Editorial

In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die vor einer weiteren Eskalation des Ukraine-Konflikts warnen. Besonders aus Kreisen ehemaliger ranghoher Militärs, die sich getrauen, offen zu sprechen, werden schwerste Bedenken gegenüber einer Ausweitung des Konflikts durch Waffenlieferungen oder gar Entsendung fremder Truppen ge­äussert. Doch die Politik ist taub. Man hat den Eindruck, für die USA und ihre Verbündeten ist der provozierte Krieg eine willkommene Gelegenheit, ihren Einflussbereich weiter auszudehnen und die Welt nach US-Vorstellungen umzugestalten, zuerst mit verstärkter Aufrüstung und Ausweitung der internationalen US-Kriegstruppe, genannt Nato, und im zweiten Schritt die wirtschaftlichen Konkurrenten auszuschalten und das neoliberale Prinzip und die amerikanische Lebensweise durchzusetzen. Das betrifft Länder, die sich als Verbündete verstehen und alles, was aus den USA kommt, mittragen, selbst ihren eigenen wirtschaftlichen Untergang. 

Sogar traditionell neutrale Staaten wie Finnland, Schweden und allen voran die Schweiz lassen sich in den Strudel der unsäglichen Kriegsrhetorik und der Propagandageschichten von der Bedrohung der «freien Welt» durch heute Russland und morgen China ziehen und beabsichtigen eine völlig unbegründete Annäherung an die Nato. Wozu das Ganze? 

Anstatt sich für ein sofortiges Ende des Krieges einzusetzen, wird er befeuert. Menschen, die dabei zu Tode kommen, spielen wohl keine Rolle, wenn der deutsche Kanzler sich zum Sprachrohr der USA macht und mit eiserner Miene verkündet: «Russland darf nicht gewinnen.» Seine Idee, T-72 Panzer aus Slowenien in die Ukraine zu liefern, die von den Ukrainern bedient werden könnten, dafür im Austausch an Slowenien deutsche Panzer zu schicken, zeigt, dass nur noch die Logik des Krieges das Denken beherrscht. Ein Engagement für den Frieden ist in weite Ferne gerückt. «The fog of war» nannte es einst der US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara, der die Kubakrise und den Vietnamkrieg hautnah miterlebt hatte. Ist die Menschheit nach über 100 Jahren (Kriegs-)Geschichte immer noch nicht weiter?

Die Vernunft und das realistische Betrachten der aktuellen Situation ist einer völligen Emotionalisierung gewichen. Man kann sich nur schwerlich des Eindrucks erwehren, dass gewisse Mainstreammedien Regierungen vor sich hertreiben und ihnen vorschreiben, wie sie in der Ukrainekrise zu agieren haben. Und sie machen das mit. Eine absurde Situation. 

In diesem Dschungel von Propaganda und Gegenpropaganda ist grösste Zurückhaltung geboten. Deshalb ist es entscheidend, dass andere Stimmen als Kriegstreiber zu Wort kommen und ihre Positionen darlegen können. Nur eine sachliche, nicht von Emotionen geleitete Auseinandersetzung führt zu einer tragfähigen und dauerhaften Lösung. Mit dieser aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift wollen wir weiter zu einer Versachlichung der Auseinandersetzung und damit zu einem möglichst raschen Ende des Krieges beitragen.

Die Redaktion

 

«Jede militärische Lösung führt in die Katastrophe!»

«Es braucht eine politisch-diplomatische Lösung in der Ukraine»

Interview mit Dr. Erich Vad*

Dr. Erich Vad (Bild zvg)
Dr. Erich Vad (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus In einer deutschen Zeitung werden Sie zitiert, man müsse «den Krieg zwischen der Ukraine und Russland vom Ende her denken». Was meinen Sie damit konkret?

Dr. Erich Vad Damit meine ich, wir müssen von einer wie auch immer gearteten späteren politischen Lösung zurückdenken und so agieren, dass spätere diplomatische Lösungen nicht verunmöglicht werden. Sie müssen für beide Seiten einen gesichtswahrenden Ausweg enthalten. Da sehe ich eine grosse Gefahr mit Blick auf die emotionsgeladene Debatte um Russland und seinen Präsidenten Putin.

Inwiefern?

Die durch den Überfall Russlands auf die Ukraine verständlicherweise erfolgte starke Abwertung seiner Person und Russlands, die Überbewertung von zivilen «Kollateralschäden» und Übergriffen, wie das mutmassliche Massaker, das unbedingt von einer unabhängigen Kommission untersucht werden muss und nicht schon stark vorverurteilt werden darf, bevor alle Fakten auf dem Tisch liegen, erschwert es, spätere politische Verhandlungen zu führen. Wir laufen dabei Gefahr, weiter auf dem Weg einer Eskalation ins Nirwana zu marschieren oder letztlich in einen nuklearen Krieg. «Vom Ende her denken» heisst für mich, sich bewusst zu sein, was für Folgen ein hemmungsloses emotionales Hochtreiben der Eskalation haben könnte.

Sie haben Putin erwähnt. Er wird zum einen als Aggressor verteufelt, und zum andern stellt man ihn als unfähig hin, weil er angeblich nicht mit der Ukraine fertig werde.

Man unterschätzt Putin in seiner Rolle. Es gibt Analysten, die sagen, Russland sei zwar eine Atommacht, aber ob Putin bereit sei, einen Nuklearkrieg zu führen… Ich muss sagen, das erinnert an kindliches Verhalten. Wenn man quasi testet, wie weit man gegenüber den Eltern gehen kann, ist das der Situation völlig unangemessen. Es ist hochgefährlich. Und es gibt tatsächlich auch Militärs, die dabei mitmachen. Sie unterschätzen, dass Russland eine potente Nuklearmacht ist.

Was aber im Moment passiert, ist doch, dass alle westlichen Staaten auf Krieg setzen…

Es ist ein grosser Fehler, auf militärische Lösungen zu setzen. Ich bin ein Militär. Wenn es militärische Lösungen sind, die zu Ende gedacht, in die Katastrophe führen, dann ist dieser Ansatz falsch, deshalb muss man «den Krieg vom Ende her denken».

Wie schätzen Sie den weiteren Verlauf ein?

Es könnte sein, dass der Krieg lange dauert und der Westen Russ­land zwingen will aufzugeben, ähnlich wie es der Nato in Afghanistan ergangen ist. Sie musste abziehen, weil die Kosten zu hoch waren und ein Erfolg in weite Ferne rückte. Aber das wird im Falle Russlands nicht passieren. Das Land könnte jahrelang durchhalten, wenn es das will – die Ukrainer auch, wenn die westlichen Unterstützungsmassnahmen weitergehen. Wir werden sehen, die Lösung wird darin bestehen, dass man am Schluss miteinander verhandelt. Man muss Wege suchen, die in einer Lösung enden und nicht in einer Eskalation, die uns am Schluss zu einem 3. Weltkrieg führt. Die Ausweitung des Krieges in der Ukraine, auch wenn er nicht mit Nuklearwaffen geführt würde, wäre fürchterlich. Für mich ist das keine rationale Option. Das meine ich auch, wenn ich sage: «Man muss den Krieg vom Ende her denken».

Nach Ihren Ausführungen – wohlgemerkt, die Ausführungen eines ehemaligen hohen Militärs – muss man wieder einmal feststellen, dass auf Seiten des Militärs oft mehr Vernunft und Weitsicht zu finden ist als bei vielen Politikern, die auf momentane Ereignisse meist nur emotional reagieren. Warum ist das so?

Personen mit militärischem Background wissen natürlich bis ins einzelne, was Krieg bedeutet. Man kann den nationalen Widerstand der Ukraine, das «heldenhafte Aufbegehren» gegen eine Macht wie Russland, positiv bewerten. Das ist etwas, was in Deutschland wohl kaum einer so kennt. Aber man muss natürlich klar sehen, was dieser Widerstand in einem urbanen Umfeld für Zivilisten für Konsequenzen haben wird.

Was hat das für Folgen?

