Der Angriff der Alliierten fand unter dem bewussten Verstoss des Völkerrechts statt

von Thomas Kaiser, Biel

Am 5. Februar 2003 präsentierte der US-Aussenminister Colin Powell vor dem Uno-Sicherheitsrat seine «Beweise» dafür, dass der irakische Präsident Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitze und dass diese eine Bedrohung für die übrige Welt darstellten. 

Dabei hob er ein mit weissem Pulver gefülltes Gläschen in die Höhe, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.¹ Er verstieg sich zu der ungeheuerlichen Behauptung, dass eindeutige Beweise vorlägen und dass es jetzt an der internationalen Gemeinschaft sei, zu handeln. Er zeigte Bilder von angeblichen Raketenabschussbasen und von LKWs, auf denen die Raketen versteckt seien. Auch besitze der Irak mobile Labors, um Massenvernichtungswaffen herzustellen. «Wir wissen, dass der Irak mindestens sieben dieser mobilen Fabriken für biologische Kampfstoffe besitzt.»² US-Vizepräsident Dick Cheney äusserte: «Es gibt keinen Zweifel, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt.»³ Sekundiert wurden die USA vom britischen Premier Tony Blair, der behauptete, dass die Raketen Saddam Husseins innert kürzester Zeit eingesetzt werden könnten. «Der Irak besitzt chemische und biologische Waffen … Seine Raketen sind binnen 45 Minuten einsatzbereit.»⁴ Damit seien genügend «Beweise» erbracht, «um im Irak einzumarschieren und die Welt vor einer grossen Gefahr zu bewahren.» Von den Staaten im Uno-Sicherheitsrat konnte er damals die wenigsten überzeugen. Frankreich und Deutschland, das zu diesem Zeitpunkt den Vorsitz im erlauchten Gremium hatte, zweifelten an der Richtigkeit der Aussagen, was zu einer schweren Krise zwischen Frankreich, Deutschland und den USA führte. Auch China, Russland, Mexiko, Syrien, Chile und weitere vier Staaten lehnten einen Krieg gegen den Irak ab.⁵ Die USA kümmerte die Uno-Charta und die internationalen Bestimmungen des Völkerrechts nicht. Ohne offizielles Mandat und daher völkerrechtswidrig griff die «Koalition der Willigen» den Irak am 19. März 2003 an. 

Keine Beweise

Einige Monate später, als sich der Staub des Krieges gelegt hatte, das grosse Staunen: Im Irak gab es weder Massenvernichtungswaffen, noch strebte Saddam Hussein nach solchen. Der Krieg, der bis heute nahezu einer Millionen Menschen das Leben raubte, die Region destabilisierte, den Irak völlig zerstörte und teilweise mit Uran-Waffen atomar verseuchte, hatte auf einer Lüge basiert. Es gab keine Beweise, auch gab es keine «Versuche Saddam Husseins, die Waffen zu verstecken», wie George W. Bush vor dem Uno-Sicherheitsrat behauptete, denn er hatte gar keine.⁶ Auch die Aussage von Präsident Bush war eine Lüge: «Die britische Regierung hat erfahren, dass sich Saddam Hussein vor kurzem in Afrika um erhebliche Mengen Uran bemüht hat.»⁷ Es gab im Irak kein Uran aus Afrika. Später kritisierte Colin Powell die Geheimdienste für die Desinformation, die gleichen Geheimdienste, die heute wieder als Referenzen herhalten müssen.⁸ Das ganze war eine False-flag-Operation, wie wir sie aus verschieden Kriegen kennen, um den Irak ein für alle Mal als eigenständigen, von den USA unabhängigen Staat zu zerstören und sich seiner wertvollen Bodenschätze zu bemächtigen. 

Heute, 15 Jahre danach ist das Land immer noch in einem katastrophalen Zustand. George W. Bush versprach «eine Demokratie im Irak zu installieren, was zum Frieden im Nahen Osten beitragen würde». 

Nichts, aber auch gar nichts von dem, was man der Welt versprach, wurde von den USA erreicht, sondern der Nahe Osten wurde in ein Chaos gestüzt, das bis heute anhält. Es drängt sich die Vermutung auf, dass genau das das Ziel der USA und seiner Verbündeten war, um so die Region besser zu kontrollieren und die Bodenschätze auszubeuten. Keiner der für den Krieg Verantwortlichen wurde je zur Rechenschaft gezogen und, wie man es in Falle Jugoslawiens gemacht hat, vor ein Kriegsgericht gestellt. Letztlich ist die Entstehung des IS ein Resultat dieser US-amerikanischen Interventionspolitik. 

Bis vor kurzem herrschte der IS in einem grossen Gebiet Syriens und in Teilen des Iraks. Das hat das Land geschwächt, und der Krieg hat Städte wie Mosul dem Erdboden gleich gemacht. 

Klassische Lehre der
Kriegspropaganda

Heute, fast auf den Monat genau 15 Jahre später, stehen wir wieder vor der nahezu gleichen Situation. Die englische Premierministerin Theresa May, der französische Präsident Emmanuel Macron, und der US-Präsident Donald Trump, behaupten uni sono, Beweise zu besitzen, dass der mutmassliche Giftgasangriff von Assads Truppen ausgegangen sei. Damit werden gleich alle im Syrienkrieg, die mit Assad verbündet sind, auf die Anklagebank gesetzt. Der legitime syrische Präsident, wie ihn die Chefanklägerin im Jugoslawien-Tribunal Carla del Ponte, in einem Interview im März 2016 bezeichnete,⁹ wird jetzt nach dem gleichen Muster wie damals Saddam Hussein dämonisiert. Das entspricht der klassischen Lehre der Kriegspropaganda, wie sie Anne Morelli in ihrem Buch dargelegt hat.10 Bis heute wissen wir nicht, was in Duma wirklich passiert ist. Die Weltöffentlichkeit hat keinen dieser angeblichen Beweise zu Gesicht bekommen. Aber inzwischen griffen die USA, Gross Britannien und Frankreich Syrien an, ohne Mandat des Uno-Sicherheitsrats, was wiederum eine schwere Verletzung der Uno-Charta darstellt und damit völkerrechtswidrig ist. Dass unsere Mainstreammedien das gutheissen und den völkerrechtswidrigen Angriff als notwendig und richtig bezeichnen, zeigt, wie weit das Rechtsverständnis erodiert ist. Auch wenn die englische Premierministerin Theresa May behauptet, der Angriff sei «notwendig und legal» gewesen, er ist es nicht, ausser das Faustrecht wird zur internationalen Legalität erklärt. 

Völkerrechtswidrige Aktion

Der Angriff der Alliierten fand also unter dem bewussten Verstoss des Völkerrechts statt, noch bevor die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) ihre Untersuchungen aufnehmen konnte. Dass Staaten wie Deutschland oder Italien dieses Vorgehen billigen und Frau Merkel dies noch öffentlich unterstützt, erinnert an die Reaktion, als Präsident Trump vor einem Jahr zu einer ähnlichen völkerrechtswidrigen Aktion ausholte. Zwar äusserte Frau Merkel bei anderer Gelegenheit medienwirksam über die Bedeutung des Rechtsstaats: «Stärke des Rechts, nicht Recht des Stärkeren.» Wenn das die Nato-Verbündeten und insbesondere die USA betrifft, gilt jedoch nur das «Recht des Stärkeren». Wozu haben sich die Menschen nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs zusammengesetzt, um internationale Normen auszuarbeiten, die ein friedliches Zusammenleben der Völker ermöglichen? Sicher nicht, um es bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, zu brechen. Der Konflikt in Syrien hätte friedlich gelöst werden können, wenn alle, die den Konflikt am Anfang befeuert hatten, das Völkerrecht eingehalten hätten. Und er kann auf dieser Basis auch jetzt noch gelöst werden. ν

¹ Bomben für den Frieden, Dok-Sendung SF vom 12.03.2008

² «New York Times» vom 06.02.2003

³ Bomben für den Frieden, Dok-Sendung SF vom 12.03.2008

⁴ «Der Spiegel» vom 18.09.203

⁵ Daniele Ganser: Illegale Kriege der Nato, Zürich 2016, S. 223

⁶ Bomben für den Frieden, Dok-Sendung SF vom 12.03.2008

⁷ «New York Times» vom 29.01.2003

⁸ «Der Spiegel» vom 09.09.2005

⁹ «Zeitgeschehen im Fokus» 2/2016

10 Anne Morelli: Prinzipien der Kriegspropaganda, 2014 

Wurde in Duma Gift-Gas eingesetzt?

