Das Rahmenabkommen – «ein zu grosser Eingriff in die Souveränität der Schweiz»

«Das grösste Problem ist die dynamische Weiterentwicklung»

Interview mit Nationalrat Walter Müller

Nationalrat Walter Müller, FDP (Bild thk)
Nationalrat Walter Müller, FDP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie das Rahmenabkommen mit der EU?

Nationalrat Walter Müller So wie das Rahmenabkommen heute ausgehandelt ist, kann ich diesem nicht zustimmen. Das ist ein zu grosser Eingriff in die Souveränität der Schweiz.

In welchen Punkten wird das deutlich?

Das grösste Problem ist die dynamische Weiterentwicklung. Das heisst, in gewissen Fragen sind wir nicht mehr souverän, was soviel bedeutet, dass wir nicht mehr souverän entscheiden können.

Wie sieht das konkret aus?

Die Bereiche, die im Rahmenabkommen geregelt werden, sind die fünf bestehenden Marktzugangsabkommen. Dazu gehört das Landverkehrsabkommen, das Landwirtschaftsabkommen, das Luftverkehrsabkommen, das Abkommen über technische Handelshemmnisse, die Personenfreizügigkeit und alle künftigen Marktzugangsabkommen. Hier ist die Regelung so, wenn die EU eine Weiterentwicklung macht, neue Gesetze erlässt und der Schweiz das notifiziert, können wir im Rahmen des demokratischen Prozesses sagen, wir übernehmen das oder auch nicht. Vielleicht lassen sich noch ein paar Optimierungen durchführen, aber letztlich müssen wir es übernehmen. Das Problem sind wir ein Stück weit selbst. Das sieht man an der neuen EU-Waffenrichtlinie im Zusammenhang mit Schengen.

Inwiefern?

Wir sind EU-freundlicher als manche Mitgliedsländer. Wenn ein Mitgliedstaat etwas nicht übernehmen will, dann hat die EU keine wirklich harten Massnahmen, um das Mitgliedsland zu zwingen – oder wendet sie zumindest nicht an. Bei uns ist es anders. Die EU kann Gegenmassnahmen ergreifen, die zwar verhältnismässig sein müssen, aber bei uns wird das immer dazu führen, dass wir aus Respekt vor drohenden Gegenmassnahmen uns zu einem Ja durchringen.

Was hat diese Strategie für Folgen?

Das führt doch dazu, dass im Abstimmungskampf immer so argumentiert wird: Passt auf, wenn ihr nein sagt, dann wird es Gegenmassnahmen geben.

Was kann die EU tatsächlich für Massnahmen ergreifen?

Sie können die Teilnahme am Forschungs- und Innovationsprogramm aussetzen oder nicht mehr erneuern. Ein weiteres Beispiel ist die Nichtgewährung der Börsenäquivalenz. Die EU wird immer geeignete Massnahmen finden, um uns zu piesacken. Wenn die EU mit der Schweiz ungnädig umgeht, ist es auch ein Zeichen an die anderen Mitgliedsländer.

Wie beurteilen Sie die ganze Diskussion um die Schiedsgerichtsbarkeit. Ist es nicht der EuGH, der am Ende entscheidet?

Der EuGH wird niemals in irgendeiner Form eine institutionelle Lösung akzeptieren, die die Rechte des EuGH in Frage stellt. Dort, wo der EuGH zuständig ist, wo er das Recht auslegt, ist das natürlich bindend. Ein Gericht wird sich selbst nicht in Frage stellen. Ich bin ursprünglich ein Befürworter der Schiedsgerichtslösung gewesen, inzwischen ist es klar, dass es diese Unabhängigkeit, die wir uns erhoffen, nicht bringen wird. Die ganze rechtliche Auseinandersetzung ist aber meiner Meinung nach nicht so bedeutend wie die dynamische Weiterentwicklung, bei der wir laufend EU-Recht übernehmen. Ich denke, dass das die Souveränität der Schweiz nachhaltig verändern wird.

Wie sehen Sie einen Weg für die Schweiz?

Der bilaterale Weg ist für uns wichtig und soll konsolidiert werden. In der EU haben sich 28 Staaten zusammengeschlossen und haben für sich einen gemeinsamen Markt geschaffen. Derjenige, der nicht dabei ist, ist schlechtergestellt, allein aus dem Grund, dass die anderen sich gegenseitig begünstigen. Deshalb müssen wir zu diesem Markt Zugang haben. Allerdings darf der Preis dafür unsere Institutionen nicht in Frage stellen.

Sind vom Rahmenabkommen noch weitere Abkommen betroffen?

Das Stromabkommen, das schon weitgehend verhandelt ist, würde auch darunter fallen. Ebenso will die EU auch das Freihandelsabkommen von 1972 modernisieren. Somit greift das Rahmenabkommen in sehr weite Bereiche ein. Ich könnte mir auch noch vorstellen, dass es mit einem modernisierten Freihandelsabkommen schwieriger werden dürfte, mit anderen Ländern Freihandelsabkommen abzuschliessen, sei das alleine oder im Rahmen der EFTA. Bei möglichen Verhandlungen muss das unbedingt beachtet werden.

Nach dem, was Sie jetzt angedeutet haben, sieht es so aus, dass man noch gar nicht genau weiss, wie sich das in Zukunft entwickelt.

Ja, das ist genau einer der entscheidenden Punkte. Dürfen wir als souveräner Staat in solch eine Black-Box eintreten, in der wir als Land die Zukunft in weiten Teilen nicht mehr souverän gestalten können und damit einen entscheidenden Pfeiler des Erfolgsmodells Schweiz untergraben? Sowohl privat als auch als Unternehmer würde ich keinen Vertrag unterschreiben, der meine Entscheidungsfähigkeit in Zukunft einschränken würde.

Was könnte man dagegen unternehmen?

Es müsste zu einer konstruktiven Gesprächskultur zwischen der Schweiz und der EU kommen. Wenn Weiterentwicklungen eines Vertrags anstehen, müssen wir nein sagen können, ohne der allgegenwärtigen Drohkulisse seitens der EU. Sonst werden Volksabstimmungen zu Alibiübungen. Das würde unsere Demokratie nachhaltig verändern.

Das wäre aber keine Demokratieförderung …

… nein, nicht in diesem Sinne, sondern im Sinne des Demokratieabbaus. Ich bin für den bilateralen Weg. Wir brauchen den geordneten Marktzugang. Ich will aber ein Abkommen auf Augenhöhe, im gegenseitigen Interesse und Respekt vor unseren Institutionen.

Wie sollte man mit dieser Situation umgehen?

Wenn man nicht im Stande ist, wirklich abzuschätzen, was die Folgen sind, dann bin ich nicht bereit, ein Abkommen zu unterstützen, bei dem ich nicht souverän entscheiden kann. Die Auswirkungen könnte man erst ermessen, wenn die Botschaft des Bundesrates vorliegen würde. Aber alle Vor- und Nachteile und alle positiven und negativen Konsequenzen müssen auf den Tisch. Auch muss man offen und ehrlich die Bereiche bezeichnen, deren Konsequenzen man nicht kennt.

Aber dann müsste das Ergebnis offen bleiben. Aber so, wie der Bundesrat argumentiert, möchte er das Rahmenabkommen.

Der Bundesrat möchte eine Lösung. Und wenn er wirklich den Eindruck gehabt hätte, das Rahmenabkommen sei in allen Bereichen gut und unbestritten, dann meinte ich, hätte der Bundesrat entschieden.

Dann braucht es Nachverhandlungen?

Ja!

Aber, was ist das für ein Verhältnis, wenn der Vertragspartner drohen kann?

Das ist ein ungesundes Verhältnis, ohne gegenseitigen Respekt und schadet dem Vertrauen. Ein institutionalisiertes einseitiges Piesacken hat in Staatsverträgen keinen Platz. Das sogenannte dynamische Verfahren wird unter diesen Bedingungen dann schnell zum Automatismus. Das darf nicht sein.

