Rahmenabkommen: «Ein erheblicher und völlig inakzeptabler Souveränitätsverlust» 

Interview mit Hermann Dür*

Hermann Dür (Bild zvg)
Hermann Dür (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Was stört Sie am Rahmenabkommen, das zwischen der EU und der Schweiz ausgehandelt wurde?

Hermann Dür Hauptsächlich stört mich, dass der Vertrag eine Verletzung unserer Bundesverfassung darstellt, und zwar des Artikels  2. Das ist der Kern unserer Verfassung «die Erhaltung von Freiheit und Unabhängigkeit», und hier greift der Vertrag erheblich ein und beschränkt unsere Freiheit und Unabhängigkeit.

In welchen Punkten würde das Abkommen unsere Freiheit und Unabhängigkeit einschränken?

Grundsätzlich würden sie durch die Kernpunkte des Rahmenabkommens eingeschränkt. Das sind im wesentlichen vier Punkte, nämlich die einseitige Rechtsübernahmepflicht der Schweiz, die einseitige Gerichtshoheit zu Gunsten der EU, ein Sanktionsrecht gegen die Schweiz und die Verschlechterung der Rechtsstellung der Schweiz beim Freihandelsabkommen von 1972.

In unserem Rechtsstaat ist es so, dass wir eine Gewaltenteilung haben, nämlich die Exekutive, Legislative und die Judikative. Diese Gewalten bestimmen über die Geschicke des Landes, und das Rahmenabkommen greift mit den genannten Punkten hier gleich in sämtliche Bereiche ein, und zwar auf allen Ebenen: der Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene.

Was heisst das jetzt konkret?

Im Rahmen- oder Institutionellen Abkommen ist festgelegt, dass die Schweiz das EU-Recht übernehmen muss, das von der EU als «binnenmarktrelevant» erklärt wird, und zwar in einem sehr grossen und letztlich sogar unbestimmten Rahmen.

Was fällt unter die Binnenmarktrelevanz?

Das zu bestimmen, darin wäre die EU eben praktisch frei! Dazu gehören aber sicher zum Beispiel staatliche Beihilfen, Direktzahlungen, Vorschriften zum Tierschutz, steuerrechtliche Bestimmungen, Freihandelsabkommen, Arbeitsmarkt- und Bürgerrechtsfragen etc. Also in sehr vielen Bereichen würde damit die Entscheidungshoheit zukünftig bei der EU liegen und nicht mehr bei der Schweiz oder, wenn es zu Uneinigkeiten käme, bei einem paritätischen Ausschuss. Künftige Rechtsakte sind heute ja noch unbekannt. Aber die Schweiz müsste auch diese zukünftig – obwohl unbekannt – «dynamisch» übernehmen. Besonders raffiniert: Indem die EU die Definitionshoheit über die einzelnen Begriffe im Vertrag erhielte bzw. bereits besitzt, müssten wir das übernehmen, was die EU als Recht definiert.

Und wenn wir das nicht wollen?

Die Frage führt mich zum zweiten Punkt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bei Uneinigkeiten das letzte Wort. Wenn es solche gibt, weil wir ein Gesetz anders verstehen oder es nicht übernehmen wollen, dann hat der EuGH die letzte Entscheidungsbefugnis und nicht ein gemischter Ausschuss (wie bisher), der gleichwertig beschliessen könnte. Dazu kommt noch, dass der EuGH einen ausdrücklich politischen Auftrag hat, nämlich den «immer engeren Zusammenschluss» der Staaten Europas via EU zu fördern. – Ein Weiterzug an eine nächsthöhere Instanz ginge ebenfalls nicht. Das schliesst der Vertrag sogar ausdrücklich aus.

Wenn sich die Schweiz jetzt aus gutem Grund weigert, einen Rechtsakt der EU zu übernehmen, der EuGH dies aber von der Schweiz verlangt, was geschieht dann?

Für diesen Fall hat die EU vorgesorgt. Die EU hat für sich ein Recht für Sanktions- bzw. Retorsionsmass­nahmen, im Vertrag euphemistisch als «Ausgleichsmassnahmen» bezeichnet, vorgesehen. Das bedeutet, sie kann die Schweiz ganz einfach wie einen «bösen Jungen», der sich den «Anordnungen seiner Erzieher widersetzt», bestrafen. Sie tut das übrigens jetzt schon, z. B. bei der Schweizer Börse, oder wenn sie die Schweiz beim EU-Forschungsfonds «Horizon» nicht teilnehmen lassen will. Jetzt zählt sowas noch als Schikane oder gar Rechtswidrigkeit. Mit dem Rahmenvertrag würde es aber normal bzw. ausdrücklich legalisiert.

Die Schweiz hat 1972 einen Freihandelsvertrag mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) abgeschlossen. Wie verhält es sich mit diesem Vertrag?

Gemäss der «Gemeinsamen Erklärung» im Anhang zum Rahmenabkommen würde dieser künftig neu den gleichen Bestimmungen des Rahmenabkommens unterworfen. Die Rechtsstellung der Schweiz würde somit auch hier betreffend Rechtssetzung, Gerichtsbarkeit und neu sogar Sanktionsmöglichkeiten empfindlich ver­schlechtert.

Inwiefern tangiert das Rahmenabkommen die Freiheitsrechte von uns Bürgerinnen und Bürgern? Konkret stellt sich die Frage: Können wir dann noch via Referendum oder Initiative in den politischen Prozess eingreifen?

Formell kann es nach wie vor das fakultative und obligatorische Referendum geben sowie das Ini­tiativrecht. Aber durch die Tatsache, dass die EU sich das Recht vorbehält, Strafmassnahmen dagegen zu ergreifen, wenn die Schweiz etwas anders machen und das EU-Recht nicht übernehmen will, schwebt über den Referenden oder Initiativen immer ein Damoklesschwert: Was kommt dann auf uns zu, und womit werden wir bestraft, wenn wir das Referendum annehmen und damit nicht dem EU-Recht Folge leisten?

Das heisst, die Bürgerinnen und Bürger sind nicht mehr frei in der Entscheidung …

Stellen Sie sich einmal vor, die EU droht der Schweiz mit irgendeiner Schikaniererei, z. B. einen ganzen Vertrag oder im schlimmsten Fall sämtliche Verträge aufzukündigen, sollte sie ein Referendum annehmen und damit im Widerspruch zu einem Rechtsakt der EU stehen. Dann ist doch die Bevölkerung nicht mehr frei in der Willensbildung. Man kann sich nicht mehr frei entscheiden, weil es nicht mehr um die vorliegende Sachfrage allein geht, über die man gerne abstimmen möchte, sondern man müsste sich immer überlegen, was macht die EU, wenn wir dafür oder dagegen sind.

Das ist eine völlige Einschränkung, die eine freie Meinungsbildung und Entscheidung nicht mehr zulässt.

Letztlich geht es in diesem Punkt eigentlich um die Frage der Nötigung, die kaum je angesprochen wird: Nötigung liegt vor, wenn jemand durch Androhung eines empfindlichen Übels (Ausschlüsse, Behinderungen, Bussen, Kündigungen etc.), worauf der Drohende Einfluss hat, dazu gebracht werden soll, etwas zu tun oder zu unterlassen. Bei Nötigung gilt die Willensfreiheit immer als beeinträchtigt. Mit dem vertraglichen, einseitigen Sanktionsrecht gäbe das Rahmenabkommen der EU faktisch ein Instrument in die Hand, via Nötigung oder nötigungsähnlichen Tatbeständen die freie Willensbildung der Bürger bei künftigen Abstimmungen – völlig legal – beeinträchtigen zu können. Das ist mit der direkten Demokratie schlicht nicht vereinbar.

Damit wird die Schweizer Bevölkerung in ihren demokratischen Rechten, die es in keinem der EU-Staaten gibt und die der EU auch augenscheinlich ein Greuel sind, massiv eingeschränkt.

Das kann man so sagen, und wir wissen auch nicht, wie weit das Ganze geht. Möglicherweise gibt es noch kleine Entscheide, die aus der Sicht der EU nicht binnenmarktrelevant sind. Sie behält sich aber das Recht vor, selbst zu entscheiden, was sie als binnenmarktrelevant ansehen will. Die Einseitigkeit der Rechtsübernahmepflicht und die Unbestimmtheit der künftig zu übernehmenden Erlasse bedeuten einen erheblichen und völlig inakzeptablen Souveränitätsverlust.

Das betrifft auch das Initiativrecht?

Beim Initiativrecht – etwas, was die EU ja überhaupt nicht kennt – käme noch die Frage dazu, ob Ini­tiativen künftig vor der Abstimmung dem EuGH vorgelegt und gewissermassen «bewilligt» werden sollten, sofern man sicher sein wollte, dass die Initiative nicht etwa ungewollt gegen EU-Recht verstösst, das nach Meinung des EuGH binnenmarktrelevant wäre. So könnte das Initiativrecht in der Schweiz wirklich nur noch beschränkt und kaum noch sinnvoll und frei ausgeübt werden.

Das hat doch dann auch einen Einfluss auf die Bedeutung unserer Volksvertreter als Umsetzer des Volkswillens?

Natürlich. Unter dem Rahmenvertrag wären die Rechte und die Wirkungsweisen der bereits erwähnten drei Gewalten massiv eingeschränkt, da die Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Gerichtshoheit vertraglich in erheblichem Umfang ausdrücklich an die EU abgetreten würde. Damit würden Wahlen in der Schweiz, z. B. für National- und Ständerat, aber auch auf kantonaler und kommunaler Ebene, in weiten Teilen zur Makulatur, da die für die Schweiz rechtssetzenden und vollstreckenden Organe vertragsgemäss gar nicht mehr in der Schweiz ansässig wären, sondern von der EU übernommen würden. Darauf hätte die Schweiz überhaupt keinen Einfluss mehr.

Kann man so einen Vertrag auch nur im Ansatz gutheissen?

Nein, dazu kommt noch, dass die EU das Recht aus bereits bestehenden bilateralen Verträgen weiterentwickeln möchte. Die Schweiz müsste – bei Annahme des Rahmenvertrages – solche einseitig beschlossenen Änderungen übernehmen, auch wenn dies ihren Interessen zuwiderlaufen würde. 

Könnte das nicht noch weitreichendere Folgen für unser Rechtssystem haben?

Ja, es käme zum Problem der Folgerechtsänderungen: Die Schweiz müsste bestehendes eigenes Recht auch dann ändern, wenn dieses plötzlich und völlig überraschend mit den geänderten EU-Bestimmungen angeblich kollidieren würde. Und würde die Schweiz einen Zusammenhang oder gar Kollision bestreiten, würde der EuGH entscheiden. Es ist völlig unklar, wie unter diesen Umständen ein geordneter und zuverlässiger Gesetzgebungsprozess in den Schweizer Parlamenten noch funktionieren könnte. Wann und wie lange gälten dann noch welche Schweizer Rechte? Ich befürchte ein Rechtschaos pur.

Aber auch alle künftigen Verträge, die zwischen EU und der Schweiz abgeschlossen würden, fielen dann ebenfalls unter den Rahmenvertrag. Weil wir aber nicht wissen, was die Zukunft noch bringen wird und die EU sich vorbehält, selbst zu definieren, was binnenmarktrelevant ist, kann sie praktisch unbegrenzt weit gehen in der Festlegung dessen, was neues Recht sein soll.

