Syrien: «Lösung kann nur der Ausstieg aus der Gewaltlogik sein»

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestages

Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter (DIE LINKE) (Bild thk)
Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter (DIE LINKE) (Bild thk)

Mit dem ungeklärten Giftgaseinsatz und der martialischen Reaktion Donald Trumps mit 59 Tomahawk Raketen, abgeschossen auf syrisches Staatsgebiet, schien der Syrien-Krieg eine weitere Eskalationsstufe erreicht zu haben. Die devoten Solidaritätsbekundungen von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande verhiessen nichts Gutes und heizten die antisyrische und antirussische Stimmung weiter an. Dass durch den US-amerikanischen Angriff auf fremdes Territorium das Völkerrecht massiv verletzt wurde, erwähnte kaum jemand, schon gar nicht unsere «unabhängigen» Mainstreammedien. Auf einmal stand die ganze westliche Welt unisono hinter dem sonst so belächelten und unbeliebten Präsidenten Donald Trump. Zum Glück ging die Eskalation nicht weiter, nicht zuletzt aufgrund der besonnenen Haltung Russlands. Der deutsche Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko gehört zur Partei DIE LINKE und ist Spezialist in aussenpolitischen Themen. Zeitgeschehen im Fokus hat ihm einige Fragen zur Lage in Syrien gestellt. Das Interview hatte stattgefunden, bevor die Schutzzonen in Syrien eingerichtet wurden, doch sind seine Aussagen grundlegender Natur und nicht von der Tagesaktualität abhängig.

Zeitgeschehen im Fokus: Wie beurteilen Sie die Lage in Syrien und welchen Weg für einen Frieden sehen Sie dort?

Andrej Hunko: Im Grundsatz kann es nur eine politische Lösung geben, indem man mit allen Beteiligten Verhandlungen führt. Das heisst natürlich auch mit der Regierung Assad. Das bedeutet, sich von dem kontraproduktiven Regime-Change zu verabschieden, der im Grunde genommen den Konflikt überhaupt erst so weit getrieben hat.

Wer sollte an den Verhandlungen alles dabei sein?

Die offizielle syrische Regierung, die zivile Opposition, die Kurden, die dort leben, und die Nachbarländer inklusive Iran, Libanon, Irak und letztlich auch die Türkei. Ohne den Einbezug aller Akteure wird es letztlich sehr schwierig sein.

Was soll dann geschehen?

Im Grundsatz muss es klar sein, dass am Ende die syrische Bevölkerung über ihr Schicksal entscheidet. Sie muss über ihren Präsidenten, über ihre Verfassung, über die Fragen der Autonomie, z. B. in den Kurdengebieten, entscheiden können. Die Bedingungen, die von aussen auferlegt werden, wie «erst muss Assad zurücktreten, dann kann man verhandeln», das verlängert nur den Krieg.

Wie muss man denn den Einfluss von aussen überhaupt einschätzen?

Wir haben es mit einem Stellvertreterkrieg zu tun. Massgebliche Staaten des Westens, wie die USA, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland zusammen mit Akteuren wie der Türkei, Saudi-Arabien, Katar unterstützen nach wie vor den Regime-Change, bewaffnen auch dort islamistische Terrorgruppen oder unterstützen diese.

Inwiefern ist Deutschland daran beteiligt?

Deutsche Tornados sind im Einsatz, und Soldaten sind in Inçirlik stationiert. Die Tornados liefern Bilder für die eben beschriebene engere militärische Koalition. Aber die Bundesregierung weiss zumindest offiziell nicht, was mit den Bildern passiert. Es heisst zwar immer, sie würden nur für die Bekämpfung des IS verwendet, aber was sonst noch damit geschieht, weiss keiner.

Lässt sich da etwas vermuten?

Vor kurzem hat die Türkei im Shingal-Gebirge bombardiert, was furchtbar ist. Das hat auch nichts mit IS-Bekämpfung zutun. Es ist nicht bekannt, wie weit die Bundeswehr in diese Kooperation involviert ist, zwar nicht direkt militärisch, aber über Aufklärung und entsprechende Bilder.

Derjenige, der Schmiere steht, ist mitverantwortlich für das, was in der Zwischenzeit geschieht?

Genau. Das ist die eine Seite, das ist der Stellvertreterkrieg. Insbesondere Russland ist Syriens einziger Bündnispartner. Dadurch haben sie über diesen Bündnispartner Zugang zum Mittelmeer. Russland unterstützt und stützt Assad besonders stark. Sicher sind auf beiden Seiten Kriegsverbrechen begangen worden, aber die Grundlage einer Lösung kann nur der Ausstieg aus der Gewaltlogik sein. Assad wird im Westen nicht deswegen dämonisiert, weil er so schlimm ist, sondern weil er ein russischer Bündnispartner ist. Es gibt zum Beispiel ganz schlimme Herrscher wie in Saudi-Arabien, aber das ist unser Bündnispartner, und dann schweigt man darüber.

Nach mehr als sechs Jahren Krieg weiss eigentlich keiner mehr so recht, was der Auslöser war. Wie sehen Sie das?

Zum einen war es der sogenannte arabische Frühling, den zunächst viele begrüsst haben und vor allem für demokratische Rechte auf die Strasse gegangen sind. Regime wie in Tunesien und Ägypten sind gefallen, und zum anderen ist es sehr geschickt gelungen, den Impuls quer durch die ganze Region zu einem Regime-Change Bürgerkrieg zuzuspitzen.

Welche Länder waren davon betroffen?

Zum Beispiel Libyen und Syrien. Das waren die beiden Staaten, die schon vorher auf der «Achse des Bösen» von George W. Bush waren. Dort ist vom Westen massiv mit Waffenlieferungen und militärischer Beratung eingegriffen worden, um die unliebsamen Diktatoren, was sie zweifellos waren, zu stürzen. In Libyen hat das aus der Sicht des Westens noch funktioniert. Ich bin noch heute froh darüber, dass sich die Bundesregierung damals bei der Abstimmung im Uno-Sicherheitsrat der Stimme enthalten hat. Besser wäre natürlich ein Nein gewesen. Das war das einzige Mal, dass ich in dieser Legislaturperiode bei Aussenminister Westerwelle geklatscht hatte.

 

Wie hat Guido Westerwelle diesen Schritt begründet?

Er hielt eine sehr gute Rede, in der er sagte, dass die in der Resolution angeführten Begründungen ein militärisches Eingreifen in 60 bis 70 Ländern erlaubt hätten und dass das sicher keine Lösung sein kann.

In Syrien ist dieser Plan aber nicht aufgegangen …

… nein, man hat die militärische und politische Stärke der Regierung unterschätzt. Es war nie so, dass die gesamte Bevölkerung gegen Assad aufgestanden ist. Es war höchstens, wenn überhaupt, die Hälfte der Bevölkerung, die dagegen war. Assad hat vor allem in Damaskus und in vielen Regionen nach wie vor grosse Unterstützung und wurde von vielen als das kleinere Übel angesehen.

Womit hängt das zusammen?

Syrien ist ein multireligiöser und ein multiethnischer Staat mit sunnitischer Mehrheit, mit Minderheitsreligionen, wie Schiiten und Christen und vor allem auch Alaviten, nicht zu verwechseln mit den türkischen Aleviten. Assad hat bei aller Unterdrückung immer eine Art Ausgleich der Religionen geschaffen. Von vielen wird auch daher befürchtet, dass, wenn er gestürzt wird, ein sunnitischer fundamentalistischer Staat entsteht, in der die Minderheiten sehr viel schlechter dran wären.

Sie haben direkt mit den Betroffenen gesprochen?

Bereits 2013 war ich an der syrischen Grenze in der Provinz Hatay und habe dort die syrischen Flüchtlingslager in der Türkei besucht. Dort habe ich mit Menschenrechtsaktivisten vor Ort gesprochen, auch mit christlichen Flüchtlingen, und diese Menschen sagten mir schon damals, sie beteten jeden Tag dafür, das Assad an der Regierung bleibe, weil das, was an Barbarei von der damaligen Al Nusra und anderen islamistischen Kräften ausging, ein erschreckendes Mass angenommen hatte. Und diese Gewalt wird vom Westen weitestgehend ausgeblendet. Als der IS immer mehr sein Unwesen trieb, konnte man davor die Augen nicht mehr verschliessen. Aber bei den übrigen, nicht weniger gewalttätigen Organisationen bis hin zu den gewalttätigen Rebellen in Aleppo wurde das einfach ignoriert. Diese Doppelmoral verlängert nur das Leiden in Syrien.