Herr Nationalrat Müller, herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

Das Völkerrecht muss respektiert werden

thk. In den letzten Wochen und Monaten können wir eine Zuspitzung der internationalen Lage feststellen. Es ist offensichtlich, dass der US-amerikanische Präsident in mehreren Regionen dieser Welt Konflikte schürt, indem er Staaten mit Sanktionen überzieht und ihnen zusätzlich mit Krieg droht. Völkerrechtliche Grundsätze, die die Menschheit aus den bitteren Erfahrungen der verheerenden Kriege im 20. Jahrhundert entwickelt und in internationales Recht gegossen hat, werden von Donald Trump und seiner Entourage mit Füssen getreten. So droht er Venezuela mit Krieg, wenn der legitime Präsident nicht zurücktritt und dem selbsternannten Interims­präsidenten Juan Guaidó die Regierung überlässt. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der allen völkerrechtlichen Grundlagen Hohn spricht.

Dem Iran droht ähnliches Ungemach. Wenn es im Land keinen Regime Change gibt, werden die US-Sanktionen aufrechterhalten und, wie in den letzten Tagen gemeldet, sogar noch verschärft. Auch die Option Krieg ist nicht endgültig vom Tisch, auch wenn die USA sagen, sie wollten keinen Krieg. Am nächsten Tag kann es schon wieder anders sein.

Der Handelskrieg mit China gehört in die gleiche Kategorie des US-amerikanischen Grossmachtstreben und heizt die Spannungen immer mehr an.

Doch nicht nur einzelne Staaten geraten willkürlich in das Visier der USA, sondern auch die Länder, die weiter Handelsbeziehungen zu Iran, Venezuela, Russland oder zu anderen Staaten aufrechterhalten, die in Ungnade der USA gefallen sind. Die Begründungen der USA, warum die Länder eine Gefahr darstellen sollen, sind abenteuerlich und rechtfertigen in keiner Weise ihr Vorgehen.

Allein der Uno-Sicherheitsrat hat die Kompetenz, einen Staat unter ganz bestimmten Umständen mit Sanktionen zu belegen, einseitige Zwangsmassnahmen sind völkerrechtswidrig.

Dass die Völkergemeinschaft, und hier sind vor allem die europäischen Staaten gefordert, zu all dem Treiben schweigt und sich dem Diktat der USA unterwirft, ist sehr bedenklich. Wir haben das Völkerrecht und das muss eingehalten werden. Die Europäer müssen das einfordern, auch wenn der Völkerrechtsbrecher USA heisst.

In den folgenden Artikeln geht es genau um diese Problematik und welche Möglichkeiten einzelne Staaten haben, diesem unsäglichen Grossmachstreben Einhalt zu gebieten. Dass Menschen in der Lage sind, gemeinsam Aufgaben zum Nutzen aller anzugehen und zu lösen, veranschaulicht das Gespräch mit drei Vorstandsmitgliedern des Militär-Sanitäts-Verbandes  Aare Nord-Süd am Ende dieser Ausgabe.

«Maduro ist zum Dialog bereit»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was war die Intention Ihrer Reise?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ich wollte mir vor allem ein Bild von der Situation verschaffen. Venezuela ist im Moment im Brennpunkt der internationalen Politik. Es ist ganz offensichtlich so, dass es Putschbestrebungen gibt, die vor allem von den USA vorangetrieben werden, dokumentiert durch die Anerkennung von Guaidó als selbsternannten Präsidenten Venezuelas. Darüber hinaus war meine Reise auch Ausdruck von Solidarität mit der venezolanischen Bevölkerung gegen militärische Drohungen und gegen die verheerenden Wirtschaftssanktionen. Des weiteren wollte ich auch ein Signal für andere setzen, dass man unbedingt dorthin fahren sollte, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Es sieht dort doch ganz anders aus, als es hier in den Medien vermittelt wird. Auch wollte ich damit die Strategie, Venezuela zu isolieren, durchkreuzen.

Wie stellt sich die Lage in Venezuela dar?

Was die humanitäre Situation anbetrifft, ist die Lage sehr schwierig. Das Land leidet massiv unter den Wirtschaftssanktionen. Sicherlich auch infolge interner Fehler und Misswirtschaft, aber besonders verstärkt durch die Wirtschaftssanktionen. Aber von einer humanitären Katastrophe wie z. B. in Jemen kann nicht die Rede sein. Wenn man durch die Strassen von Caracas geht, sieht man Läden, die gut bestückt sind, das gleiche gilt für die Supermärkte. Auf den Strassen wird Obst verkauft. Auch trifft man keine verhungerten Menschen. Vereinzelt sieht man in den Armenvierteln, dass Menschen im Müll nach Lebensmitteln suchen. Aber eine humanitäre Katastrophe, wie sie hier medial vermittelt wird, ist es nicht. Es ist eine ganz schwierige Situation. Die Wirtschaft ist kollabiert. Es breiten sich – bedingt durch den Mangel an medizinischen Möglichkeiten – in manchen Gegenden Krankheiten aus wie Malaria oder Masern.

Das wird die Menschen sehr beschäftigen.

Selbstverständlich. Das berichtete mir der Leiter der panamerikanischen Gesundheitsorganisation, die WHO Lateinamerikas, die mit der Uno verbunden ist, als ich ihn traf. Auch die Leiterin des Roten Kreuzes in Venezuela bestätigte mir das. Aber man sollte eine Beschreibung der Lage vermeiden, die eine humanitär kaschierte Militärintervention «legitimieren» könnte. Denn das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) bedeutet, dass die humanitäre Lage in einem Land so schlimm ist, dass die internationale Gemeinschaft – damit sind in der Regel die Nato-Staaten gemeint – aus «humanitären» Gründen militärisch inter­venieren müsste. Es ist deutlich, dass der extreme Teil der Opposition in Venezuela versucht, sich für diese Argumentation stark zu machen. Darum ist die Regierung Venezuelas bemüht, diese Begrifflichkeiten zu meiden, damit man das nicht als «Legitimation» für eine Intervention benutzen kann.

Ich möchte noch einmal auf die Versorgungslage zurückkommen. Durch den Boykott der USA ist es für das Land sehr schwierig, an Medikamente heranzukommen. Haben Sie dazu Informationen?

Die Wirtschaftssanktionen verschlimmern die humanitäre Situation drastisch. Es gibt eine aktuelle Studie des US-amerikanischen Center for Economic and Policy Research (CEPR), die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass aufgrund der seit August 2017 bestehenden Sanktionen bereits mindestens 40 000 Menschen gestorben seien. Das betrifft die Schwächsten der Gesellschaft, die auf wichtige Medikamente angewiesen sind. Es gibt ein starkes Bestreben, die Versorgung durch Lebensmittelpakete sicherzustellen, die offenbar eine hohe Prozentzahl der Bevölkerung bekommen. Diese werden über die Nachbarschaftsstrukturen der Consejos Comunales, eine Errungenschaft des Bolivarismus, an die Menschen verteilt. Die venezolanische Regierung beklagt auch, dass durch die Sanktionen mehrere Milliarden US-Dollar blockiert worden sind, die sie für den Import von Lebensmitteln und Medikamenten benötige.

Unsere Medien berichteten immer wieder, Maduro lasse Hilfsorganisationen nicht ins Land und verschlechtere damit die Lage. Wie ist das z. B. mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz?

Ich habe die Vertreterin des Roten Kreuzes und den Vertreter der panamerikanischen Gesundheitsorganisation gesprochen und sie explizit gefragt, ob es in der Kooperation mit der Regierung Probleme gebe oder ob sie von den Colectivos (quartierbezogene Freiwillige, die die Errungenschaften der Revolution verteidigen wollen) bedroht seien. Beide haben ganz klar verneint. Die Vertreterin des Roten Kreuzes hat sogar gesagt, die Colectivos bedeuteten für sie Schutz bei ihrer Arbeit. Sie kooperierten mit ihnen. Sie hat damit fundamental der deutschen Bundesregierung widersprochen, die die Colectivos pauschal als Bedrohung für Hilfsorganisationen darstellt. Es stimmt auch nicht, dass keine humanitäre Hilfe ins Land gelassen werde. Erst kürzlich hat es wieder eine Lieferung aus China gegeben, und davor hat das Rote Kreuz medizinische Güter ins Land gebracht.