thk. Im vom «Westen» geführten Propagandakrieg um den angeblichen Giftgaseinsatz in Duma meldet sich der investigative Journalist der britischen Zeitung «The Independent», Robert Fisk, zu Wort und bringt Licht ins Dunkel. Er hat sich von Beirut aus auf den Weg nach Duma gemacht, um sich selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Dabei hat er mit einem Oberarzt des Spitals gesprochen, das im Video, das um die Welt ging, zu sehen war. Er bestätigte, «dass das ‹Gas›-Video […] vollkommen echt sei.» Aber Robert Fisk schreibt in seinem Artikel weiter: «Dieser 58jährige Oberarzt fügt dann etwas zutiefst Unbehagliches hinzu: Die Patienten, sagte er, seien nicht durch Gas, sondern durch Sauerstoffmangel in den mit Müll vollgestopften Tunneln und Kellern, in denen sie lebten, überwältigt worden, in einer Nacht mit viel Wind und schwerem Beschuss, der einen Staubsturm hervorrief.» Der Arzt, der selbst kein Augenzeuge war, stützt sich dabei auf Aussagen der dort kämpfenden «Dschihad-Kämpfern von Jaish el-Islam in Duma». Das sind die erklärten Gegner der Regierung Assad, die bis zuletzt in Ost-Goutha ausgeharrt haben. Robert Fisk hat sich ernsthaft darum bemüht, ein Bild von der Situation zu bekommen. «Es gibt die vielen Menschen, mit denen ich in den Ruinen der Stadt gesprochen habe, die sagten, sie hätten ‹niemals geglaubt an› die Gasgeschichten – die gewöhnlich von den islamistischen Gruppen verbreitet wurden.» Eine weitere Aussage eines Betroffenen aus Duma, die Robert Fisk in seinem Artikel zitiert, ist entlarvend: «Ich war mit meiner Familie im Keller meines Hauses […], aber alle Ärzte wissen, was passiert ist. Es gab eine Menge Beschuss und Flugzeuge waren nachts immer über Duma – aber in dieser Nacht kamen Wind und riesige Staubwolken in die Untergeschosse und Keller, in denen die Menschen lebten. Die Menschen kamen hier an und litten unter Hypoxie, d.h. unter Sauerstoffmangel. Dann rief jemand, ein ‹Weisshelm›, an der Tür ‹Gas!›, und Panik brach aus. Die Leute fingen an, einander mit Wasser zu überschütten. Ja, das Video wurde hier gedreht, es ist echt, aber was Sie sehen, sind Menschen, die an Hypoxie leiden – nicht an einer Gasvergiftung.» ν

Quelle: www.independent.co.uk/voices/syria-chemical-attack-gas-douma-robert-fisk-ghouta-damascus-a8307726.html

 

Unsere Beziehung zur EU: «Stärke zeigen!»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermann (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Ist der Vorschlag des Bundesrates, in einem Rahmenabkommen mit der EU zu vereinbaren, dass zukünftige Streitigkeiten mit Hilfe eines Schiedsgerichts beizulegen seien, ein für die Schweiz gangbarer Weg?

Nationalrätin Yvette Estermann Wir haben schon einen guten Weg, und meiner Ansicht nach muss man das Rad nicht neu erfinden. Ich bin überzeugt, dass der Bundesrat jetzt Stärke zeigen und mit aller Deutlichkeit darlegen muss, dass die Schweiz ihre Bedingungen stellt und ihre Vorstellungen klar einbringt. Wir hätten genug Möglichkeiten, auf die EU Druck auszuüben. In dieser Frage müssten wir klar sagen: Nein, wir bleiben bei unserer Haltung. 

Warum zeigt der Bundesrat hier so wenig Stärke?

Ja, die Frage ist: Warum ist der Bundesrat so schwach? Ich ärgere mich auch jeweils darüber. Es prallen im Bundesrat verschiedene Standpunkte aufeinander. Es existiert die Auffassung, die Schweiz sollte schon längst ein Teil der EU sein. Und diejenigen, die das vertreten, werden nie kampfbereit sein, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu verteidigen. Das heisst, es gibt im Bundesrat immer noch Personen, die für einen Beitritt zur EU sind, weil er für sie alle Probleme lösen würde. Es scheint sie zu reizen, dort eine Position zu bekommen, die nebenbei auch nicht schlecht bezahlt ist, und sie könnten dann in der EU mehr Macht ausüben. 

Ein immer wieder bemühtes Argument ist, dass die Schweiz, wenn sie in der EU wäre, dort mitbestimmen könnte. Überzeugt Sie das nicht?

Da muss ich wirklich lachen. Dieses Argument hat man bereits verwendet, als es vor vielen Jahren um den Beitritt Österreichs zur EU gegangen ist. Da haben die EU-Befürworter ins Feld geführt und argumentiert, Österreich hätte dann weniger Verkehr, denn sie könnten bei der Verteilung mitsprechen. Das Gegenteil ist doch der Fall. Man wird im Land zu etwas verknurrt, was man der Bevölkerung eigentlich kaum verkaufen kann. Aber man hat keine andere Wahl, weil man sich mit einem Beitritt dafür entschieden hat. 

Was für Schlüsse ziehen Sie daraus?

Es ist besser, wenn man nicht in der EU ist und einmal abwartet, wie sie ihre Probleme löst. Aber wir müssen der EU sicher keine Zugeständnisse machen.

Wo sehen Sie die grossen Probleme der EU?

Als gebürtige Slowakin habe ich natürlich die Ostländer im Blickfeld. Ich meine damit die neuen EU-Mitgliedsländer. Sie werden sich nicht auf immer und ewig bevormunden und sich von den «Grossen» alles sagen lassen. Sie kennen das. Sie haben die frühere Herrschaft noch gut in Erinnerung, das ist noch nicht so lange her, gerade einmal eine Generation. Diese Länder werden sich früher oder später einen eigenen Weg suchen. Dass sie nicht alles mitmachen, hat man am deutlichsten in der Flüchtlingsfrage gesehen. 

Was wird das für Folgen haben?

Die EU kann, wenn der Widerstand der Länder zu gross ist, nicht einfach darüber hinweggehen. Aber es braucht diesen geschlossenen und entschiedenen Widerstand. Dann lässt sich auch die EU in gewissen Aspekten modellieren. Die Schweiz sollte diese Kunst des Modellierens beherrschen. Es würde mich sehr freuen, wenn wir einen Bundesrat hätten, der das versteht und somit die EU in gewissen Fragen «auf Schweizer Kurs bringt».

Sie haben vorher erwähnt, dass die Schweiz Druck auf die EU ausüben, also sozusagen ihre Trümpfe in die Waagschale werfen könnte. Woran haben Sie hier gedacht?

Wir haben mehrere Möglichkeiten, nur werden sie von der Schweiz nicht ausgeschöpft. Der grosse Teil des EU-Verkehrs rollt über unsere Strassen. Wir bekommen eigentlich wenig dafür, sondern legen am Ende noch drauf. 

Woran denken Sie hier?

Zum Beispiel an die Verladung der Güter auf die Schiene. Zum Teil fehlen in Deutschland oder Italien die Anschlüsse an das Schweizer Schienennetz. Das ist ein grosser Trumpf, den wir ausspielen könnten. Die Schweiz hat den Bahnverlad bestimmt, die Bevölkerung möchte das, also bitte … Hier könnten wir sicher etwas erreichen, wenn wir diese Dinge in die Diskussion einbrächten. 

Es heisst doch immer, wir seien wirtschaftlich von der EU abhängig. 

Nein, sind wir nicht. Wir können doch ohne weiteres Waren aus anderen Ländern als der EU beziehen. Warum können wir nicht die Lieferanten wechseln, wenn wir mit ihnen nicht zufrieden sind? Also für mich ist offensichtlich: Die EU profitiert vom Handel mit der Schweiz, denn wir sind sehr gute Konsumenten. Wir konsumieren Luxusgüter und nicht nur Brötchen. Wir müssen uns umschauen und neue Handelspartner suchen. So könnten wir zum grössten Teil verschiedene Güter auch ausserhalb der EU beziehen. 