Wird dadurch der Rahmenvertrag zum Hebel, die Schweiz – ohne offizielle Mitgliedschaft – so zu behandeln, als wenn sie ein Mitglied der EU wäre?

Ja, das ist richtig, nur, dass sie nicht einmal ein Mitspracherecht hätte. Man spricht deshalb auch von einem «schleichenden EU-Beitritt«, der durch diesen Vertrag gefördert würde. Man weiss, das Schweizer Volk würde heute, und ich hoffe auch in Zukunft, nicht der EU beitreten. Wenn man aber einen Zustand schafft, bei dem die Schweiz EU-Recht übernehmen muss, ohne irgendwie mitsprechen zu können, empfindet man das als dermassen entwürdigend, dass mit der Zeit Stimmen laut würden, die für eine Mitgliedschaft plädierten. Mit dem unsinnigen Argument, dann könnte man wenigstens noch mitsprechen.

Solche Argumente hört man tatsächlich hier und dort.

Ja, auf dem Papier könnten wir dann mitsprechen, aber die Realität sieht doch ganz anders aus, das sieht man in Ansätzen nur schon beim Rahmenabkommen. Man wird von der EU aus kaum auf den Kleinstaat Schweiz hören. Aber das merkt man dann erst, wenn man in der EU ist. Man sieht es auch empirisch: Es ist noch kaum je vorgekommen, dass ein Kleinstaat in der EU einen Beschluss entscheidend hätte beeinflussen können.

Es ist ja auch offensichtlich, wie die EU mit kleineren Staaten umgeht, wenn sie in irgendeinem Bereich etwas anderes wollen – unabhängig davon, ob das jetzt gut oder schlecht ist – und was das für Folgen für die Staaten und ihre Bevölkerung hat.

Die Schweiz hat als nicht EU-Mitglied mehr Möglichkeiten, allenfalls auf die EU bei einer Vertragsgestaltung zwischen ihr und der EU Einfluss zu nehmen. Aber wenn sie ein Teil des Mechanismus ist, ist sie in ihren Rechten beschnitten und hat nur eine entsprechend schwache Stimmkraft. Ich gehe davon aus, dass die Schweiz ausserhalb der EU wesentlich kräftiger ist, als wenn sie Mitglied wäre. In der EU haben doch vor allem Deutschland und Frankreich das Sagen. 

Man argumentiert unter den Befürwortern des Rahmenabkommens gerne damit, dass dies den bilateralen Weg sichere etc.

Die Argumentation, die Schweiz müsste den bilateralen Weg mit dem Rahmenabkommen absichern, ist grundfalsch. Die EU hat sich auch dahingehend geäussert, dass sie den bilateralen Weg nicht mehr will. Und wenn man das Rahmenabkommen anschaut, dann ist das auch kein bilateraler Vertrag, sondern ein unilateraler, und zwar in dem Sinn, dass nur eine Seite über das Recht und über die Bestrafung bestimmt. Dieser Rahmenvertrag wäre das Ende und die Zerstörung der bilateralen Verträge. 

Ist das Freihandelsabkommen von 1972 nicht viel bedeutender als die bilateralen Abkommen?

Das Freihandelsabkommen von 1972 ist in zweifacher Hinsicht erwähnenswert. Es funktioniert erstens völlig problemlos. Es gibt keine Punkte, die offen sind oder wo man nicht weiterkommt. Es gibt auch keinen Anlass, dass man am bestehenden auf beidseitigem Konsens basierenden Mechanismus zur Vertragsanpassung etwas ändern müsste. Als zweites kann man sagen, dass über das Abkommen zusammen mit den WTO-Vereinbarungen – die EU ist auch Mitglied in der WTO – etwa 90 % des Handelsvolumens zwischen der Schweiz und der EU abgewickelt werden. Es ist nur noch ein kleiner Teil über andere bilaterale Verträge festgelegt. Der wesentliche Anteil des Handels zwischen der Schweiz und der EU wird über dieses Freihandelsabkommen geregelt.

Wenn ich das so höre, dann stellt sich mir schon die Frage, worum es bei diesem Rahmenabkommen eigentlich geht.

Ich nehme an, es geht vor allem um Macht. Die EU propagiert ja immer die «Rechtshomogenität», d. h., sie möchte, dass in ganz ­Eu­ropa dasselbe Recht, nämlich das von oben nach unten verordnete Recht der EU, gilt. Diese von oben verordnete Rechtshomogenität ist das, was die Schweiz unter keinen Umständen will und was von unserer Tradition und Geschichte her auf keinen Fall zu unserem Land passt. Die Schweiz hat entschieden, dass sie direkt-demokratisch und föderalistisch aufgebaut sein und bleiben will. In der Vorstellung der EU gilt das Prinzip, was am Punkt A in Europa richtig ist, muss auch an einem ganz anderen Punkt B in Europa richtig sein. Die kulturellen, wirtschaftlichen, traditionellen und sozialen Unterschiede werden ignoriert. Das wollen wir nicht. Die Schweiz will frei bleiben und ihre eigenen Geschicke selbst regeln, so wie es unseren Gepflogenheiten entspricht. 

Herr Dür, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Hermann Dür, lic.oec. HSG, Stadtrat, lebt in Burgdorf. Er ist selbständiger Unternehmer und hat Verwaltungsratsmandate in den Branchen Logistik, Lebensmittel und Wasserkraft. Er befasst sich seit dem Studium mit Fragen der ­Sicherheits- und Souveränitätspolitik.

 

Kommentar

thk. Die Auseinandersetzung um das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU hat in den letzten drei Wochen Fahrt aufgenommen, und die Befürworter bekommen in der medialen Öffentlichkeit immer mehr Raum. Bundespräsident Guy Parmelin hat nach seinem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen von «fundamentalen Differenzen» gesprochen, was angesichts des Vertragspartners und seiner zentralistischen Struktur mehr als zutreffend ist. Ein endgültiger Abbruch der Verhandlungen wäre die konsequente Reaktion gewesen. Das geschah sonderbarerweise nicht. 

Nationalrätin Christa Markwalder, die acht Jahre lang die Neue Europäische Bewegung Schweiz (NEBS) präsidierte und unser Land lieber heute als morgen in die EU führen möchte, fordert in einem Brief, den sie vorgängig mit EU-Diplomaten abgesprochen und letzte Woche der aussenpolitischen Kommission zugespielt hat, den Bundesrat auf, das Rahmenabkommen weiterzuverhandeln und abzuschliessen. Christa Markwalder ist bekannt für ihre Nähe zur EU, pflegte sie bereits mit dem ersten EU-Botschafter in der Schweiz, Michael Reiterer, auffallend enge Kontakte. So sprach Reiterer an einer Veranstaltung von «unserer Christa», die es schwer habe, die Schweiz an die EU heranzuführen, und Markwalder bezeichnete ihn «als Glücksfall für die Schweiz». Es wäre nicht verwunderlich, wenn seine Handschrift in diesem Brief zu finden ist. Auch jung Nationalrat Fabian Molina (SP) setzt sich in Punkto Rahmenabkommen in Szene und wird gerne im Radio und Fernsehen SRF zitiert. Seine Empörung darüber, dass der Bundesrat nicht im Sinne der EU vorwärts macht, gibt der Auseinandersetzung einen neuen Spin. Besonders das (geheime) «interne Papier der Verwaltung», das angeblich Radio SRF vorliegt und das den Untergang der Schweiz bei Ablehnung des Rahmenvertrags prognostiziert, ist der Endpunkt dieser Kampagne, die ein Weiterverhandeln des Bundesrats mit der EU verlangt. Wie Phönix aus der Asche zaubert Bundesrätin Viola Amherd, die sich bisher nie dazu geäussert hat, noch einen «Plan B» aus dem Hut, der einen Kompromissvorschlag enthält, aber im Grundsatz das Rahmenabkommen akzeptiert. Das ganze Theater erinnert an den Brexit. Was wird hier gespielt? 

Der Bundesrat, der sich seit Jahrzehnten als EU-affin ausgezeichnet hat, wurde ganz unerwarteter Weise in letzter Zeit zum Bremser in Sachen Rahmenabkommen. Sollte der Bundesrat tatsächlich zu dem Schluss gekommen sein, dass die Souveränität der Schweiz, wie es alt Nationalratspräsident Ruedi Lustenberger betonte, «das höchste Gut einer Nation» ist, muss er das Abkommen endgültig versenken und neu verhandeln. Tut er das nicht, war alles nur Taktik, um am Schluss das Machwerk zu unterschreiben. Das Vertrauen in den Bundesrat wird damit völlig zerstört und unser Land einer schweren Zerreissprobe ausgesetzt. 

Medienmitteilung zur Abstimmung vom 13. Juni 2021: Der Zweck heiligt die Mittel nicht!

Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT)

Die Schweizerische Nationalkommission Justitia et Pax steht den vorgeschlagenen Gesetzesänderungen und dem darin enthaltenen Motto «Der Zweck heiligt die Mittel« sehr kritisch gegenüber. Da das neue Gesetz grundlegende Rechtsprinzipien wie die Unschuldsvermutung in Frage stellt, den Grundsatz der Gewaltenteilung auf operativer Ebene missachtet und die Beweislast umkehrt, empfiehlt Justitia et Pax, das vorliegende Gesetz aus sozial-ethischen Gründen abzulehnen.

Am 13. Juni 2021 steht das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus zur Abstimmung. Die Bekämpfung von Terrorismus ist eine wichtige sicherheitspolitische Aufgabe des Staates. Aus sozial-ethischer Sicht tut sich hier ein Spannungsfeld auf zwischen einerseits Massnahmen zur Sicherheit und andererseits menschenrechtlich begründeten Freiheitsrechten. Randgruppen, politische und religiöse Gruppierungen und Minderheiten laufen beim Gesetzesvorschlag Gefahr, dass ihre Freiheit bzw. einzelne Menschenrechte unzulässig verletzt werden: Um mögliche Gefahren abzuwehren, werden Freiheitsrechte in schwer kontrollierbarer Weise eingeschränkt. Justitia et Pax ist der Ansicht, dass die heute schon bestehenden Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden sollten, bevor mit neuen Massnahmen Grundrechte von Personen eingeschränkt werden. Die Schweiz hat in jüngster Zeit mehrere Instrumente geschaffen: Das Nachrichtendienstgesetz (NDG), das Antiterrorstrafgesetz und den Nationalen Aktionsplan (NAP) gegen Radikalisierung. Bevor deren Wirksamkeit sorgfältig geprüft werden kann, wird mit den vorgelegten Änderungen des Bundesgesetzes über polizeiliche Mass­nahmen zur Bekämpfung von Terrorismus ein weiterer Schritt in Richtung einer präventiven und umfassenden Kontrolle getan. Selbst Jugendliche unter 18 Jahren sind von den präventiven Massnahmen gegen eine vermutete Gefährdung nicht ausgenommen.

Das Gesetz atmet einen Geist der «machbaren Sicherheit». Doch das Ziel der Sicherheit darf nicht absolut gesetzt werden, weil dann die Freiheitsrechte Einzelner gänzlich preisgegeben werden müss­ten. Das Ideal der totalen Sicherheit ist eine Illusion, sie gibt es nicht. Bund und Kantone verfügen heute schon über griffige Massnahmen zur Terrorprävention. Gerade eine Demokratie lebt von der Zumutung von Freiheit und dem Vertrauen auf einen verantwortlichen Umgang mit ihr.