Ein Häuserkampf wie z. B. in Mariupol ist etwas Blutiges, wie man es sich kaum vorstellen kann. Als Militär sieht man hinter diesem positiven nationalen Wehrwillen die Konsequenz, wohin das führt. Deshalb sage ich, je länger der Krieg währt, desto blutiger wird er, desto mehr zivile Opfer wird es geben, vor allem wenn die Verteidiger aus einem zivilen Umfeld heraus operieren und letztlich dadurch auch zivile Opfer in Kauf nehmen. Der Angreifer hat dann natürlich ein Problem. Um Kräfte und Blut zu sparen – denn ein Haus allein mit Soldaten freizukämpfen, braucht die 5 bis 10-fache Überlegenheit – ist es einfacher, das Gebäude mit einer Granate zu beschiessen und «Kollateralschäden» in Kauf zu nehmen. Das war immer das Vorgehen westlicher Staaten und ihrer Verbündeten. Russland hat den Kämpfern in Mariupol freien Abzug gewährt, wenn sie die Waffen niederlegen. Aber sie haben das abgelehnt und nehmen im fortgesetzten Kampf weitere Opfer in Kauf. Man muss dringend aus dieser Eskalationsspirale aussteigen.

Es ist wichtig, dass es in der ganzen Kriegshysterie kritische Stimmen gibt, die zum einen wissen, wo das hinführt, und zum anderen sich nicht scheuen, das auch öffentlich zu sagen…

Hier muss ich noch etwas anfügen. Die Ukraine fordert immer wieder eine Flugverbotszone. «Flugverbotszone» ist ein euphemistischer Begriff. Das klingt so wie «Parkverbot». Alle finden diese Idee gut. Aber wenn man das von der militärischen Seite her zu Ende denkt, bedeutet das im Klartext Krieg. Jemand muss die Einhaltung dieses Flugverbots überwachen und im Ernstfall bereit sein, russische Flugzeuge abzuschiessen. Damit ist man sofort im Krieg. Das betrifft auch die «Friedensmission», die von Polen angestossen wurde. Nach Kapitel 7 der Uno-Charta ist das eine Friedenserzwingungsmission und damit faktisch ein Kriegseintritt. Auch mit MIG-Kampfjets aus dem Nato-Gebiet zu operieren, ist ein faktischer Kriegseintritt. Damit wird das Eskalationspotential immer grösser.

Was sagen Sie zu der immer wiederholten Forderung nach der Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine?

Das ist faktisch ebenfalls ein Kriegseintritt. Mal schnell schwere Waffen zu geben – das ist nicht zu Ende gedacht. Panzer innerhalb von ein, zwei Wochen zu liefern, ist gar nicht machbar. Dazu bräuchte es eine Schulung auf dem Gerät. Man kann Leopard-Panzer nicht wie einen VW mal kurz nach Kiew schicken, nach dem Motto: «Steigt ein und fahrt los.» Dazu muss man Ausbildungspersonal und technisches Personal zur Verfügung stellen. Es braucht eine Logistik, eine Instandsetzungsabteilung, einen ganzen Apparat. Ohne diese Fachleute kann man mit dem «Leopard» nichts anfangen, und damit ist man faktisch am Krieg beteiligt. Diese ganzen Zusammenhänge werden völlig ausgeblendet, und man argumentiert, «alles zu tun, um der Ukraine zu helfen.»

Diese Vorschläge kommen meist aus der Politik. Man hat den Eindruck, dass ein Bewusstsein für die Situation völlig fehlt.

Da sind tatsächlich Politiker am Werk, die keine Ahnung vom Militär haben, geschweige denn je Militärdienst geleistet haben. Sie besitzen keine Vorstellung, was Krieg bedeutet. Das sind Menschen, die mit militärischer Gewalt nie etwas am Hut hatten, die in der jetzigen Situation völlig überfordert sind, die massive Waffenlieferungen befürworten und nicht im Geringsten eine Vorstellung davon haben, was das für Folgen haben könnte. Sie haben sich immer zum Pazifismus bekannt und nur Friedensbedingungen gekannt. Jetzt plötzlich werden sie mit militärischer Gewalt und Krieg konfrontiert, und zwar unmittelbar vor der Haustür. Das führt – gepaart mit Kriegsrhetorik – zu verhaltensauffälligen Übersprungsreaktionen, die unverantwortlich sind und politische Romantik beinhalten, die in der Konsequenz echt gefährlich sind.

Was auffällt, ist, dass in der aktuellen Berichterstattung frühere Kriege völlig ausgeblendet werden und das russische Vorgehen als etwas Neues und Einzigartiges dargestellt wird. Wie sehen Sie das?

Das Vorgehen der Russen, so problematisch es ist, gegen ein Nachbarland Krieg zu führen – das habe ich auch in einem anderen Gespräch gesagt – muss man in Relation zu den vergangenen Kriegen jüngeren Datums wie die Kriege gegen Serbien, gegen Afghanistan, gegen Irak, gegen Libyen, gegen Syrien sehen. In diesen Kriegen sind Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Zivilisten umgekommen, es gab Massaker, Übergriffe etc. So hart der Strassen- und Häuserkampf in Mariupol ist, aber wenn ich an Bagdad oder Falludscha denke, dann ist das nichts anderes. Verglichen mit diesen Kriegen fällt das Vorgehen der Russen, so schrecklich es partiell sein mag, nicht aus dem Rahmen, im Gegenteil: Die «Kollateralschäden» in der Ukraine sind weitaus geringer als im Irak oder in Afghanistan.

Das ist aber kein Thema, darüber wird nicht gesprochen, als wenn es das nie gegeben hätte.

Der grosse Unterschied liegt darin: Putin ist nicht Miloševic, und Russland ist nicht Serbien, Irak oder Afghanistan. Russland ist eine Nuklearmacht, und das ist der Denkfehler, den viele machen. Nehmen wir den Irak. Die USA sind dort eingedrungen, irgendwann sind sie wieder abgezogen. Der Schaden, den sie angerichtet haben, ist enorm und seine Auswirkungen spüren wir bis heute. In Afghanistan dasselbe, man hinterlässt ein Trümmerfeld, aber man zieht unbehelligt ab. Aber mit Russ­land geht das so nicht. Es gibt keine alles entscheidende «Vernichtungsschlacht» in der Ostukraine, die dann zu einer «militärischen Lösung» und damit zur Lösung des politischen Problems führt. Es braucht eine politisch-diplomatische Lösung in der Ukraine.

Wer hat von der Lösung auf dem Schlachtfeld gesprochen? War das nicht der Aussenbeauftragte der EU Josep Borrell?

Auch der ansonsten sehr differenziert argumentierende Graf-Lambsdorff hat gesagt, es gebe nur eine militärische Lösung, und deshalb müssten wir der Ukraine mit Waffen helfen. Nein, es gibt keine militärische Lösung! Es gibt nur eine politische Lösung. Jede militärische Lösung führt in die Katastrophe! Das muss man den Damen und Herren ganz deutlich machen. Russland wird nicht nach Hause gehen wie die USA und die Nato in Kabul. Letztere fliegen nach Hause, das Kapitel ist abgeschlossen. Es wird nicht mehr darüber geredet.

Ja, und wie es den Menschen in den 20 Jahren ergangen ist, darüber redet auch niemand. Wie viele unschuldige Zivilisten ums Leben gekommen sind, wie viele Kindheiten in Afghanistan, im Irak, in Libyen etc. zerstört wurden, darüber spricht kein Mensch…

Ja, das ist so. Jeder Mensch, der unschuldig in solch einem Konflikt zu Tode kommt, ist ein Mensch zu viel. Wenn man das quantifiziert, dann geht Russland in seinen militärischen Einsätzen nicht anders vor als die USA, die Briten oder andere Staaten mit Interventionsstreitkräften, die in den erwähnten Ländern gekämpft haben.

Warum fehlt es gänzlich, dass auf eine diplomatische Lösung hingearbeitet wird? Wir hören «Waffenlieferungen», «militärische Lösung», «Kampf gegen das Böse» etc., aber von einem Hinarbeiten auf einen Frieden erfährt man kaum etwas.

Das wundert mich auch. Vielleicht liegt es daran, dass die Europäer gar keine politische Mitgestaltung sehen, weil die politischen Entscheidungen über Krieg und Frieden in Washington, in Moskau oder in Peking gefällt werden, erst recht nicht in Berlin. Es gab nach der Annexion der Krim die beiden Minsker Abkommen, an denen Frankreich und Deutschland und auch die Schweiz beteiligt waren. Die Fragen, die damals diplomatisch geregelt wurden, sind heute im Grunde genommen die gleichen: Wie sichert man die territoriale Integrität der Ukraine unter Einbezug und Berücksichtigung der russischen Minderheiten im Donbas? Brauchen wir dort eine Teilautonomie in den Grenzen der Ukraine? 