Wie zeigt sich diese Doppelmoral?

In dem grossen Geschrei bei gewissen Bombardierungen in Aleppo, die durchaus auch problematisch waren, und im grossen Schweigen in Mosul, wo die US-Luftwaffe keinen Stein auf dem anderen liess. Im Irak kämpft die US-Luftwaffe und in Syrien die russische, aber zu den amerikanischen Kriegsverbrechen schweigt man, es werden keine Bilder gezeigt. Die Menschen spüren das, sie sind diese Doppelmoral leid und misstrauisch gegenüber den Informationen, die sie in den Medien zu hören bekommen. Das ist sehr problematisch, und ich empfinde, dass wir in einer sehr, sehr ernsten Zeit leben. Manchmal frage ich mich, ob wir in einer Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg sind. Es gibt das berühmte Zitat «im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst», und das ist hier auch wieder der Fall.

Ich teile Ihre Wahrnehmung sehr. Wie diskutiert man das in Deutschland, dass Tornados im Krieg gegen Syrien eingesetzt werden?

Gar nicht.

Gar nicht?

Ja, das ist Teil dieser Wahrheitszerstörung. Es stirbt nicht nur die Wahrheit, sondern sie wird regelrecht ermordet. Man verschweigt die Wahrheit, indem man über gewisse Dinge einfach nicht spricht. Man berichtet über die Schäden in Aleppo, aber nicht über das, was in Mosul angerichtet wird. Auch in Deutschland berichtete man nicht über die Tornados in Inçirlik.

Wie reagieren die Verantwortlichen in Deutschland?

Wir hatten das Referendum in der Türkei gehabt, und es gibt von den internationalen Beobachtern erhebliche Kritik. Wobei auch die Legitimität des Ablaufes in Frage gestellt wird. In Deutschland hält man sich sehr zurück. Man diskutiert vielleicht über die Türken in Deutschland und warum die wohl so abgestimmt haben. Was überhaupt nicht zur Sprache kommt, ist, warum deutsche Soldaten in der Türkei stationiert sind. Warum sind wir noch in einem engen Bündnis, warum will der Rüstungskonzern Rheinmetall eine grosse Panzerfabrik in der Türkei bauen? Die Bundesregierung sagt, dass sie damit kein Problem habe. Das ist ein völliger Widerspruch. Man kritisiert die Entwicklung in der Türkei und liefert sich dabei auf diplomatischer Ebene eine deutliche Auseinandersetzung. Auf der anderen Seite verkauft man ihnen Waffen oder produziert sie direkt in ihrem Land. Das ist sehr problematisch.

Was sollte die Bundesregierung tun?

Die Waffenlieferungen einstellen und die Beitrittsverhandlungen zur EU stoppen. Im Moment ist auch eine Kampagne am Laufen, die gerade das verlangt: eine Einstellung der Waffenlieferungen.

Noch eine abschliessende Frage zum kürzlich erfolgten Raketenbeschuss Syriens seitens der USA. Wie beurteilen Sie das?

Das war ein plötzlicher Beschuss eines syrischen Militärflughafens mit 59 Tomahawks. Kostenpunkt für eine Rakete ist über eine Million Dollar. Das sind Raketen, die von einem Schiff aus abgeschossen wurden. Der Beschuss war völkerrechtswidrig. Auch hier haben wir diese doppelten Standards. Es ist kein Thema, dass hier das Völkerrecht gebrochen wurde, aber wenn die Russen das Gleiche täten, gäbe es sofort Reaktionen. Das zweite ist, man hat den Angriff mit einem Chemiewaffeneinsatz begründet. Ein furchtbarer Einsatz, der aber überhaupt nicht aufgeklärt ist. Es gab keine internationale Untersuchung, die notwendig gewesen wäre. Es gab auch keinen Uno-Sicherheitsratsbeschluss, der unbedingt nötig gewesen wäre. Es ist ein schwerer völkerrechtswidriger Militärschlag gewesen, und das ist völlig inakzeptabel. Das muss man auch so benennen.

Wie sehen die Reaktionen einiger europäischer Nationen aus?

Als erstes ist das Ganze eine Schwächung der Uno, die als einzige so etwas rechtfertigen könnte, zum anderen habe ich kein Verständnis, wenn europäische Regierungen einschliesslich der Bundesregierung sagen, das Verhalten der USA sei nachvollziehbar. Auf einmal ist Trump gar nicht mehr so ein «böser Mann». Vorher wurde er immer beschimpft, und seitdem er völkerrechtswidrig Militär eingesetzt hat, hält man sich mit der Kritik zurück. Ich habe dazu einmal gesagt: «Führt Trump Krieg, hat Merkel ihn lieb.» Merkel sagte: «Assad trägt die Verantwortung dafür.» Das ist im Grunde genommen davon abgelenkt, dass es dafür keine Beweise gibt. Aber selbst wenn es Beweise gäbe, müsste man das Völkerrecht einhalten. Ein Chemiewaffeneinsatz ist grundsätzlich inakzeptabel, aber wir wissen nicht, wer der Urheber ist.

Haben Sie eine Vermutung?

Politisch gibt es keinen Sinn, dass Assad das getan haben sollte, da er sich im Moment aus seiner Sicht in einer starken Position befindet und durch so einen Angriff den Zorn der internationalen Gemeinschaft nochmals auf sich zöge, was völlig sinnlos wäre. Natürlich gibt es verrückte Menschen, die anders handeln, aber es scheint mir hier wenig plausibel.

Herr Bundestagsabgeordneter, vielen Dank für das Gespräch.  

Interview Thomas Kaiser

Verfassungsreferendum in der Türkei: «Die Abstimmung war weder fair, noch war es ein freies Referendum»

Interview mit Bundesrat Stefan Schennach, Österreich

Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ) (Bild thk)
Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ) (Bild thk)

Während der Frühjahrssession der «Parlamentarischen Versammlung des Europarats» (PACE) stand die Menschenrechtslage in der Türkei auf der Agenda. Dabei ging es in der Debatte vornehmlich um die Frage, ob ein Monitoring in der Türkei einzurichten sei, um das Einhalten der Menschrechte im Land zu beobachten und nötigenfalls zu thematisieren, oder ob dies in dem gesamten Prozess kontraproduktiv sei. Ein Bericht, verfasst von zwei Mitgliedern des «Committee on the Honouring of Obligations and Commitments by Member States of the Council of Europe», gibt aufgrund der unübersichtlichen Lage in der Türkei die Empfehlung, das Land bei der Umsetzung und Einhaltung der Menschenrechte unter den Kontrollstatus des Europarats zu stellen. Auch war in der Debatte immer wieder das Ergebnis der Abstimmung über die Verfassungsänderung Thema. Bei viel Verständnis von den meisten Abgeordneten für die angespannte Lage in der Türkei nach dem Putsch im letzten Sommer überwog aber die Kritik am Umgang der Regierung mit politischen Gegnern, am nach wie vor bestehenden Ausnahmezustand sowie an der Verletzung des europäischen Standards bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung.
Inwieweit die Durchführung des Referendums europäischen Normen entsprochen hat, beantwortet im nachfolgenden Interview der österreichische Bundesrat Stefan Schennach. Er ist Mitglied der SPÖ und gehört in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats der Fraktion der Sozialdemokraten an. Er war als Wahlbeobachter im Auftrag der PACE während des Referendums über die Verfassungsänderung in der Türkei und hat Einblick in die Situation vor Ort bekommen.

Zeitgeschehen im Fokus: Ist der Vorwurf, dass die Abstimmung demokratischen Standards nicht entsprochen habe, berechtigt?

Bundesrat Stefan Schennach: Die Abstimmung war weder fair, noch war es ein freies Referendum. Wenn man sieht, dass alles, was sich dort abgespielt hat, ausserhalb der Balance einer freien Auseinandersetzung war, so sind die 49 % Gegenstimmen hochzurechnen. Das bedeutet, dass effektiv 60 % dagegen waren.

Wie kommen Sie zu dieser Hochrechnung?

28 000 Sendeminuten der Regierung, finanziert aus dem Staatsbudget, standen 2 700 Sendeminuten, privat bezahlt, der gesamten Opposition gegenüber. Per Gesetz wurde der Zivilgesellschaft und den NGOs verboten zu kampagnisieren. Und letztlich hatten 500 000 interne Flüchtlinge keine Chance abzustimmen. Dazu kam noch, dass in Diyarbakir in den Tagen vor dem Referendum wahllos Menschen verhaftet wurden, aber nicht im Sinne einer Untersuchungshaft, sondern die Menschen wurden in Sporthallen und in Gymnastikhallen untergebracht. Ihnen wurde somit auch das Wahlrecht entzogen.