Friede und Gerechtigkeit lassen sich durch solche Sicherheitsmassnahmen nicht realisieren. Sie säen vielmehr ein Gefühl des Misstrauens, das der Demokratie und den Menschen grossen Schaden zufügt. 

Wolfgang Bürgstein, 12.05.2021

Eine ausführlichere Stellungnahme zu den Gesetzesänderungen findet sich als Vernehmlassungsantwort von Justitia et Pax unter: www.juspax.ch

 

Abstimmung vom 13. Juni 2021: Antiterrorgesetz: PMT – Überwachung unbescholtener Bürgerinnen und Bürger

Interview mit Nationalrat Lukas Reimann

Lukas Reimann, SVP (Bild zvg)
Lukas Reimann, SVP (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Braucht die Schweiz ein neues Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terror (PMT)?

Nationalrat Lukas Reimann Die Schweiz braucht tatsächlich griffige Massnahmen gegen Gefährder wie z. B. Anhänger des Islamischen Staates. Aber alle Massnahmen, die die SVP-Fraktion in den letzten 15 Jahren vorgeschlagen hatte, wurden von den gleichen Leuten abgelehnt, die jetzt ein «politisch korrektes» Terrorgesetz machen, ohne zu definieren, was Terror ist und wer als Terrorist gilt. Damit ist die Wirksamkeit dieses Gesetzes natürlich in Frage gestellt. Aber sie riskieren, und das ist die grosse Gefahr von diesem Gesetz, dass wir alle zu Terroristen werden können. 

Warum ist das so? Inwiefern ist das durch dieses Gesetz möglich?

Man sucht lange in der Vorlage nach einer Definition, was ein Terrorist ist. Das findet man nicht. Es steht zwar darin, jemand, der den Staat gefährde, aber das können auch Impfkritiker, Umweltaktivisten, Patrioten, staatskritische Libertäre sein, und zwar bis zu Kindern ab 12 Jahren. Das kann im Grunde genommen jeder sein, der dem Staat nicht genehm ist. Was besonders daran stört, ist, dass es präventive Massnahmen sein können. 

Was hat das für Auswirkungen?

Ich habe das häufig bei den Fussballprozessen erlebt. Hier wurden Menschen vom Richter freigesprochen, die nachweislich nichts Unrechtes im Fussballstadion getan hatten. Sie waren nicht kriminell, hatten kein Feuerwerk gezündet oder ähnliches. Sie waren gewöhnliche Zuschauer an einem Spiel. Und trotz dem Freispruch vor Gericht zieht man die präventiven Massnahmen einfach weiter. Man begründet es damit, dass es unabhängig vom Verschulden sei, denn es könnte ja sein, dass die Person einmal etwas Unerlaubtes im Stadion machen würde. Solch eine Argumentation hat mit einem Rechtsstaat nichts mehr zu tun. 

Das ist doch eine willkürliche Einschränkung der persönlichen Freiheit. 

Das ist eine massive Einschränkung der persönlichen Freiheit gegen unliebsame Personen, die vielleicht die Regierung kritisieren oder dem Polizeichef «nicht in den Kram passen». Man muss strafrechtlich gar nichts verbrochen haben, um unter diese Präventivmassnahmen gestellt zu werden. 

So, wie Sie das erklärt haben, öffnet das doch der Willkür Tür und Tor. Stimmt das?

Das ist das grosse Problem. Es kommt quasi darauf an, wer gerade an den Hebeln der Macht sitzt. Und diese Personen wechseln bekanntlich. Daher ist gar niemand davor gefeit, selbst einmal als Terrorist gebrandmarkt zu werden. 

Die Vorsteherin des Justizdepartements, Karin Keller-Sutter, hat das Gesetz in einem Interview im Tagesanzeiger strikt verteidigt. Die Schweiz bräuchte so ein Gesetz. Stimmt das, haben wir keine andere Möglichkeit, gegen potentielle Terroristen vorzugehen?

Wir haben in unseren Gesetzen genügend Artikel, die es möglich machen, Gefährdern habhaft zu werden, ohne die sogenannten Präventivmassnahmen. Wir haben z. B. im Parlament vorgeschlagen, für Personen, die in fremden Staaten Söldnerdienste geleistet haben, das Strafmass zu erhöhen. 

Wen würde das betreffen?

Wenn jemand im Dschihad gekämpft hat und wieder in die Schweiz zurückkommt, dann sollte er dafür mit Gefängnis bestraft werden. Aber heute geschieht nichts. Er wird auf eine Liste gesetzt und beobachtet. Das heisst, es braucht mehr Leute, die die Überwachung leisten können. Konkrete Massnahmen, die etwas gebracht hätten, wollte die Mehrheit des Parlaments nicht. Auch die Finanzierung von Schulbüchern oder Moscheen von dubiosen Organisationen aus dem Ausland sollten bei uns im Land verboten sein. Dafür hat man sich aber nicht eingesetzt, stattdessen macht man ein «politisch korrektes» Antiterrorgesetz, das den Namen nicht verdient, weil es den Terror nicht bekämpft und alle treffen kann. 

Was heisst hier «politisch korrekt»?

Man hätte ins Gesetz hineinschreiben können, wer heute bei dieser Frage im Fokus steht. In fünf Jahren denkt man vielleicht an etwas anderes oder jemanden ganz anderen. Man muss bei der momentanen internationalen politischen Entwicklung und den daraus resultierenden Handlungsweisen nicht weit suchen. Im deutschsprachigen Ausland sitzen z. B. im Parlament demokratisch gewählte Parteien, die unter die Kontrolle des Verfassungsschutzes gestellt sind. Sie werden von offizieller Seite beobachtet und bekämpft. Das kann uns hier auch passieren. «Politisch korrekt» meine ich in dem Sinne, dass man nicht zugeben will, dass die ganze Einwanderung und das Asylwesen etwas mit möglichen IS-Unterstützern zu tun haben. Da müsste man ansetzen, und nicht mit einer Totalüberwachung der gesamten Bevölkerung, also der Überwachung unbescholtener Bürgerinnen und Bürger.

So, wie ich Sie jetzt verstehe, ist das Gesetz viel zu unspezifisch und zu breit gefasst.

Ja, wenn man ein Gesetz verabschiedet, das so tief in die persönliche Freiheit eingreift, dann sollte man die mildeste Variante betreffend die Einschränkung der Freiheitsrechte wählen. Die mildeste Variante sehe ich in der Form, die nur einzelne Personen direkt trifft, die z. B. im Dschihad gekämpft haben, und nicht in der Form, die grundsätzlich alle treffen kann. 

Sie haben erwähnt, dass man mit denjenigen, die den IS unterstützt haben und nach Syrien oder in den Irak gereist sind, sehr milde verfahren ist. Das ist doch ein Widerspruch.

Alle Eingaben, die die SVP-Fraktion zu dieser Problematik im Parlament eingereicht hatte, wurden allesamt von denjenigen abgelehnt, die jetzt für dieses neue Gesetz sind. Wenn es irgendwo einen Anschlag gibt, dann findet man auf den «sozialen Medien» hunderte von Jugendlichen, die das feiern und bejubeln. Auch hier hätte man strafrechtlich etwas unternehmen können, aber das wurde im Parlament auch abgelehnt. Dafür haben wir es jetzt, einige Zeit später, mit einer Vorlage zu tun, die gegen Terror nicht wirkt, dafür als Instrument politischer und gesellschaftlicher Einschüchterung eingesetzt werden kann.

Was steckt dahinter?

Wenn ich die Art und Weise anschaue, wie wir z. B. die Pandemie bekämpfen wollen, dann habe ich den Eindruck, dass es gewissen Leuten sehr gut gefällt, wenn sie an den Machthebeln sitzen und schalten und walten können, wie es ihnen gerade passt. 

Warum gibt es hier von Links keinen grossen Widerstand gegen dieses doch sehr undemokratische Gesetz?

Die linken Jungparteien, junge Grüne und die Jusos, sind dagegen. Von den etablierten linken Politikern hier im Parlament hört man äusserst wenig. Sie interessieren sich nicht gross für die Vorlage, vielleicht aus der Überzeugung, dass sie das Ganze nicht betreffen wird. Aber da könnten sie sich noch täuschen. 

Erstaunlich ist, dass keine breite Debatte über dieses Gesetz stattfindet. Vor der Abstimmung im Parlament haben 60 Rechtsprofessoren grosse Bedenken gegenüber dem Gesetz angemeldet. Die Vorsteherin des Justizdepartements, Karin Keller Sutter, hat das als «Meinungen», ohne inhaltlich darauf einzugehen, vom Tisch gewischt. Warum findet keine Auseinandersetzung über dieses heikle Thema statt?

Das erstaunt mich auch. Und wenn ich sehe, dass in Österreich ein ähnliches Gesetz von den Grünen zusammen mit der ÖVP beschlossen wurde, was von der SPÖ und der FPÖ massiv kritisiert wird, dann sieht es tatsächlich so aus, als ob diejenigen, die die Macht haben, das Gesetz befürworten, während die Opposition eher dagegen ist. Aber das ist eine trügerische Haltung, zu meinen, wenn die eigene Partei in der Mehrheit ist, kann das Gesetz nicht gegen sie gerichtet werden. Mehrheiten und Einstellungen verändern sich, letztlich müssen die Grundrechte gleichbleiben und dürfen nicht der Beliebigkeit der Politik unterliegen. 

Ein Gesetz sollte sich doch an den Grundrechten orientieren und für einen längeren Zeitraum Gültigkeit haben. Die Rechtssicherheit ist doch ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie.

Wenn ich das hier in Bern anschaue, dann hatte das Zivilgesetzbuch 100 Jahre Bestand, bis eine Revision durchgeführt wurde. Heute finden Revisionen viel häufiger statt. Das spricht auch nicht gerade für die Qualität der Gesetzgebung. Eine Orientierung der Politik auf die nächsten Wahlen und nicht auf die nächste Generation, die mit diesem Gesetz dann leben muss, merkt man bei ganz vielen anderen Gesetzen auch. 

Als Aussenstehender hat man oft das Gefühl, dass es in der Politik vor allem um persönliche Erfolge geht und nicht um das Wohl des Landes und der darin lebenden Menschen. Trügt dieser Eindruck? 

Nein, das ist auch mein Eindruck. Früher hatten wir, und das kann man gut oder schlecht finden, Politiker mit ganz klaren Grundhaltungen, und diese haben auf dieser Basis Politik gemacht. Mit einer klaren Grundhaltung denkt man langfristig. Heute gibt es schon sehr viele Selbstdarsteller, die an den Wahlkampf in vier Jahren denken. Dann betreibt man eine andere Politik und trifft keine unpopulären Entscheide. Man tritt lieber nicht gegen eine Antiterrorvorlage an, denn natürlich ist jeder gegen Terror. 

Das Ganze erinnert mich an die Auseinandersetzung um das Covid-19-Gesetz. Hier wird viel Geld versprochen, und wer möchte schon dagegen sein. Man verknüpft hier Dinge miteinander, die eigentlich nicht zusammengehören.