Wie muss man jetzt den Vorschlag Cassis beurteilen?

Für mich geht das so überhaupt nicht. Das, was er jetzt mit dem Schiedsgericht vorgeschlagen hat, ist doch eine Nebelpetarde. Es soll schön aussehen, aber mehr ist es nicht. Es bleibt alles beim Alten. Das ist für mich nicht akzeptabel. 

Konfliktsituationen, wie man sie bisher gelöst hat, also in einem sogenannten gemischten Ausschuss, wäre der Weg? 

Ja, wenn immer wieder betont wird, dass die EU unser Partner ist und die EU einen gleichwertigen Austausch mit seinem Partner haben will, dann wird man sich einig. Dann braucht es nichts anderes, als die beiden Parteien zusammenzubringen und einen Kompromiss auszuloten. Da braucht es keinen Richter, der am Schluss sagt, was recht ist oder nicht. Wenn wir eine Partnerschaft haben, dann gibt es auch eine partnerschaftliche Lösung. Wenn wir keine Partner sind, sondern nur Bittsteller, dann kann es für diejenigen, die so denken, richtig sein, einen fremden Richter zu konsultieren. Wenn zwei Staaten sich aber als gleichwertige Partner verstehen, dann sollen sie auch partnerschaftliche Lösungen anstreben. Andernfalls soll die EU sagen, dass sie einen Vasallen will, dann wäre es allen klar, worum es der EU geht. Wir müssen unsere Unabhängigkeit unter allen Umständen bewahren, denn es geht um die Zukunft unserer Schweiz!

Frau Nationalrätin Estermann, vielen Dank für das Gespräch.   

Interview Thomas Kaiser, Bern

Strommarkt: «Die Existenz und die Entwicklung der Infrastruktur muss durch staatliche Instrumente gesichert werden»

«Ein Marktregime wäre nur mit einer sehr starken Regulation und Korrekturmechanismen machbar»

Interview mit Nationalrat Roger Nordmann

Nationalrat Roger Nordmann (Bild thk)
Nationalrat Roger Nordmann (Bild thk)

Jeder souveräne Staat verfügt über lebenswichtige Anlagen und Institutionen, die er auf keinen Fall aus der Hand geben darf. Für einen neutralen Kleinstaat wie die Schweiz gilt das in besonderen Masse. Dazu gehören wichtige Elemente der Infrastruktur wie Wasser- und Energieversorgung, die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichenden Lebensmitteln, das Post- und Telekommunikationswesen sowie alles das, was wir unter dem service public verstehen. Der neoliberalen Wirtschaft, die nach dem Kalten Krieg unter dem Deckmantel einer «unaufhaltsamen Globalisierung» die vorherrschende Wirtschaftsform geworden ist, sind solche Bereiche, die nicht in den freien Markt gegeben werden sollen, ein Dorn im Auge, denn damit liesse sich viel Geld verdienen.

Grimsel-Stausee: «Unsere Stauseen als Batterien für die Energiewende» (Bild thk)

Grimsel-Stausee: «Unsere Stauseen als Batterien für die Energiewende» (Bild thk)

 

Ein sehr sensibler Bereich ist die ganze Stromversorgung und alles, was dazu gehört von Stauseen über Staumauern, Flusskraftwerken usw. Seit Jahren wird vor allem vom Ausland, aber auch im Inland Druck ausgeübt, die Stromversorgung vollständig zu liberalisieren. Seit 2009 ist der Strommarkt für Grosskunden, das heisst für diejenigen Kunden, die über 100 000 kWh Verbrauch pro Jahr ausweisen, geöffnet mit verheerenden Folgen für die Stromproduzenten in der Schweiz. Eine Motion will für die Kleinkunden nun ebenfalls den Markt öffnen. Welche Auswirkungen dies und ein vor allem von der Wirtschaft und interessanterweise vom Bundesrat gefordertes Strommarktabkommen hätte, legen in den folgenden Interviews der Fraktionschef der SP Nationalrat Roger Nordmann und der CVP Nationalrat Thomas Egger dar.

Zeitgeschehen im Fokus Warum haben Sie gegen die Motion argumentiert und votiert, die den zweiten Schritt der Strommarktliberalisierung zum Ziel hat?

Nationalrat Roger Nordmann Diese Motion wollte eine blanke Liberalisierung, ohne flankierende Massnahmen und ohne in ein europäisches Strommarktabkommen eingebettet zu sein. Das hat keinen Sinn. Die Preise am Grosshandelsmarkt sind so tief, dass niemand mehr investieren kann. 

Warum sind die Preise dermassen tief?

Das ist kein Zufall, sondern hängt damit zusammen, dass die Preisbildung an der Börse die Grenzkosten der Stromerzeugung widerspiegelt, bei Wasser, Sonne und Windkraft sind sie gleich null, bei Atomkraft sehr niedrig und nur bei Kohle und Gas sind sie etwas höher. Das sind vielleicht vier oder fünf Rappen. Das ist viel zu wenig und widerspiegelt überhaupt nicht die Vollkosten der Stromerzeugung, d. h. inklusiv Investitionen, Amortisationen und Kapitalkosten. Der Markt ist aus internen Gründen dysfunktional. Dazu kommt noch, dass der natürliche Zustand der Stromversorgung kein Markt ist, sondern ein Monopol von demjenigen, der das Netz besitzt. Man braucht eine riesige Bürokratie, um einen Scheinmarkt herzustellen. Ein Vorteil wäre jedoch ein Strommarktabkommen mit flankierenden Massnahmen.

Worin sehen Sie den Vorteil in einem europäischen Strommarktabkommen?

Einen Vorteil sehe ich im Bereich der Versorgungssicherheit, da wir bei Stromknappheit importieren können. Zudem könnten wir unsere Überschüsse sicher exportieren und unsere Stauseen als Batterien für die Energiewende in Europa verwenden, und dabei Geld verdienen und zur Beschleunigung der Energiewende europaweit beitragen. 

Was muss darin geregelt sein?

Wir brauchen einen flankierenden Mechanismus, der die Amortisation der Investition sichert. Die KEV, die Einmalvergütung oder die Investitionshilfe haben ein bisschen dazu beigetragen. Das reicht aber nicht aus, es braucht wesentlich mehr, sonst leben wir ein paar Jahre von der Substanz, ohne zu investieren, bis wir irgendwann in die steigende Phase eines «Schweinezyklus» geraten, das heisst, dass Strom mangels Erzeugungsanlagen schweineteuer wird.

Warum hat das diese Auswirkungen?

Es braucht mindestens 10 Jahre, um in Stromerzeugungskapazitäten zu investieren, ausser bei Sonnenenergie, da geht es etwas schneller. Wenn aber einmal eine Anlage steht, dann steht sie für mindestens 40, wenn nicht gar für 100 Jahre. Es ist eine langfristige Investition, und der Grenzkostenmarkt sendet nicht die richtigen Preissignale aus, damit investiert wird. 

Wie kann man das ändern?

Indem man hier eine starke Korrektur vollzieht. Die Existenz und die Entwicklung der Infrastruktur muss durch staatliche Instrumente gesichert werden. Der Markt kann leider nur ein Signal für die momentane Verfügbarkeit des Stroms senden: Ist es jetzt, zum Zeitpunkt x, sinnvoll, entweder zu speichern oder zu liefern? Ein Marktregime wäre nur mit einer sehr starken Regulation und Korrekturmechanismen machbar. 

Ein zweiter Punkt ist, dass es hier um Volksvermögen geht. Die Schweizer haben das mehrmals bezahlt, und es kann nicht sein, dass man in einer Phase der Depression privatisiert und später, wenn es besser geht, private Anleger enormes Geld damit verdienen. Es ist ein sehr langfristiges Geschäft und damit sehr ungeeignet für den Markt und für die Privatisierung.

Was für Folgen hätte die Privatisierung? 

Die Gewinne werden so lange privatisiert, bis das System bankrott ist und der Staat die Reparaturen bezahlen muss, oder wir verzichten auf eine eigene Stromversorgung. 