Das waren vor allem Kurden, die hier verhaftet wurden?

Ja, ausschliesslich. Dazu kommen noch über 100 000 Inhaftierte, die noch nicht verurteilt sind und daher das volle Wahlrecht besitzen. Damit sie nicht wählen können, hat man ein kleines Gesetz geschaffen, das erlaubt, ihnen das Wahlrecht zu entziehen.

Konnten Sie Gefängnisse besuchen und diese vor Ort anschauen?

Dem Europarat steht der Zugang zu allen Gefängnissen offen, aber er konnte nur das Gefängnis in Izmir besichtigen. Dazu kommt noch, dass kleinere Dörfer unter Druck gesetzt wurden, dass sie ein entsprechendes Abstimmungsergebnis zu erbringen hätten. Dazu kommt noch ein Missbrauch, da überall «recordo» plakatiert war. Das heisst, wer ein hervorragendes Zustimmungsergebnis erbracht hat, bekommt finanzielle Mittel. Minderheiten wurden unter besonderen Druck gesetzt, das richtige Ergebnis zu bringen, das war z. B. in Mardin so; hier betraf das die arabische Minderheit. Interessant dabei ist aber, dass in den echten arabischen Gebieten der Türkei der Nein-Stimmenanteil bei über 90 % lag.

Sie haben Wahllokale besucht?

In Diyarbakir sind riesige Flächen dem Erdboden gleichgemacht worden, wo früher einmal Menschen gelebt haben, ist nichts mehr. Deren Wahllokale waren angeblich beim Gouverneur, und die Bevölkerung musste dort die Stimme abgeben. Wir gingen zum Gouverneur, denn dort sollten viele Wahllokale sein. Wir sind nicht über den Portier hinausgekommen, und Menschen haben wir auch keine gesehen. Es ist mir schleierhaft, wie sie zu einer so hohen Stimmbeteiligung kommen. Gleichzeitig sahen wir in verschiedenen Wahllokalen hunderte von Zustellungsclips für Leute, die nicht wählen konnten, weil sie diese Clips nicht bekommen hatten oder niemand wusste, wo die Menschen sind.

Wie ging die Zählung der Stimmen vor sich?

Wir wurden von der Polizei in einen separaten Raum gebracht und konnten nur die letzten 80 Stimmzettel beobachten. Es wurde weder die Gültigkeit der Wahlzettel geprüft, noch wurden die Wählerlisten und die Couverts gezählt. Selbst unter diesen Bedingungen waren es 65 % Nein-Stimmen in diesem Wahlbüro, obwohl das Ergebnis nicht den tatsächlichen Stimmzetteln angepasst war.

Das ist wohl eine grundsätzlich problematische Ausgangslage.

Ja, wenn der Präsident nicht in der Lage ist, die verschiedenen Ethnien in den verschiedenen Landesteilen zusammenzuhalten, sondern nur der Agent, der Provokateur, der Politik-Maker ist, dann ist er nicht wirklich ein Präsident. Denn alles, was er tut, ist eine Verletzung der bestehenden Verfassung. Wir haben auch hungerstreikende Volksschullehrer besucht, die völlig resigniert haben und nicht mehr wählen gehen.

In unseren Medien hat man immer von Wahlfälschung gesprochen…

… ja, aber dafür sind 51 % eine Blamage. Erdogan hat auch seit 1996 zum ersten Mal Istanbul verloren, er hat Ankara verloren. In Izmir haben 75 % dagegen gewählt, und wir müssen uns überlegen, was die Türken in Deutschland, in Österreich, in den Niederlanden oder sonst wo treiben. Ganz anders ist es in der Schweiz, in der es doch einige Kurden gibt, die das Referendum abgelehnt haben. In Österreich haben 38 000 Türken abgestimmt, von denen 70 % für das Referendum waren, aber das ist bezogen auf die Gesamtzahl der Türken in Österreich kein repräsentativer Querschnitt.

Was bedeutet das Ganze nun für das Land?

Das Land selbst ist tief gespalten. In jedem Wahllokal, in dem wir waren, gab es ein Spiessrutenlaufen mit der Polizei. In Diyarbakir-Sur sind wir vor jedem Wahllokal von 20 – 30 Bewaffneten empfangen worden. Und im Gebäude befand sich ungefähr nochmals dieselbe Menge. Es hat uns keine einzige Wahlkommission nach unserem Ausweis gefragt, nur die Polizei hat das massiv interessiert.

Wie sehen Sie die Bedrohungslage in dem Land?

Natürlich haben sie mit dem Terrorismus ein Problem, aber es fehlt die Rechtsstaatlichkeit. Die türkische Regierung hat nicht nur das Problem, dass sie den IS nicht nur gefüttert, sondern auch von ihm das Öl gekauft hat. In Mardin oder in Diyarbakir gibt es heute keinen gewählten Vertreter mehr. Sie wurden des Amtes enthoben.

Hat die HDP, die Kurdenpartei, nicht auch Fehler gemacht?

Natürlich hat die HDP auch Fehler gemacht und sich nicht mit absoluter Entschiedenheit gegenüber der Terrororganisation PKK abgegrenzt, wie dies Sinn Féin gegenüber der IRA in Nordirland gemacht hatte. Trotzdem ist festzuhalten, dass die HDP eine gewählte demokratische Partei ist, deren Parteispitze im Gefängnis sitzt – alles gewählte Abgeordnete, was unerträglich ist. Terror kann niemals eine Antwort auf Unzufriedenheit oder Ungerechtigkeit sein. Die Türkei hat ein Problem mit Terror sowohl von der PKK als auch vom IS – der anfänglich sogar vom Staat für die Destabilisierung in Syrien unterstützt wurde. Das war immer ein Graubereich. Am Wahltag führte die Armee einen schweren Artillerieangriff auf Terroristen in Mardin durch. In Diyarbakir waren zigmal mehr gepanzerte Autos auf den Strassen als Taxis und an jeder Strassenecke stand ein Wasserwerfer.

Wie muss man die Rolle des Präsidenten in diesem Abstimmungskampf beurteilen?

Der Präsident der Türkei verletzte seit Monaten seine in der Verfassung verankerte Rolle – er sollte ein Präsident aller in der Türkei lebenden Bewohner sein und über der Tagespolitik stehen. In Wirklichkeit war er der Motor der Kampagne, der Agitator, derjenige, der jene, die Nein stimmten, zu Unterstützern des Terrors erklärte. Ein Präsident, der ausserhalb der Verfassung politisch agierte und so täglich Verfassungsbruch beging.

Inwiefern hat der Ausnahmezustand die Abstimmung behindert?

In Zeiten des Ausnahmezustandes über das ganze Land plus der Einführung von 6 Security-Zonen ist es der ungeeignetste Zeitpunkt für ein verfassungsänderndes Referendum und diente wohl dazu, die neue Regierungsmethode seit dem gescheiterten Putsch verfassungskonform zu machen.
Dies unterstreicht auch, dass es in keinem Wahllokal Informationsmaterial über den Inhalt des Referendums gab – nur den Ja-Nein-Stimmzettel. Es wurden aber 18 schwerwiegende Veränderungen vorgenommen. Damit wurde die Abstimmung über Ja oder Nein zu einer Art Glaubensfrage, aber nicht zu einer Inhaltsfrage. Das Ganze war keine Abstimmung entsprechend dem europäischen Standard.

Herr Bundesrat Schennach, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Frieden

von Thomas Kaiser

In einer Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats hat der griechische Staatspräsident Prokopis Pavlopoulos ein Plädoyer für die Rechtsstaatlichkeit und die repräsentative Demokratie gehalten. In einem Nebensatz streifte er die direkte Demokratie und kritisierte an ihr, dass sie die Mehrheit bevorzuge und die Minderheit, die in der repräsentativen Demokratie als Opposition im Parlament Einfluss nehmen könne, keine weitere Möglichkeit zur Mitgestaltung habe.
Als Bürger der direktdemokratischen Schweiz kann man über eine solche Fehleinschätzung nur staunen.

Die direkte Demokratie, wie wir sie kennen und praktizieren, erlaubt dem Bürger im besonderen Masse eine aktive Teilnahme an der politischen Ausgestaltung, während die repräsentative Demokratie die grosse Mehrheit der Bürger in die Passivität verbannt. Sie muss vier oder fünf Jahre warten, bis sie ihren politischen Willen in Form von Wahlen wieder kundtun darf, wobei in vielen Fällen das zu wählende Spektrum sehr begrenzt ist. Die direkte Mitsprache und Mitbestimmung in Sachfragen sind aufgrund grosser Hürden nur schwer möglich.