«Auf dem Platz waren sehr viele Leute, und der Aussenminister bewegt sich dort ohne grössere Sicherheitsvorkehrungen.» Von links nach rechts: der stellvertretende Aussenminister Yván Gil, Aussenminister Jorge Arreaza und der Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko auf der Plaza Bolivar auf dem Weg zur «esquina caliente», wo Jorge Arreaza und Andrej Hunko spontane Reden hielten. (Bild zvg)

 

Welche Personen haben Sie getroffen?

Ich hatte Termine mit hochrangigen Vertretern der Regierung und der Opposition vereinbart. Den Aussenminister von Venezuela, Jorge Arreaza, habe ich als ersten getroffen. Das war ein gutes Gespräch. Nach dem Gespräch sind wir auf die Plaza Bolivar gegangen, an der sein Ministerium liegt. Auf dem Platz waren sehr viele Leute, und der Aussenminister bewegt sich dort ohne grössere Sicherheitsvorkehrungen. Die Menschen bringen ihm sehr viel Sympathie entgegen. Auf diesem Platz gibt es die sogenannte esquina caliente (heisse Ecke). Dort steht ein permanentes Zelt. Das Zelt haben Sympathisanten des Chavismus aufgestellt, und dort werden ständig Fragen zu aktuellen Dingen diskutiert. Als wir dort ankamen, war ein Traube von Menschen am Diskutieren.

Hatten Sie auch ein Treffen mit dem Präsidenten Maduro vereinbart?

Nach meinem Treffen mit dem Aussenminister bekam ich eine Einladung von Maduro, die ich angenommen habe. Einige Tage später bin ich dann zusammen mit dem stellvertretenden Aussenminister zu seinem Amtssitz gegangen, der ganz in der Nähe des Aussenministeriums liegt. Das ist alles genau protokollarisch geregelt. Der Aussenminister selbst war bereits an der Uno in New York, und darum übernahm die Begleitung sein Stellvertreter.

Worüber haben Sie mit Maduro gesprochen?

Es war ein ausführliches Gespräch. Wir haben lange über die internationale Situation gesprochen. Es war ein interaktiver Gedankenaustausch über viele Dinge in der internationalen Politik. Maduro selbst ist dann auf die Bedeutung des Dialogs gekommen, auch in der Situation Venezuelas. Er ist grundsätzlich für den Dialog. Aber er sehe keinen Sinn darin, wenn der Dialogpartner auf Anweisung der USA das Gespräch wieder abbreche.

War das nicht so bei der Vermittlung durch den ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten?

Das war im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2018, als Zapatero als Vermittler die Gespräche zwischen Regierung und Opposition geleitet hat. Man hatte sich damals weitgehend geeinigt, aber in der letzten Minute ist die Opposition abgesprungen. Wahlen haben dann doch stattgefunden. Teile der Opposition haben auch daran teilgenommen, ihr Kandidat war Henri Falcon, der 25 % der abgegebenen Stimmen bekam. Aber der radikalere Teil der Opposition hat die Wahlen boykottiert. Die USA, die EU und ein Teil lateinamerikanischer Staaten haben daraufhin die Wahlen nicht anerkannt. China, Russland, die meisten Länder Afrikas und Asiens sowie der andere Teil Lateinamerikas haben sie wiederum anerkannt.

Wie hat sich Maduro zur Lage in Venezuela geäussert?

Er hat klar gesagt, dass er zum Dialog bereit sei, aber zeigte sich sehr misstrauisch gegenüber seinen Dialogpartnern, die von den USA abhängig sind. Er scheint auf Widerstand eingestellt zu sein und sucht nach Überlebensstrategien für sein Land. Er lerne von anderen Staaten, die in einer ähnlichen Lage waren oder sind und unter Sanktionen zu leiden haben wie zum Beispiel Kuba. In diesem Zusammenhang nannte er auch den Iran, in dem Sinne, wie man mit der Sanktionspolitik der USA umgeht. Im Hauptfokus steht sicher die Frage der Verteidigung, und Wege zu finden, wie man das Überleben der Menschen im Lande sichern kann.

Wie waren die Gespräche mit der Opposition?

Die radikale Opposition um Guaidó vertritt die Position, dass Gespräche nichts brächten ausser einem Zeitgewinn für die Regierung. Der gemässigtere Teil der Opposition hat mir gegenüber geäussert, dass sie entschieden gegen eine Militärintervention und gegen die Sanktionen seien, das jedoch nicht laut sagen könnten. Unter vier Augen haben sie gesagt, dass sie dagegen seien. Es besteht in der Opposition also keine Einigkeit. Das war bei den Wahlen gut zu beobachten, denn nur ein Teil der Opposition hat diese boykottiert.

Wurde deutlich, was Guaidó da inszeniert?

Guaidós Strategie ist ganz klar, den Sturz der Regierung herbeizuführen und Neuwahlen auszurufen. Ob es dazu kommt, ist natürlich offen, aber man will erst die Macht übernehmen und dann Neuwahlen vorbereiten. Ich kann mir das Szenario nicht ohne grösseres Blutvergiessen vorstellen. Es würde wiederum zu heftigen Reaktionen in der Gesellschaft führen. Man muss sehen, der Chavismus, egal ob man Maduro für einen fähigen Präsidenten hält, ist in relevanten Teilen der Bevölkerung tief verankert, besonders auch in den ärmeren Schichten.

Das Bild, das hier gezeichnet wird, so quasi das Volk steht gegen Maduro, das hat mit der Realität nichts zu tun. Die Gesellschaft ist gespalten. Wir kennen das aus Syrien, auch wenn das völlig unterschiedliche Systeme sind. Auch hier wurde das Bild gezeichnet, dass die ganze Bevölkerung gegen Assad sei. Aber das war nur in Teilen Syriens so. Es wird suggeriert, dass diejenigen, die zu stürzen seien, über gar keinen Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, um damit eine Akzeptanz für den Regime Change herzustellen. Das ist Unsinn und hat mit der Realität nichts zu tun.

Wie kommen die westlichen Medien und Regierungen zu ihren Informationen?

Mir wurde von Politikwissenschaftlern berichtet, dass die radikalsten Oppositionellen im Ausland sind. Das sind diejenigen, die dann mit den Regierungen der USA oder europäischer Staaten sowie mit den Medien reden und ihr Bild darstellen, was nicht einmal das Bild der Opposition in toto ist.

Sie haben von Seiten der Bundesregierung heftige Kritik für Ihre Reise geerntet. Wie ist das zu verstehen?

Als das Ganze losging, war ich im Osten Venezuelas bei den Ureinwohnern. Ich hatte dort keinen Netz-Empfang und konnte auf Medienanfragen nicht reagieren. Es gab einen Shitstorm und Schnappatmung bei einigen Regierungspolitikern. Aber im Grunde genommen hat das nur die Aufmerksamkeit erhöht. Wer dann gesehen hat, dass ich mich auch mit der Opposition getroffen hatte und noch mit vielen weiteren Personen des öffentlichen Lebens, wird sich die Frage stellen müssen, warum das unser Aussenminister nicht tut. Er fährt dahin und trifft sich nur mit dem radikalen Teil der Opposition in Kolumbien. Da gab es schon viele Stimmen, die gesagt hatten, es sei viel besser, wie der Hunko das mache. In dem Sinn bin ich nicht so unglücklich über die Berichterstattung.