Der erste Schritt der Privatisierung für die Grossverbraucher bis 100 000 Kilowatt hat zur Folge gehabt, dass es den Stromproduzenten immer schlechter gegangen ist, weil der Strom aus dem Ausland billiger war.  

Das Problem ist, dass die Gross­kunden nur den Börsenpreis zahlen, und das ist nur ein Teil der Stromkosten. Dagegen bezahlen die Kleinkunden den richtigen Preis für den Strom. Das sind die Gestehungskosten plus Marge. Im Börsenpreis sind die Amortisationen nicht enthalten. Das kann auf Dauer nicht gehen. Die Konsequenzen beobachten wir. Die Firmen, die keine kleinen Endkunden haben, sondern nur Grosskunden, sind in einer extrem heiklen Situation. Das sind Alpiq und Axpo, während es den Verteilnetzbetreibern noch gut geht. Die Frage stellt sich natürlich schon, ob es sinnvoll ist, die Netzbetreiber in die Lage von Alpiq und Axpo zu bringen. 

Wo sehen Sie die Lösung des Problems?

Dass jeder mittelfristig den effektiven Preis für den Strom anstatt eines  Dumping-Preises bezahlt.

Vor einer weiteren Illusion warne ich, dass der Strom billiger würde für Endkunden. Das wird nicht der Fall sein. Wenn die Verbraucher 8 Rappen bezahlen, gehen aktuell 6 - 7 Rappen davon zum Stausee für die Produktion. Inskünftig werden nur 4 Rappen zum Produzenten gehen, wie bei den Grosshandelspreisen. Die Preise für den Endkunden werden aber nicht billiger. Am Ende verdient eine ganze Sippe von Leuten, die Informatik, Werbung, Verwaltung usw. betreiben. Den Vergleich, den Frau Bundesrätin Leuthard gezogen hat, dass es ähnlich sei wie mit dem Wettbewerb im Krankenkassenwesen, finde ich sehr entlarvend. Es ist eine Scheinkonkurrenz und wird zum grossen Kostenblock. Der relative Anteil der Bürokratiekosten wäre im Strombereich noch höher, da die zugrundeliegende Leistung wesentlich billiger ist als bei einer Krankenkasse. 

Herr Nationalrat Nordmann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

Stromabkommen mit der EU

«Druck auf die Strompreise steigt damit weiter an»

Interview mit Nationalrat Thomas Egger

Nationalrat Thomas Egger (Bild thk)
Nationalrat Thomas Egger (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Gefahren lauern bei einer Liberalisierung?

Nationalrat Thomas Egger Hier genügt ein Blick auf die wirtschaftliche Situation von Alpiq und Axpo. Diese beiden Grosskonzerne bewegen sich bereits heute im vollständig liberalisierten Markt und beliefern selber keine Kunden in der Grundversorgung. Es sind eigentlich nur diese beiden Unternehmen, die wirtschaftliche Probleme haben, allen anderen geht es gut, wie auch die Berichte der Elcom und des Bundesamtes für Energie bestätigen. Wenn der Markt vollständig geöffnet wird, akzentuieren sich die Probleme für alle Stromunternehmen in der Schweiz. Als Nebeneffekt würde auch der politische Druck steigen, die Wasserzinsen zu senken. Verlierer wären einmal mehr die Berggebiete.

Welche Bedeutung hat die Versorgungssicherheit in unserem Land?

Die Versorgungssicherheit hat in der Bevölkerung einen sehr hohen Stellenwert. Die Politik hat diesem Stellenwert unter anderem Rechnung getragen mit dem Stromversorgungsgesetz. Dieser Titel wurde bewusst so gewählt, um die Bedeutung der Versorgungssicherheit hervorzustreichen. Inhaltlich wird die Gewährleistung der Versorgungssicherheit dann allerdings wieder in erster Linie an die Branche delegiert, der Bund kann nur subsidiär eingreifen. Welchen hohen Stellenwert die Schweizer Bevölkerung der Versorgungssicherheit beimisst, sieht man zum Beispiel auch beim Ergebnis der Volksabstimmung zur Ernährungssicherheit von letztem Herbst, als fast 80 % der Bevölkerung die Vorlage unterstützte.

Würde ein europäisches Stromabkommen unser aktuelles Problem lösen?

Es kommt sehr stark darauf an, wie dieses Abkommen ausgestaltet wird. Klar würde es die Versorgungssicherheit zumindest in der aktuellen Konstellation erhöhen, da wir dann Energie aus dem Ausland importieren können. Doch der Druck auf die Strompreise steigt damit weiter an. Zudem will die EU, dass wir bei einem Stromabkommen auch die EU-Regeln über staatliche Beihilfen übernehmen. Schweizerische Lösungsansätze wie zum Beispiel die im Jahr 2017 eingeführten Investitionsbeiträge und Marktprämien für die Wasserkraft sind mit diesen Beihilferegeln nicht vereinbar. Und wenn die Beihilferegeln auch auf andere Bereiche ausgedehnt werden, dann müssten zahlreiche Subventionstatbestände abgeschafft werden. Auch hier wären in erster Linie die Berggebiete die Verlierer.

Die Kommission des Ständerats hat die Parlamentarische Initiative Badran «Schutz vor ausländischen Investoren in unsere Wasserkraft» unterstützt. Ein Lichtblick?

Die Unterstellung der Wasserkraft unter die Lex Koller – wie es Nationalrätin Badran fordert – ist ein völlig falscher Ansatz. Frau Badran scheint wie besessen von diesem uralten Instrument staatlicher Planwirtschaft und möchte am liebsten so viel wie möglich der Lex Koller unterstellen. Dabei sollte die aus den 1960er-Jahren stammende Lex Koller schon lange abgeschafft werden. Sie wurde ursprünglich eingeführt, um den Verkauf von Chalets an Ausländer zu regulieren. Seit der Annahme der Zweitwohnungsinitiative im Jahr 2012 besteht hier aber eine viel schärfere Regulierung. Die Lex Koller macht keinen Sinn mehr. Nun haben sowohl die UREK des National- als auch des Ständerates die Parlamentarische Initiative in der ersten Phase angenommen. Die Kommissionen bringen damit zum Ausdruck, dass es einen Schutz strategischer Infrastrukturen vor einer Übernahme durch Ausländer braucht. Wie genau dieser Schutz ausgestaltet werden soll, wird sich nun weisen. Die Lex Koller ist dafür auf jeden Fall das falsche Instrument, da sie nur den Erwerb von Grundstücken regelt.

Herr Nationalrat Egger, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser, Bern

Schweizer Landwirtschaft – «regionale, nachhaltig produzierte Lebensmittel»

Interview mit Nationalrat Markus Ritter, Präsident des Schweizer Bauernverbandes

Nationalrat Markus Ritter (Bild thk)
Nationalrat Markus Ritter (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Bauern sind nicht zufrieden mit der Politik des Bundesrates, der Ernährungssicherheit in der Liberalisierung der Märkte sieht. Wie soll es mit der Landwirtschaft in unserem Land weitergehen?

Nationalrat Markus Ritter Grundsätzlich hat uns das Abstimmungsergebnis vom 24. September 2017 sehr gefreut, denn eine Zustimmung von 78,7 % ist schon ausserordentlich. Noch nie gab es einen so hohen Ja-Stimmen-Anteil zu einer landwirtschaftlichen Vorlage, seit der Bundesstaat gegründet wurde. Das ist sicher ein Vertrauensbeweis für die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern. 

Was uns nicht gefreut hat, war der am 1. November 2017 veröffentlichte Bericht des Bundesrates «Gesamtschau zur Agrarpolitik». Der Bundesrat ist hier deutlich vom Verfassungsauftrag abgewichen, sei es vom Artikel zur Landwirtschaft oder demjenigen zur Ernährungssicherheit. 

Bild thk

Bild thk

Inwiefern weicht hier der Bundesrat vom Verfassungsauftrag ab?

Er will den Grenzschutz massiv abbauen bzw. die Preisdifferenz zwischen den landwirtschaftlichen Produkten in der Schweiz und dem Ausland um 30 bis 50 % verringern. Das wäre für die Schweizer Landwirtschaft so nicht machbar. 