Ohne Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger

Wie das konkret aussieht, zeigt das jüngste Beispiel der Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Die Bürger haben mit ihrem Votum die regierende Partei abgewählt, und damit ist ihre politische Einflussnahme beendet. Alles, was in den nächsten vier Jahren geschieht, vollzieht sich – mit ganz wenigen (theoretischen) Ausnahmen – ohne die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger im grössten Bundesland unseres nördlichen Nachbarn. Der bis jetzt regierenden Partei bleibt entweder der Weg in die Opposition oder als Juniorpartner mit der Wahlgewinnerin eine grosse Koalition zu bilden, wenn diese darauf angewiesen und bereit dazu ist. Doch das geschieht ohne Mitsprache der Wählerschaft. Sie hat mit der Stimmabgabe ihre Schuldigkeit getan, über Sachfragen abzustimmen oder gar ein Referendum oder eine Initiative zu ergreifen, wie das der politische Alltag in der Schweiz ist, existiert für die Menschen in unseren Nachbarländern, wenn überhaupt in nur sehr beschränktem Masse und vielfach ohne rechtliche Bindung.
Die Opposition hat aber, wenn sie in der repräsentativen Demokratie die Minderheit bildet, keine politische Wirkung. Zwar können die Abgeordneten der nicht regierenden Parteien in den Kommissionen Einsitz nehmen und ihre Anliegen und Vorstellungen einbringen, aber die politischen Entscheide werden allein von der Mehrheit gefällt. Dazu unterliegen die Parteimitglieder zusätzlich einem Fraktionszwang, der eine abweichende Meinung nicht erlaubt oder bei Zuwiderhandlung, wie im deutschen Bundestag schon vorgekommen, mit Parteiausschluss quittiert wird.

Mehrere Parteien in der Exekutive vertreten

Das System der Konkordanz, das zum politischen Alltag der schweizerischen direkten Demokratie gehört, kennt keinen Dualismus von Regierung und Opposition, sondern es sind grundsätzlich mehrere Parteien in der Exekutive vertreten. Das Parlament besteht daher nicht aus Regierungspartei und Opposition. Je nach politischem Sachgeschäft gibt es im Parlament wechselnde Allianzen. Und sollten Teile der Bevölkerung mit den verabschiedeten Gesetzen oder den politischen Entscheiden nicht zufrieden sein, besteht die Möglichkeit, das Referendum zu ergreifen und damit eine Volksabstimmung zu bewirken.
Was für ein Ziel der griechische Präsident mit dieser (Falsch-)Aussage verfolgt hat, lässt sich nicht klären. Tatsache ist aber, dass die direkte Demokratie ein Höchstmass an politischer Mitbestimmung und damit an Freiheit garantiert. Die gängige Einstellung gegenüber der direkten Demokratie ausserhalb unserer Grenzen zeigt sich in der viel gehörten Aussage: «Das Volk ist nicht fähig, die politischen Sachverhalte zu verstehen.» Dahinter verbirgt sich ein Elitedenken, das auch in den Ausführungen von Prokopis Pavlopoulos zum Ausdruck kam.

Mit Referendum und Initiative die Politik mitbestimmen

Was die realpolitischen Folgen dieser Auffassung sind, kann man unter anderem an den Abläufen in anderen Staaten beobachten. Der neue französische Präsident wird durch die Medien vom Nobody zum Impulsgeber für eine Reform der EU hochstilisiert. Was ist das für ein Demokratieverständnis, wenn eine einzelne Person die Welt oder zumindest die kleine Welt der EU retten können soll? Warum werden die Menschen in den entsprechenden Ländern nicht gefragt, in was für einem System sie leben wollen, welche Mitsprache sie haben möchten und wie sie über einzelne Sachfragen befinden wollen? Das Abstimmungsergebnis der Briten vor einem Jahr steckt vielen (Macht-)Politikern noch in den Knochen. Was bedeutet denn Demokratie, was landläufig mit Volksherrschaft übersetzt wird und in vielen Ländern den Anschein macht, als handle es sich vor allem um die Herrschaft über das Volk? Welche Aufgabe hat denn der «Volksvertreter»? Sie besteht doch darin, die Anliegen und Meinungen der Bevölkerung zu kennen und sie in der Politik – soweit mehrheitsfähig – umzusetzen. Und wenn das nicht getan wird, müss­sten Bürgerinnen und Bürger mit Referendum und Initiative die Politik in die gewünschte Richtung mitbestimmen können, wie es in der Schweiz gang und gäbe ist. Wenn wir schon von Gewaltenteilung sprechen und die Rechtsstaatlichkeit als oberstes Prinzip verteidigen, wäre ein Volk, das über alle Sachfragen mitbestimmen kann, der grösste Garant für Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und letztlich für den Frieden. Einzelne Politiker zu erpressen, zu manipulieren und in die gewünschte Richtung zu steuern ist einfacher als ein ganzes Volk. ■

«Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da»¹

Patric Seibel im Gespräch mit Argyris Sfountouris, einem Überlebenden des Massakers von Distomo

von Susanne Lienhard und Andreas Kaiser

Der kleine Theaterraum ist bis auf den letzten Platz und sogar noch darüber hinaus gefüllt. Auf zwei Sesseln haben Argyris Sfountouris und Patric Seibel, Journalist und Biograph aus Hamburg, den Zuhörern gegenüber Platz genommen. Beide stehen nun für die nächsten zwei Stunden im Mittelpunkt der bewegenden Buchvernissage, zu der das Theater Stok in Zürich eingeladen hat. Patric Seibels Buch «Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals»² zeichnet mit grossem Einfühlungsvermögen das Schicksal von Argyris Sfountouris nach, der als vierjähriger Junge in Griechenland ein von den deutschen Besatzern verübtes Massaker überlebt hat.

In einem Fernsehbeitrag über die fatalen Folgen, die die derzeitige Sparpolitik der Troika in Griechenland anrichtet, hörte Patric Seibel zum ersten Mal von Argyris Sfountouris. Ein Foto des vierjährigen Argyris wurde gezeigt, dann schwenkte die Kamera hinüber zu einem älteren Herrn. Er sagte: «Ich bin der kleine Junge da. Ich habe 1944 meine Eltern verloren und bin an der Hand meiner Schwester aus dem brennenden Haus geflohen.»³
Diese erste Begegnung mit Argyris Sfountouris berührte Patric Seibel so, dass er ihn persönlich kennenlernen und seine ganze Geschichte erfahren wollte. Er fand einen Menschen, der trotz allem, was er erlebt hat, nicht verbittert ist, sondern sich unermüdlich für Gerechtigkeit einsetzt, «einen Weltbürger, einen Humanisten und einen ungemein genauen Beobachter der politischen Entwicklung», wie ihn Max Uthoff im Vorwort des Buches treffend beschreibt. Und er fand eine Geschichte von ungeheurer menschlicher und politischer Dimension. Es wurde ihm zur Herzenssache, das, was er erfahren hatte, niederzuschreiben und öffentlich zu machen.
In diesem Sinne gestaltet Patric Seibel auch den Abend im Theater Stok. Er liest ausgewählte Stellen aus der Biographie und sucht dazwischen immer wieder das Gespräch mit Argyris Sfountouris. Das geschriebene Wort beginnt zu leben: Die Zuhörer lernen einen Zeitzeugen kennen, der im Dialog mit seinem Gegenüber durch sein menschliches Engagement und die Offenheit, mit der er Unrecht benennt und Gerechtigkeit einfordert, beeindruckt.