Wenn man einen RegimeChange-Krieg vorbereitet, dann wird ein Feindbild kreiert. Es wird allein auf Maduro zurückgeführt, was in dem Land passiert. Er wird zum Monster aufgebaut. Das haben wir in den letzten Jahren häufig erlebt: mit Milosevic, mit Janukowitsch, mit Assad oder mit Gaddafi… Mir geht es auch darum, etwas Sand in die Feindbildkreation zu werfen. Dass dann einige aufschreien werden, ist klar, weil es ihre Strategie durchkreuzt. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Für die Eskalationspolitik der USA gegen Iran gibt es keinen erkennbaren Grund»

Offener Brief an die Bundeskanzlerin Angela Merkel und den deutschen Aussenminister Heiko Maas

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Aussenminister

Seit gestern und nach der spektakulären Umplanung seiner Reise nach Bagdad, leitete der US-Aussenminister Mike Pompeo vor aller Weltöffentlichkeit und demonstrativ einen neuen gefährlichen Schritt gegen die Islamische Republik Iran ein, vor dem Sie als Repräsentanten des stärksten EU-Staates nicht untätig bleiben können. Die Behauptung des US-Aussenministers, die USA befürchteten einen iranischen Drohnenkrieg gegen die im Irak stationierte US-Armee, erinnert an die Lüge des früheren US-Aussenministers, Colin Powell, Irak sei im Besitz von Atomwaffen, die als Vorwand für den Irak-Krieg in 2003 herangezogen wurde. Der Irak-Krieg hat, wie Sie wissen, unermessliches Leid für die Bevölkerungen im Mittleren Osten gebracht und hat auch Europa grossen Schaden zugefügt. Diese bittere Erfahrung darf nicht wiederholt werden.

Seit seiner Regierungsübernahme verfolgt Donald Trump, der Präsident der Vereinigten Staaten, gegenüber Iran eine offen und kompromisslos feindselige Politik, die für kaum jemanden in der Welt nachvollziehbar ist. Mit grosser Sorge beobachte ich als iranischstämmiger Bürger der Bundesrepublik Deutschland eine systematische Eskalationspolitik der USA gegenüber Iran, die irgendwann nicht mehr aufzuhalten sein könnte.

Die US-Regierung verhängte im Mai 2018 schrittweise Sanktionen, deren Ziel offensichtlich darin bestand, die Bevölkerung im Iran ins Elend zu stürzen und sie für einen Regime Change aufzuwiegeln. Diese Sanktionen verletzen die Artikel 1 und 2 der Uno-Charta und sind daher völkerrechtswidrig.

Die US-Regierung setzt sämtliche Regierungen der Welt, die mit Iran Handel treiben, massiv unter Druck, bricht so nicht nur selbst das Völkerrecht und internationale Abkommen, wie das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT der WTO; sie fordert damit auch diese Regierungen dazu auf, ebenfalls das internationale Recht und die UN-Sicherheitsratsresolutionen zu brechen. Kein Imperium zuvor hat sich derart rigoroser Befugnisse gegen Recht und Ordnung bemächtigt.

In diese Richtung geht auch die Entscheidung der US-Regierung, die iranischen Revolutionsgarden, die unzweifelhaft Bestandteil der Armee der Islamischen Republik sind, auf ihre Terroristenliste zu setzen. Dies stellt ein völkerrechtlich hochbrisantes Novum dar und erhöht die Gefahr weiterer politischer Eskalationen, die sich leichtfertig in einem Krieg entladen können.

Gerade in diesen Tagen und vor der Ankunft des US-Aussenministers Pompeo in Baghdad beorderte die US-Regierung ihren Flugzeugträger Abraham Lincoln in die Gewässer des Persischen Golfs. Sie unternimmt damit einen Schritt, der von Iran als eine massive Provokation gegen seine territoriale Integrität wahrgenommen werden dürfte.

Für diese offene Eskalationspolitik der USA gegen Iran gibt es keinen erkennbaren politischen Anlass, erst recht auch keinen völkerrechtlichen und auch keinen moralischen Grund.

Ich möchte hiermit, Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaussenminister, – sicherlich auch im Namen vieler Iranerinnen und Iraner, die sich nicht direkt an Sie wenden können – vor den ungeheuren Folgen eines drohenden Krieges für den Mittleren Osten, für Europa und die gesamte Welt warnen. Neue Verbrechen durch Tötung der Zivilbevölkerung, durch Umweltzerstörungen, aber auch durch Fluchtbewegungen werden im Falle eines Iran-Krieges um ein Vielfaches höher sein, als die Folgen aller US-Kriege im Irak, in Libyen und Syrien zusammen.

Ich bin mir bewusst, dass die oben skizzierte aggressive Politik der gegenwärtigen US-Regierung nicht von allen verantwortlichen Politikern in den USA gutgeheissen wird. Gerade deshalb halte ich es für enorm wichtig, die Gegner der gefährlichen Eskalationspolitik der Trump-Regierung in den USA zu unterstützen und zu stärken. 

Deshalb rufe ich Sie, Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel und Herr Aussenminister Heiko Maas, zusammen mit der Aussenbeauftragten der Europäischen Union, Federica Mogherini, und allen anderen Regierungen in Europa dazu auf schon jetzt öffentlich zu erklären, dass Deutschland und die EU sich an einem Iran-Krieg nicht beteiligen werden, sich für die Bewahrung und Stärkung des Völkerrechts und für die Einhaltung der internationalen Abkommen einzusetzen, die US-Regierung aufzufordern, zu einer Politik der internationalen Kooperation zurückzukehren, die zur Schaffung der Vereinten Nationen geführt hat, sowie ganz konkret am Gelingen der seit November 2018 in New York laufenden Verhandlungen für die Einrichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten aktiv mitzuwirken und sich ebenfalls dafür einzusetzen, dass auch die USA und Israel an den Verhandlungen teilnehmen.

Berlin, den 8. Mai 2019

Prof. Dr. i. R. Mohssen Massarrat

Judith-Auer-Str. 2A, 10369 Berlin

E-Mail: mohssen.massarrat@uos.de

«Die USA sind die grösste Gefahr für den Weltfrieden geworden»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie schätzen Sie die Politik Trumps gegenüber dem Iran ein?

Professor Dr. Alfred de Zayas Artikel 2, Absatz 4 der Uno-Charta verbietet sowohl die Androhung als auch die Anwendung von Gewalt in internationalen Beziehungen. Artikel 2, Absatz 3 verpflichtet alle Staaten, ihre internationalen Streitigkeiten ausschliesslich durch friedliche Mittel beizulegen. Zudem verbietet Artikel 20 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte jede Kriegspropaganda.

Was müsste man also tun?

Trumps Bravado ist völkerrechtswidrig und sollte durch eine Resolution der Generalversammlung verurteilt werden. Eine Sondersitzung des Sicherheitsrates sollte einberufen werden, und der Präsident des Sicherheitsrates (Indonesien hat im Mai 2019 den Vorsitz) sollte die US-Aktionen als «einen Bruch des Friedens» bzw. eine Gefährdung des Friedens bezeichnen, im Sinne des Artikels 39 der Uno-Charta.

Wie ist die einseitige Kündigung des Atomvertrags völkerrechtlich zu beurteilen?

Das völkerrechtliche Prinzip «pacta sunt servanda» (Artikel 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention) bedeutet, dass Staaten ihre vertraglichen Verpflichtungen mit gutem Glauben umsetzen müssen. Die USA haben nicht nur den Iran Vertrag gekündigt¹ – sondern viele andere Verträge auch.

Das Statut von Rom von 1998 war ein Versuch, das internationale Strafrecht durch einen internationalen juristischen Mechanismus zu stärken. Es beteiligen sich 132 Staaten daran, aber wichtige Länder wie die USA unterminieren den Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Nichts ist mehr contra bonos mores, mehr gegen Geist und Buchstabe des ICC-Vertrages als die US-bilateralen Verträge mit etwa 80 Staaten, um zu verhindern, dass US-Bürger vor den ICC kommen. 

Wogegen verstossen sie?

Diese bilateralen Immunitäts- bzw. Impunitäts-Verträge verstossen gegen das allgemeine Völkerrecht, gegen den Zweck des Rom-Statuts und gegen den Multilateralismus. Ähnlich haben die USA ihre internationalen Verpflichtungen im Vertrag über Nukleare Mittelstreckenraketen², das Atomabkommen mit Iran, das Pariser Klimaabkommen³, den Arms Trade Treaty über Handel mit konventionellen Waffen⁴, das Fakultativprotokoll zur Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen⁵, das Protokoll zur Streitbeilegung⁶ usw. gekündigt. Ferner haben die USA fundamentale Prinzipien der Weltordnung verworfen, z. B. bei der Anerkennung der israelischen Hoheit über die Golan-Höhen⁷, eine frontale Attacke gegen die Resolutionen 242, 338, 497⁸ des Uno-Sicherheitsrats, gegen das allgemeine Völkerrecht und den Multilateralismus.