War es nicht zu erwarten, dass der Bundesrat diesen Weg gehen will?

Auf alle Fälle nicht in dieser Form. Wir haben verschiedene Freihandelsdiskussionen, die im Ergebnis offen sind. Wir suchen immer sehr individuell nach Lösungen, die wir für die Landwirtschaft, aber auch für die übrige Wirtschaft umsetzen können. Das hängt immer ein bisschen davon ab, welche Lebensmittel betroffen sind. Für uns ist dabei der WTO-Rahmen massgebend, der in der Uruguay-Runde abgesteckt wurde. Dazu kommt der Schutz der sensiblen Produkte wie Milch, Getreide, Fleisch oder auch Gemüse und weitere Produkte. Es ist wichtig, zu wissen, wo die sensiblen Bereiche liegen. Es ist eigentlich ein angekündigter Abbau auf Vorrat mit einer Perspektive bis 2026. Das ist für unsere Landwirtschaft nicht umsetzbar.

Warum ist das für die Landwirtschaft unmöglich?

Insbesondere weil auch griffige Begleitmassnahmen sowie Vorschläge zur Kostensenkung fehlen. Das einzige Rezept des Bundesrats ist ein erhöhter Strukturwandel, mit anderen Worten ein Bauernsterben, das 40 % höher sein soll, als es schon heute der Fall ist. 

Sie haben in der Arena-Sendung vor einigen Wochen das ja deutlich zum Thema gemacht, dass mit dieser Politik das Bauernsterben beschleunigt wird.

Wenn die Politik so umgesetzt wird, wie es im Bericht steht und wenn der Bundesrat den Abbau des Grenzschutzes durchsetzt, dann würde das ca. 1000 Franken im Monat pro Bauernfamilie weniger Einkommen bedeuten. Das Ziel, diese Ausfälle aufzufangen, ist mit einem Bauernsterben von jährlich 1300 Betrieben bei 1700 Betrieben, die insgesamt im sogenannten Generationenwechsel weitergegeben werden können, inakzeptabel. Das bedeutet für junge Leute keine Perspektive mehr, um in diesen wunderschönen Beruf einzusteigen und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. 

Woran liegt das?

Wir haben hohe Kosten in der Schweiz, wir haben auch hohe Löhne, und die Landwirtschaft muss sich in diesem Umfeld irgendwie zurechtfinden können. Sie hat jetzt schon grosse Mühe, sich zwischen den grossen Unternehmen der vor- und nachgelagerten Stufe zu behaupten. Hier ist der Grenzschutz eine der wichtigsten und effizientesten agrarpolitischen Massenahmen, die wir heute haben. 

Warum setzt der Bundesrat so stark auf Freihandel in der Landwirtschaft?

Was ich nicht verstehe, ist, dass gemeinsam im Dialog nach Lösungen gesucht wird. Es sind nie vollkommene Freihandelsabkommen, es werden immer gegenseitig Zugeständnisse vereinbart, die Handelsbeziehungen zu vereinfachen. Was wir nicht verstehen, ist, dass der Bundesrat in einer Gesamtstrategie diesen Weg beschrieben hat und darauf hinarbeitet, um die Landwirtschaft als Zahlungsmittel für die Interessen der übrigen Wirtschaft in den nächsten Jahren zu brauchen. Alle Freihandelsabkommen mit landwirtschaftlichen Zugeständnissen über zusätzliche Importe zu legitimieren und aushandeln zu können, unbesehen der Qualität der Lebensmittel, das ist das Ziel des Bundesrates. 

Was beabsichtigt der Bundesrat mit dieser Art des Vorgehens? 

Er will sich mit der nächsten Agrarpolitik eine grosse Manöv­riermasse sichern, um verschiedene Freihandelsabkommen zu Gunsten der Wirtschaft und zu Lasten der Landwirtschaft aushandeln zu können. Das ist für uns in dieser Form nicht akzeptabel und widerspricht auch den beiden Verfassungsartikeln 104 und 104a. Das wird vom Volk auch so nicht gewünscht und mitgetragen. Uns dünkt die Verbindung von Freihandel und nationaler Agrarpolitik sehr schwierig. Die nationale Agrarpolitik braucht Stabilität, die der Landwirtschaft klare Perspektiven gibt, damit junge Leute diesen Beruf ergreifen und investieren können. Für uns ist Sicherheit und eine hohe Glaubwürdigkeit der Rahmenbedingungen bedeutend. Auf der anderen Seite weist die internationale Handelspolitik sehr viele Unsicherheitsfaktoren auf: In der WTO geht gar nichts mehr, die USA beschliesst Strafzölle, die EU, die im Brexit gefangen ist und sich schwertut, Lösungen zu entwickeln. Da macht es keinen Sinn, Dossiers zu verknüpfen, mit einer völlig unterschiedlichen Dynamik in der Ausgestaltung und den Bedürfnissen. 

Sehen Sie beim Bundesrat ein Einlenken oder ein Einsehen?

Ich denke schon, dass der Bundesrat eingesehen hat, dass dieser Vorschlag nicht der beste war, den er in Sachen Agrarpolitik vorgelegt hat. Die Frage ist, wie kommt er wieder aufs Gleis. Dazu haben wir am 27. März einen Rückweisungsantrag gestellt, der gutgeheissen wurde.

Inwiefern?

Auf dieser Basis kann der Bundesrat nun den Bericht überarbeiten. Entscheidend ist, dass der Nationalrat den Entscheid der Kommission [Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben] in der Sommersession bestätigt. Das ist die Grundlage, damit die Diskussion überhaupt wieder in vernünftige Bahnen gelenkt werden kann, die sowohl innenpolitisch als auch in der Aussenpolitik wieder zu guten Diskussionen führen kann.

Warum ist für die Landwirtschaft ein Freihandelsabkommen schwierig?

Wir haben über 30 Freihandelsabkommen. Man kann nicht per se sagen, Freihandelsabkommen sind für uns nicht umsetzbar. Die Frage ist, wie sie ausgestaltet werden, welche Zugeständnisse im Bereich der Landwirtschaft gemacht werden sollen. Wir sind hier nicht in der gleichen Problematik wie in der WTO, wo viele Länder miteinander ein Abkommen treffen. Wenn man dann etwas nicht einhält, ist man in den Gesamtverträgen nicht mehr kompatibel, dann kann man in diesem System nicht mehr mitmachen. Das ist immer sehr problematisch. Bilaterale Freihandelsverträge zwischen anderen Ländern und der Schweiz sind immer ein Geben und Nehmen. Wenn wir am Schluss «Ja» sagen, dann haben wir den zusätzlichen Marktzugang. Wenn wir «Nein» sagen, passiert nicht viel. Dann haben wir einfach Status quo. Deshalb hat man hier viel Verhandlungsspielraum. Gibt man viel, bekommt man viel. 

Wie steht die Schweiz in solchen Verhandlungen? 

Wir haben den Vorteil, dass wir sehr flexibel sind. Wir können immer alleine verhandeln. Das ist viel einfacher als für die EU. Wir haben natürlich noch einen weiteren Vorteil gegenüber der EU. Die EU ist ein grosser netto Agrarexporteur. Das heisst, sie produzieren gesamthaft mehr Lebensmittel, als sie selbst verbrauchen. Sie müssen exportieren. Die Schweiz ist ein netto Agrarimporteur. Wir haben nur einen Selbstversorgungsgrad von 60 %. Wir importieren also heute schon 40 % der Lebensmittel. 

Was bedeutet das jetzt für den Freihandel?

Wir können bei Freihandelsabkommen gewisse Zugeständnisse machen, wenn wir es schlau und intelligent machen, ohne die Schweizer Landwirtschaft zu gefährden. Deshalb ist unsere Ausgangslage in diesen Diskussionen per se nicht schlecht. 

Bei den Verhandlungen um die Freihandelsverträgen mit den Mercosur-Staaten wird immer wieder die Landwirtschaft thematisiert. Inwieweit ist das für unsere Landwirtschaft überhaupt attraktiv?