Das Massaker von Distomo

Argyris erblickte am 6. September 1940 als viertes Kind von Nikolaos und Vasiliki Sfountouris in Distomo das Licht der Welt, einer Welt, die Hitler und seine Schergen im Begriffe waren, mit Krieg zu überziehen. Argyris war noch nicht jährig, als Hitler seine Divisionen nach Griechenland schickte. Ihm war jedes Mittel recht, den erbitterten Widerstand der Griechen zu brechen und sie unter deutsche Kontrolle zu bringen. Am 10. Juni 1944 gerieten deutsche Soldaten unweit von Distomo in einen Hinterhalt der Partisanen und erlitten erhebliche Verluste. Der SS-Hauptsturmführer Fritz Lautenbach rächte sich, indem er befahl, alle Dorfbewohner zu erschiessen. Patric Seibel liest: «Die Soldaten treten Türen ein, durchkämmen zum zweiten Mal die Häuser, mähen mit Maschinenpistolen alles nieder, was lebt: Männer, Frauen, Kinder, Kleinkinder, Babys, Schwangere, Alte und Junge.» (S. 35)
Argyris und seine Schwestern überlebten, verloren aber an diesem 10. Juni beide Eltern und 30 Verwandte. Die Grosseltern nahmen sich, so gut sie konnten, der vier Waisenkinder an. Eine Schwester von Argyris erholte sich nie mehr von diesem Trauma. Sie lebt in einem griechischen Pflegeheim, wo sie nun, wie Patric Seibel empört feststellt, zum zweiten Mal Opfer deutscher Politik wird. Durch die unter Führung Wolfgang Schäubles Griechenland aufgezwungenen Sparmassnahmen hat man ihre Rente um 300 Euro gekürzt, die Versorgungskosten im Heim aber sind um 150 Euro gestiegen.
Auch Argyris ist von der SS-Greueltat fürs Leben gezeichnet, hat aber den Weg zurück ins Leben gefunden und setzt sich heute mit aller Kraft dafür ein, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt.
Der Abend im Theater Stok lässt erahnen, was dazu beigetragen haben mag, dass aus dem «traumatisierten, unterernährten, vom Tod bedrohten Waisenkind von damals» ein «intellektueller, ernster, sensibler junger Mann» wurde, wie Patric Seibel schreibt. (S. 157)

Der Weg zurück ins Leben

Argyris Sfountouris war ein aufgeweckter Junge und hatte das Glück, Menschen zu begegnen, die ihn auf dem Weg zurück ins Leben begleiteten. Einer davon war der Dorflehrer in Distomo. Patric Seibel liest aus seinem Buch: «Jahrzehnte später trifft Argyris seinen Lehrer wieder: ‹Du warst sehr interessiert, aufgeweckt und aufgeschlossen›, erzählt ihm der Neunzigjährige, der seinen Schüler noch gut im Gedächtnis hat. Bei diesem Lehrer in der kleinen Dorfschule von Distomo hat Argyris die Freude am Lesen und Lernen entdeckt. Hier, in diesem vom Terror verheerten kleinen Ort abseits der Welt gewinnt er seine wichtigste Mitgift fürs Leben.» (S. 46)
1946 wurde in der Schweiz auf Initiative von Walter Robert Corti in Trogen (Kanton Appenzell) der Grundstein für ein internationales Kinderdorf für Kriegswaisen aus allen Ländern Europas gelegt. Die Kinder sollten dort die mittlere Reife machen und einen handwerklichen, technischen oder kaufmännischen Beruf erlernen können, um dann als Botschafter des Friedens und der Völkerverständigung in ihre Heimatländer zurückzukehren. Argyris durfte mit 31 anderen griechischen Waisenkindern in eins der griechischen Häuser im Pestalozzi-Kinderdorf einziehen.

Das Pestalozzi-Kinderdorf – eine grosse Familie

Das Kinderdorf wurde vom Pädagogen Arthur Bill⁴ geleitet, der den Anspruch hatte, den Kindern die Geborgenheit einer grossen Familie zu geben und sie zu einer grossen Gemeinschaft ohne nationale Grenzen zu erziehen. Sie sollten das Allgemeinmenschliche als tragendes Element der kleinen Völkergemeinschaft erleben. Mit der Unterstützung Arthur Bills ging Argyris' Traum, an der ETH Zürich Physik zu studieren, in Erfüllung.
Nach abgeschlossenem Physikstudium stand Argyris vor der Entscheidung, nach Griechenland zurückzukehren oder seine berufliche Zukunft in der Schweiz zu planen. Das bei Arthur Bill Gelernte half bei der Entscheidung: «Es war für ihn eine kurze Versuchung, wieder im Land seiner Herkunft zu leben. Aber er hat jetzt verstanden, dass es für ihn in Griechenland keine Stelle gibt, ohne dass er sich nach seinen Massstäben dafür korrumpieren lassen muss. Er trifft die Entscheidung nicht mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Gewissen. Er denkt an die Sozialkundestunden bei Arthur Bill, an die Bücher von Kazantzakis und die Dramen von Schiller. Aus all dem hat er die Ideen von persönlicher Freiheit und sozialer Verantwortung aufgesogen.» (S. 161)

«Wir Wissenschaftler haben eine Verantwortung»

Diese ethische Richtschnur leitete Argyris auch, als er plante, als Kernphysiker an der ETH Zürich zu promovieren. Er wollte die gesundheitlichen Auswirkungen der Strahlung von Kernreaktoren und die Frage der Endlagerung radioaktiver Abfälle untersuchen: «Wir Wissenschaftler haben eine Verantwortung. Wir kennen die Folgen, die wir mit unserem Handeln auslösen, und sollten die Konsequenzen wissenschaftlich untersuchen und öffentlich machen.» (S. 165) Als klar wurde, dass die Industrie keinerlei Mittel für eine solche Dissertation freimachen würde, kündigte er seine Assistenzstelle und ging zurück in den Schuldienst. Eine Gefälligkeitsarbeit zu schreiben kam für ihn nicht in Frage.
In Trogen freundete sich Argyris auch mit der 54jährigen Ada Klein an. Als Tochter jüdischer Eltern, in Berlin geboren, wanderte sie schon früh nach Südfrankreich aus und floh 1940 abermals vor den Nationalsozialisten in die Schweiz. Sie sprach deutsch, englisch, französisch und italienisch und betreute im Dorfbüro die Korrespondenz und Verwaltungsangelegenheiten. Sie pflegte die internationalen Kontakte des Kinderdorfs. Neben der Hausbibliothek wurde das Dorfbüro für Argyris zu «einem Fenster zur Welt». (S. 73) Hier fand er Zeitungen, Bücher, Lexika und diskutierte mit Ada Klein über Politik und das Weltgeschehen. Im Dorfbüro fühlte sich Argyris ernst genommen und erwachsen. Er bestätigt im Gespräch mit Patric Seibel die grosse Bedeutung der tiefen Freundschaft, die ihn zeitlebens mit Ada Klein verband.
1967 kam es in seinem Heimatland zu einem Militärputsch. Ohne zu zögern, setzte er sich im Verbund mit dem griechischen Studentenverein und anderen oppositionellen Auslandgriechen von der Schweiz aus gegen die Militärjunta ein. Doch die Spitzel der Junta waren auch in der Schweiz aktiv, und Argyris kam auf die schwarze Liste. Reisen nach Griechenland waren nun für ihn bis zum Ende der Diktatur 1974 nicht mehr möglich.

«Denen helfen, die ein vergleichbares Schicksal haben»

Das Fenster zur Welt, das Ada Klein aufgestossen hatte, wurde zum Tor in die Welt, als Arthur Bill seinem ehemaligen Schützling 1980 vorschlug, in den Entwicklungsdienst zu gehen. Obwohl Argyris mit Begeisterung Physik und Mathematik unterrichtete, kündigte er seine Stelle. Er wollte denen helfen, «die ein vergleichbares Schicksal haben wie er: Kriegsflüchtlingen in Afrika. Hier kann er konkret eingreifen, etwas vor Ort bewirken». (S. 213) Als Mitarbeiter der Schweizer Katastrophenhilfe organisierte er in Somalia die Verteilung von Hilfsgütern. Im Rahmen eines «Nachdiplomstudiengangs Entwicklungsländer» reiste er für ein Praktikum nach Nepal. Ein nächstes Projekt führte ihn nach Indonesien, wo er mit einem europäischen Team Techniker und Ingenieure vor Ort ausbildete. Er widmete sich mit grossem Engagement dieser Aufgabe, bis ihn gesundheitliche Probleme zwangen, die Arbeit als Entwicklungshelfer aufzugeben.