Somit sind die USA die grösste Gefahr für den Weltfrieden geworden. Präsident Trump benimmt sich wie ein Outlaw im Wilden Westen – ein Verräter gegen den Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wofür Eleanor Roosevelt und andere so viel geleistet hatten.

Welche rechtliche Grundlage haben die verschärften Sanktionen der USA gegen den Iran und die Drohung der USA, alle Staaten finanziell und wirtschaftlich zu bestrafen, die die Sanktionen nicht mittragen?

Die Sanktionen haben keine rechtliche Grundlage – es geht um reine Gewalt. Sanktionsregime sind zum wiederholten Male von der Uno als völkerrechswidrig erklärt worden. Nichts ist der Ideologie des Multilateralismus feindlicher, als der hegemoniale Anspruch der USA, sein Exzeptionalismus und Unilateralismus, seine Politik von Wirtschaftskriegen, Finanzblockaden und Sanktionen gegenüber politischen und wirtschaftlichen Rivalen sowie die Erpressung anderer Staaten – sogar von befreundeten Staaten wie Deutschland.

Wie hat sich die Uno dazu geäussert?

Die Uno-Generalversammlung hat Sanktionen bzw. unilaterale Zwangsmassnahmen zum Beispiel gegen Kuba als menschenrechtsfeindlich⁹ verworfen, auch die Uno-Unterkommission für Menschenrechte in einem ausführlichen Bericht10 im Jahre 2000, auch der Uno-Menschenrechtsrat in mehreren Resolutionen11, ebenfalls der Uno-Sonderberichtserstatter über Sanktionen, Idriss Jazairy12. Man hat dokumentiert, dass Wirtschaftssanktionen töten und dass sie mit den Menschenrechten nicht in Einklang gebracht werden können. Nicht nur die unilateralen Sanktionen, sondern auch die vom Sicherheitsrat gegen den Irak 1991–2003 verhängten Sanktionen, die zum Tode von mehr als einer Million Irakern führten. Meine Freunde und Kollegen Denis Halliday13 und Hans-Christoph Graf von Sponeck14 sind beide von ihren Ämtern als «Humanitarian Coordinators» in Bagdad aus Protest zurückgetreten, weil sie die Sanktionen als eine «Art des Genozids» ablehnten.

Die extraterritoriale Anwendung der US-Gesetze ist völkerrechtswidrig, denn sie verletzt die Souveränität anderer Staaten – aber Trump meint, er könne es sich leisten. Er fühlt sich unverletzlich – und zudem über alle Gesetze erhaben – legibus solutus. Das ist er aber nicht.

Was kann jetzt der Iran in dieser Situation tun?

Iran ist inter saxum et locum durum – zwischen Hammer und Amboss (eigentlich: zwischen einem Stein und einem harten Ort). Die Europäer haben versagt und werden weiterhin versagen. Europa verteidigt nicht einmal die eigenen Interessen. Nur China und Russland können hier eine deutliche Sprache sprechen – die einzige, die Trump versteht – und konkret verhandeln.

Man muss die Situation dringendst vor den Uno-Sicherheitsrat der bringen – und auch ein Gutachten vom Internationalen Gerichtshof verlangen, der deutlich diese Trump-Politik verurteilt.

Welche Möglichkeiten haben die europäischen Staaten?

Früher oder später werden die Europäer verstehen, dass die USA die Alleinherrschaft in der Welt anstreben und dass die europäischen Interessen und der Handel die Opfer dieser Politik sind. So unangenehm, wie es klingen mag, die Europäer müssen erkennen, dass die USA kein aufrichtiger Freund, sondern eigentlich ein geopolitischer Rivale sind. Man muss sich von den USA unabhängig machen und grösseren Handel mit Afrika, Asien, Lateinamerika betreiben, denn die USA sind ein unzuverlässiger Geschäftspartner geworden. Man sollte z. B. in der Nato sagen: Wir brauchen keinen Schutz von der USA mehr und werden keinen Cent mehr dafür bezahlen. Die Europäer sollten auch die TTIP- und TISA-Vertragsverhandlungen abbrechen. Ganz konkret können die europäischen Staaten viele neue Massnahmen gegen die USA in der Welthandelsorganisation einleiten. Wenn Trump «tough» redet – so müssen die Europäer ebenso «tough» antworten.

Welche Rolle müsste die Uno in dieser Situation einnehmen?

Hauptsächlich muss man einen Krieg im Mittleren Osten vermeiden. Iran ist nicht ganz allein – der Irak ist auch schiitisch, und – wer weiss – die Pakistaner und Afghanen könnten auch mitspielen wollen. Alle müssen sich aber im klaren sein, dass eine Eskalation zu einer nuklearen Auseinandersetzung führen kann. Neben einer Sondersitzung des Uno-Sicherheitsrates sollten auch alle Uno-Organe, die ebenfalls von der steigenden Spannung betroffen sind, handeln. Alle haben eine Verantwortung, dem Trump-Wahn entgegenzutreten. Auch die Uno-Arbeitsorganisation, die jetzt ihr 100jähriges Bestehen feiert, auch die Weltgesundheitsorganisation, auch die Flüchtlingsorganisation, der Wirtschafts- und Sozialrat, das Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte. Ein Krieg würde alle betreffen. 

Worin sehen Sie eine sinnvolle Lösung des Konflikts?

Ein Telefongespräch zwischen Putin und Trump, zwischen Xi Jinping und Trump – könnte Trump vielleicht ruhiger stimmen. Es gibt viele Formen der unkonventionellen Kriege – auch Wirtschaftskriege, Cyberkriege – und sowohl Putin als auch Xi könnten überall in der Welt kontra geben. China könnte z. B. 1 200 Milliarden an US-sovereign-debts in Umlauf bringen – das wäre eine wirtschaftlich «nukleare option». Die Finanzkrise von 2008/2009 wäre nichts im Vergleich dazu.

Die einzig sinnvolle Lösung wäre, Trump deutlich zu machen, dass die Welt ihn allmählich satt hat und dass künftig die USA auch leiden werden, wenn die europäischen Staaten eine neue Orientierung suchen, wenn China seine Wirtschaftsmacht in Asien und Afrika gegen die US-Interessen einsetzt. Das Beste ist der gute Wille, aber wenn er in den USA nicht mehr vorhanden ist – kann die «Weltordung» richtig hässlich werden. 

Herr de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser und Andreas Kaiser

¹ www.nzz.ch/international/usa-steigen-aus-atomabkommen-mit-iran-aus-ld.1321468

² www.nzz.ch/international/inf-vertrag-die-usa-steigen-aus-dem-abkommen-mit-russland-aus-ld.1456446

³ www.nzz.ch/international/umweltpolitik-der-usa-trump-kuendigt-pariser-klimaabkommen-auf-ld.1298900

www.theguardian.com/us-news/2019/apr/26/trump-nra-united-nations-arms-treaty-gun-control

⁵ On 12 October 2018, the Secretary-General received from the Government of the United States of America a communication notifying its withdrawal from the Optional Protocol. The communication reads as follows: «... the Government of the United States of America [refers] to the Optional Protocol to the Vienna Convention on Diplomatic Relations Concerning the Compulsory Settlement of Disputes, done at Vienna on April 18, 1961.This letter constitutes notification by the United States of America that it hereby withdraws from the aforesaid Protocol.» https://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=III-5&chapter=3&clang=_en

www.reuters.com/article/usa-diplomacy-treaty/u-s-withdrawing-from-vienna-protocol-on-dispute-resolution-bolton-idUSW1N1UJ00V

www.reuters.com/article/us-usa-israel/trump-recognizes-disputed-golan-heights-as-israeli-territory-in-boost-for-netanyahu-idUSKCN1R61S6

unscr.com/en/resolutions/497

www.un.org/documents/ga/res/51/a51r103.htm

10 www.globalpolicy.org/global-taxes/42501-the-adverse-consequences-of-economic-sanctions.html