Ja, das ist letztlich eine Erpressung, wenn man der Bevölkerung sagt, es gibt nur noch Hilfszahlungen, wenn ihr dem Covid-19-Gesetz zustimmt. 

Zum Antiterrorgesetz möchte ich noch anmerken, dass wir vor einigen Jahren die Abstimmung über das Nachrichtendienstgesetz hatten und im Parlament über das BÜPF (Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs). Dahinter verbirgt sich die Überwachung von elektronischen Meldungen. Man hat damals in der Kommission argumentiert, man werde das nur 5 bis 10-mal im Jahr in äussert krassen Fällen anwenden. Heute sehen wir, dass es über 5000-mal im Jahr angewendet wird. Jetzt gibt es ein Problem mit den Kosten, weil so viel Überwachung auch viel Geld kostet. Deshalb soll es jetzt eine Anpassung im Gesetz geben. So werden wir übertölpelt. Gibt man den kleinen Finger, wird die ganze Hand genommen. 

Herr Nationalrat Reimann, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

«Erstens ersetzt das PMT den Begriff des ‹Gewaltver­brechens› mit demjenigen einer ‹schweren Straftat›, was aber eben nicht nur klassische Terrordelikte wie Mord, Körperverletzung und ­Geiselnahme einschliesst, sondern auch schwere Fälle von Veruntreuung oder Betrug, die rein gar nichts mit einer terroristischen Bedrohung zu tun haben. Das ist natürlich nicht sinnvoll.» 

Rechtsprofessor Dr. Nils Melzer, in: Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 3/21

 

«Zweitens, und das ist geradezu gefährlich, gelten die Elemente der Terrorismusdefinition gemäss PMT nicht kumulativ, sondern alternativ. Um als Terrorist zu gelten, muss man also nicht mehr durch ­Androhung oder Ausführung eines Gewaltdeliktes Furcht und Schrecken verbreiten, sondern es reicht, wenn man entweder eine schwere Straftat androht oder ausübt, oder auf andere (nicht strafbare!) Weise Furcht und Schrecken verbreitet.»

Rechtsprofessor Dr. Nils Melzer, in: Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 3/21

Abstimmung: Agrarinitiativen – «Bei Annahme der Agrarinitiativen würde die Lebensmittelproduktion um 30 % zurückgehen» 

Interview mit Thomas Egger, Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) 

Thomas Egger (Bild wikimedia)
Thomas Egger (Bild wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Was würde eine Annahme der beiden Agrarinitiativen für die Landwirtschaft bedeuten?

Thomas Egger Die Annahme der beiden extremen Agrarinitiativen würde eine erhebliche Schwächung der Landwirtschaft, insbesondere der Berglandwirtschaft, zur Folge haben. 

Warum?

Beide Initiativen zielen auf eine Extensivierung der Landwirtschaft ab. Die Forschungsanstalt Agroscope rechnet damit, dass die Lebensmittelproduktion in der Schweiz um 30 % zurückgehen würde. Bei uns im Berggebiet bedeutet das entsprechend weniger Vieh, weniger Milch, weniger Käse, weniger Trockenfleisch, weniger verarbeitendes Gewerbe. Oder nochmals anders gesagt: jede dritte Mühle, jede dritte Metzgerei, jede dritte Käserei könnte verschwinden. Das sind wichtige Arbeitsplätze, gerade auch in den Berg- und Randregionen, die hier auf dem Spiel stehen. So weit darf es nicht kommen. 

Bei dem massiven Rückgang der Versorgung sinkt der in der Schweiz bereits tiefe Selbstversorgungsgrad noch weiter. Wir haben aber vor ein paar Jahren einen Verfassungsartikel angenommen, der gerade diesen Grad erhöhen sollte. Wie kann der weiterhin erfüllt werden?

Das ist der Punkt. Das Schweizer Stimmvolk hat im Jahr 2017 mit 78 % Ja gesagt zum Verfassungsartikel über Ernährungssicherheit und klar betont, dass wir mögslichst viele einheimische Produkte haben wollen, damit wir gut selbstversorgt werden können. Heute liegt dieser Selbstversorgungsgrad nur bei 58 %. Nach Berechnung von Agroscope würde bei Annahme der Initiativen der Selbstversorgungsgrad auf 42 % herunterfallen. Das wäre eine massive Einschränkung und widerspricht der Verfassung. Aus dem Grund hat der Verfassungsrechtler Paul Richli in einem Gastbeitrag in der NZZ ganz klar gesagt, dass diese beiden Initiativen verfassungswidrig sind. 

Wie kann bei einem sinkenden Selbstversorgungsgrad die Ernährungssicherheit gewährleistet bleiben?

Die Initianten betonen immer wieder, wir könnten dann die Produkte aus dem Ausland importieren. Das aber lässt Entscheidendes ausser acht. Wir müssen davon ausgehen, dass die Weltbevölkerung in den nächsten 30  Jahren von heute 7,8  Milliarden auf zukünftig 9,7  Milliarden steigen wird. Das ist ein Zuwachs von rund 2  Milliarden Menschen in 30 Jahren. Das ist zweieinhalb Mal die Bevölkerung von Europa oder jedes Jahr achtmal die gesamte Bevölkerung der Schweiz, die zusätzlich ernährt werden muss. Es ist völlig illusorisch, zu meinen, wir könnten hier im grossen Stil Güter aus dem Ausland importieren. Wir müssen alles daran setzen, uns so gut es geht, mit einheimischen Produkten zu versorgen. 

Wir haben in der Corona-Krise gesehen, wie wichtig es ist, dass wir uns selbst versorgen können. Wir dürfen nicht mit der Solidarität anderer Länder rechnen, schon gar nicht in einer Krisensituation.

Warum haben die Initiativen eine so massive Auswirkung?

Wir müssen unsere Landwirtschaft vollständig auf Bio umstellen. Das heisst nicht, dass alles nach Bio-Standard zertifiziert wird, aber dieser Standard würde gelten. Wir wissen aufgrund von Studien, dass der Ertrag in der Bio-Landwirtschaft um ca. 30 % geringer ist als bei herkömmlicher Produktion. Für die Berglandwirtschaft kommt bei der Trinkwasserinitiative hinzu, dass der Zukauf von Futtermitteln, die nicht auf dem Hof selbst produziert werden, verboten ist. Interessant ist hierbei, dass die Initiantin – Frau Herren – das bestreitet und sagt, es sei nur eine Kann-Formulierung. Aber so, wie es im Initiativtext steht, ist es eben ein «Muss«. 

Das bedeutet dann konkret?

Es darf kein Futter zugekauft werden. Das geht in den Berggebieten schlichtweg nicht. Unsere Betriebe sind zu klein und zu exponiert gegenüber Extremereignissen wie Trockenperioden, Stark­niederschlägen, Kälteeinbrüchen etc. Wir müssen Futter zukaufen können, sonst wird die Tierhaltung massiv eingeschränkt. 

Die Folge wäre dann?

Weniger Produkte, vor allem Milch und Fleisch. Bioprodukte sind sehr gut, aber es wird sehr viele Produkte geben, die nicht mehr auf den Markt kommen. Es kann sein, dass ein Schädling drin ist, und dann ist eine ganze Aprikosen- oder Apfelernte zerstört. Damit werden weniger Produkte auf den Markt kommen. Das macht dann im Endeffekt diesen Rückgang aus.

Was bedeutet das für uns Bürgerinnen und Bürger? Das wird sich doch auch in der Preisentwicklung niederschlagen. Der Minderertrag, den man bei Bio-Landwirtschaft hat, wird durch höhere Preise kompensiert. Wie sieht das konkret aus?

Agroscope rechnet mit Preisunterschieden von bis zu 50 %. Mit anderen Worten, die landwirtschaftlichen Produkte werden um bis zu 50 % teurer. Das ist eine sehr schlechte Entwicklung, denn wir sind alle darauf angewiesen, dass wir qualitativ gute und preiswerte Produkte haben. Ich glaube, das ist die falsche Entwicklung. 

Was können wir dagegen tun?

Da ist mir folgendes sehr wichtig: Wir Bürgerinnen und Bürger können durch unseren täglichen und wöchentlichen Einkauf Einfluss auf die Entwicklung nehmen. Wir können die Landwirtschaftspolitik selbst steuern, ohne neue Verbote in der Verfassung festzuschreiben. Wir wissen von Umfragen, dass 40 % der Leute sagen, sie kauften immer oder regelmässig Bioprodukte. Der effektive Marktanteil von Bioprodukten liegt aber nur bei 10 %. Das ist doch immerhin eine Diskrepanz von 30 %. Wenn die Leute also das tun würden, was sie sagen, dann sähe die Landwirtschaft schon ganz anders aus. Wir hätten schon viel gewonnen, wenn wir im Konsum konsequent auf einheimische regionale und auch Bioprodukte setzen würden. So könnten wird die Ausrichtung der Landwirtschaft und der Landwirtschaftspolitik viel besser steuern als über Verbote, die zu Kollateralschäden führen, die so nicht gewollt sind. 

Ich möchte nochmals auf den Selbstversorgungsgrad zurückkommen. Wenn dieser sinkt, dann ist doch die Gefahr, dass man billige Produkte aus dem Ausland kauft, weil sie im eigenen Land zu teuer sind.

Die Pestizidinitiative will verhindern, dass billige Importprodukte ins Land kommen, die mit Pestiziden hergestellt sind. Diese ist noch viel extremer als die Trinkwasserinitiative. Es kann zu Versorgungsengpässen kommen. Am Schluss weiss man nicht, wie man sich eigentlich noch ernähren kann, wenn beide Initiativen angenommen würden. Nur mit Bio kann man diese Welt nicht ernähren, das ist illusorisch. 

Für die Unabhängigkeit und Souveränität unseres Landes ist es doch von Bedeutung, dass wir einen hohen Selbstversorgungsgrad erreichen. Wir geben uns doch in eine totale Abhängigkeit vom Ausland, wenn wir uns nicht mehr selbst ernähren können. 

Genau, das ist der Punkt und drückt sich am besten bei dem Selbstversorgungsgrad aus, wenn dieser auf nur noch 42 % sinken würde. Das kann und darf nicht unser Ziel sein. Unser Ziel muss sein, mehr als die heute bestehenden 58 % zu erreichen. Deshalb ist für mich ganz klar, einheimische regionale Produkt zu kaufen. Aus diesem Grund steht auch der Tourismus gegen die beiden Agrarinitiativen. Auch im Tourismus möchten wir unseren Gästen möglichst einheimische regionale Produkt bieten, damit wir ihnen auch kulinarisch unsere Region nahebringen können.

Man hat in den letzten Jahren den Eindruck, dass man immer wieder auf die Landwirtschaft losgeht. Teilen Sie diese Beobachtung?

Ja, und das ist etwas, was mich wahnsinnig stört. Man zeigt mit dem Finger auf die Landwirtschaft, passt aber sein eigenes Verhalten nicht an. Hier sind die Konsumentinnen und Konsumenten gefragt, die, wie schon gesagt, einen starken Einfluss auf die Landwirtschaft ausüben können. Ich würde es gerne sehen, wenn der Konsumentenschutz zusammen mit dem Bauernverband eine Kampagne für regionale Produkte lancieren würde. Das wäre besser als unsinnige Verbote und würde unsere einheimische Landwirtschaft stärken. 