«Tagung für den Frieden» in Delphi

Doch der Vielgereiste blieb nicht tatenlos. Das Schicksal seines Heimatdorfs liess ihm keine Ruhe. Er begann sich intensiv mit den Geschehnissen von 1944 auseinanderzusetzen, führte Interviews mit Überlebenden, nahm sie auf Band auf. Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages schlug er vor, internationale Experten zu einer wissenschaftlichen «Tagung für den Frieden» nach Delphi einzuladen. Am 17. August 1994 hielt er die Eröffnungsrede zur Tagung und machte deutlich, «dass hier kein Tribunal stattfindet, sondern ein Diskussionsprozess in Gang gebracht werden soll. Ziel der Tagung ist es, die geschichtlichen Ereignisse von damals aufzuarbeiten und über mögliche Konsequenzen nachzudenken.» (S. 239) In der Folge mehrten sich in der Bevölkerung Distomos die Stimmen, die nach Entschädigungszahlungen riefen. Argyris Sfountouris gelangte mit einer entsprechenden Bitte an die deutsche Botschaft in Athen. Die Antwort war schockierend: «Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo nicht als NS-Tat zu definieren […], sondern als Massnahmen im Rahmen der Kriegsführung, denn sie stellten Reaktionen auf Partisanenangriffe dar.» (S. 240) Argyris Sfountouris verschlug es den Atem, erkannte er doch sofort, dass diese Antwort auf der Falschaussage des SS-Hauptsturmführers Lautenbach beruhte, die längst widerlegt worden war. Er beschloss, seine ganze Kraft in den Dienst der Aufklärung zu stellen: «Die Deutschen sollten endlich begreifen, was damals passiert ist. Und sie sollten bezahlen. Sie sollen Genugtuung leisten.» (S. 241) Patric Seibel beschreibt das unermüdliche Engagement: «Parallel zu den Prozessen beginnt Argyris, gezielt die Öffentlichkeit zu informieren. Er schreibt Artikel, hält Reden, ist bei jedem Gedenktag in Distomo dabei. Er hält Vorträge an Schulen.» (S. 248) An dieser Stelle fügt Argyris Sfountouris hinzu, dass Bundespräsident Joachim Gauck immerhin als erster Repräsentant Deutschlands die deutschen Greueltaten in Griechenland klar und deutlich als «Raub, Mord und Terror» benannt und um Entschuldigung gebeten habe. In Deutschland formierten sich verschiedene Initiativen zur Aufarbeitung des deutschen Besatzungsterrors in Griechenland, und der Theater- und Filmregisseur Stefan Haupt habe mit seinem Film «Ein Lied für Argyris» viel zur Aufklärung beigetragen.
Ein Zuhörer stellte die Frage: «Wie können Sie ausgerechnet einem Deutschen die Aufgabe anvertrauen, Ihr Leben zu beschreiben, nach alldem, was die Deutschen Ihnen, Ihrer Familie und Ihrem Land angetan haben?»
Argyris Sfountouris antwortet: «Ich habe Patric Seibel nicht darum gebeten, er ist mit der Bitte auf mich zugekommen, meine Geschichte aufschreiben zu dürfen. Deshalb ist er genau der richtige Mann dafür.»
In dieser Antwort wird einmal mehr deutlich, dass Argyris Sfountouris Kampf um Gerechtigkeit nicht von Hass und Rache, sondern vom Wunsch nach Frieden und Versöhnung geprägt ist. Patric Seibels Buch ist ein ehrlicher und feinfühliger Beitrag dazu. Möge es eine breite Leserschaft finden. ■

¹ Sophokles: Antigone, Vers 523
² Patric Seibel: «Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals». Das SS-Massaker von Distomo und der Kampf eines Überlebenden um Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 2016
³ «Die Anstalt» vom 1.4.2015, www.youtube.com/watch?v=LZcW8zJm9OU
⁴ Arthur Bill leitete seit 1947 das Pestalozzi-Kinderdorf. Daneben war er weltweit im Auftrag der Uno in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs. In den 70er Jahren baute er im Auftrag des Bundesrates das Schweizerische Katastrophenhilfskorps auf.

Endlager für radioaktive Abfälle? – Bedenken aus der Bevölkerung müssen ernst genommen werden

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

In der Schweiz und in anderen Ländern steht man vor einer dringlichen Aufgabe. Radioaktive Abfälle, die während einer Million Jahre strahlen, müssen sicher verwahrt werden. Die Forschung dazu steckt noch in den Anfängen. Offene Fragen sind nicht geklärt. Geplante Endlager stossen deshalb bei der Bevölkerung auf ernstzunehmende Bedenken, wie ein Besuch im Zürcher Weinland zeigt.

Vor Ostern fand an der Strassenkreuzung zwischen Benken, Rheinau und Marthalen die 100. Mahnwache gegen das geplante Endlager für radioaktive Abfälle im zürcherischen Weinland statt. Mit den jüngeren und älteren Frauen und Männern aus dem Gebiet, die sich oft schon länger mit der Problematik befasst haben, komme ich in ein lebhaftes Gespräch. Anfang der 1990 Jahre habe der Landarzt Jean-Jaques Fasnacht die erste Versammlung wegen des geplanten Endlagers bei Benken einberufen, erzählt eine ältere Frau. Damals war ihr Sohn noch klein, und ihre Mutter kam zum Hüten, weil sie unbedingt an die Versammlung wollte. Dort sei der Verein «Be-de-nken» gegründet worden. Eine Weile waren es nur Benkener. Dann seien andere dazugekommen und daraus sei der Verein «KLAR» dieser Region geworden, der heute bei «KLAR! Schweiz» dabei sei. «Das ist aus der Bevölkerung heraus entstanden. Ja, ich fand einfach, das ist eine viel zu gefährliche Sache. Mit 18 Jahren ging ich noch nicht demonstrieren. Ich dachte, ja, der Bundesrat weiss ja alles, wie man das macht. Erst mit der Zeit habe ich gemerkt, dass sie über vieles nicht wirklich informiert sind und dass das viel zu gefährlich ist. Viele reagieren eben erst, wenn es sie näher betrifft.»
Auch die Sorge um das Wohl unserer Nachkommen ist Grund für die Teilnahme an den Mahnwachen, die wöchentlich bei jedem Wetter stattfinden. Dazu eine weitere Teilnehmerin: «Wir haben alle profitiert von den Atomkraftwerken, vor allem die Leute in meinem Alter. Und die Folgen? Die tragen unsere Kinder und Kindeskinder, wenn wir dann nicht mehr da sind. Das betrifft Generationen. Bis die Strahlung des Atommülls, den man hier vergraben will, endgültig abklingt, dauert es eine Million Jahre! In Schaffhausen waren diese Zeiträume in einer Ausstellung dargestellt. Vom Ende der Steinzeit bis heute sind es lediglich 15 000 Jahre.»
Eine grosse Sorge – so eine andere Frau – gilt der Sicherheit des Endlagers: «Man hat für viele offene Fragen und Probleme keine Lösung! Nur schon die Einlagerung der radioaktiven Abfälle in einen Stahlmantel wird mit der Zeit zum Problem, weil dieser korrodiert. Zudem hat man im Opalinuston, in dem die Abfälle eingelagert werden sollen, Bakterien gefunden, die nach x-tausend Jahren, wenn sie mit Sauerstoff in Berührung kommen, wieder aktiv werden.»
«Das Problem sind die vielen ungelösten Fragen um die Atomabfälle», gibt der Landarzt Dr. Fasnacht zu bedenken, der seit 30 Jahren in Benken lebt und arbeitet. «Bevor der Atommüll vergraben werden kann, brauchen wir sichere Lösungen für die nächsten Generationen.» Schon seit Kaiseraugst befasst er sich mit diesen Fragen und ist im Vorstand von «KLAR! Schweiz».
Tschernobyl und Fukushima waren Anlass sich vertieft mit der Problematik der atomaren Energie zu befassen, meint eine ältere Frau: «In Tschernobyl und in Fukushima hat man gesehen, was das für eine Riesengefahr für die Umwelt ist und vor allem für die Menschen. Das hat einen wachgerüttelt, und ich möchte gerne, dass sich da etwas verändert. Man hat gesehen, wie gefährlich die Herstellung des Atomstroms ist und dass man unbedingt die veralteten Kraftwerke abstellen und keine neuen mehr bauen sollte. Ich möchte mich einsetzen, dass man auch alternative Methoden probiert, sei das Sonne, Wind oder Wasser und was es noch weiter geben wird.»
Auf meine Fragen zu den Bakterien im Opalinuston erfahre ich von einem Elternpaar Genaueres: «Diese Bakterien waren über Jahrtausende in einer Art Tiefschlaf inaktiv. Wenn sie mit Sauerstoff in Kontakt kommen, so werden sie wieder aktiv. Das hat ein besorgter Bürger herausgefunden, nicht die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) oder das ENSI (Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat). Heute weiss man noch nicht, was das bedeutet und welche Folgen das haben wird, wenn die atomaren Abfälle in den Opalinuston eingelagert werden. Das ist eine offene Forschungsfrage, die dringend geklärt werden müsste, bevor man immense Gelder ausgibt, um die Abfälle endgültig zu vergraben: Könnte die Aktivität dieser Bakterien den Korrosionsprozess der Ummantelung um die atomaren Abfälle beschleunigen? Weitere Fragen sind offen: Das Endlager liegt im Bereich des Grundwassers. Welche Folgen könnte das für die Wasserversorgung im Weinland haben? Gibt es Nukleide, die sich lösen von den Brennelementen und, und, und …»?
Es gebe viele ungelöste Probleme, die die Bevölkerung an den Veranstaltungen von Nagra und ENSI diskutieren möchte. So sei dort folgende Frage gestellt worden: «Haben Sie ein Szenario für den Fall, dass es in einem Endlager brennen sollte?» Anstatt darauf ernsthaft auf gleicher Augenhöhe einzugehen, wurde der Fragesteller abgekanzelt: «Es brennt nichts, weil es dort nichts Brennbares hat!» Ein solcher Umgang im Sinne von «Der Experte antwortet dem Dorftrottel» bewirke, dass die Bevölkerung das Vertrauen in die zuständigen Behörden verliere. In einem Endlager (WIPP) in den USA habe es später zwei Brandvorfälle gegeben. Im Jahr 2014 gab es einen Kurzschluss bei einem Betriebsfahrzeug, wenig später eine Explosion. Der letztere Vorfall führte zu einer Verstrahlung der Erdoberfläche. Danach nahm das Ensi das Problem ernst und begann sich mit der Frage zu befassen. Es gibt so viele offene Fragen, die seriös, ohne Zeitdruck in einem fairen Austausch auf Augenhöhe diskutiert werden müssten. Bedenken und Fragen aus der Bevölkerung müssen ernst genommen werden. Es gibt keine dummen Fragen. Das Gefälle «Experten» versus «Dorftrottel» geht nicht in unserer direkten Demokratie. Wissenschaftler im Dienste des Staates sind der Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig», so das Fazit meines Gegenübers. «Heute hat man die sichere Lösung noch nicht.» Es sei ein offenes Geheimnis, dass die Atommüllfässer mit der Zeit korrodieren und dann undicht seien und «usesüderet.» Heute, so mein Gegenüber, könne man dank der oberirdischen Lagerung diese Mängel noch beheben. Seien die Abfälle untertags fest eingelagert, könnten sie nicht mehr gewartet werden. Damit wäre die Langzeitsicherheit beeinträchtigt. Somit sei es fahrlässig, diese Abfälle zum heutigen Zeitpunkt für immer zu versenken! Bis all diese Fragen und Probleme geklärt und eine wirklich sichere Endlagerung möglich werde, müsste man den Atommüll in Zwischenlagern sicher verwahren. Natürlich sei das ein Kostenpunkt, wenn man 200 oder 300 Jahre warten müsste, bis man eine gute Lösung gefunden habe. Aber wenn man an die künftigen Generationen denke, dann lohne sich das.
Bei dieser Mahnwache lernte ich eine Bevölkerung kennen, die aktiv, verantwortungsbewusst und gemeinwohlorientiert denkt, handelt und Hand bietet, nachhaltige Lösungen für ein aktuelles Problem zu entwickeln, das die ganze Schweiz betrifft. ■