11 documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G17/086/62/PDF/G1708662.pdf?OpenElement www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/Pages/NewsDetail.aspx?NewsID=24400&LangID=E

12 www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22072&LangID=E

13 news.cornell.edu/stories/1999/09/former-un-official-says-sanctions-against-iraq-amount-genocide www.youtube.com/watch?v=N05COs2wv3s

14 Ein Anderer Krieg – Das Sanktionsregime der UNO im Irak. 2005, Hamburger Edition, ISBN 3-936096-56-2

15 www.scmp.com/economy/china-economy/article/3009752/will-china-use-its-us12-trillion-us-debt-firepower-fight

«US-Sanktionen verletzen die Menschenrechte und den internationalen Verhaltenskodex»

Pressemitteilung des Büros des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte, Genf

Ein vom Menschenrechtsrat ernannter unabhängiger Experte hat seine grosse Besorgnis über die jüngste Verhängung einseitiger Zwangsmassnahmen gegen Kuba, Venezuela und den Iran durch die Vereinigten Staaten geäussert. Er erklärt, dass die Anwendung von Wirtschaftssanktionen für politische Zwecke die Menschenrechte und die Normen des internationalen Verhaltens verletzt. Solche Massnahmen könnten von Menschen verursachte humanitäre Katastrophen von beispiellosem Ausmass zur Folge haben.

«Regime Change durch Wirtschaftsmassnahmen, die zur Beschneidung der grundlegenden Menschenrechte und zu Hungersnot führen können, ist nie eine akzeptierte Praxis in den internationalen Beziehungen gewesen», sagte Idriss Jazairy*, der mit den negativen Auswirkungen von Uno-Sanktionen befasste Sonderberichterstatter. «Echte Probleme und schwerwiegende politische Differenzen zwischen Regierungen dürfen niemals durch das Herbeiführen von wirtschaftlichen und humanitären Katastrophen gelöst werden, die die einfachen Menschen zu deren Schachfiguren und Geiseln machen.»

Die Umsetzung von Titel III des Helms Burton Act, der US-Bürgern erlaubt, gegen kubanische Körperschaften und ausländische Unternehmen wegen des nach Fidel Castros Revolution 1959 beschlagnahmten und verwendeten Eigentums zu klagen, ignoriert die Proteste der Europäischen Union und Kanadas und stellt einen direkten Angriff auf europäische und kanadische Unternehmen in Kuba dar, die dort die wichtigsten ausländischen Investoren sind.

«Dass eine Grossmacht ihre dominante Position in der internationalen Finanzarena gegen ihre eigenen Verbündeten benutzt, um die Wirtschaft souveräner Staaten zu schwächen, verletzt das Völkerrecht und untergräbt unweigerlich die Menschenrechte ihrer Bürger», sagte der Sonderberichterstatter.

Am 17. April dieses Jahres haben die USA der Zentralbank von Venezuela untersagt, nach dem 17. Mai weiterhin Transaktionen in US-Dollar durchzuführen. Zudem wurde der Zugang zu Geldtransfers und Kreditkarten in den USA bis März 2020 unterbunden.

«Es ist schwer zu erkennen, wie Massnahmen, die die Wirtschaft Venezuelas zerstören und verhindern, dass Venezolaner Geld nach Hause schicken, darauf abzielen sollen, ‹dem venezolanischen Volk zu helfen›, wie dies das US-Finanzministerium behauptet», stellte der Experte fest.

Seine Aussagen stützen sich auf einen kürzlich veröffentlichten Bericht des in Washington ansässigen Center for Economic and Policy Research, der zeigt, dass in Venezuela seit 2017 40 000 Menschen aufgrund von US-Sanktionen gestorben sein könnten.

Jazairy sagte auch, dass er besorgt sei, weil die USA die Ausnahmeregelungen für internationale Käufer von iranischem Öl trotz Protesten des Nato-Mitglieds Türkei und anderer Verbündeter nicht verlängern würden. Washington forderte, dass alle verbleibenden Staaten, die von Ausnahmeregelungen profitiert hätten, ihre Käufe am 1. Mai einstellen müssten, andernfalls hätten sie mit Sanktionen zu rechnen.

«Die extraterritoriale Anwendung einseitiger Sanktionen steht eindeutig im Widerspruch zum Völkerrecht», sagte der Experte. «Ich bin zutiefst besorgt darüber, dass ein Staat seine beherrschende Stellung in der internationalen Finanzwelt nutzen kann, um nicht nur dem iranischen Volk, das seinen Verpflichtungen aus dem von der Uno angenommenen Atomabkommen bis heute nachgekommen ist, sondern auch allen Menschen auf der Welt, die mit ihm handeln, zu schaden.»

«Die internationale Gemeinschaft muss sich zusammen­schliessen, um gegen Blockaden vorzugehen, die die Souveränität eines Landes, die Menschenrechte seines Volkes und die Rechte von Drittländern, die mit sanktionierten Staaten Handel treiben, ignorieren. Gleichzeitig stellen Sanktionen eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Welt dar.»

«Ich appelliere an die internationale Gemeinschaft, einen konstruktiven Dialog mit Venezuela, Kuba, dem Iran und den USA zu führen, um eine friedliche Lösung im Einklang mit Geist und Buchstaben der Uno-Charta zu finden, bevor der willkürliche Einsatz des wirtschaftlichen Aushungerns zur neuen ‹Normalität› wird.» 

Genf, 6. Mai 2019

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

Quelle: www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=24566&LangID=E

* Idriss Jazairy (Algerien) wurde im Jahr 2015 vom Menschenrechtsrat zum ersten Sonderberichterstatter über die negativen Auswirkungen der einseitigen Zwangsmassnahmen auf die Menschenrechte ernannt. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung in den Bereichen der internationalen Beziehungen und Menschenrechte. Jazairy ist Autor von mehreren Büchern und vielen Artikeln in der internationalen Presse über Entwicklung, Menschenrechte und aktuelle Angelegenheiten.

«Man sollte das Gemeinsame aktiv suchen und sich die Hand reichen»

Schweizerischer Samariterbund und Schweizerischer Militär-Sanitäts-Verband – zwei Rettungsorganisationen des Roten Kreuzes

Gespräch mit Vorstandsmitgliedern der neuen Sektion «MSV Aare Nord-Süd»

Wir haben bereits in verschiedenen Artikeln über das Schweizerische Samariterwesen berichtet, über seine grosse Bedeutung für das Gemeinwohl und das Zusammenleben in den Gemeinden, aber auch über die derzeitigen Schwierigkeiten mit der Umsetzung der vom Bund verlangten Zertifizierung des Kurs- und Ausbildungswesens im Bereich der Ersten Hilfe. Der Schweizerische Samariterbund (SSB) ist dabei tief in die roten Zahlen geraten, und viele kleinere Vereine sind von der Landkarte verschwunden, da sie die neuen Vorgaben nicht mehr erfüllen können. Es darf nicht sein, dass das bis anhin dichte Netz an ehrenamtlichen Ersthelfern weiter ausgedünnt wird.

Der SSB hat über 125 Jahre hervorragende Arbeit geleistet und massgeblich dazu beigetragen, dass auch Regionen ohne Spital in unmittelbarer Nähe im Notfall auf die fachkundige Hilfe der Samariter zählen konnten. Um das Vertrauen der Basis wieder zu gewinnen, wird der SSB nicht umhinkommen, die Karten offen auf den Tisch zu legen und zu sagen, wie er in diese Schieflage geraten ist und welche Massnahmen er zur Korrektur ergreifen will. Von der Basis her braucht es aber sicher auch die Bereitschaft zu neuen Formen der Zusammenarbeit, zur gegenseitigen Unterstützung und zur Kooperation mit anderen Rettungsorganisationen des Roten Kreuzes.