Die Landwirtschaft hat doch in den letzten Jahren immer wieder versucht, Probleme konstruktiv zu lösen.

Ja, in der Landwirtschaft wurde bereits sehr viel getan. Zum Beispiel konnte man den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in den letzten 10 Jahren um 40 % reduzieren. Das hängt auch damit zusammen, dass es seit 2017 einen Aktionsplan «Pflanzenschutzmittel» des Bundes gibt. Dieser wird jetzt nochmals weiter ausgebaut mit einem Gesetzespaket des Parlaments, welches einen Absenkpfad für Pflanzenschutzmittel vorsieht, und zwar nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch bei Hobby-Gärtnern und anderen. Wir sehen, dass wir in der Landwirtschaft in diese Richtung gehen müssen, aber nicht mit Verboten, sondern konstruktiven Massnahmen. Wir könnten viel mehr erreichen, wenn wir z. B. konsequent die Potenziale der Digitalisierung mit Smart-farming nutzen würden. Mit dem Einsatz von Drohnen und Robotern können bis zu 90 % der Pflanzenschutzmittel eingespart werden. Denn sie steuern die einzelnen Pflanzen punktgenau an, analysieren ihren Zustand und entscheiden in Sekundenbruchteilen, ob sie behandelt werden müssen oder nicht. Die Förderung solcher Technologien bedeutet Fortschritt. Eine Annahme der beiden Initiativen wäre demgegenüber ein massiver Rückschritt. 

Herr Egger, vielen Dank für das ­Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Abstimmung vom 13. Juni: Covid-19-Gesetz: «Die Demokratie benötigt Parlamentsmitglieder, die auf das grosse Ganze blicken»

Interview mit Prof. Dr. rer. publ. Dr. iur. h.c. Andreas Kley

Prof. Dr. Andreas Kley (Bild © Liechtenstein-Institut)
Prof. Dr. Andreas Kley (Bild © Liechtenstein-Institut)

Zeitgeschehen im Fokus Am 13.  Juni wird über das Covid-19-Gesetz abgestimmt. Trotz zustandegekommenem Referendum trat das Gesetz mit der Verabschiedung in der Bundesversammlung im letzten Herbst sofort in Kraft. Ist das nicht äusserst undemokratisch?

Professor Dr. Andreas Kley Das Parlament hat das Gesetz gemäss Artikel 165 der Bundesverfassung (im folgenden BV) dringlich erklärt, und das bedeutet, dass das Gesetz sofort in Kraft treten kann, obwohl die Referendumsfrist von 100  Tagen noch läuft. Das Referendum ist nun zustande gekommen, und das bedeutet, dass über das schon geltende Gesetz am 13. Juni 2021 abgestimmt werden muss. Das dringliche Bundesgesetz ist von der Bundesverfassung vorgesehen und insoweit korrekt. Allerdings ist es so, dass bei einer derartigen Abstimmung die Gegner des Gesetzes es schwerer haben, da das Gesetz zum Zeitpunkt der Abstimmung bereits gilt und seine Wirkung zeigt.

Sie hatten im Herbst von einem «Ermächtigungsgesetz» gesprochen. Haben sich Ihre Befürchtungen bestätigt und in welcher Beziehung?

Der Ausdruck «Ermächtigungsgesetz» stammt aus der Staatspraxis des Deutschen Reiches ab 1914 bis 1933, und nicht – wie das immer wieder fälschlicherweise behauptet wird – aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Gehörte der Begriff zu dieser schrecklichen Periode der deutschen Geschichte, so wäre seine Verwendung im Zusammenhang mit dem Covid-19-Gesetz völlig unangebracht. Die Ermächtigungsgesetze bezeichnen die Übung, dass der Reichstag, speziell ab 1919 infolge der Parteienzersplitterung, jeweils für eine befristete Zeit die Gesetzgebungsbefugnis auf die Reichsregierung verschob. Diese Praxis ist fragwürdig, aber immerhin gestand sich der Reichstag öffentlich und offiziell ein, dass er als Parlament versagte und sich befristet aus der Gesetzgebung zurückzog. Das war ein bewusster und anerkennenswerter politischer Akt, der das Problem öffentlich machte. 

Wo sehen Sie die Parallelen zu unserem Parlament?

Nach dem Auftreten des Coronavirus in der Schweiz brachen die beiden Räte am 15. März 2020 die Session ab, und sie tagten bis zum 4. Mai 2020 nicht mehr. Sie blieben in der Folge passiv und haben ihre eigentliche Aufgabe, die grundlegenden Fragen der Politik zu diskutieren und zu entscheiden, nicht mehr wahrgenommen. Sie liessen die Zügel einfach schleifen. Es ist also nicht der Bundesrat, der versagt hat, sondern die Bundesversammlung. Sie hat den Bundesrat in eine führende Rolle gedrängt, und einzelne Parlamentarier hatten ihr Versagen mit den unberechtigten Diktaturvorwürfen an den Bundesrat übertönen wollen.

Was ist denn zu Beginn der Pandemie falsch gelaufen?

Die staatsrechtlichen Weichen für das Coronaregime wurden schon zu Beginn, am 15. März 2020, als das Parlament die Session abbrach, völlig falsch gestellt. Bundesrat Berset sagte in einem Interview mit Felix E. Müller (Wie ich die Krise erlebte, 2020, S. 57 f.): Der Abbruch der Session «hat mich […] etwas überrascht, weil ja nicht nur der Ratsbetrieb beendet wurde, sondern vorübergehend auch die Arbeit aller Kommissionen» geruht hat. Er fuhr fort: «Für den Bundesrat war das Verstummen des Parlaments ein Mangel». 

Ist die Aussage Bersets zutreffend?

Ja. Tatsächlich haben sich die beiden Räte und ihre Kommissionen bei der Bewältigung der Corona-Krise aus dem Geschehen herausgenommen. Statt ihre Aufgabe wahrzunehmen, nämlich zu beraten und Gesetze zu schaffen, schrieben die Parlamentarier als Kommissionsmitglieder, als Parteimitglieder, als Parteipräsidenten und als Interessenvertreter dem Bundesrat offene Briefe, was er zu tun habe, solle oder könne. Das Versagen der Ratsmitglieder als Volksvertreter kommt auf das deutlichste zum Ausdruck. 

Was hätte denn die Bundesversammlung tun müssen?

Die Bundesversammlung hätte Mitte März 2020 ein nach Artikel 165  Abs. 3  BV dringliches verfassungsänderndes Bundesgesetz beschliessen müssen. In diesem Gesetz hätte sie temporär die Verfassung ändern können, indem sie z. B. das Anwesenheitsquorum der beiden Räte vermindert oder Zoom-Sitzungen erlaubt hätte. Ferner müsste dieses Gesetz dem Bundesrat die Kompetenz geben, Verordnungen zu erlassen, welche die Bundesgesetze abändern können, um Unterstützungen zu leisten. 

Wäre das ohne Referendum möglich gewesen?

Dieses Gesetz kann ein ganzes Jahr ohne obligatorisches Referendum gelten und müsste für eine längere Geltungsdauer dem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen unterworfen werden.

Diese längere Geltungsdauer wäre sicher nötig gewesen, und ich bin überzeugt, dass Volk und Stände dem auch zugestimmt hätten. Es hätte die Schweiz weltweit ausgezeichnet, dass sie nicht nur ihrer Verfassung gehorcht, sondern auch ihrer direkten Demokratie vertraut. Es wäre ein demokratisches Signal gewesen.

Stattdessen hat die Bundesversammlung geschwiegen, und der Bundesrat hat mittels eines überdehnten Artikels 185 BV Corona-Verordnungen erlassen, die die Verfassung und Bundesgesetze abänderten. Das Covid-19-Gesetz wollte sozusagen den demokratischen Makel dieser Notverordnungen überdecken. Das funktioniert aber nicht, weil die Bundesversammlung nicht befugt ist, mit einem dringlichen Bundesgesetz, das nur dem fakultativen Referendum unterliegt, die Verfassung zu ändern.

Wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn Volk und Stände das von Ihnen vorgeschlagene dringliche verfassungsändernde Bundesgesetz abgelehnt hätten?

Nein, absolut nicht. Dann wären die Bekämpfungsmassnahmen gegen die Pandemie, gestützt auf das Epidemiegesetz, weitergegangen. In diesem verfassungsändernden Gesetz wären nach einem Jahr Geltungsdauer vor allem die Unterstützungsmassnahmen wesentlich gewesen, und diese hätten dann die Zustimmung des obersten Staatsorgans nicht erhalten. Das ist zu akzeptieren; es ist ein harter, demokratischer Entscheid. 

In den beiden Weltkriegen gab es ebenfalls keine wirtschaftlichen Ausgleichsmassnahmen für die Folgen der Notmassnahmen des Bundesrates, abgesehen von der Einführung der Erwerbsersatzversicherung 1940. 

Der Bundesrat argumentiert, wenn das Gesetz am 13. Juni abgelehnt würde, würde ab Ende September 2021 die gesetzliche Grundlage für viele Unterstützungsmassnahmen fehlen. Ist das tatsächlich so?

Wird infolge des Referendums das Covid-19-Gesetz abgelehnt, so tritt dieses am 25. September 2021 ausser Kraft, d. h. drei Monate und eine Woche vor der ordentlichen Ausserkraftsetzung der meisten Artikel. Diese gut drei Monate bilden nur etwa einen Fünftel der Geltungsdauer des Gesetzes. In den vorausgehenden vier Fünfteln der Geltungszeit werden die meisten finanziellen Unterstützungen verfügt, d. h. förmlich mitgeteilt sein. Das Argument des Bundesrates ist also schwach. Es spielt mit andern Worten wegen der schon bezahlten Unterstützungen keine grosse Rolle mehr, ob das Covid-19-Gesetz angenommen oder abgelehnt wird.

Könnte man aufgrund der fragwürdigen Behauptung von einer Erpressung sprechen?

Erpressung ist zu stark. Der Bundesrat übt mit dieser Argumentation Druck auf die Stimmbürger aus und versucht, ihnen ein Ja zu entlocken. 

Ist das Gesetz nicht Ausdruck einer Entwicklung, die die Macht immer mehr in Richtung Exekutive verlagert?

Ja, das trifft leider in allen westlichen Demokratien zu. Das ist nur das Symptom. Die Ursache ergibt sich aus der in den letzten Jahrzehnten eingetretenen Entwicklung, dass die Parlamentarier ihre verfassungsmässigen Aufgaben in ihrer Mehrheit unzureichend wahrnehmen. Auch die Schweiz kennt primär das Repräsentativsystem. Die Parlamentarier vergegenwärtigen das Volk, denn sie sind «Abgeordnete des Volkes» (Artikel 149 BV). Die «Abgeordneten» treffen im Interesse und Namen des Volkes die Entscheidungen. Abraham Lincoln brachte das in seiner Gettysburg Address 1863 auf den Punkt, als er die Demokratie als «Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk» bezeichnete.

Inwiefern nehmen die Parlamentarier ihre Aufgaben nicht mehr wahr?

