt, mindestens in Teilen, die Zahlen der Basis.³ Die kantonale Bildungsdirektion will das Problem angehen. Doch das brauche Zeit. Dabei drängt die Zeit; der Lehrermangel drückt. Im Kanton Zürich werden im Moment rund 800 Inserate für Dauerstellen und 200 für Stellenvertretungen publiziert – so viele wie noch nie zuvor. Gleichzeitig aber stellt die Bildungsdirektion einen Zusammenhang zwischen der Arbeitsbelastung und der angespannten Personalsituation kategorisch in Abrede. Das erinnert an eine Politik, deren Akteure nichts sehen, nichts hören, nichts sagen wollen.

Bildung als Frage der Systemsteuerung?

Die Problematik der Überlastung liegt allerdings nicht einfach im Arithmetischen und in einigen Aufgabenprozenten. Das Problem liegt in der Reformkaskade der vergangenen Jahre. Bildung ist für die Verwaltungsstäbe, so mindestens macht es den Anschein, primär eine Frage der Systemsteuerung oder der Governance, wie es heute im Fachjargon und mit unscharfen Begriffen heisst. Alles ist demzufolge planbar und machbar, alles ist berechenbar und steuerbar. Darum erfolgten in rascher Folge stets neue Top-down-Reformen. Das Ganze erinnert an eine Aussage des Systemtheoretikers Niklas Luhmann: «Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, dass das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist.»⁴

Es dominieren die Kriterien der Effizienz

Wer in die Schullandschaft blickt und die vielen Reformen der vergangenen Jahre betrachtet, der erkennt schnell, was radikal anders geworden ist: Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu unterrichten haben. Heute wird detailliert dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen – und teilweise auch verordnet, wie das zu erreichen sei, also der «méthodos», der Weg. Über den Lehrplan 21 werden (Einzel-)Kompetenzen festgelegt, und zwar ausserordentlich kleinparzelliert. Im Fach Musik beispielsweise wird von einem Kind gefordert: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.» 

Das bedeutet einen Paradigmenwechsel, könnte man in Analogie zu einem in der Wissenschaft berühmt gewordenen Begriff sagen. Die staatliche Strategie stellt von der «Input-» auf die «Output-Steuerung» um. Der Fokus verschiebt sich radikal. So soll die Effizienz schulischer Bildungsarbeit erhöht und der Unterricht am operationalisierten Output gemessen werden. Im Fokus stehen das Kind und sein Output – unter den Kriterien der Messbarkeit. Doch ein solches System wird für viele zum Problem.

Als Marionette im Hamsterrad gefangen

Aus der subjektiven Sicht eines Betroffenen sieht das so aus: «Dieses System engt mich ein», klagt ein Junglehrer. Er unterrichte gerne, aber er hetze und stresse vorschriftsgetreu von Kapitel zu Kapitel, von Inhalt zu Inhalt, von Thema zu Thema, schreibt er und fügt bei: «Vom Grossen und vom Ganzen bin ich weit entfernt: ein unzusammenhängendes Sammelsurium, ohne innere Kohärenz, ohne Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne Chance zum Erlebnis und zum Musischen. Und dauernd muss ich beurteilen und meine Kinder in Kompetenzraster zwängen. 

Die vielen Vorgaben schnüren mich ein. Ich bin im Hamsterrad gefangen – und fühle mich als Marionette der Bildungsbürokratie. Meine pädagogische Arbeit besteht doch nicht im emsigen Katalogisieren von Einzel-Kompetenzen. Meine Kinder will ich nicht in messbare Einzeltüchtigkeiten zerlegen, in diese isolierten Skills. Das widerstrebt mir. Und die jungen Menschen auf den engen Kompetenzbegriff zu reduzieren, dazu bin ich nicht Lehrer geworden.»

Das Problem leugnen und so lösen? 

Er wird weiterstudieren und geht der Schule vermutlich verloren. Wie so viele. Eine Einzelstimme zwar, das sei zugegeben – und doch kein Einzelfall. «Der Schule laufen die Lehrer davon», warnte die NZZ am Sonntag schon vor Jahren.⁵ In der Zwischenzeit ist das Zeitungspapier zwar vergilbt, doch das Problem bleibt. Man wird den fatalen Eindruck nicht los: Für gewisse Bildungsfunktionäre liegt die Lösung des Problems in der Leugnung des Problems. Leidtragende sind die Schulkinder. ν

 

¹ Julia Hofer: Tohuwabohu im Klassenzimmer.
In: Beobachter 25/2021, S. 92f.

² René Donzé: Zürcher Lehrer sollen mehr arbeiten. In: NZZ a.S., 23.05.2021, S. 12.

³ Nils Pfändler: Lehrerverbände beklagen Überlastung. In: NZZ, 08.04.2022, S. 12.; dazu Medienmitteilung der Zürcher Lehrerverbände, 25.03.2022.

⁴ Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 166.

⁵ Katharina Bracher: Den Schulen laufen die Lehrer davon. In: NZZ a.S., 06.04.2014, S. 1.

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