Anfang Jahr titelte die Solothurner Zeitung: «Samariterverein löst sich auf – aus den Mitgliedern werden jetzt Sanitäter». Dem Bericht war zu entnehmen, dass die Derendinger Samariterinnen und Samariter ihren gut 100jährigen Verein zwar aufgelöst haben, ihre Arbeit jedoch unter dem Dach der Schwesterorganisation des SSB, des Schweizerischen Militär-Sanitäts-Verbands (SMSV) fortsetzen. Sie gründeten eine neue Sektion «MSV Aare Nord-Süd» mit Sitz in Derendingen. Wir wollten wissen, warum sie sich für diesen Wechsel entschieden haben, was der SMSV ist, wie sich die Arbeit unter dem neuen Dach gestaltet und inwiefern eine Zusammenarbeit mit den umliegenden Samaritervereinen weiterhin möglich ist.

Die Präsidentin Kathrin Sutter, die Chefin der Technischen Kommission, Manuela Derendinger, und der Verantwortliche für den Sanitätsdienst, Konrad Berger, haben uns in ihrem gut eingerichteten Kurslokal zu einem ausführlichen Gespräch sehr herzlich empfangen.

Kathrin Sutter, Präsidentin und Manuela Derendinger, Chefin der Technischen Kommission (v.l.n.r) (Bild sl)

 

 

Zeitgeschehen im Fokus Was hat Sie dazu bewogen, den über 100jährigen Samariterverein aufzulösen und dem Schweizerischen Militär-Sanitäts-Verband beizutreten?

Manuela Derendinger Wir suchten schon seit längerer Zeit nach einer einfacheren Struktur, in der wir mehr Flexibilität und eine flachere Hierarchie finden. Der SSB leistet eine grossartige Arbeit. 1000 Vereine, 24 Kantonalverbände und rund 30 000 Mitglieder zu organisieren, zu begleiten und zu unterstützen ist eine enorme Leistung. Logisch, dass diese intensive Aufgabe nicht mehr im Freiwilligenbereich möglich ist, logisch auch, dass durch die nötige Infrastruktur Kosten entstehen, die verteilt werden müssen, und ebenso logisch, dass die Beschlussfassungen und deren Umsetzung einem meist längeren Prozess unterliegen. Wir haben als Verein gemerkt, dass wir «anders ticken» und suchten für unsere Bedürfnisse eine neue Basis.

Was meinen Sie mit «anders ticken»?

Wir suchten nach einer Möglichkeit, unmittelbar Verantwortung übernehmen und mitgestalten zu können. Im SMSV haben wir diese gefunden. Die Geschichte des SMSV ist genauso alt wie die des SSB, ja der SSB entstand eigentlich aus dem SMSV. Ernst Möckli gründete beide Organisationen, die sich aber unterschiedlich weiterentwickelt haben. Der SMSV besteht aktuell aus 24 Sektionen und rund 1000 Mitgliedern. Der Zentralvorstand arbeitet bis auf die Sekretärin ehrenamtlich. Dadurch entsteht eine ganz andere Struktur. Hier haben wir gefunden, was wir suchten: direkte Mitsprachemöglichkeit, mehr Eigenverantwortung und ja, auch geringere Kosten. Für uns war das Wichtigste, die sieben Grundsätze des Roten Kreuzes weiterzutragen, mit Partnerorganisationen zusammenzuarbeiten und unsere Arbeit auf demselben Niveau selbstbestimmt weiterführen zu können.

Hat Ihr Entscheid nicht auch mit der aktuellen Schieflage des SSB und mit den neuen Vorgaben im Kurs- und Weiterbildungswesen zu tun?

Kathrin Sutter Nein, wir hatten keine Probleme, die Auflagen zu erfüllen, weder in finanzieller noch personeller Hinsicht. Abgesehen davon gelten dieselben Richtlinien für alle Rotkreuzorganisationen, auch für den SMSV. Viele wissen nicht, dass alle 5 Rotkreuzorganisationen gemeinsam an der Umsetzung der neuen Zertifizierungsvorgaben des Bundes gearbeitet haben. Es sind auch jetzt alle bemüht, dem SSB, dem grössten Kursanbieter in Erster Hilfe, wieder auf die Beine zu helfen. So hat zum Beispiel der SMSV vorübergehend für Samariter Weiterbildungskurse angeboten, weil der SSB dazu nicht mehr in der Lage war. Die Basis erfährt das leider nur zu selten. Wie gesagt, wir haben schon lange vor den aktuellen Schwierigkeiten des SSB nach einer Dachorganisation gesucht, die unserer Arbeitsweise mehr entspricht. Manuela und ich sind beide als 20jährige Frauen zum Samariterverein gekommen. Wir sind immer für die Sache gewesen. Uns hat es jetzt auch nicht so Mühe gemacht, den 100jährigen Samariterverein formal aufzulösen, da wir ihn einfach in etwas anderes übergeführt haben, was uns erlaubt, verantwortlich mitzugestalten und uns weiterzuentwickeln.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit nun unter dem neuen Dach?

Manuela Derendinger Wir können unsere Samariterarbeit unter dem neuen Dach genauso weiterführen. Unsere Arbeit ist gleich, das Kurswesen ist genau gleich, die Vereinsübungen sind genau gleich. Die Jugendarbeit wird sich etwas verändern, wir haben andere, mehr Möglichkeiten, tolle Möglichkeiten, die wir natürlich sehr gerne nutzen werden. Das Blutspenden bleibt genau gleich, und auch unsere Aufgaben im Dorf können wir alle weiterführen – Sanitätsdienst bei Veranstaltungen, Zusammenarbeit mit der Gemeinde und der Feuerwehr etc. Auch die Lehrmittel sind dieselben, die Lehrmittelplattformen sind dieselben, von daher hat sich nichts geändert. Wir haben allerdings einen geringeren administrativen Aufwand, dafür aber auch mehr Eigenverantwortung. Wir haben eine riesen Freude, dass unsere Freiwilligenarbeit genau gleich weitergehen kann. Geändert hat sich nur das Logo auf unseren Kleidern.

Kathrin Sutter Wir sind beim SMSV super aufgenommen worden. Sie wollten genau wissen, wer wir sind und was wir wollen, es wurden durchaus auch kritische Fragen gestellt. Der SMSV ist sich sehr bewusst, was er an der kleinen übersichtlichen Struktur mit der flachen Hierarchie an Möglichkeiten und Chancen hat. Er weiss, dass eine gewisse Wendigkeit gerade in der heutigen Zeit, wo alles so schnelllebig ist, sehr wichtig ist. Deshalb waren wir aufgefordert, einen regionalen Namen zu wählen und keinen Ortsnamen.

Das heisst, dass auch andere Gemeinden in der Region sich dem MSV Aare Nord-Süd anschliessen könnten?

Manuela Derendinger Ja, genau. Unser Ziel ist, dass die Gemeinden nicht verwaisen, dass es auf der Landkarte keine weissen Flecken gibt, wo keine Versorgung mehr mit Erster Hilfe gewährleistet ist. Samaritervereinen, die sich aus finanziellen oder personellen Gründen auflösen mussten, bieten wir deshalb an, einen Ortsdelegierten bei uns in den Vorstand zu entsenden, so dass ihre Gemeinde vertreten ist. Dieser Delegierte nimmt an den Vorstandssitzungen teil, organisiert einmal jährlich in seinem Ort eine Werbeveranstaltung und geht an die Vereinskoordinationssitzung. Die Mitglieder können bei uns in Derendingen die Übungen besuchen, um dann bei sich im Ort den Sanitätsdienst weiterführen zu können. Die Delegierten haben so einen überschaubaren Aufwand, und gleichzeitig ist das Gebiet betreut. Das ist unsere Idee. Wir wollen keine Gebiete abgrasen, wo es Samaritervereine gibt, sondern wir wollen einfach nicht, dass weitere Dörfer nicht mehr betreut sind.

Wie haben die Samaritervereine in der Region auf Ihren Entscheid, zum SMSV zu wechseln, reagiert?