Das wäre eine sinnvolle Lösung…

Ja, aber Selenskji hat das bisher verweigert. Aber vom Ende her gedacht, müssen wir an den Rahmen, der in diesen Abkommen gesteckt wurde, wieder anknüpfen, weil es anders gar nicht geht. Auch die Ukraine wird über Neutralität und Bündnisfreiheit – österreichisches Modell, Schweizer Modell – nachdenken müssen, anders wird es nicht gehen. Am Ende wird die politische Lösung dort angesiedelt sein. Dort müssen wir hinkommen.

Aber wann geschieht das?

Gerade jetzt wäre die Situation günstig, um hier herauszukommen. Die Russen, die weitestgehend aus Kiew abgezogen sind – das ist für mich ein Indiz, dass sie wohl den Regime-Change aufgegeben haben und sich auf den Donbas, die Krim und Mariupol konzentrieren, um eine Verbindung zu erhalten. Das sind meiner Ansicht nach gute Rahmenbedingungen für Verhandlungen, weil jede Seite aus der Position der Stärke in die Gespräche gehen kann. Die Ukraine hat sich erfolgreich verteidigt und führte einen erfolgreichen Abwehrkampf, zumindest bis jetzt. Russland könnte auf seiner Parade am 9. Mai militärische Teilerfolge zelebrieren. Aber ich sehe den politischen Willen nicht. Der scheint in den USA nicht vorhanden zu sein. Washington müsste sich bewegen und mit Russland ernsthafte Verhandlungen führen.

Das ist im Grunde genommen das, was die Russen verlangen. Sie wollen mit den USA verhandeln, denn nach ihrer Wahrnehmung bestimmen die USA Selenskijs Kurs. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Selenskij nicht schon längst auf einen Kompromiss mit Russland eingegangen wäre, aber die USA das nicht zulassen, weil sie mit dem Krieg Russland schwächen können.

Ja, man muss die Frage stellen: Cui bono? Im Grunde genommen ist es von aussen betrachtet so, dass die USA sehr davon profitieren. Das westliche Bündnis war schon lange nicht mehr so stark und geschlossen, wie es jetzt der Fall ist. Die 30 Nato-Staaten stehen zusammen, letztlich hinter den USA. In nahezu allen Staaten ist das Zwei-Prozent-Ziel erreicht, selbst in Deutschland (Rüstungsausgaben machen 2 % des BIPs aus), was vor ein paar Wochen noch unvorstellbar gewesen ist. Insofern ist das für die USA auch ein Vorteil, wenn man die wirtschaftlichen Konsequenzen sieht, aber die grossen Verlierer sind die Europäer, vor allem Deutschland.

Was wäre also von Deutschland aus zu tun?

Man müsste unbedingt eine diplomatische Initiative starten. Man kann die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel an vielen Punkten kritisieren, aber nach den Vorgängen 2014 hat sie massgeblich die Fäden in die Hand genommen und die diplomatische Initiative zur Ausarbeitung der Minsker Abkommen lanciert. So konnte sie politisch etwas bewegen. Wir müssen eine Lösung für die Situation nach dem Ende des Ukrainekriegs haben. Wir müssen die russischen Minderheiten schützen, die Situation im Donbas befrieden und den Prozess überwachen, die Frage der Krim regeln. Das alles kann nur auf diplomatischem Wege geklärt werden. Ich hoffe, dass Deutschland hier zu einem konstruktiven Mitgestalter wird.

Herr Dr. Vad, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Erich Vad, Brigadegeneral a. D., war von 2006–2013 militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ist heute Inhaber der Beratungsfirma Erich-Vad-Consulting.

 

Sollen Schweizer Töchter und Söhne in den Kriegen der Nato sterben?

von Thomas Kaiser

Seit mehr als zwei Jahrhunderten hat die Schweiz in Europa nicht zuletzt wegen ihrer völkerrechtlich anerkannten Neutralität grosse Kriege weitestgehend unbeschadet überstanden. Weder beim Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 noch beim Ersten Weltkrieg, noch beim Zweiten Weltkrieg wurde die Schweiz in direkte Kriegshandlungen verwickelt. Die umliegenden Mächte haben die Neutralität respektiert und der Schweiz im gewissen Sinne vertraut, dass sie sich auch neutral verhält. Ein Segen für das Land und alle, die darin wohnen, sowie für die vielen, die in der Schweiz Zuflucht gesucht und gefunden haben. 

Trotz all dieser Erlebnisse gab es in der Geschichte der Schweiz immer wieder Bestrebungen, die Neutralität aufzuweichen oder gar «einschlafen» zu lassen. Nach dem Ersten Weltkrieg, einem Krieg, der «mit allen Kriegen Schluss machen sollte», trat die Schweiz dem Völkerbund bei und verwandelte die integrale Neutralität in eine differenzielle, die erlaubte, vom Völkerbund beschlossene Wirtschaftssanktionen mitzutragen. 

Als die Lage in Europa gegen Ende der 30er Jahre zunehmend ungemütlicher wurde, kehrten die politisch Verantwortlichen in weiser Voraussicht zur integralen Neutralität zurück. Man verstärkte die Neutralität in Anbetracht eines drohenden Krieges und schwächte sie nicht, wie es heute der Fall ist.

Nato seit 1999 ein Angriffsbündnis im Dienst der USA

Nachdem der Bundesrat handstreichartig die Neutralität ausser Kraft gesetzt hat, indem er in einem emotionalen Taumel ohne Sinn und Verstand sich den Sanktionen der EU anschloss, und der amtierende Bundespräsident Ignazio Cassis auf dem Bundesplatz sich eindeutig und völlig naiv auf die Seite einer Kriegspartei stellte, war der nächste Schritt schon zu erwarten: Annäherung an die Nato. Da ein Beitritt zu einer Organisation für kollektive Sicherheit dem obligatorischen Referendum unterliegt und ein Ausgang einer Abstimmung darüber unsicher ist, sucht man Wege, wie man sich der Nato annähern kann, ohne vom Volk gebremst zu werden. 

Der Beitritt zur PfP, einer Nato-Unterorganisation, sozusagen der Vorschule zum Nato-Beitritt, wurde bereits 1995 in einer Nacht und Nebel-Aktion der Bundesräte Cotti und Ogi vollzogen. Daraufhin reformierte die Politik die Schweizer Armee zu Tode, so dass sie das Land kaum mehr verteidigen kann. Jetzt gibt es einen Aufschrei einzelner politischer Exponenten, die massgeblich am Aderlass der Armee beteiligt waren, die eine Annäherung an die Nato mit der Begründung verlangen, dass die Schweizer Armee im Ernstfall das Land nicht mehr verteidigen könne. 

Angriffskriege der Nato

Der im Departement Amherd erfolgte Entscheid, den US-Kampfjet F-35 zu kaufen, ist ein weiterer Schritt in Richtung Nato-Kompatibilität. Damit wird der Schweizer Luftwaffe ein Kampfflugzeug verkauft, das primär nicht auf die Verteidigung ausgerichtet ist, sondern klar auf die Bedürfnisse der US-amerikanischen Kriegspolitik, die in der Führung von Angriffskriegen besteht. So hat sich die Nato, die 1949 – sechs Jahre vor der Gründung des Warschauer Pakts – ins Leben gerufen wurde, nach dem Ende des Kalten Krieges nicht aufgelöst, was ohne weiteres möglich gewesen wäre, sondern hat sich von einem Verteidigungsbündnis zu einer weltweit operierenden Angriffskoalition entwickelt. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg 1999 gegen Serbien war der Sündenfall. Bill Clinton wollte den Krieg, und die Nato ist marschiert einschliesslich Deutschlands, von dessen Boden aus nie wieder Krieg ausgehen sollte. Weitere Angriffskriege wurden mit Unterstützung der Nato oder ihr anhängiger Staaten geführt: 2001 gegen Afghanistan, 2003 gegen den Irak; 2011 gegen Libyen, und ab 2012 gab es immer wieder vereinzelte Angriffe auf Syrien. Die Liste ist lang und das hinterlassene Leid und die angerichteten Verwüstungen sind riesig.

Will auch die SP eine Annäherung an die Nato?