Die Parlamentsmitglieder agieren oft als Vertreter von partikulären und eigenen Interessen. Sie haben Zugang zur Verwaltung und sind zufrieden, wenn sie ihre Klientel bedienen können. Staatspolitische Gesichtspunkte, wie vor allem die Wahrnehmung der Allgemeininteressen gelten ihnen wenig. Die Demokratie benötigt Parlamentsmitglieder, die auf das grosse Ganze blicken und sich im Plenum und in den Kommissionen einbringen. Sie ringen um Kompromisse und bringen damit Mehrheitsbeschlüsse zustande. Dadurch wird das Parlament ein ernstzunehmender Gesprächspartner der Regierung. Ein Parlament, das – wie Bundesrat Berset am 22. Dezember 2020 in der Sendung SRF-Sternstunden erstaunt sagte – «sich in die Ferien gebracht hat», verweigert sich seiner eigentlichen Aufgabe. Die Folgen für die schweizerische Referendumsdemokratie sind fatal.

Aber warum ist die Referendumsdemokratie tangiert?

Die Referendumsdemokratie knüpft an das Parlament an, denn dem fakultativen oder obligatorischen Referendum unterliegen nur Erlasse, die das Parlament vorgängig beschlossen hat. Ein untätiges, nur mit der Wahrung von Partikularinteressen beschäftigtes Parlament schädigt die direkte Demokratie. Diesen Weg hat die Bundesversammlung seit dem 15. März 2020 beschritten. Die Coronakrise hat eine Entwicklung, die sich schon lange abzeichnete, sichtbar gemacht. Die Abstimmung vom 13. Juni 2021 kann, wie immer sie auch ausgeht, das nicht mehr korrigieren. Die Wähler müssen in der Zukunft dafür sorgen, dass die Parlamentarier ehrliche «Abgeordnete des Volkes» und nicht egoistische Krämer und Verbandsvertreter gegenüber der mächtigen Verwaltung sind. Tun sie dies nicht, so verkümmern Parlamentarismus und direkte Demokratie. 

Herr Kley, vielen Dank für das ­Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Beziehungen Deutschland – Russland: «Eine Aussöhnung unter den Menschen, unabhängig davon, wie wir die Politik im jeweiligen Land beurteilen»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Lage in der Ukraine spitzte sich in den letzten Tagen wieder zu, obwohl Putin zunächst versucht hatte, die Situation an der Grenze zur Ukraine etwas zu entschärfen und damit Luft aus der angespannten Situation zu nehmen. Die westlichen Medien sehen jedoch immer in Putin den Aggressor und blenden die Rolle des Westens, sprich der USA im Verbund mit der Nato, völlig aus. Was hat sich an der Grenze zur Ukraine abgespielt? 

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Bevor es die Truppenkonzentration an der Grenze zur Ukraine gab, hatte eine grosse Mobilisierung innerhalb der Ukraine in Richtung Donbas stattgefunden. Auch gab es etliche Signale, die aus russischer Sicht bedrohlich erscheinen mussten. 

Was waren das für Signale?

Man hat von ukrainischer Seite das Minsk-II-Abkommen in Frage gestellt. Dazu kam ein Verbot der russischen Sprache, das in westlichen Medien kaum thematisiert wurde. Im Februar gab es ein entsprechendes Dekret, dass bei offiziellen Handlungen auch in den russischsprachigen Gebieten, ukrainisch gesprochen werden muss. Die Ukraine ist eigentlich ein zweisprachiges Land. Es gibt Gebiete im Osten, in denen überwiegend russisch gesprochen wird, und Gebiete im Westen, in denen vornehmlich ukrainisch gesprochen wird. Das ist ein ganz sensibles Thema.  

Solche Dinge hört man in unseren Leitmedien höchstens einmal in einem Nebensatz.  

Auf jeden Fall gab es die Konzentration an der Grenze, was in den Medien thematisiert wurde, und zwar in der Art, dass Putin jetzt mit einem Einmarsch in die Ukraine drohe oder sogar Europa bedrohe. Das war der Spin, der hier erzeugt wurde. 

Was verbirgt sich hinter dem Spin?

Was überhaupt nicht erwähnt wurde, ist das US-Manöver mit Nato-Beteiligung – mit dem vielsagenden Titel «Defender». Das ist ein jährliches Grossmanöver, das die schnelle Verlegungsmöglichkeit von schwerem militärischen Gerät an die russische Westgrenze oder in deren Nähe trainiert. In den geraden Jahren sollte das Manöver an der russischen Nordwestgrenze, also in Polen und im Baltikum, stattfinden und in ungeraden Jahren Richtung Balkan und Schwarzes Meer. 

Das empfindet Russland als Bedrohung. 

Es befinden sich ungefähr 30 000 US- und Nato-Soldaten auf dem Weg in den Balkan, um dort ihre Manöver abzuhalten. Ein Teil der Übung findet auch im Schwarzen Meer statt, hier liegt auch die Halbinsel Krim. Aus russischer Sicht ist das eine Bedrohung. Die Vorbereitungen fanden statt, ohne dass die westlichen Medien darüber nennenswert berichtet und den ganzen Vorgang thematisiert und vielleicht auch kritisch hinterfragt hätten. 

Ich kann mich nicht erinnern, dass das in den grossen Medien thematisiert wurde, schon gar nicht mit der Konsequenz, die sich für Russ­land daraus ergibt …

Bei uns gab es vereinzelt ­Meldungen, vor allem in lokalen Zeitungen in Deutschland, weil Truppenbewegungen über Deutschland gingen. Das Besondere daran ist, dass fast alle Bal­kanstaaten Teil dieses Manövers sind, inklusive des völkerrechtlich umstrittenen Kosovos. Es gibt eine Ausnahme. Serbien ist der einzige Staat auf dem Balkan, der nicht an diesem Manöver teilnimmt, aber alle anderen Staaten wie Bosnien-Herzegowina, Nord-Mazedonien Albanien etc. sind Teil dieses Grossmanövers. Man kann sich vorstellen, dass man das sowohl von russischer als auch von serbischer Seite mit Sorgen betrachtet. 

Was in Deutschland besonders auffällt, ist die Stellungnahme der Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, die sich klar gegen Russland positioniert und den Abbruch des Ausbaus der Gas-Pipeline Nord Stream 2 fordert. Was entwickelt sich in Deutschland?

In der Ostpolitik nenne ich die Grünen oftmals den rechten Flügel im Bundestag. Sie sind in diesen Fragen die Partei, die am aggressivsten auftritt. Auch in der Ukraine-Krise 2013/2014 waren es die Grünen, die jeweils die nächste Eskalationsstufe ins Gespräch brachten. 

Wie muss man sich das vorstellen?

Sie waren z. B. die ersten, die den Ausschluss Russlands aus der G-8 gefordert hatten. Und diese Haltung der Grünen wird in der Bevölkerung gar nicht richtig wahrgenommen. Die Grünen gelten immer noch als «linke Partei». Sie sind tatsächlich diejenigen, die fordern, dass Nord Stream 2 abgebrochen wird, obwohl die Pipeline nahezu fertiggestellt und dazu ein privatwirtschaftliches Projekt ist, das ohne Bruch von Verträgen gar nicht gestoppt werden kann. Ein Ende des Projekts zum jetzigen Zeitpunkt hätte nicht nur enorme privatwirtschaftliche Kosten, sondern auch öffentliche und politische. Und mittelfristig wird es Bedarf an Gas geben, das ja nicht allein zur Energiegewinnung genutzt wird, sondern auch in der chemischen Industrie.

Was wäre denn die Alternative zu der Pipeline?

Ja, das ist es gerade. Das Ganze ist natürlich ökologisch absolut widersinnig. Denn die konkrete Alternative ist US-amerikanisches Fracking-Gas, das über Terminals, die mit Milliarden an Steuergeldern subventioniert wurden, auf den europäischen Markt gebracht werden. Dieses US-Gas, das als Flüssiggas geliefert wird, ist viel umweltschädlicher, weil bei der Gewinnung von Fracking-Gas ein Vielfaches an Methan ausströmt. Damit ist es viel klimaschädlicher als konventionelles Gas und zusätzlich noch teurer. Einmal ganz abgesehen davon, dass das Gas mit Schiffen Tausende von Seemeilen transportiert werden muss, was der Umwelt auch nicht gerade zuträglich ist. Trotzdem wird mit grossem Aufwand versucht, das Gas auf den europäischen Markt zu bringen und gleichzeitig das russische Gas zu stoppen. Dabei wird dann Nawalny oder irgendetwas anderes vorgeschoben. Die Grünen sind hier die Speerspitze in der deutschen antirussischen Diskussion.

Lässt sich das erklären, warum die «Grünen», sich gerne als linke Partei geben, aber im Grunde genommen transatlantische Politik machen? Haben sie sich nicht bereits 1999 im Krieg gegen Serbien auf die Seite der US-Kriegsallianz gestellt? Gemäss den Äusserungen von Frau Baerbock und Ihren Erklärungen dazu wählt man mit den Grünen also eine Kriegspartei. 

Zunächst muss man das erst einmal konstatieren. Sie haben das richtig gesagt. 1999, als der Krieg gegen Serbien begann, waren die Grünen noch kein halbes Jahr in der Regierung. Dieser Krieg war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Das wurde sogar später vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder zugegeben. Er hat öffentlich gesagt, dass die Bombardierung von Jugoslawien völkerrechtswidrig gewesen sei. Der Grüne Aussenminister Josef Fischer war innerhalb der Regierung der aggressivere Teil. 

Wie funktioniert das ideologisch?

Dahinter steckt der sogenannte Menschenrechtsimperialismus. Man definiert sich als Menschenrechtspartei. Wenn in einem anderen Land die Menschenrechte sehr stark verletzt werden, leitet man daraus den Anspruch ab, dort militärisch zu intervenieren. Oftmals ergreift man auch Sanktionen. Gegen Serbien ging man militärisch vor. Ich bezeichne das als neue Form des Menschenrechtsimperialismus, und hier sind die Grünen sehr anfällig. Sie haben auch bisher eine gewisse Glaubwürdigkeit, weil das einen hohen Stellenwert in ihrer Rhetorik und in ihrem politischen Programm hat. So können die Menschenrechte missbraucht werden, denn mit wirklicher Menschenrechtspolitik hat das nichts zu tun.

Lässt sich diese Haltung zum Krieg auch sonst in der Politik der Grünen erkennen?

Wenn man sieht, wer bei ihnen für die Ostpolitik zuständig ist, ob das im Bundestag, im Europaparlament oder bei der Heinrich-Böll-Stiftung ist, dann sitzen in den ganzen Schlüsselpositionen der Ost- und Russlandpolitik Falken, absolute Scharfmacher, die man ohne weiteres mit den Neocons in den USA vergleichen kann. Sie führen eine ähnliche Rhetorik und stammen zum Teil ebenfalls aus dem linken Spektrum. Vor zwei Wochen gab es im Rot-Rot-Grünen Senat im Land Berlin, bestehend aus SPD, DIE LINKE und den Grünen, eine bemerkenswerte Begebenheit. Die Senatsverwaltung für Gesundheit hat die SPD inne. Die Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci wollte mit Russland Gespräche führen über eine spätere Lieferung des Impfstoffs Sputnik  V, falls die EMA, die Europäische Zulassungsbehörde für Arzneimittel, den Impfstoff für den europäischen Markt zulässt. Durch ein Veto der Grünen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop sind die Gespräche abgebrochen worden. Sie begründete das Veto explizit mit dem Fall Nawalny, weil aus Sicht der Grünen von einer Vereinbarung über den Impfstoff allein ­Putin und der Kreml profitierten.