Die Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay haben sehr viel Landwirtschaftsfläche zur Verfügung. Sie gehören zu den grössten Agrarexporteuren weltweit und versuchen, sich hier neue Märkte zu sichern. Deshalb bringen sie das in Verhandlungen ein. Auf der anderen Seite ist die Schweiz mit ihren Interessen auf der Industrieseite. Entscheidend ist, wie man die einzelnen Interessen in die Verhandlungen einbringt. Für uns ist wichtig, dass die Anliegen der Schweizer Landwirtschaft in diesen Verhandlungen berücksichtigt und richtig gewichtet und bei einem Abschluss zur Geltung gebracht werden. Im Moment haben wir keine Grundlagen, wie weit der Bundesrat gedenkt zu gehen, was überhaupt die Verhandlungsgrundlage ist. Wir hören aus verschiedenen Gesprächen einzelne Zahlen. Die sind für uns nicht verbindlich. Im kleinen Kreise konnten wir noch nicht zusammensitzen, um auch zu schauen, welche technischen Möglichkeiten es gibt. Es ist oft sehr komplex, in welchen Bereichen man welche Zugeständnisse macht. Hier braucht es dann die Spezialisten, die das auch beurteilen können. 

Der Plan des Bundesrats ist aber, gewisse Produkte in den Freihandel zu geben.

Was uns stört, ist, dass die Landwirtschaft das Zahlungsmittel für die Zugeständnisse im Industriebereich sein soll. Das ist so sicher nicht akzeptabel. Auch die Landwirtschaft braucht Vorteile. Wir schauen das pragmatisch an, aber es kann nicht sein, dass man die Landwirtschaft zugunsten anderer Bereiche auf den Altar legt und opfert. Das funktioniert nicht. 

Sehen Sie dort einen Vorteil für unsere Landwirtschaft?

Ich glaube kaum. Der Bundesrat hat uns bei China einiges versprochen. Wir haben nur im Bereich des Käses Mengen, die wir exportieren können, sonst haben wir überall eher eine Unterversorgung. Solche Märkte sind für landwirtschaftliche Produkte nur von untergeordnetem Interesse. Wir richten uns auf den Heimmarkt aus, vielleicht noch ein bisschen EU. Darüber hinaus bestehen für uns aufgrund der vorhandenen Lebensmittel kaum Interessen. Deshalb ist es wichtig, zu schauen, was ist das Gesamtinteresse der Wirtschaft, und können wir einen Beitrag leisten, der für uns auch verträglich ist.

Müsste die Landwirtschaftspolitik nicht das Ziel verfolgen, den Selbstversorgungsgrad zu erhöhen? 

Wir haben hier verschiedene Faktoren, die eine Rolle spielen. Wir haben je nach Berechnung einen Selbstversorgungsgrad von 55 bzw. 60 %. Was hier wichtig einzubeziehen ist, ist, dass wir nur eine begrenzte Fläche an Kulturland besitzen. Nur 25 % der gesamten Landesfläche sind Kulturland, 30 % sind Waldfläche, dazu kommen noch 12 % Sömmerungsfläche, 25 % sind Stein, Fels, Alpen und Seen und 8 % sind überbaut. Damit steht uns schon einmal sehr wenig Kulturland zur Verfügung. 

Was heisst das für die Selbstversorgung?

Wir werden die Schweiz nie vollkommen selbst versorgen können. Es ist auch so, dass jährlich 2000 bis 2500 Hektaren verbaut werden. Wir haben im Mitteland 600 000 Hektaren Kulturland. Es wird viel gebaut, und die Bevölkerung wächst kontinuierlich. Alle wollen und müssen essen. Das braucht zusätzlich Lebensmittel. Es war in den letzten Jahren eine riesen Herausforderung, nur schon den Selbstversorgungsgrad konstant zu halten. 

Kann man sagen, die Schweizer Landwirtschaft hat eine Chance, im Freihandel zu bestehen? Inwieweit ist die kostengünstigere Produktion im Ausland ein Aspekt, der unseren Bauern grosse Schwierigkeiten bereitet, weil Produkte billiger importiert werden könnten? 

Rein ökonomisch betrachtet hat die Schweizer Landwirtschaft ohne Grenzschutz sozusagen keine Chance. Wir haben hier riesige komparative Nachteile. Allein gegenüber Baden-Württemberg und Bayern haben wir 50 % höhere Kosten für Gebäude und Maschinen. Wir haben in der Schweiz ein praktisch doppelt so hohes Lohnniveau. Dazu kommt, dass die Landwirtschaft extrem standortgebunden ist. Mit den Kosten für Gebäude, Maschinen, Dienstleistungen und alles, was vorgelagert ist, müssen wir umgehen können, deshalb brauchen wir auch höhere Preise.

Sind Lebensmittel denn effektiv so viel teurer als in anderen Ländern?

Die Vergleichsgrösse, ob es für die Konsumenten tragbar ist, ist der durchschnittliche Anteil an Kosten, den wir für Lebensmittel ausgeben. Da sind wir europaweit wieder am günstigsten mit nur 6,3 %. Das hängt mit unserem Bruttoinlandprodukt pro Kopf zusammen. Wir haben in der Schweiz rund 78 000 Franken, in Deutschland und Österreich sind es 38 000 bzw. 39 000 Franken. Das heisst, wir haben eine extrem hohe Kaufkraft und können uns so auch etwas höhere Lebensmittelkosten leisten. Für einen ganz grossen Teil der Bevölkerung sind die Lebensmittelkosten nicht der belastende Faktor. Das sind eher Mieten, Versicherungen, das sind Steuern. Das sind ganz andere Kosten, die unsere Familien belasten. Die Lebensmittel bekommen wir so günstig wie noch nie und erst noch in hervorragender Qualität.

Dennoch sind unserer Produkte teurer als im Ausland … 

… Wir haben in unserer Gesellschaft auch einen sehr hohen Anspruch an das Tierwohl, an den Landschaftsschutz, an die Biodiversität, an den Umweltschutz, an den Gewässerschutz – an sehr viele Leistungen in der Landwirtschaft. Wir erbringen in der Landwirtschaft unheimlich viele Leistungen, die unserer Gesellschaft auch etwas wert sind. Die Landwirtschaft erfüllt einen gesamtheitlich breiten Auftrag in sehr unterschiedlichen Bereichen, und den kann man nur kostengünstig erbringen, wenn wir unsere regionalen Produkte verkaufen können. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann wird der sogenannte Strukturwandel noch schneller vor sich gehen. Schon heute geben jährlich 900 bis 1000 Bauern ihren Betrieb auf. Wenn das so weitergeht, wird es die Schweiz, wie wir sie heute kennen, bald nicht mehr geben. Wir werden riesige Sömmerungsgebiete und Flächen im Berggebiet haben, die verbuschen und verwalden werden. 

Wäre es dann nicht zielführend, den Grenzschutz für gewisse Produkte wieder zu erhöhen?

Grundsätzlich ist die maximale Höhe des Grenzschutzes bei den Zöllen definiert. Diese Zölle sind bei der WTO notifiziert. Das gibt die obere Bandbreite an. Darüber kann man nicht gehen. Wir sind schon zufrieden, wenn wir die Zölle in der heutigen Höhe halten können. Es gibt einen gewissen Anpassungsbedarf beim Zucker. Hier sind wir in Diskussion, denn der Grenzschutz gegenüber der EU wurde praktisch auf null zurückgefahren. Die EU hat ihn aber behalten. Aber sonst können wir leben mit dem Grenzschutz in der heutigen Form. Für uns ist wichtig zu wissen, dass auch der Bund vom Grenzschutz profitiert. Das sind 600 Millionen Franken an Zolleinnahmen, 200 Millionen an Versteigerungserlösen, vor allem bei Fleisch, und noch 50 Millionen an die Pflichtlagerhaltung aus den Importen. Das Geld kommt dem Bund zugute. Hier haben wir eigentlich ein System, das optimal auf die Bedürfnisse des Bundes, der Bevölkerung und auf die Landwirtschaft ausgerichtet ist. Alle können gut leben damit. Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu ändern. 

Etwas ist für mich bisher nicht geklärt. Wir können seit Jahren das Bauernsterben beobachten. Das hat bereits unter Frau Leuthard riesige Dimensionen angenommen und setzt sich bei Bundesrat Schneider-Ammann fort. Was waren denn die Ursachen, wenn nicht der schon damals beginnende Abbau des Grenzschutzes?