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist das Thema Nato in der Schweiz wieder auf dem Tisch. Was schon lange im Untergrund geschwelt hat, wird, unterstützt von den Mainstreammedien, neu entfacht. Plötzlich kommen die verkappten Transatlantiker aus der Versenkung. Die SP, die in ihrem Parteiprogramm immer noch die Überwindung des Kapitalismus festgeschrieben hat, will gemäss ihrer Sicherheitspolitikerin Priska Seiler-Graf eine Annäherung an die Nato und damit an die militärische Einsatztruppe des stärksten Verfechters eines neoliberalen Kapitalismus, der USA. 

Das ist nicht neu. Bereits Evi Allemann, die heute für die SP in der Berner Regierung sitzt, brachte schon vor Jahren die Idee ins Spiel, die Schweiz bräuchte gar keine eigenen Kampfflugzeuge, im Notfall könne die Nato helfen. Dennoch haben andere SP-Exponenten Bedenken, eine stärkere Annäherung an die Nato könnte neutralitätsrechtlich ein Problem werden. 

Ganz anders steht es bei der FDP. Hier scheint man spätestens nach Bundespräsident Cassis' peinlichem Auftritt auf dem Bundesplatz die Neutralität als etwas Nostalgisches begraben zu haben. Ständerat Thierry Burkart bedient gebetsmühlenartig das Argument, dass die Schweizer Armee zu schwach sei, um die Sicherheit unseres Landes zu gewährleisten. Nur eine engere Zusammenarbeit mit der Nato könne Abhilfe schaffen. Und damit das auch gut funktioniert, sollte die Armee auf Nato-Kompatibilität ausgerichtet werden. So einfach ist das! Die Schweiz verzichtet auf die Neutralität, spart bei der Ausrüstung ihrer Armee und stützt sich auf die Nato ab. Gratis wird das aber nicht zu haben sein. Schweizer Söhne und Töchter werden dann in zukünftigen Angriffskriegen der Nato auf den Schlachtfeldern eingesetzt und sterben für die hehren Ziel des «Wertewestens». Soll das die Zukunft der Schweizer Jugend sein? Die Neutralität ist dann endgültig Geschichte! 

 

«Totalausfall der Diplomatie»

«Die EU als Friedensnobelpreisträgerin hat komplett versagt»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was man in den letzten Wochen schon vor, aber insbesondere nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine feststellen kann, ist die Abwesenheit von Diplomatie. Sie fehlt völlig. Warum hat man den Gesprächsfaden so achtlos fallenlassen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ja, was in der Reaktion des Westens und insbesondere der EU und der Regierungen der Länder auffällig ist, ist die völlige Ausblendung von diplomatischen Initiativen. Es gab auch nach dem 24. Februar ab und zu einzelne Anläufe, etwa von Macron oder dem österreichischen Kanzler Nehammer. Aber von der EU aus gibt es überhaupt keine koordinierte Initiative, um zu versuchen, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden.

Es gab vor drei Wochen einen EU-Ratsgipfel, was war das Thema?

Ja, das war der Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU am 24. März. Aber auf diesem Gipfel gab es keinerlei Gespräche darüber, ob man als gesamte EU versucht, diplomatisch initiativ zu werden, um die beiden Seiten an den Tisch zu bekommen. Parallel zu diesem EU-Gipfel gab es Verhandlungen in der Türkei zwischen der russischen und ukrainischen Seite. Die EU tritt hier nicht als diplomatischer Akteur auf.

Warum ist das so aussergewöhnlich?

Die EU hatte früher das proklamierte Selbstverständnis, in Krisen zu vermitteln, und war lange Zeit stolz auf den vermeintlich zivilen Charakter der Organisation, aber davon ist nichts mehr vorhanden. Auch der Hohe Beauftragte für Aussenpolitik, Josep Borell, liess vor kurzem verlauten, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werde und nicht auf der Grundlage von Verhandlungen.

Was hat man eigentlich auf dem Gipfel besprochen?

Wie viele weitere Sanktionspakete man anwenden kann oder wie man die Energieversorgung von Russland entkoppelt, aber sonst wurde nichts bekannt von irgendwelchen Überlegungen, die aktuelle Krise auf diplomatischem Weg zu lösen. Dazu passt, dass es bei diesen Sanktionspaketen – inzwischen sind es fünf – keine Koppelung an bestimmte Auflagen gibt.

Was sollten das für Auflagen sein?

Man könnte zum Beispiel sagen, wenn das Feuer eingestellt wird oder die Truppen sich aus einem bestimmten Gebiet zurückziehen, dann werden gewisse Sanktionen aufgehoben. Aber alles, was es bis dahin an Sanktionen gibt, ist auf Dauer angelegt und scheint auch so gewünscht. Das ist auffallend in Bezug auf das Verhalten der EU.

Warum ist es nicht gewollt, den Konflikt zu entschärfen? Welche Rolle spielt die EU darin? Ist sie ein Erfüllungsgehilfe der USA oder betreibt sie ihre eigene Agenda?

Die Europäische Union als Struktur hat sicherlich mehr transatlantische Verbindungen als die Einzelstaaten. Es gibt, wenn man sich das genauer anschaut, Auffälligkeiten. Wenn man die Grundlagenverträge der EU analysiert, finden sich darin immer die Bezüge zur Nato. Die LINKE hat bei der Verabschiedung der Verträge immer kritisiert, dass das für Länder, die nicht in der Nato sind, ein Problem darstellt. Der EU-Gipfel vor zwei Wochen ging Hand in Hand mit dem Aussenministertreffen der Nato und dem Treffen der G7. Das war ein Konglomerat von westlichen Akteuren, Nato, EU, G7, die sich selbst immer als internationale Gemeinschaft bezeichnen, was sie natürlich nicht sind. Es gibt keinen Ansatz, was man zur Lösung dieses Konflikts auf diplomatischem Wege beitragen könnte.

Wenn Sie sagen, die Bindung der Einzelstaaten an die USA sei weniger stark, stellt sich mir die Frage zur Rolle der Deutschen? Deutschland ist ein starker Staat in der EU und in der Nato, und dennoch hat man das Gefühl, es ist der Handlanger der USA. Ist die Wahrnehmung falsch?

Nein, seit Konrad Adenauer ist die transatlantische Bindung eine Grundkonstante der deutschen Aussenpolitik. In diesem Kontext versucht das Land, eigene Akzente zu setzen. Deutschland ist nicht einfach nur eine Marionette. Das so zu betrachten, wäre zu verkürzt.

Inwiefern?

Es gab in Deutschland auch relevante Entscheidungen gegen die Politik der USA. Beim Irak-Krieg 2003 hat Kanzler Schröder eine Beteiligung der Bundeswehr am Einmarsch im Irak abgelehnt. Das war zwar kein vollständiges Nein; die Militärbasen der USA in Deutschland konnten genutzt werden. Es gab kein Überflugverbot für US- und britische Flugzeuge, aber trotzdem hat Deutschland offiziell nicht mitgemacht. Die Entscheidung von Aussenminister Guido Westerwelle, sich im Uno-Sicherheitsrat zu enthalten, als es bei einer Uno-Resolution um die Flugverbotszone über Libyen ging, die zum Krieg gegen das Land geführt hat und in der Folge zum Regime Change, war im Grunde genommen gegen die Ziele der USA. Die Enthaltung hatte im Nachgang eine heftige Debatte im Bundestag ausgelöst. Es gab schon immer wieder Situationen, in denen eigene Akzente gesetzt wurden, aber Kern der deutschen Aussenpolitik ist, das transatlantische Bündnis nicht in Frage zu stellen. 

Wie zeigt sich das im Konflikt mit Russland?

Wenn wir das betrachten, dann wird offensichtlich, dass Deutschland Teil einer schon länger stattfindenden Konfrontationsdynamik ist. Dazu gehören die Nato-Osterweiterung, die Sanktionen gegen Russland, die Reaktion auf die Maidanproteste und in der Folge auf den Umsturz vom Februar 2014 etc. Aber Deutschland ist kein eskalierender Faktor innerhalb des Westbündnisses. Man macht zwar mit, aber heizt den Konflikt nicht an vorderster Front an.

Wo lässt sich das konkret erkennen?