So weit geht das?

Ja, das ist so absurd. Aufgrund dieser Argumentation müsste man Astra-Zeneca stoppen mit einem Verweis auf den Umgang mit Julian Assange. Es ist auffallend, mit welcher Aggressivität sich die Grünen verhalten, auch wenn es um Fragen der Gesundheit der Bevölkerung geht. Diese teils fanatische antirussische Stimmung lässt mich natürlich mit Sorgen auf die Bundestagswahlen schauen. Sollten die Grünen tatsächlich ins Kanzleramt einziehen, kann man sich vorstellen, dass die antirussische Stimmung auch die Politik massgeblich bestimmen wird.

Leider findet sich diese feindselige Einstellung nicht nur bei den Grünen in Deutschland. Wir haben doch in vielen europäischen Ländern dieses Phänomen, dass man sich manchmal schon fast wieder im Kalten Krieg wähnt.

Ja, das ist tatsächlich so. Ein Beispiel verdeutlicht das. San Marino ist ein kleiner souveräner Staat, der ebenfalls wie die Schweiz eine alte Demokratie ist. Das ist ein Kleinststaat, der völkerrechtlich aber als souveräner Staat anerkannt ist. Er ist Uno-Mitglied mit gleichem Stimmengewicht wie z. B. China, Russland oder die USA. Er ist nicht Mitglied der EU. Er war aber von Corona sehr betroffen und hat im Januar und ­Februar verzweifelt versucht, von der EU Impfstoffe zu bekommen. Er hat trotz hoher Fallzahlen nichts erhalten, keine einzige Dosis, auch nicht von Italien. Er hat sich dann an Russland gewandt, und die Russen haben San Marino den Impfstoff Sputnik  V geliefert. Inzwischen sind nahezu alle Menschen dort erfolgreich geimpft, so dass Restaurants, Cafés und Geschäfte wieder geöffnet haben. Es hat gut funktioniert. Jetzt steht San marino aber vor einem Problem, wenn von Italien und der EU diese Impfung nicht anerkannt wird.  

Was kann man gegen diese aufgeladene antirussische Stimmung tun?

Man muss die Menschen darüber aufklären. Ich versuche, das in Veranstaltungen zu thematisieren. Erst kürzlich auf einer Veranstaltung am 8. Mai, dem Ende des fürchterlichen Zweiten Weltkriegs und dem Sturz des Nazi-Regimes, habe ich daran erinnert, wie die Geschichte war. Die wird heute auch verdreht. 

Inwiefern?

Es gibt eine Resolution des EU-Parlaments vom September 2019, die den Beginn des Zweiten Weltkriegs auf die Verabschiedung des Hitler-Stalin-Pakts legt und damit der Sowjetunion einen wesentlichen Teil der Verantwortung zuschiebt. Damit werden der Überfall auf Polen, die Einverleibung der Tschechoslowakei und die ganzen Kriegsvorbereitungen relativiert.

Hatte die Resolution eine hohe Zustimmung erhalten?

Sie wurde sage und schreibe von über 80 % der Parlamentarier angenommen. Man versucht, die Geschichte entlang der geopolitischen Lage zu verschieben und damit neu zu schreiben. Es steht sogar in der Resolution, dass die Geschichtsbücher in Europa neu geschrieben werden sollten. Das EU-Parlament verlangt also mit 80 %iger Zustimmung, die Geschichtsbücher neu zu schreiben und die Denkmäler einzureissen. Diese Resolution ist unfassbar. 

Am 22. Juni findet der 80. Jahrestag zum «Unternehmen Barbarossa» statt, also zum Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion und dem beginnenden Vernichtungskrieg. Dessen muss man sich bewusst sein. Das war ein Vernichtungskrieg, der sich vom Krieg im Westen, z. B. gegen Frankreich, unterschied. Dieser Krieg wollte erklärtermassen den Grossteil der dort lebenden Menschen vernichten.

Ist etwas Offizielles in Deutschland geplant, um der Millionen unschuldiger Opfer in der Sowjetunion und den angrenzenden Staaten zu gedenken?

Die Linksfraktion hat im Bundestag den Antrag für eine Gedenkveranstaltung gestellt. In dieser Woche ist zufälligerweise noch ­Sitzungsperiode. Aber der Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble hat den Antrag abgelehnt, mit der Begründung, man habe keinen Termin gefunden. Das ist natürlich ein Vorwand. 

Um nochmals auf Ihre Frage zurückzukommen, was man tun könne. Das ist ein wichtiger Punkt, man muss an die Geschichte erinnern und sich in gewissem Sinne auch gegen die Propaganda stellen, die auf eine Umdeutung der Geschichte abzielt. Wir als LINKE fordern auch, dass der 8. Mai, der Tag der Unterzeichnung der Kapitulation und damit das Ende des Krieges, ein gesetzlicher Feiertag wird. Letztes Jahr, am 75. Jahrestag, hatten wir das einmalig, es war ein gesetzlicher Feiertag. In einigen Bundesländern gilt er heute als staatlicher Gedenktag, das heisst, es ist kein arbeitsfreier Tag, aber es ist ein Tag, an dem man offiziell des Kriegsendes gedenkt. Damit kann man versuchen, einer Geschichtsklitterung entgegenzuwirken.

Die Bedeutung des 8.Mai geht doch über das Ende des Krieges hinaus. Dazu gehört doch auch das Bewusstsein, dass so etwas nie wieder geschehen darf, nirgends auf der Erde.

Mit dem 8. Mai wird der «Schwur von Buchenwald» verbunden: «Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus». Man hatte damals beides zusammengedacht und auch zusammen gesehen. Das ist 1999 von Josef Fischer aufgespaltet worden. Er hat direkt gesagt, diese Formel sei für die Gegenwart nicht mehr gültig. 

Mit welcher Begründung?

Seine Erklärung war, dass es damals im Kosovo unter Milošević angeblich Faschismus gegeben habe, gegen den man mit Krieg vorgehen müsse. Das ist natürlich unsäglich. Und bei den Gedenkveranstaltungen am 8. Mai gab es Leute, die den Krieg und auch die Millionen Opfer der Sowjetunion für den Sieg über die Nazis ganz ausblendeten. Sie verweisen nur noch auf den Faschismus, aber sehen den Zweiten Weltkrieg nicht mehr in diesem Kontext. Das ist natürlich ein Problem, denn für mich gehört das zusammen. In der heutigen Diskussion von Faschismus und Antifaschismus ist die ganze Kriegsfrage ausgeblendet. Man ist ein Faschist, wenn man rassistische und antisemitische Ideen im Kopf hat, was natürlich alles kritikwürdig ist, aber das eigentliche Ziel des Nazi-Regimes war der Zweite Weltkrieg und der Versuch, die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs umzudrehen und die Sowjetunion zu erobern, um «Lebensraum im Osten» zu schaffen. 

Die jüngere Generation hat hier doch zu wenig Geschichtsbewusstsein

Was ich auf den Veranstaltungen in Aachen immer sage, ist, dass Aachen einen ganz engen Bezug zu Frankreich hat. Frankreich wurde ja über Jahrzehnte als Erzfeind der Deutschen behandelt, im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, im Ersten Weltkrieg und im Zweiten Weltkrieg. Aus dieser Erfahrung heraus sah man nach dem Zweiten Weltkrieg die Notwendigkeit, eine deutsch-französische Aussöhnung zu erreichen. 

Wie hat man das damals versucht?

Dazu gab es die Elysee-Verträge. Diese hatten einen starken zivilgesellschaftlichen Teil, und darin waren Austauschprogramme vorgesehen. Ich bin selbst ein Kind dieser Elysee-Verträge, weil ich damals mit 11, 12 Jahren zur Fussballjugend gehörte. Da hiess es einmal, wir fahren jetzt nach Paris. Wir wurden von den Eltern der französischen Fussballmannschaft der C-Jugend aufgenommen. Ich reiste dorthin, ohne mir viel zu überlegen, und erlebte in der Familie einen feierlichen Empfang. Und für die Familie war das eine feierliche Überwindung, ein deutsches Kind aufzunehmen, ca. 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hatte auf der zivilgesellschaftlichen Ebene eine deutsch-französische Aussöhnung gegeben. 

Müsste so etwas heute nicht in allen verfeindeten Ländern geschehen?

Ja, das finde ich etwas Grossartiges, und es ist überall anerkannt. Aber mit Russland hat es das nie gegeben, und das wäre so zentral gewesen. Dafür trete ich ein, und zwar unabhängig davon, wie ich die Politik von Putin finde. Das ist auch unabhängig davon, wie ich die Afrikapolitik Frankreichs beurteile. Wir brauchen die Aussöhnung unter den Menschen, unabhängig davon, wie wir die Politik im jeweiligen Land beurteilen. Nur wenn die Menschen sich näherkommen und gegenseitiges Verständnis sowie Vertrauen entsteht, wenn eine Versöhnung sich vollzieht, hat der Frieden eine langfristige Chance. Darauf sollte man hinarbeiten. Kriegsrhetorik ist völlig fehl am Platz. 

Herr Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Ich fordere beide Seiten dringend auf, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen strikt einzuhalten»

Medienmitteilung zum Nahen Osten

Die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, rief am Samstag [15. Mai 2021] zur strikten Einhaltung des Völkerrechts auf und appellierte an alle Seiten, Schritte zur Deeskalation der zunehmend alarmierenden Situation in Israel und dem Besetzten Palästinensischen Gebiet zu unternehmen.

«In den letzten 10 Tagen hat sich die Situation im Besetzten Palästinensischen Gebiet und in Israel in einem alarmierenden Tempo verschlechtert. Die Situation in Sheikh Jarrah im besetzten Ost-Jerusalem, ausgelöst durch die Androhung von Vertreibungen [evictions] palästinensischer Familien, die starke Präsenz israelischer Sicherheitskräfte und die Gewalt rund um die Al-Aksa-Moschee während des Ramadan, die schwere Eskalation der Angriffe aus und auf Gaza und die schockierende rassistische Hetze in Israel haben zu bösartigen Angriffen und einer steigenden Zahl von Opfern im Besetzten Palästinensischen Gebiet und in Israel geführt», sagte Hochkommissarin Bachelet.

«Anstatt zu versuchen, die Spannungen zu beruhigen, scheint die aufrührerische Rhetorik von Führern auf allen Seiten eher darauf abzuzielen, die Spannungen zu schüren, als sie zu beruhigen. Wieder einmal sehen wir, wie Menschenleben vernichtet werden und verängstigte Menschen gezwungen sind, zu fliehen oder sich in ihren Häusern zu verstecken. Sie sind Angriffen ausgesetzt, die von beiden Seiten in einer Weise ausgeführt werden, dass sie auf schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht hinauslaufen können.»

Bachelet warnte, dass der Abschuss einer grossen Anzahl unterschiedslos wirkende Raketen [indiscriminate rockets] durch bewaffnete palästinensische Gruppen auf Israel, auch auf dicht besiedelte Gebiete, in klarer Verletzung des humanitären Völkerrechts einem Kriegsverbrechen gleichkomme.