Das grösste Problem ist eine starke Verunsicherung in der Landwirtschaft. Die Signale der letzten 10, 15, 20 Jahre waren per se negativ. Gerade auch von der Politik. Die Einkommenssituation, die wir im Molkerei- und Milchbereich haben, ist sehr schwierig. Auf der anderen Seite haben wir sehr viele Alternativen, die junge Menschen in der Schweiz ergreifen können. Unsere Kinder sind gesucht im Gewerbe, in der Industrie, bei den Dienstleistungen. Sie können arbeiten, sind es gewohnt, einen harten Rhythmus mitzugehen, sind es gewohnt, nicht zu jammern, sind es gewohnt, zuzupacken, sind an lange Arbeitstage gewohnt und in einem Team zu arbeiten. Sie werden gerne in der Schweizer Wirtschaft aufgenommen und verdienen dann auch entsprechend. 

So wird der Beruf für die jungen Erwachsenen immer unattraktiver?

Diese Konkurrenz macht uns grosse Sorgen. Wie soll man die nächste Generation begeistern, wenn wir von der Politik laufend negative Signale bekommen? Es ist meine Generation, die an den Küchentischen diskutiert und mit den Kindern redet. Wenn man ein-, zweimal andeutet, dass man auch etwas anderes lernen kann, dann werden die Jungen sich das überlegen und sich in eine andere Richtung orientieren. Die Zukunft der Landwirtschaft, und das sage ich immer, wird nicht vom Bundesrat bestimmt, auch nicht vom Bauernverband, sondern an den Küchentischen der Bauernfamilien. Wenn es nicht gelingt, auch in Zukunft wirtschaftliche Perspektiven zu entwickeln, dann werden wir die nächste Generation verlieren. Meine Generation 50+ wird sicher noch bis zur Pensionierung weitermachen. Aber, was kommt danach? Wenn die nachfolgende Generation nicht mehr in den Beruf einsteigen will, dann haben wir ein handfestes Problem.

Wäre die Initiative zur Ernährungssouveränität nicht unbedingt zu unterstützen, damit man in der Landwirtschaftspolitik zu einem neuen Ansatz kommt?

Wir haben diese Initiative, und wir haben die Fair Food Initiative. Es sind drei Aspekte, die wir im Bauernverband beurteilen. Wir haben offiziell noch keine Position bezogen. Wenn der Bundesrat den Abstimmungstermin festgelegt hat, werden wir in der Landwirtschaftskammer die Parole fassen. Das ist das Parlament der Schweizer Bauern und hat rund 100 Mitglieder. Wir lassen uns bisher von folgendem Gedanken leiten: Einige Anliegen beider Initiativen wurden bereits aufgenommen im neuen Verfassungsartikel 104a. Wir konnten bereits wichtige Punkte verankern wie den Kulturlandschutz, den nachhaltigen Handel, aber auch die Verhinderung von Food waste und die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Bevölkerung. Zweitens begrüssen wir die Diskussion, die durch die beiden Initiativen angestossen wurde. Das gibt uns die Möglichkeit, mit der Bevölkerung zu reden über das, was wir wollen und wohin wir wollen. Es ist so, dass die Ernährungssouveränitätsinitiative sehr viele Forderungen beinhaltet, auch einen langen Initiativ-Text hat und in dieser Form fast schon Gesetzescharakter aufweist. Es ist ein gesellschaftlicher Entscheid, dass eine so weitreichende Initiative in der Verfassung verankert werden soll. Bisher haben wir uns für Stimmfreigabe ausgesprochen. Wir wollen uns den Vorwurf ersparen, dass wir mit solchen Initiativen protektionistische Ziele verfolgten, aber wir sehen die Wichtigkeit der Diskussion über die Situation der Kleinbauern, die Tätigkeit im Berggebiet und über den Erhalt dieser wichtigen Strukturen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Landwirtschaft?

Das Wichtigste sind kostendeckende Preise für die landwirtschaftlichen Produkte, für die Lebensmittel, die wir herstellen und auf die Märkte bringen. Das ist auch wichtig für die Motivation der Bauernfamilien, für die jungen Bauern. Wenn man als Unternehmer über eine längere Zeit die Kosten nicht decken kann, dann hat das Unternehmen keine Zukunft. Wir wollen regionale, nachhaltig produzierte Lebensmittel, die wir auf den Märkten mit guter Wertschöpfung verkaufen können. Das ist die ökonomische Botschaft. Dann ist es wichtig, dass die gemeinwirtschaftlichen Leistungen, gerade im Berggebiet im Sömmerungsgebiet mit vielen Bewirtschaftungsnachteilen über Direktzahlungen in der heutigen Höhe abgedeckt werden können. Zusätzlich ist es wichtig, dass begleitende Instrumente wie Boden- und Pachtrecht weiterhin unterstützend wirken. Sehr bedeutend ist auch die Wertschätzung von der Politik und der Bevölkerung. Letztere spüren wir sehr. Dass die Menschen unsere Produkte und unseren Einsatz für gute Lebensmittel schätzen. Das sind alles Faktoren, die von Bedeutung sind, damit junge Leute bereit sind, diesen wunderschönen Beruf weiter auszuüben.  

Herr Nationalrat Ritter, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

Damit die Hoffnung wächst

In Madagaskar ist ein Grossteil der Bevölkerung unterernährt. Ruth Rossier will das mit der Kartoffel und einem Frauen-Projekt ändern.

von Esther Thalmann, BauernZeitung

Beim Verlassen des Flugzeugs steigt einem der vertraute Duft nach Afrika in die Nase. Es riecht nach verbranntem, würzigem Holz. Die Menschen gehen müde und etwas steif über die Landebahn zum Flughafengebäude. Auch Ruth Rossier, die pensionierte Agronomin aus der Schweiz, ist müde. Ihr steckt ein zehnstündiger Flug von Paris (FR) nach Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars, in den Knochen.

Im Kartoffelprojekt im Hochland von Madagaskar geht es nebst dem Anbau der Knolle auch um Frauenförderung, bessere Ernährung und um nachhaltiges Kochen. (Bild Esther Thalmann)

Im Kartoffelprojekt im Hochland von Madagaskar geht es nebst dem Anbau der Knolle auch um Frauenförderung, bessere Ernährung und um nachhaltiges Kochen. (Bild Esther Thalmann)

 

Kartoffel als Hoffnungsträger

Im internationalen Jahr der bäuerlichen Familienbetriebe, 2014, lernten sich Ruth Rossier und Lucien Maminilainoro an einer Tagung in Frankreich kennen. Rossier war damals als Forscherin bei Agroscope in Tänikon (TG) tätig. Maminilainoro, ein Bauernvertreter aus Madagaskar, war eingeladen, um über das bäuerliche Leben in seinem Land zu berichten. Madagaskar ist eines der ärmsten Länder der Welt und es gibt teilweise Ernährungsengpässe. Vor allem Kinder leiden unter Fehl- und Mangel­ernährung. Die beiden kamen ins Gespräch. «Er sprach über verschiedene Wertschöpfungsketten, die er mit seinem bäuerlichen Verein unterstützt. Die Preise sind im Keller und Lucien suchte nach Alternativen. Ich erzählte vom Verein Agro-sans-frontière Suisse, in dem ich Mitglied bin und dessen Kartoffelprojekten in Westafrika. Ich fragte ihn, ob ein Kartoffelprojekt unter Umständen auch etwas für Madagaskar wäre», erinnert sich Rossier an dieses erste Treffen. 

Ruth Rossier hatte unabhängig von dieser Begegnung eine Reise nach Madagaskar geplant. «Ich wollte die Lemuren in der freien Natur beobachten», erzählt sie. «Dies sind endemische Affen, für die das Land so bekannt ist.» Bald folgte deshalb ein zweites Treffen der beiden in Madagaskar. Dabei wurden sie sich schnell einig, dass sie eine Zusammenarbeit wagen wollten. Maminilainoros Vereinigung führte darauf eine Marktanalyse des Kartoffelanbaus in der Region Haute Matsiatra (Hochland von Madagaskar, zirka 1200 m. ü. M.) durch. Diese attestierte der Knolle ein hohes Marktpotenzial. Der Grossteil der auf dem Markt angebotenen Kartoffeln kommt aus dem 250 Kilometer entfernten Antsirabe. 2016 wurde deshalb ein Pilotprojekt gestartet. In zwei Dörfern wurde mit insgesamt 33 Bäuerinnen Kartoffeln angebaut. Nach einer positiven Bilanz startete 2017 ein dreijähriges Projekt, in dem das Erreichte vertieft und verbessert werden soll.