Das beste Beispiel ist der Nato-Gipfel 2008 in Bukarest, auf dem Georgien und die Ukraine eine unmittelbare Beitrittsperspektive bekommen sollten. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy traten damals auf die Bremse. Aber in dem Beschluss wurde festgeschrieben, dass die Ukraine und Georgien Nato-Mitglieder werden sollen, aber nicht sofort. Das ist sehr charakteristisch für die Situation. Man ist von deutscher Seite zurückhaltender, aber letztlich Teil des Ganzen. Das historisch Wichtige ist, dass in dem Beschluss von 2008 diese Beitrittsperspektive aufgenommen wurde. Vorher gab es das nicht. Zu diesem Zeitpunkt war die Neutralität noch in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben. Deutschland ist manchmal ein Bremser, aber immer ein Teil des Eskalations- und Konfrontationsbündnisses.

Die «Bremser» von damals sind in den letzten Wochen stark unter Beschuss gekommen...

Ja, das ist das Absurde. Merkel und Steinmeier, die ich oft in dem ganzen Kontext kritisiert habe, werden massiv angegriffen. Steinmeier habe ich vor allem kritisiert, weil er sich nicht für die Einhaltung des Abkommens vom 21. Februar 2014 eingesetzt hat. Er hat damals in Kiew das Abkommen zwischen dem amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch und der Opposition mitunterzeichnet. Als ein Tag später der Präsident gestürzt wurde, liess Steinmeier das Abkommen sofort fallen. Das habe ich damals direkt kritisiert.

Wie hat er auf Ihre Kritik reagiert?

Bevor ich darauf zu sprechen komme, sollte man nochmals den ganzen Vorgang betrachten. Es gab Verhandlungen in Kiew zwischen Janukowitsch und den Oppositionsführern Jazenjuk, Tjahnybok und Klitschko unter Anwesenheit Frank-Walter Steinmeiers, seinerzeit deutscher Aussenminister, des französischen Aussenministers Laurent Fabius, des polnischen Aussenministers Radolsav Sikorski und eines Vertreters Russlands, Vladimir Lukin. Dieses Abkommen hätte damals einen Ausweg aus der Krise geboten. Mit dem Umsturz in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 2014 stand das zur Disposition. Janukowitsch ist in der Nacht geflohen, weil er um sein Leben fürchten musste.

Auf meine Frage, was jetzt mit dem Abkommen sei, antwortete Steinmeier, dass mit der Flucht Janukowitschs die Grundlagen für das Abkommen obsolet geworden seien. Das ist charakteristisch für die deutsche Politik.

Inwiefern?

Man bemüht sich auf der einen Seite um Vermittlungen, ist aber sofort bereit, diese fallen zu lassen, den Putsch zu akzeptieren, der einen klaren Verstoss gegen die ukrainische Verfassung bedeutete. Angesprochen auf diesen Verfassungsbruch, wischte er meine Frage beiseite und sprach von einer «Revolution der Würde». Er hat nicht am Vertrag festgehalten. Man kann das so interpretieren: Deutschland möchte gerne vermitteln, aber der Druck, vor allem aus den USA, ist zu gross, so dass man den Weg nicht weiterverfolgt. Es ist auffallend, dass es an vielen Schlüsselstellen so verläuft. Die ganze Geschichte der Ukraine wäre anders verlaufen, wenn das Abkommen eingehalten worden wäre und es 2014 nochmals gesamtukrainische Wahlen gegeben hätte wie im Abkommen vorgesehen.

Ist das bei Scholz auch zu sehen?

Ja, Scholz war im Februar zuerst bei Biden, da musste er sich wahrscheinlich «grünes Licht» geben lassen. Danach war er bei Selenskij und anschliessend bei Putin. Dabei hat er zumindest das Bild vermittelt, dass er mit Ergebnissen von Kiew nach Moskau gefahren sei: Selenskij habe zugesagt, das Minsk II-Abkommen umzusetzen und die Neutralität für die Ukraine ins Auge zu fassen. So war zumindest die Darstellung nach aussen. Daraufhin ist Scholz nach Moskau gefahren und hat das übermittelt. Auf den ersten Blick scheint das auch vernünftig. Was aber tatsächlich gelaufen ist, werden wir wohl nie erfahren.

Was vermuten Sie?

Wahrscheinlich waren die Ergebnisse in Kiew von den USA nicht gedeckt. Das ist auch der Grund, warum Russland sagt, wir müssten die Vereinbarungen mit den USA machen, sonst seien die Ergebnisse nicht stabil. Das scheint mir nicht falsch.

Was hat denn anschliessend die Entwicklung so vorangetrieben?

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz kurz vor Kriegsbeginn hat Selenskij das Budapester Memorandum in Frage gestellt und angedeutet, dass künftig auch in der Ukraine Atomwaffen stationiert werden können, was die Situation sicher weiter eskaliert hat. Ich möchte damit nicht das Vorgehen von Putin rechtfertigen, aber man muss sich doch sehr genau anschauen, was im einzelnen gewesen ist, und ob die deutsche Rolle so ist, wie sie dargestellt wird: als «ehrlicher Makler» um einen Ausgleich bemüht. Wenn ich sehe, wie Steinmeier und Merkel vom ukrainischen Botschafter unter Druck gesetzt werden, und Steinmeier in Kiew zur persona non grata erklärt wird, dann ist das schon sehr aussergewöhnlich, auch wenn man bedenkt, dass die Rolle Deutschlands immer auf der Seite der Ukrainer war und nicht auf der Seite Russlands.

Deutschland möchte Kampfpanzer an die Ukraine liefern und beteiligt sich 80 Jahre nach dem verbrecherischen Überfall auf die Sowjetunion aktiv an einem Krieg gegen Russland.

Das ist erschütternd. Es ist unglaublich, was sich an tektonischen Verschiebungen im Moment vollzieht. Der ehemalige deutsche Brigadegeneral Erich Vad warnt vor einem Dritten Weltkrieg. Es ist absolut erschreckend.

Das Militär warnt vor einer Eskalation, und die Politik treibt ihr Spiel munter weiter. Schon der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Kujat, bemängelte, dass man nicht vom Frieden spricht, sondern den Krieg herbeiredet. Jetzt sind wir doch noch viel tiefer im Schlammassel drin...

Ja, das war bei Kujat so und bei dem Marineadmiral Kai-Achim Schönbach. Es ist unglaublich, wie diese kritischen Stimmen wegedrückt werden. Innert 48 Stunden geraten Erich Vad, Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier in die Defensive. Die Lieferungen schwerer Waffen wird vorangetrieben, und das hat sehr viel mit der USA-Politik zu tun, die hier natürlich im Hintergrund wirkt. Der ukrainische Botschafter Melnyk könnte ohne die Unterstützung der USA nie solch eine Rolle spielen.

Die zunehmende militärische Aufrüstung in Bezug auf die Ukraine, aber auch grundsätzlicher Art, ist ausserordentlich beunruhigend, und Deutschland spielt darin eine aktive Rolle.

Ja, das kann man leider nicht von der Hand weisen. Neben dem, was unsere Medien thematisieren, gibt es weitere bedrohliche Entwicklungen, die man mangels Information in der Öffentlichkeit gar nicht wahrnimmt. Es geht um die geplante Stationierung von «Dark Eagle». Das ist eine Überschallrakete aus den USA, die gerade entwickelt wird. Diese «Dark Eagle» ist geeignet, einen Enthauptungsschlag durchzuführen. Das ist eine lenkbare Überschallrakete, die in 10 Minuten in Moskau sein kann und in Deutschland stationiert werden soll. Eine öffentliche Debatte gibt es nicht, aber die Planung läuft. Das nimmt man natürlich in Russland auch wahr.

Was ist denn neben der horrenden Geschwindigkeit Aussergewöhliches an dieser Waffe?

Sie wird nicht primär für militärische Ziele entwickelt, also nicht zur Zerstörung von feindlichen Raketenbasen, sondern soll auf bewegliche Ziele ausgerichtet werden, sonst bräuchte man keine Lenkbarkeit und keine mehrfache Überschallgeschwindigkeit. Es scheint offensichtlich, dass es darum geht einen Enthauptungsschlag durchzuführen, und das ist ausserordentlich besorgniserregend. Damit wäre Deutschland aus russischer Sicht ein Land, von dem eine konkrete Bedrohung ausgeht.

Verständlicherweise?