Im Gazastreifen, wo es umfangreiche israelische Luftangriffe auf dicht besiedelte Gebiete und Beschuss vom Land und vom Meer aus gegeben hat, besteht die Sorge, dass einige Angriffe der israelischen Streitkräfte auf zivile Objekte gerichtet waren, die gemäss humanitärem Völkerrecht die Voraussetzungen, als militärische Ziele zu gelten, nicht erfüllen.

Die Nichteinhaltung der Prinzipien von Unterscheidung, Verhältnismässigkeit und Vorsicht bei der Durchführung militärischer Operationen stellt eine schwerwiegende Verletzung des humanitären Völkerrechts dar und kann auf ein Kriegsverbrechen hinauslaufen.

«Ich fordere beide Seiten dringend auf, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen strikt einzuhalten. Israel hat als Besatzungsmacht die Pflicht, den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in den Gaza­streifen zu gewährleisten», sagte die Hochkommissarin. «Diejenigen, die für Verstösse verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.»

Die Hochkommissarin forderte die israelische Regierung ausserdem auf, Massnahmen zu ergreifen, um den beunruhigenden Ausbruch von Gewalt zwischen ultrarechten Gruppen – darunter israelische Siedler – und palästinensischen Bürgern Israels in Städten wie Lod, Jaffa, Ramle und Haifa einzudämmen.

Besonders besorgniserregend ist der offensichtlich hochgradig organisierte Charakter einiger Angriffe sowie die hetzerische Sprache, die einer Aufstachelung zu Rassenhass und religiöser Gewalt gleichkommen könnte.

Berichte deuten darauf hin, dass in einigen Fällen Siedler in organisierten Konvois aus israelischen Siedlungen im Westjordanland anreisten, um sich lokalen Gruppen anzuschliessen. Gewalttätige Angriffe wurden auch von einigen palästinensischen Bürgern Israels verübt. In Bat-Yam, Jaffa und Akko kam es in dieser Woche zu gewalttätigen Ausschreitungen, einschliesslich Angriffen auf Kultstätten und kulturelles Erbe.

«Ich bin besonders besorgt über Berichte, dass die israelische Polizei nicht eingriff, als palästinensische Bürger Israels gewaltsam angegriffen wurden, und dass soziale Medien von ultra-rechten Gruppen genutzt werden, um Menschen dazu zu bringen, ‹Waffen, Messer, Knüppel, Schlagringe› mitzubringen, um sie gegen palästinensische Bürger Israels einzusetzen», sagte die Hochkommissarin.

Es gibt auch Berichte über exzessive und diskriminierende Gewaltanwendung durch die Polizei gegen palästinensische Bürger Israels, von denen Hunderte im Zusammenhang mit Gewaltvorfällen festgenommen wurden.

«Ich erinnere die Regierung Israels an ihre Pflicht, alle ihre Einwohner und Bürger ohne Diskriminierung aufgrund von Vorstellungen von ‹Nationalität›, religiöser oder ethnischer Herkunft zu schützen und Gleichbehandlung vor dem Gesetz zu gewährleisten», sagte Bachelet. «Die politischen Führer müssen sich jeglicher Handlungen enthalten, die die Spannungen anheizen, aber sie müssen Massnahmen ergreifen, um die Aufstachelung zu Hass und Gewalt zu verhindern und anzugehen, und sie müssen sicherstellen, dass alle Bürger Israels vollständig und gleichermassen geschützt werden, auch durch präventive Massnahmen.»

Die Hochkommissarin sagte, sie sei auch zutiefst beunruhigt über den berichteten Einsatz von scharfer Munition durch israelische Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit Protesten und Zusammenstössen im Westjordanland, der allein am 14. Mai zum Tod von 10 Palästinensern führte.

Jegliche Gewaltanwendung durch die ISF im Westjordanland muss sich an die Grundprinzipien für den Einsatz von Gewalt und Schusswaffen durch die Strafverfolgungsbehörden halten, die insbesondere besagen, dass Schusswaffen nur gegen Personen eingesetzt werden dürfen, die eine unmittelbare Bedrohung für das Leben oder die Gefahr schwerer Verletzungen darstellen – und nur als letztes Mittel. In einer Besatzungssituation kann der ungerechtfertigte und illegale Einsatz von Schusswaffen durch Ordnungskräfte ein Kriegsverbrechen darstellen. 

Bachelet forderte unabhängige, transparente und gründliche Untersuchungen aller Vorwürfe von Verstössen gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht.

«Wir wissen aus der jüngsten Geschichte, wie sich eine solch ernste Situation mit völlig katastrophalen Folgen für Tausende von Zivilisten entwickeln kann», sagte Bachelet. «Es kann keinen Sieger und keinen nachhaltigen Frieden geben, wenn der Kreislauf der Gewalt fortgesetzt wird. Ich fordere alle Seiten – und Staaten mit Einfluss – auf, sofortige Massnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung des Völkerrechts zu gewährleisten, die Spannungen abzubauen und darauf hinzuarbeiten, den Konflikt zu lösen, anstatt ihn anzuheizen.» 

Quelle: www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=27095&LangID=E

Genf, 15. Mai 2021

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

 

Verbrechen gegen die Menschheit

«Die Hamas ist ebenfalls verantwortlich für Kriegsverbrechen, offenkundig, aber vor allem gegen ihr eigenes Volk. Der Aufbau einer aggressiven Kriegsmaschinerie ohne jeglichen Schutz für die Bevölkerung gegen das israelische Militär ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Aber wir sind Israelis, also müssen wir unsere eigenen Kriegsverbrechen diskutieren. Diese häufen sich in der aktuellen Operation, die für einen Moment so aussah, als ob sie mit mehr Vorsicht durchgeführt würde als die vorangegangenen Operationen. Jetzt fliesst das Blut von Dutzenden von Kindern in den Strassen von Gaza als Ergebnis der Verbrechen unserer Piloten und Soldaten.»

Quelle: Gideon Levy: In Israel nobody opposes the war, May 16, 2021, Haaretz

J’accuse! Schlimmer noch als die Dreyfus-Affäre

Uno-Sonderberichterstatter über Folter, Professor Dr. Nils Melzer, prangert die Assange-Affäre als internationalen Skandal richterlichen Fehlverhaltens und Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit in den USA, in Grossbritannien, Schweden und Ecuador an

von Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Unabhängiger Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung

Es mag unnötig erscheinen, die Binsenweisheit zu wiederholen, dass Demokratie von Transparenz und Rechenschaftspflicht abhängt. Und doch, wie oft wurde die demokratische Ordnung in der jüngsten Vergangenheit von unseren Regierenden verraten? Wie oft haben die Medien ihre Wächterfunktion aufgegeben, wie oft haben sie einfach die Rolle eines Sprachrohrs der Mächtigen – ob Regierung oder transnationale Konzerne – übernommen? 

Die Verfolgung unbequemer Journalisten durch Regierungen und ihre Helfer in den Medien ist einer der vielen Skandale und ein Verrat an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die wir heute in den USA und vielen europäischen Staaten mit Sorge beobachten. Das vielleicht skandalöseste und unmoralischste Beispiel für die multinationale Korrumpierung der Rechtsstaatlichkeit ist die «lawfare», die gegen Julian Assange, den Gründer von Wiki­leaks, geführt wird, der im Jahr 2010 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit aufdeckte, die von den Vereinigten Staaten und ihren Nato-Verbündeten in Afghanistan und im Irak begangen wurden.

In einer Welt, in der Rechtsstaatlichkeit eine Rolle spielt, wären die Kriegsverbrechen umgehend untersucht worden, in den betroffenen Ländern wären Anklagen erhoben worden. Aber nein, der Zorn der Regierungen und der Medien konzentrierte sich auf den Journalisten, der es gewagt hatte, diese Verbrechen aufzudecken. Die Verfolgung dieses Journalisten war ein koordinierter Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit durch die Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Schweden, dem sich später auch Ecuador anschloss. Die Instrumentalisierung der Justiz – nicht um Gerechtigkeit zu üben, sondern um einen Menschen zu vernichten – zog immer mehr Kreise in eine gemeinschaftlich-kriminelle Verschwörung aus Verleumdung, erfundenen Anschuldigungen, Ermittlungen ohne Anklage, bewussten Verzögerungen und Vertuschungen.

Im April 2021 veröffentlichte mein Kollege, Professor Nils Melzer, der Uno-Berichterstatter über Folter, eine akribisch recherchierte und methodisch unangreifbare Dokumentation dieser schier unglaublichen Geschichte. Sein Buch kann durchaus als das «J‘accuse» unserer Zeit bezeichnet werden, das uns daran erinnert, wie unsere Behörden uns verraten und wie vier Regierungen bei der Korrumpierung der Rechtsstaatlichkeit zusammengearbeitet haben. 

Wie Emile Zola, der 1898 in Frankreich das Lügengeflecht um die skandalöse gerichtliche Verurteilung des französischen Oberst Alfred Dreyfus aufdeckte, schockiert uns Nils Melzer 122 Jahre später mit dem Beweis, wie Länder, die sich angeblich der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten verpflichtet fühlen, mit der Komplizenschaft der Mainstream-Medien das demokratische Ethos verraten können. Melzer schreibt über «konkrete Beweise für politische Verfolgung, grobe Willkür seitens der Justizverwaltung und vorsätzliche Folter und Missbrauch».¹ Dies ist ein enorm wichtiges Buch, weil es von uns verlangt, unsere «Komfortzone» zu verlassen und von unseren Regierungen Transparenz und Rechenschaftspflicht zu fordern. In der Tat ist es ein Skandal, dass keine der vier in das Komplott verwickelten Regierungen mit Professor Melzer kooperierte und nur mit «politischen Plattitüden» antwortete. Auch ich habe die gleiche mangelnde Kooperation von mächtigen Ländern erlebt, an die ich Verbalnoten über Menschenrechtsverletzungen gerichtet habe – keines von ihnen hat zufriedenstellend geantwortet.

Melzer erinnert uns an Hans-Christian Andersens Fabel «Des Kaisers neue Kleider». In der Tat halten alle am Assange-Komplott Beteiligten konsequent die Illusion der Legalität aufrecht und wiederholen die gleichen Unwahrheiten, bis ein Beobachter sagt – «aber der Kaiser hat keine Kleider!». Das ist der Punkt. Unsere Justizverwaltung hat keine Kleider, und statt die Gerechtigkeit voranzutreiben, beteiligt sie sich an der Verfolgung eines Journalisten mit allen Konsequenzen, die dieses Verhalten für das Überleben der demokratischen Ordnung hat. Melzer überzeugt uns mit Fakten, dass wir in einer Zeit der «Post-Wahrheit» leben, und dass es unsere Verantwortung ist, diese Situation jetzt zu korrigieren, damit wir nicht in der Tyrannei aufwachen.² 

¹ Nils Melzer, Der Fall Julian Assange, Piper Verlag, München 2021, S. 14. ISBN 978-3-492-07076-8
Siehe auch:
https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-2-vom-9-februar-2021.html#article_1170
www.dw.com/en/the-case-of-julian-assange-rule-of-law-undermined/a-57260909
www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange

² Ebd. S. 326–331

www.alfreddezayas.com

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

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