Es herrscht Feststimmung

Herbst 2017, es herrscht eine ausgelassene Stimmung in Andohasahabe. Obwohl das Dorf nur gerade 32 Kilometer vom Hauptort der Region, Fianarantsoa, entfernt ist, dauert die Fahrt auf der holprigen Piste über eine Stunde. Man wähnt sich ein paar Jahrzehnte zurückversetzt: kein Strom, die Häuser aus Lehm und Holz mit Dächern aus Schilfgras, gekocht wird mit Holz und überall rennen Schweine und Hühner frei herum. Auf den kleinparzellierten Feldern arbeiten die Menschen von Hand oder mit Zebus, den Buckelrindern. Traktoren sucht man vergebens. 

Der Grund zur Ausgelassenheit ist das Kartoffelfest, das heute gefeiert wird. Dieses Fest existiert seit letztem Jahr. «Damit die Kartoffel auch im täglichen Leben besser verankert wird, kam mir die Idee zu diesem Fest!» Rossier muss schreien, damit man sie versteht. Die «Fanfare Militaire», eine Blasmusikformation, scheppert lautstark ein Lied nach dem andern. Als Aussenstehende hat man das Gefühl, als würde die Kartoffel seit jeher gefeiert. Die Leute aus dem Dorf tanzen ausgelassen. Unter einem Zelt zum Schutz gegen den Regen sitzen viele wichtige geladene Gäste. 

Weiter gehören zum Projekt der Bau von Lagerhäusern, die Beschaffung von gesunden Saatkartoffeln, die Ausbildung der Produzentinnen im Kartoffelanbau und in der Kompostierung sowie Kochkurse zu den verschiedenen Zubereitungsarten der Kartoffel.

Ein Projekt mit Frauen 

Ruth Rossier arbeitet im Projekt vor allem mit Kleinbäuerinnen zusammen. «Die Arbeit mit Frauen hat mich mein ganzes Berufsleben begleitet. Gute Erinnerungen habe ich an die Zusammenarbeit mit den Schweizer Bäuerinnen», erklärt sie. «Dass ein Drittel der madagassischen Bevölkerung, und davon überwiegend Frauen, Analphabeten sind, macht es nicht ganz einfach, die Produzentinnen auszubilden.» Im Ausbildungszentrum für Obst und Gemüse in Antsirabe wird deshalb mit Bildern und Youtube-Videos gearbeitet. 2017 besuchten pro Dorf zwei Bäuerinnen die Ausbildung. Die Frauen waren bis dahin noch nie so weit von zu Hause weg gewesen. Für die anderen Frauen gelten sie als mutige Vorbilder. Vor allem das Wissen betreffend Kompostierung bringt ihnen viele Anbauvorteile. Auch 2018 will Rossier wieder Frauen in die Ausbildung schicken. Pro Dorf kann sie das fünf Frauen ermöglichen. Als sie nach Interessierten fragt, schnellen die Hände sofort in die Höhe.

Ruth Rossier arbeitet im Projekt unter der Flagge von Agro-sans-frontière Suisse. Der Verein, dessen Mitglieder fast alles Agronomen sind, gibt dem Ganzen einen offiziellen Rahmen. Zudem suchte sie die Zusammenarbeit mit der Association pour le Développement de l'Energie Solaire Suisse (ADES). ADES entwickelt, baut und verkauft Solarkocher in Madagaskar. Da die Solarkocher verhältnismässig teuer sind, hat ADES noch einen anderen Kocher entwickelt. Einen Holzkocher, der 60 Prozent weniger Holz oder Holzkohle zum Kochen benötigt. So soll das Problem der Abholzung reduziert werden. 

Nachhaltig Kochen

Fast die ganze madagassische Bevölkerung kocht noch mit Holz, auch in der Stadt. Gas ist für die meisten zu teuer. Madagaskar ist deshalb nicht die grüne Dschungel-Insel, wie einem der Trickfilm «Madagaskar» oder ein Besuch in der Masoala-Halle im Zürcher Zoo eventuell glauben machen. Die Insel ist sozusagen leer geräumt. Überall kahle Landschaft mit Spuren von Erosion. Wo es «bewaldet» ist, steht meist Eukalyptus. Dieser ist nicht unproblematisch. Er wächst zwar schnell, braucht aber Unmengen von Wasser und ist biodiversitätsmässig überhaupt nicht wertvoll. Ruth Rossier schenkt deshalb jeder Kartoffel-Produzentin als Anerkennung einen ADES-Kocher. «Die Frauen melden zurück, dass sie statt dreimal pro Woche nur noch einmal pro Woche Holz sammeln müssen», erzählt sie begeistert.

Die Arbeit geht der pensionierten Agronomin und Lucien Maminilainoro im Kartoffelprojekt nicht so schnell aus. Noch muss vieles verbessert werden. Erstens die Beschaffung der Saatkartoffeln. Es gibt keine organisierte Beschaffung von zertifiziertem Saatgut in Madagaskar. Meist werden einfach Kartoffeln auf dem Markt gekauft und gepflanzt. Das ist ein grosses Risiko, denn diese Kartoffeln sind oft krank. Dann muss unbedingt die Lagerung verbessert werden. Noch ist es in den Lagerhäusern zu warm und zu hell. Dass die Kartoffeln grün werden am Licht, scheint nicht bekannt zu sein. Manchmal erschweren die kulturellen Unterschiede die Kommunikation. An die strikten Anweisungen der Franzosen gewohnt, ist das Ausdiskutieren von Problemen mit der Schweizerin oftmals eine Herausforderung für Maminilainoro. «Ich begann mich im Internet über die Schweiz zu informieren», erzählt er, «um Ruth und ihre Art zu verhandeln, besser zu verstehen.» 

Grosses Interesse

Ein Erfolg ist sicher, dass das Inte­resse der Produzentinnen vor Ort weiterhin gross ist und sie motiviert sind. Gerne würden noch viel mehr Frauen am Projekt teilnehmen, aber Rossier will das Projekt bewusst klein halten. «Erst wenn in den beiden Projektdörfern das Wissen um den Kartoffelbau gefestigt ist und wir genügend gesundes Saatgut zur Verfügung haben, können wir an eine Ausdehnung der Kartoffelproduktion in andere Dörfer der Region denken», meint sie energisch.

Einige Tage vor dem Abflug herrscht Aufregung. Die Pest ist in Madagaskar ausgebrochen. Im Hotel trägt das Personal Masken, auf den Strassen sieht man Personen in Schutzanzügen mit Rückentausen, die etwas verspritzen. Ein weiterer Grund für Rossier, sich in Madagaskar zu engagieren und mit den Kartoffeln etwas Hoffnung zu bringen. 

* Die BauernZeitung hat uns diesen Artikel freundlicherweise kostenlos zur Verfügung gestellt. www.bauernzeitung.ch

 

Agro-sans-frontière Suisse

agro-sans-frontiere.ch ist ein politisch unabhängiger gemeinnütziger Verein mit Sitz in Lausanne. Er wurde 2011 von berufstätigen und pensionierten Agronomen gegründet, die sich zum Ziel gesetzt haben, einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmsten Bevölkerungsgruppen zu leisten. Sie stellen ihr Wissen und ihre Erfahrung in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Hygiene und Bildung lokalen Partnern in Ländern des Südens zur Verfügung, wenn diese danach verlangen. Die Hilfeleistung des Vereins erfolgt im Rahmen der nachhaltigen Entwicklungspolitik der DEZA und hat zum Ziel, die Ernährungssicherheit zu verbessern, eine nachhaltige und diversifizierte Landwirtschaft zu fördern, die Verdienstmöglichkeiten im ländlichen Raum zu vervielfachen und zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Bevölkerung beizutragen, falls diese danach verlangt. 

Weitere Informationen finden Sie unter www.agro-sans-frontière.ch

 

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