Ja, natürlich. Aber man erfährt dazu nahezu nichts. Es gibt in dem Zusammenhang Anfragen von Gemeinden im Grossraum Wiesbaden, die durch die geplante Stationierung der Truppen, die für den Einsatz der Raketen ausgebildet werden sollen, direkt betroffen und bedroht sind. Am 8. Februar, also zwei Wochen vor Kriegsbeginn, verdichteten sich Hinweise, dass es zu einer Stationierung der Raketen kommen soll. Aktiviert wird dazu das 56. US-amerikanische Artilleriekommando, das Anfang der 80er Jahre für die Stationierung der Pershing Raketen zuständig war. Wenn man den Frieden in Europa wahren will, dann braucht es nicht mehr und effizientere Waffen, sondern weniger, dafür entschieden mehr Diplomatie und vermittelnde Gespräche. Aber was wir feststellen können, ist ein Totalausfall der Diplomatie. Die EU als Friedensnobelpreisträgerin hat komplett versagt.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Butscha: «Es müsste eine ehrliche internationale Untersuchung gemacht werden»

«Die internationalen Beziehungen dürfen nicht auf Gefühlen, sondern müssen auf internationalem Recht basieren»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Am Montag, den 4.April, waren die Medien voll von Anschuldigungen gegen Russland, in Butscha, einem Vorort von Kiew, ein Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet zu haben. Wie glaubwürdig ist das?

Jacques Baud Was mich als Nachrichtenoffizier stört, ist, dass man Russland anklagt, bevor eine richtige Untersuchung gemacht worden ist und bevor man genau weiss, was passiert ist. Es ist leider eine Tendenz unserer Politik, über Sanktionen zu entscheiden, ohne dass der Entscheidung eine saubere Analyse und eine unabhängige Untersuchung zugrunde liegt. Das gilt auch – und besonders – für die EU, und das ist total unseriös. Die internationalen Beziehungen dürfen nicht auf Gefühlen, sondern müssen auf internationalem Recht basieren. Seit Beginn der Krise sieht man internationale Führungspersonen, Regierungspersonen oder Staatschefs, die nichts überlegen, sie «tweeten». Das ist ein «management by tweeting and not a management by thinking». Das ist der Situation völlig unangemessen. Zum Beispiel sanktionieren die Amerikaner russische Öllieferungen, und dann müssen sie Venezuela und den Iran um Öl bitten! … Unsere Politiker agieren und erst nachher denken sie.

Haben Sie genauere Informationen, was in Butscha passiert sein könnte?

Grundsätzlich weiss man nicht genau, was passiert ist. Dennoch sind gewisse Dinge bekannt, die ein erstes Bild ergeben. Laut westlichen Medienberichten war die russische Armee seit ungefähr drei Wochen im Gebiet von Butscha, hat aber die Stadt nicht vollständig besetzt. Hier stellt sich mir die erste Frage: Die russische Armee lebt drei Wochen ruhig in dieser Stadt und am letzten Tag entscheidet sie, diese Menschen zu erschiessen. Warum sollte sie das tun? Das leuchtet mir nicht ein.

Ja, das hat keine Logik. Wann ist die russische Armee dort abgezogen?

Am 30. März hat der letzte russische Soldat Butscha verlassen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass es kein Rückzug nach einem Kampf war, sondern eine Truppenumschichtung der russischen Armee, um die Offensive im Donbas zu flankieren. Damit ist Rache ausgeschlossen. Aber man weiss, dass die ukrainische Artillerie einige Schüsse auf Butscha abgegeben und dabei einige Zivilisten getötet hat. Am Tag darauf, am 31. März, veröffentlicht der Bürgermeister von Butscha ein Video und sagt unter lautem Lachen, dass die Lage entspannt sei, die Russen seien weg und alles sei wieder in Ordnung. Er erwähnt keine Toten, kein Massaker, nichts davon.

Wann hat man von diesem angeblichen Massaker erfahren?

Zwischen dem 1. und 2. April sind laut Reuters ukrainische Verbände in der Stadt eingetroffen. Darunter waren Mitglieder der ASOW-Brigade und des SAFARI-Verbandes, die Jagd auf Kollaborateure und Saboteure gemacht haben. Sie haben ein Video veröffentlicht, in dem keine Toten erwähnt sind. Man sieht alte Autos und Panzer, also Autos, die schon länger demoliert herumstanden, die nicht frisch zerstört wurden. Aber man sieht «nur» eine Leiche am Anfang des Videos, offensichtlich ein Opfer der ukrainischen Artillerie. Am 2. April macht ein ukrainischer Blogger ein Video in der Stadt, aber er erwähnt kein Massaker.

«Im Daily Mail wurde das Datum des Satellitenbildes auf 19. März abgeändert»

Wann erfuhr man, dass die Leichen auf den Strassen lagen?

Erst am 3.  April erscheinen plötzlich alle diese Leichen auf der Strasse.

Später hat die «New York Times» noch Satellitenbilder veröffentlicht, und behauptete, dass die Leichen vom 9. bis 11. März an der gleichen Stelle gelegen seien. Höchst problematisch: Die Stadt war bis zu dem Zeitpunkt unter Kontrolle der ukrainischen Armee. Dazu kommt ein weiteres Problem. Da die Leichen «zu frisch» aussahen, wurde im «Daily Mail» das Datum des Satellitenbildes auf 19. März abgeändert. Nach einer forensischen Analyse hat man herausgefunden, dass die Satellitenbilder erst am 1. April aufgenommen wurden. Aufgrund dieser Elemente kann man annehmen, dass dieses Massaker inszeniert worden ist. Deshalb braucht es eine saubere, unabhängige internationale Untersuchung, bevor irgendwelche Massnahmen zu treffen sind.

Die Toten werden gezeigt, nachdem die Russen bereits abgezogen sind. Ist Ihnen bei den Bildern noch etwas aufgefallen?

Wenn man sich diese Videos gut anschaut – ich habe das getan – dann sieht man, dass diese toten Menschen meistens ein weisses Band um den Arm gebunden haben.

Was bedeutet das?

Diese weissen Binden wurden von den Russen empfohlen, um zu zeigen, dass man neutral ist und nichts gegen die russische Armee hat. Viele, die erschossen wurden, trugen diese weisse Armbinde. Was wirklich passiert ist, weiss man nicht, aber sehr wahrscheinlich wurden diese Menschen nicht von russischen Soldaten getötet. Und dazu muss man wissen, dass diese Videos von den Ukrainern gemacht und ins Netz gestellt wurden.

«Die Ukrainer hatten die Erlaubnis, sämtliche Personen ohne blaue Armbinde zu erschiessen»

Es gab eine Meldung, dass die Toten noch nicht so lange tot seien, das heisst, die Russen können so gar nicht die Täter gewesen sein, denn sie waren schon lange weg.

Als die Ukrainer angekommen sind, haben die pro-ukrainischen Leute eine blaue Binde getragen, um zu zeigen, dass sie nicht pro-russisch waren. Auf einem Video von Sergey Korotkikh («Botsman»), einem Mitglied der ASOW-Brigade, hört man deutlich, dass die Ukrainer die Erlaubnis hatten, sämtliche Personen ohne blaue Armbinde zu erschiessen. Im gleichen Video hört man ganz am Ende eine Person, die um Gnade bittet…

Hat man die toten Menschen identifiziert?

Es ist zu früh. Es heisst nur, sie hätten in dem besetzten Gebiet gelebt. Wenn dem so ist, müssten diese Menschen Ausweise oder irgendwelche Papiere bei sich haben, aber man findet die Ausweise nicht.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Ich vermute, dass ein Teil dieser Leichen von irgendwo herkam, aber nicht unbedingt von Butscha. Ich muss betonen, ich weiss nicht, was dort genau geschehen ist, aber diese Indizien genügen mir, um in der Beurteilung der beiden Seiten vorsichtig zu sein. Bevor man nach neuen Sanktionen schreit oder nach dem Internationalen Strafgerichtshof, hätte man zuerst eine saubere Untersuchung einleiten müssen.

Ist damit zu rechnen, dass das jemals sauber aufgearbeitet wird?

Damit ist kaum zu rechnen, die Leichen sind schon weggeschafft, die Ukrainer haben schon alle Spuren beseitigt. Das heisst, es wird keine saubere Untersuchung geben. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang.

Wollte Russland diesen Vorgang nicht vor den Uno-Sicherheitsrat bringen?