 

«Erst seit rund 20 000 Jahren fliesst der Rhein nicht mehr durch den Klettgau, und die Nagra will uns nun weismachen, dass sie für eine Million Jahre Sicherheit garantieren kann?» «Wenn man nur schon betrachtet, was sich in den letzten 40 Jahren in Sachen Wirtsgestein verändert hat: vor 30 Jahren war es das Kristallin, dann die Tuffe, gefolgt von den Salzstöcken und jetzt der Opalinuston …! Was kommt als Nächstes?»
Franziska Knapp und Beat De Ventura von «KLAR! Schaffhausen». In: Energie & Umwelt, 2/2010, S. 7

Zur Geschichte der Lagerung radioaktiver Abfälle
Wie gefährlich radioaktive Abfälle sind, war man sich lange nicht bewusst. Bis in die 1960er Jahre gelangten diese in den normalen Abfall oder ins Abwasser. Von 1969 bis 1982 wurden sie im Atlantik versenkt.
Ab 1972 befasste sich die «Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle» (Nagra), die den Betreibern der Atomkraftwerke gehört, mit der Lagerung radioaktiver Abfälle. Seit 1977 sind die schweizerischen AKW-Betreiber vertraglich verpflichtet, ihren Atommüll aus den ausländischen Wiederaufbereitungsanlagen dereinst in die Schweiz zurückzuführen, um ihn endgültig zu lagern. 1978 verlangte der Bund von der Nagra bis 1985 einen Nachweis für die sichere Lagerung von radioaktiven Abfällen. Andernfalls sollten die AKWs abgestellt werden. Anhand technischer Berechnungen entwickelte die Nagra das «Projekt Gewähr» mit den Sicherheitsbarrieren: «Verglasung, Stahlbehälter, mit Ton oder Bentonit gefüllte Stollen, möglichst wasserfreies Wirtsgestein.» 1985 akzeptierte der Bundesrat das «Projekt Gewähr» für schwach- und mittelradioaktive Abfälle als «Entsorgungsnachweis» und für hochaktiven radioaktiven Müll als «Sicherheitsnachweis».*Nun begann die Suche nach geeigneten Endlagern. Für schwach- und mittelradioaktive Abfälle wurde 1986 das kristalline Gestein des Wellenberges im Kanton Nidwalden ins Auge gefasst, was die Nidwaldner jedoch an der Urne ablehnten. Die Folge war ein Bundesgesetz, das den Kantonen künftig das Recht entzieht, in einer Volksabstimmung zu einem geplanten Endlager auch Nein zu sagen.Seit 1991 befasste sich die Nagra auch mit dem Opalinuston zwischen Schaffhausen und Solothurn als möglichem Wirtsgestein für Endlager. In Benken im Zürcher Weinland erfolgten 1998 Sondierbohrungen und 2002 reichte die Nagra aufgrund theoretischer Berechnungen und Überlegungen das «Projekt Opalinuston» ein. Hochradioaktive Abfälle in metallenen Behältern sollen in Stollen, die mit Bentonit gefüllt werden, im Opalinuston lagern, in einer Tiefe von 400 bis 900 Metern. Nach 50 bis 100 Jahren soll das Endlager geschlossen werden. Eine weitere Überwachung ist nicht vorgesehen. class="information">2006 akzeptierte der Bundesrat das «Projekt Opalinuston» als Entsorgungsnachweis für hochradioaktive Abfälle. Im Felslabor Mont Terri bei St. Ursanne wird seit 1996 die praktische Eignung von Opalinuston für die Lagerung radioaktiver Abfälle untersucht. Projektiert wurde ab 2030 ein Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle und ab 2040 ein Endlager für hochradioaktive Abfälle. Mittlerweile sind die Einlagerungszeitpunkte nach hinten verschoben worden. Der aktuelle Zeitpunkt ist somit 2050 bzw. 2060.
Dieter Kuhn, Granit? Gneis? Anhydrit? Opalinuston? Oder vielleicht etwas ganz anderes?. Energie & Umwelt, 1/2010, S. 8.

Für ein erweitertes Verständnis der Menschenrechtsnormen

von Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas*

Alfred de Zayas  (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)

Zivilisation bedeutet nicht eine konstante Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), einen ständig wachsenden Konsum und die aggressive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen – sondern die Achtung vor dem menschlichen Leben und dem der Tiere, die nachhaltige Bewirtschaftung der Umwelt, die lokale, regionale und internationale Solidarität, soziale Gerechtigkeit und eine Kultur des Friedens.