Wir haben schon vorher seit einigen Jahren mit fünf anderen Gemeinden in der Region zusammengearbeitet. Da viele Vereine Mühe haben mit den Ausbildnern, haben wir gesagt, wir von der Technischen Kommission sitzen zusammen, machen gemeinsam das Jahresprogramm, jeder bereitet ein bis zwei Übungen vor mit Prozessplan und allem und stellt das auf der Dropbox den andern zur Verfügung. Jeder muss dann die Übung nur noch an seinen Verein anpassen. Das ist viel weniger Aufwand. So haben wir schon einige Jahre zusammengearbeitet. Dadurch, dass der Wechsel vom SSB zum SMSV sehr schnell ging, konnten die anderen Vereine das nicht wirklich nachvollziehen. Es gab Missmut, Verärgerung, einige hatten das Gefühl, dass wir das «sinkende Schiff» verliessen. Wir haben aber einen langen Prozess hinter uns. Erst als wir sahen, dass der SMSV die Möglichkeit bot, die wir suchten, ging es schnell. Wir haben deshalb letzte Woche alle eingeladen und alles offen angesprochen. Viele wussten gar nicht, was der SMSV ist, dass die Anforderungen dieselben sind wie für den SSB, dass sich nichts ändern wird ausser dem Logo und dem Dachverband. Es war schön, dass am Schluss alle fünf Samaritervereine sagen konnten: «Jawohl, wir wollen weiter mit euch zusammenarbeiten.» Das ist unser Ziel, es soll sich in der Zusammenarbeit nichts verändern, das ist für uns ganz wichtig. Wir werden das Jahresprogramm weiterhin gemeinsam erstellen und die Übungen vorbereiten. Wenn ein Mitglied eines Samaritervereins einmal eine Übung im Dorf nicht besuchen kann, kann es sie bei uns besuchen, damit es die nötige Anzahl Übungen für den Sanitätsdienst trotzdem zusammenbringt. Dasselbe gilt für unsere Mitglieder. Auch beim Sanitätsdienst können wir uns gegenseitig aushelfen. Der SSB hat uns versichert, dass das versicherungstechnisch kein Problem ist.

Es ist also weiterhin möglich, einander auszuhelfen, wo nötig?

Ja, es braucht viel Aufklärung, bis bekannt ist, dass wir dieselbe Ausbildung haben, dass wir weiterhin Nothilfekurse geben können etc. Auf dem Kursausweis hat es dann einfach kein SSB-Logo, sondern dasjenige des SMSV. Das ist noch lange nicht für alle klar. Man sollte keine Berührungsängste voreinander haben, sondern fragen: «Was seid ihr denn jetzt für welche?» Man sollte das Gemeinsame aktiv suchen und sich die Hand reichen. Da gibt es schon noch etwas zu tun.

Sie haben erwähnt, dass der SMSV eine ausgezeichnete Jugendarbeit leistet. Können Sie das etwas genauer erläutern?

Kathrin Sutter Im SMSV sind 60 % der Mitglieder unter 30 Jahre alt. Der Verband organisiert mit Unterstützung des Militärs jedes Jahr das Jugendlager AULA, in dem rund 400 Jugendliche zwischen 13 und 22 Jahren die Möglichkeit haben, in fünf aufeinander aufbauenden Sommerlagern alle Stufen der Laienrettung bis zum Ausbildner zu erwerben. Das ist eine gute Sache, die Kinder haben Spass und lernen gleichzeitig etwas Sinnvolles. Dieses Jahr findet das Lager vom 19. bis 27. Juli 2019 in S-chanf statt. Am 23. Juli öffnet es die Türen für Gäste. Es lohnt sich auf jeden Fall, sich vor Ort selber einen Eindruck zu verschaffen. Aus organisatorischen Gründen wird gebeten, sich unter www.aula-jugendlager.ch anzumelden. Unser erstes Ziel ist es, in den nächsten 5 Jahren wieder eine Jugendgruppe auf die Beine zu stellen, ich denke in 10 bis 15 Jahren werden wir auch bei 60 % sein.

Haben Sie schon Ideen, wie Sie diese Jugendaufbauarbeit gestalten wollen?

Wir haben in unserem Verein zwei bis drei Frauen im Auge, von denen wir denken, dass sie sich eignen. Ihr Auftrag wird sein, eine Bestandsaufnahme zu machen, sich bei anderen MSV zu informieren, wie sie die Jugendarbeit gestalten, und dann ein Konzept zu erstellen. Wir arbeiten bereits jetzt in verschiedenen Schulen mit Workshops. In Oberstufenzentren geben wir jährlich einen Workshop im Rahmen der Gesundheitstage, in Solothurn kennen wir einen Berufsbildungslehrer, der regelmässig die Samariter bzw. Sanitätsarbeit vorstellen lässt, oder wir zeigen Lehrkräften, wie sie selber einen Workshop mit ihren Schülern durchführen können. Wir haben entsprechende Unterlagen und leihen ihnen die Phantompuppen aus. Die Berufsmessen sind sicher auch eine Möglichkeit, den Jugendlichen unsere Arbeit vorzustellen. Wir müssen den Kindern und Jugendlichen vorstellen, was wir machen, von selber kommen sie nicht auf die Idee.

Anmeldung bis spätestens 15. Juli 2019 unter www.aula-jugendlager.ch

 

 

Wie schaffen Sie all diese grosse ehrenamtliche Arbeit neben Beruf und Familie?

Wir haben begonnen, etwas anders zu arbeiten, indem wir die Arbeit in Ressorts aufteilen. Viele jüngere Mitglieder können sich nicht vorstellen, sich für 4 Jahre im Vorstand zu verpflichten. Sie sind aber gerne bereit, für einen Teilbereich die Verantwortung zu übernehmen. So finden wir immer Leute, die uns unterstützen. Das ist dann auch das, was Freude und Spass macht, da man im Vorstand nicht alles alleine tragen muss. Unser Verein steht stark da, wir haben junge Mitglieder, und unser ältestes Mitglied ist 90. Wir legen viel Wert darauf, dass alle einbezogen sind. Wir haben ein grosses und sehr gutes technisches Kader, wir sind zu fünft, und wir haben eine grosse Akzeptanz im Dorf. Wir sind voller Zuversicht, dass wir im Verbund mit den anderen Organisationen des Roten Kreuzes auch dazu beitragen können, die aktuelle Krise im Samariterwesen zu überwinden.

Vielen Dank, Frau Sutter, Frau Derendinger und Herr Berger für das Gespräch und viel Freude und Erfolg bei Ihrer weiteren Arbeit.

Interview Susanne Lienhard und Henriette Hanke Güttinger

 

Der Schweizerische Militär-Sanitäts-Verband (SMSV)

Ernst Möckli hatte, vier Jahre bevor er den ersten Samariterverein in Bern initiiert hatte, als Wachtmeister der Sanitätstruppen der noch jungen Schweizer Armee festgestellt, dass 5 Wochen Rekrutenschule nicht reichten, um die Sanitätssoldaten angemessen in Erster Hilfe auszubilden. Deshalb schlug er vor, ihnen eine ausserdienstliche Fortbildung zu geben. So entstand 1880 in Bern der erste Militärsanitätsverein des Landes mit Ernst Möckli als Präsidenten. Schon ein Jahr später schlossen sich fünf kantonale Vereine zum Schweizerischen Militär-Sanitäts-Verband (SMSV) zusammen. Während der SSB Zivilpersonen in erster Hilfe ausbildete, war die Mitgliedschaft im SMSV anfangs den Armeeangehörigen vorbehalten. Mittlerweile werden alle Personen aufgenommen, die für den koordinierten Sanitätsdienst tätig sind. Der SMSV ist Beauftragter der Schweizer Armee und zuständig für die Ausbildung der Sanitätssoldaten. Er ist wie der SSB eine der fünf Rettungsorganisationen des Schweizerischen Roten Kreuzes und den sieben Rotkreuzgrundsätzen verpflichtet. Die Anforderungen sind dieselben wie beim SSB. Die Ausbildung ist aber einfacher strukturiert. Die technischen Kader haben alle die gleiche Ausbildung (IVR-Stufe 3), es wird nicht wie beim SSB in Kursleiter 1 und 2 und Samariterlehrer unterschieden.

Quelle: geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-rettungsorganisationen-der-schweizerische-militaer-sanitaets-verband-smsv.html

 

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