Ja, das wollte es. Laut Reuters hat Russland beim Uno-Sicherheitsrat den Antrag gestellt, eine Untersuchungskommission einzusetzen, und hat dazu zweimal eine spezielle Sitzung einberufen wollen, aber die Briten, die im Moment den Vorsitz im Sicherheitsrat haben, lehnten das zweimal ab. Interessant dabei ist, dass ein ukrainischer und ein nicht pro-russischer Parlamentarier auf Telegram behauptet haben, das Massaker sei vom britischen Geheimdienst geplant und durch den ukrainischen Geheimdienst SBU durchgeführt worden. Ob das stimmt oder nicht, weiss man nicht, aber es zeigt einmal mehr, dass wir sehr vorsichtig sein müssen. Aber Ursula von der Leyen hat Selenskij versprochen, dass die EU die ukrainische Untersuchung unterstützen werde. Mit anderen Worten, die EU wird keine unparteiische und unabhängige Untersuchung durchführen.

«Selbst das Pentagon hat Zweifel an der russischen Verantwortung»

Warum besteht hier kein Interesse, das sauber aufzuarbeiten, wie es der Rechtsstaatlichkeit geschuldet ist?

Es ist offensichtlich, dass der Westen keine Untersuchung will, denn er macht alles Mögliche, um das zu verzögern, und am Schluss wird es heissen: Russland ist dafür verantwortlich. Dieser Vorgang ist unsäglich. Das spricht für die russische Version, nämlich dass es eine Inszenierung der Ukraine ist. Übrigens, selbst das Pentagon hat Zweifel an der russischen Verantwortung. Wenn das Pentagon sich auf diese Weise ausdrückt, bedeutet das, dass es sich um eine Fälschung handelt. Das heisst aber auch, dass das, was uns die Medien berichten, nicht den Fakten entspricht. Daraus lassen sich zwei Dinge folgern: Erstens führen unsere politisch Verantwortlichen nur emotional und orientieren sich nicht an den Fakten. Das geht letztlich auf Kosten unseres Wohlstands. Zweitens streben die politischen Führer keine politische Lösung des Konflikts an und wollen die Russen «bis zum letzten Ukrainer» bekämpfen.

Es geht also darum, den Westen weiter gegen Russland in Stellung zu bringen?

Ja, aber es gibt noch etwas. Die Grausamkeiten, die nach der Vertreibung der Milizen aus Mariupol bekannt wurden – und es gibt täglich Duzende von Videos, die Folterungen und die Kastrationen von Kriegsgefangenen durch die ukrainische Armee öffentlich machen – zirkulieren vor allem in Russ­land. Zu uns gelangen sie kaum, weil sie meist gelöscht oder blockiert werden.

Wie reagieren die Menschen in Russland darauf?

Sie stellen sich vermehrt hinter ihren Präsidenten. Seit diese Brutalitäten in Russland bekannt wurden, stieg die Unterstützung für das Vorgehen Putins steil an. Die Zahlen kommen von einer Organisation, die zur Opposition in Russland gehört. Im Januar hatte Putin 69 % Zustimmung, im Februar waren es 71 % und im März 83 %. Interessant dazu ist, dass Nawalny in der Meinung der russischen Bevölkerung total verschwunden ist. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, Selenskij hat laut amerikanischen Medien Angst, dass diese Abscheulichkeiten, die jetzt immer mehr bekannt werden, die Unterstützung aus dem Westen in Frage stellen. Deshalb brauchte er dringend ein Ereignis, damit der Westen weiter auf Kurs bleibt.

Es ist immer das gleiche Spiel. Gibt es Anzeichen für eine Wende?

In Frankreich fangen die Menschen an zu hinterfragen, was die Rolle Macrons sei. Was hat er gemacht? Der Krieg läuft für die Ukraine nicht besser. Die Sanktionen gegen Russland wirken nicht, obwohl der Wirtschaftsminister immer behauptet hat, sie würden wirken. Tatsächlich wurde im März der Rubel als «best performing» Währung bezeichnet.

Was kann man aus der Entwicklung für Schlüsse ziehen?

Das zeigen zwei Punkte. Der erste ist, dass die Russen sehr gut vorbereitet waren. Sie haben die Entwicklung im Griff, und die Sanktionen wirken sich nur auf die westliche Wirtschaft aus. Das gilt nicht nur in Europa, das ist auch in den USA so. Biden hat immer weniger Unterstützung. Sie sinkt jeden Tag. Dazu kommt das Faktum, dass sein Sohn in eine Korruptionsaffäre verstrickt ist, was man vor den Präsidentenwahlen als russische Propaganda bezeichnet hat. Heute ist klar, dass es keine russische Propaganda war. Der zweite Punkt ist, dass unsere Politiker und ihre Berater Russland und seine Wirtschaft total falsch beurteilt und unterschätzt haben. Das zeigt einmal mehr, dass unsere politische Führung unfähig ist, komplexe Situationen zu bewältigen.

Wie reagieren die Leute in den USA darauf?

Sie fühlen sich betrogen, vor allem auch als Biden gesagt hat, dass es ihm um einen Regimechange in Russland gehe. Das heisst, es geht nicht um die Ukraine, sondern um den Sturz der russischen Regierung, und das fängt an, die Leute zu beschäftigen. Sie beginnen zu denken. Was macht unsere Regierung da eigentlich? Unsere Wirtschaft wird zerstört, nur damit sie in Russland einen Regimechange durchführen kann. Das geht den Menschen zu weit.

«Militärische Konfrontation mit Russland befürwortet»

Wie ist die Stimmung in Europa?

Nehmen wir Deutschland. Die Menschen realisieren, dass die Konsequenzen der Sanktionen von der Bevölkerung getragen werden müssen und von niemand anderem sonst. Die Menschen im Westen brauchen neue Gründe für Sanktionen. Man muss begründen, warum das alles erfolglos ist etc. Deshalb glaube ich, die russische Erklärung für das Massaker – und ich betone noch einmal: Ich weiss nicht, wer dafür verantwortlich ist – scheint mir kohärenter. Sie ist glaubwürdiger als die ukrainische Variante. Der ganze politische Kontext bestätigt eine Inszenierung. Das Problem ist, dass dies zu einer Eskalation führen kann. Am französischen Fernsehen hat Jean-Dominique Giuliani von der Robert Schuman Stiftung eine militärische Konfrontation mit Russland befürwortet. Inkompetenz genügt nicht, man muss dazu noch idiotisch sein!

Was wäre jetzt im Fall von Butscha zu tun?

Es müsste eine ehrliche internationale Untersuchung gemacht werden. Aber das ist das Problem. Unseren Politikern in Europa, aber auch in der Schweiz, fehlt die Integrität. Mit der Position, die sie an den Tag legen, fördern sie die Kriegsverbrechen. Wenn die Schweiz für das humanitäre Völkerrecht, die Menschenrechte etc. kämpft, dann muss sie alle Seiten anklagen. Wenn sie aber nur eine Seite anklagt, bedeutet das einen Freipass für Verbrechen auf der anderen Seite. Das ist genau das, was wir machen. Wir unterstützen Kriegsverbrechen.

Das Resultat sehen wir: Auf ukrainischer Seite wird misshandelt und gefoltert.

Der Westen hat keine kritische Haltung. Wenn er eine kritische Einstellung hätte, dann müsste die Ukraine aufpassen. Aber sie hat keinen Grund. Bisher glaubten die Menschen alles, was die Ukrainer sagten. Die Ukrainer wissen genau, dass sie sich alles erlauben können, denn Russland wird immer der Angeklagte sein. Sie wissen, dass jedes Verbrechen Russ­land angelastet wird. Das ist extrem gefährlich, und die Schweiz spielt eine gefährliche Rolle darin, zusammen mit den anderen Staaten. Es müsste so sein, dass man auch die ukrainische Seite beobachtet, dann sähe das schon ganz anders aus.

Russland möchte eine Sondersession im Uno-Menschenrechtsrat über diese Ereignisse in Butscha durchführen, damit die Vorfälle genau untersucht werden können. Haben Sie davon gehört?

Ja, aber es gibt Länder, die wollen Russland vom Menschenrechtsrat suspendieren. Die Entwicklung ist äusserst gefährlich, denn man schneidet alle diplomatischen Wege ab.

Damit kann es keine diplomatische Lösung geben.