Zivilisation bedeutet nicht, immer grössere Wolkenkratzer zu bauen, immer mehr nützliche und unnütze Dinge zu produzieren und noch mehr materielle Güter anzuhäufen – sondern die eigene Identität, die Einzigartigkeit jeder Person und die eigene Geschichte und Kultur zu bejahen und gleichzeitig die Vielfalt und das gemeinsame Erbe der Menschheit zu feiern, ein Gefühl für Verhältnismässigkeit zu entwickeln und Schönes zu erschaffen für künftige Generationen, in Literatur, Kunst und Musik. Zivilisation bedeutet also, den Menschen die Freiheit zu geben, ihr eigenes Glück zu schaffen, so im Sinne der bhutanischen Initiative zur Stärkung des Bruttonationalglücks (Gross National Happinness) als Alternative zum Bruttoinlandsprodukt.  Es geht also um das Recht auf Glück, das Recht auf Schönheit, und nicht nur um das Recht auf Handel und Konsum.
Alle Rechte ergeben sich aus der Menschenwürde. Die Kodifizierung der Menschenrechte ist niemals endgültig und niemals erschöpfend, sondern stellt einen evolutionären «mode d’emploi» für die Ausübung von bürgerlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechten dar. Leider wird die Interpretation und Anwendung der Menschenrechte durch falsche Prioritäten, einen sterilen Positivismus und eine bedauerliche Tendenz, sich nur auf individuelle Rechte zu konzentrieren, behindert, während man kollektive Rechte vergisst. Leider haben viele Verfechter der Rechte wenig oder kein Interesse für die gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten, die die Ausübung von Rechten begleiten, und sehen die notwendige Symbiose von Rechten und Pflichten nicht, ungeachtet der Worte und des Geistes von Artikel 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR). («Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist.»)
Die Zeit ist gekommen, das Menschenrechtsparadigma weg von einem engen Positivismus hin zu einem breiteren Verständnis der Menschenrechtsnormen im Rahmen eines sich entwickelnden völkerrechtlich begründeten Menschenrechts zu verlagern. Das Recht ist weder Physik noch Mathematik, sondern eine dynamische menschliche Institution, die Tag für Tag die Bedürfnisse und Bestrebungen der Gesellschaft thematisiert, sich hier anpasst und dort Lücken füllt. Jeder Menschenrechtsexperte weiss, dass der Geist des Gesetzes (Montesquieu) die Beschränkungen des reinen Gesetzestextes übersteigt, und daher sollten diese kodifizierten Normen immer im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze interpretiert werden, die alle Rechtssysteme durchdringen wie zum Beispiel der von Treu und Glauben, von der Verhältnismässigkeit und ex injuria non oritur jus (aus einem Rechtsbruch kann kein neues Recht entstehen).
Ich schlage vor, die veraltete und künstliche Einteilung der Menschenrechte zu verwerfen, die sie fälschlicherweise in eine erste Stufe (zivile und politische), zweite Stufe (wirtschaftliche, soziale und kulturelle) und dritte Stufe (Umwelt, Frieden, Entwicklung, Heimat) einteilt: eine Teilung mit der offensichtlichen Prädisposition, die bürgerlichen und politischen Rechte zu begünstigen. Diese Aufteilung in Stufen ist Teil einer Struktur, die eine Weltordnung verfestigt, die viel zu oft Ungerechtigkeit zuzulassen scheint. (In Englisch spricht man nicht von «Stufen», sondern von «Generationen» von Rechten.)
Stattdessen schlage ich ein funktionales Paradigma vor, das die Rechte im Lichte ihrer Funktion in einem kohärenten System betrachten würde. Es wäre ein Paradigma, nicht von konkurrierenden Rechten und Bestrebungen, sondern von miteinander verknüpften, sich gegenseitig verstärkenden Rechten, die in ihrer Interdependenz angewandt werden sollten und im Rahmen einer koordinierten Strategie verstanden werden, um ein endgültiges Ziel zu erreichen: die Menschenwürde in all ihren Darstellungsformen zu erringen. Vier Kategorien würden die etwas schiefe Darstellung der drei Stufen von Rechten ersetzen.
Erstens würden wir damit Ermächtigungs- bzw. habilitierende Rechte anerkennen, unter denen ich das Recht auf Nahrung, Wasser, Obdach, Entwicklung und Heimat verstehen würde; darüber hinaus auch das Recht auf Frieden, denn man kann die Menschenrechte nicht geniessen, wenn es nicht ein Umfeld gibt, das die Ausübung dieser Rechte fördert. Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert das Recht eines jeden Menschen «auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können». Diese Ordnung beinhaltet die Grundbedürfnisse des Lebens und das Recht auf Chancengleichheit.
Zweitens würde ich eine Kategorie von inhärenten oder immanenten Rechten, wie das Recht auf Gleichheit und das Recht auf Nicht-Willkür, vorschlagen; in der Tat enthält jedes Recht notwendigerweise in sich das Element der Gleichheit, d. h. der selbstverständlichen Forderung, dass es gleich und gerecht angewendet wird, dass es einheitlich und vorhersehbar ist (was die Deutschen Rechtssicherheit nennen). Immanente Rechte umfassen auch das Recht auf Leben, Integrität, Freiheit und Sicherheit der Person, in deren Rahmen andere Rechte ausgelegt und angewandt werden müssen. Es gibt auch inhärente Beschränkungen für die Ausübung von Rechten. Der allgemeine Grundsatz, dass ein Gesetz den Missbrauch von Rechten verbietet (sic utere tuo ut alienum non laedas – nutze dein Recht, ohne anderen zu schaden) ist ein Prinzip, das von Sir Hersh Lauterpacht als übergreifende Norm verstanden wird, die eine egoistische Ausübung der Rechte verbietet, um anti-soziale Resultate oder ungerechtfertigte Bereicherung zu erzielen. Dieser Grundsatz bedeutet, dass jedes Recht, einschliesslich aller Menschenrechte, im Rahmen anderer Rechte ausgeübt werden muss und nicht dazu beitragen darf, andere Rechte zu vernichten oder zu verletzen. Es gibt kein Recht auf Unnachgiebigkeit, wie wir es von der Person des Shylock in Shakespeares Stück «Der Kaufmann von Venedig» kennen. Der Text des Gesetzes darf niemals gegen den Geist des Gesetzes verwendet werden.
Drittens würde ich eine Kategorie von Verfahrens- oder Durchführungsrechten vorschlagen, wie das Recht auf ein faires gerichtliches und administratives Verfahren (due process), Zugang zu Informationen, die freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung, Arbeit, Bildung, soziale Sicherheit, Freizeit: Rechte, die wir brauchen, um unser Potenzial ausschöpfen zu können, um unsere Persönlichkeit zu vervollkommnen und das Streben nach Glück in Anspruch nehmen zu können.
Schliesslich möchte ich die Kategorie der End-Rechte oder der Erfolgsrechte postulieren: das bedeutet die konkrete Ausübung der Menschenwürde, jene Bedingung des Lebens, die jedem menschlichen Wesen erlaubt, sich selbst zu sein. Dieses endgültige Recht ist das Recht auf unsere Identität, auf unsere Privatsphäre, das Recht, uns selbst zu sein, eigenständig zu denken und unsere Menschlichkeit ohne Indoktrination, ohne Einschüchterung, ohne Druck durch die politische Korrektheit auszudrücken, ohne uns selbst zu verkaufen, ohne uns selbst zensieren zu müssen. Das Fehlen dieses Erfolgsrechts auf Identität und Selbstachtung spiegelt sich in einem Grossteil des Streits, den wir heute in der Welt sehen. Nur durch das Bewusstsein und die Ausübung des Rechts auf unsere Identität und die Achtung der Identität anderer können wir das individuelle und kollektive Recht auf Frieden geniessen.
Der Uno-Menschenrechtsrat sollte zu jener internationalen Arena werden, in der die Regierungen sich darum reissen, zu zeigen, wie die Menschenrechte am besten umgesetzt werden können, wie die Rechtsstaatlichkeit gestärkt werden kann und soziale Gerechtigkeit erreicht wird; ein Ort, an dem sie bewährte Praktiken zeigen und diesem neuen funktionalen Paradigma der Menschenrechte Leben einhauchen. Diese Art von Wettbewerb in der Menschenrechtserfüllung ist oberstes Ziel und Herausforderung für die Zivilisation. Der Menschenrechtsrat sollte das herausragende Forum werden, in dem die Regierungen das erforschen, was sie selbst getan haben und tun werden, um die Menschenrechte einzuhalten: in der Umsetzung von Zusagen nach bestem Wissen und Gewissen und der Einhaltung einer täglichen Kultur der Menschenrechte, die durch eine grosszügige Interpretation der Menschenrechtsverträge und eine Verpflichtung zur Einbeziehung aller Beteiligten gekennzeichnet ist. Was der Rat nicht sein darf, ist eine politisierte Arena, in der die Gladiatoren die Menschenrechte als Waffen benutzen, um ihre politischen Gegner zu besiegen, und wo die Menschenrechte durch «Nebenvorstellungen», den «Geschmack des Monats» oder «legale schwarze Löcher» untergraben werden. Das Zivilisationsmodell der globalisierten Welt darf keines sein, das von Positivismus, Legalismen und Schlupflöchern gekennzeichnet ist, sondern von Ethik, direkter Demokratie, Respekt für die Umwelt, internationaler Solidarität und Menschenwürde. ■

Quelle: UN Special – April 2017
Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

* Alfred de Zayas ist zurzeit Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung im Auftrag des Uno-Büros des Hochkommissars für Menschenrechte (UNHCR).

Weitere Anmerkungen zu diesem Thema finden sich im Bericht von 2013 des Unabhängigen Experten für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung von 2013 an die Uno-Generalversammlung (A/68/284).

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