Ja, diese Plattformen, z. B. an der Uno oder im Europarat, das sind Verhandlungsplattformen, die für Krisensituationen eingerichtet sind. Das ist die Idee dahinter. Dafür hat man diese Instrumente geschaffen. Wenn man jetzt Staaten von diesen Plattformen ausschliesst, zerstört man den Sinn und Zweck dieser Plattformen. Das ist konzeptionell falsch. Egal, was man über diesen oder jenen denkt, ob man Putin mag oder nicht, das spielt keine Rolle, die Plattform muss allen offenstehen, um einen Dialog zu führen. Dann zu sagen, man habe keinen Dialog mit Putin, das ist grotesk. Man darf nicht vergessen, dass es darum geht, den Krieg zu beenden und Menschenleben zu schützen.

Von Frieden zu reden, Opfer zu verhindern, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, müsste das Gebot der Stunde sein.

Ja, bei den westlichen Ländern stimmt etwas in ihrer Haltung nicht. Selbst im Kalten Krieg trotz dem Afghanistankrieg 1979–1989, trotz den sowjetischen Menschenrechtsverletzungen, trotz dem Abschuss des Jumbo-Jets KAL 007 Flug 1983, trotz all dem hat der Westen den Dialog mit Russ­land nicht abgebrochen. Dies hinderte den Kommunismus jedoch nicht daran, einige Jahre später ohne äusseren Einfluss zusammenzubrechen. Was der Westen heute macht, führt zu keinem Resultat, die Menschen in Russland stehen noch geschlossener hinter Putin. Aber wir, die Bevölkerungen in den westlichen Staaten, werden die ersten Opfer dieser unsäglichen Sanktionspolitik sein.

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995–1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

Ausschluss Russlands aus dem Uno-Menschenrechtsrat: «Verhandlungen sind absolute Priorität» 

«Am dringlichsten ist ein ehrlicher Dialog und der entschiedene Wille zum Frieden»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Die Uno-Generalversammlung hat die Mitgliedschaft Russlands im Menschenrechtsrat suspendiert. Welche Funktion hat der Uno-Menschenrechtsrat?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Der Uno-Menschenrechtsrat ist die Nachfolgeorganisation der Menschenrechtskommission. Sie wurde 1946 etabliert und ist die Kommission, die unter der Leitung von Eleanor Roosevelt, René Cassin, Charles Malik und Peng Chun Chang die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 angenommen und später etliche Verträge erarbeitet hat, die dann von der Generalversammlung verabschiedet wurden. Der Menschenrechtsrat ist im Grunde genommen dasselbe mit einer anderen Etikette.

Gibt es irgendwelche Änderungen?

Die Uno-Menschenrechtskommission war sehr politisch, aber jetzt ist der Menschenrechtsrat eigentlich noch schlimmer geworden. Er ist polemisch, weniger objektiv und sehr stark unter Einfluss des Westens. Es wird mit dem Zweihänder gekämpft, es wird erpresst, es wird gedroht, wenn die Staaten nicht in eine bestimmte Richtung abstimmen. Aber ich denke, es gibt auch einiges Positive wie z. B. das System der Sonderberichtserstatter – es hat sehr mutige gegeben u. a. Ben Emmerson, Richard Falk, Michael Lynk, Virginia Dandan, Olivier de Schutter, Idriss Jazairy, Alena Douhan, Nils Melzer, Hilal Elver…

Was ist das Negative?

Leider gibt es aber auch viele Sonderberichterstatter, die weniger die universellen Menschenrechte fördern, sondern eine «business-friendly» Auslegung der Menschenrechte vertreten. Der Menschenrechtsrat ist ein Instrument der Politik des Weissen Hauses, des State-Departments etc. Man kann unumwunden sagen, er steht im Dienst des Westens und seiner geopolitischen Interessen. Die noblen Prinzipien der Dignitas Humana, der Menschenwürde, werden für politische Zwecke missbraucht, indem man nicht den Opfern hilft oder die Menschenwürde Realität werden lässt, sondern geopolitische und ökonomische Interessen verfolgt. Es wird überall das Modell des Westens zum Massstab genommen. 

Steht das nicht im Widerspruch zur Menschenwürde?

Natürlich, denn jedes Land hat das Recht auf die eigene Geschichte, Kultur und Identität. Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung. Genau das bedeutet Demokratie – nämlich Freiheit und Selbstbestimmung. Es ist genau das, was der Menschenrechtsrat nicht fördern will. Man will allen Staaten die westliche Ideologie und Lebensweise aufzwingen. «One size fits all». Das kollidiert mit dem Recht eines jeden Volkes, abzulehnen, was gegen seine Traditionen oder Religion verstösst. Im Grunde betreibt der Menschenrechtsrat eine Art «Neo-Kolonialismus» in «menschenrechtlicher» Verkleidung.

Der Zwang des Westens, seine Sichtweise als die einzig wahre anzuerkennen, widerspiegelt sich auch im aktuellen Konflikt in der Ukraine?

Ja, in dem Zusammenhang ist die Abstimmung in der Generalversammlung durch und durch verwerflich und wurde natürlich in vielen Fällen durch Drohungen erzwungen. Man weiss z. B. im Falle Serbiens, dass das Land von den USA und der EU massiv unter Druck gesetzt wurde, um für den Ausschluss Russlands zu stimmen. Dabei haben 93 Länder für den Ausschluss gestimmt, darunter unter erneuter Verletzung der Neutralität die Schweiz und 24 waren dagegen, während 58 Staaten sich enthielten. Eine gewisse Anzahl zog es wohl vor, lieber nicht anwesend zu sein. Das Ergebnis ist ganz klar ein Resultat der Erpressung durch die USA.

Wie schätzen Sie den Vorgang ein?

Es ist ein Präzedenzfall von zerstörerischen Implikationen. Wenn man es so betrachtet, muss man sich fragen, warum man gegen Russland dermassen vorgeht. Der Aufruhr gegen Russland ist unverständlich, denn nichts war eklatanter und obszöner als der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA gegen den Irak im Jahre 2003, der ungefähr 1 Million Menschenleben gekostet hat. Kein Staat hat seinerseits die USA oder Grossbritannien unter Tony Blair aus dem Menschenrechtsrat hinausgeworfen.

Wenn ein Staat im Moment hinausgeworfen werden sollte, dann ist das Saudi-Arabien. Dieser Staat ist gerade dabei, einen Völkermord im Jemen zu begehen. Gleiches gilt auch für Israels Vorgehen gegen die Palästinenser oder die vielen Drohnenattacken gegen Syrien. Auch Aserbeidschan hat mit seinem Blitzkrieg gegen Armenien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Alle diese Ereignisse sind grösser und schwerwiegender als das, was Russland gemacht hat.

Zum Beispiel war der Irak-Krieg keine Reaktion der USA auf einen Angriff des Iraks, sondern reines imperiales Gehabe. Bei Russland war das anders gelagert?

Ja. Man muss die Vorgeschichte kennen. Russland hat 8 Jahre insistiert, damit die Ukraine die beiden Minsker Abkommen umsetzt. Was sie nicht getan hat. Allgemein bekannt ist, dass die Ukraine im Januar 2022 beschlossen hat, den Donbas militärisch anzugreifen. Das ist einer der Gründe, weshalb sich Putin als Vorsorgemassnahme zum Angriff entschlossen hat. Der Angriff selbst ist aber eine klare Verletzung des Artikels 2 Abs. 4 der Uno-Charta.

Inwiefern?

Hier findet eine Anwendung von Gewalt ohne Zustimmung des Sicherheitsrates statt. Die einzige Ausnahme wäre das Prinzip der Selbstverteidigung unter Artikel 51 der Uno-Charta. Dieser Artikel verlangt aber, dass vorher ein militärischer Angriff stattgefunden haben muss. Ob alle diese militärischen Angriffe durch die ukrainische Armee auf den Donbas als Rechtfertigung für den generellen Angriff auf die Ukraine gesehen werden können, bezweifle ich eher. Allerdings hat Russland auf Artikel 51 expressis verbis hingewiesen und hat erklärt, es gehe um präventive Selbstverteidigung. Aber auch dann müsste diese «Selbstverteidigung» proportional sein. Man kann einem Angriff entgegentreten, aber man kann nicht wegen eines Angriffs auf den Donbas das ganze Land überfallen. Darum kann man diesen Angriff als völkerrechtswidrig bezeichnen.

Damit ist Russland kein Exot oder, wie die meisten Medien schreiben, das Böse schlechthin?

Es gibt so viele Präzedenzfälle von Angriffskriegen, die unter völliger Straffreiheit geführt worden sind. Alle Angriffe der USA gegen Vietnam, gegen Laos, gegen Kambodscha, die Interventionen in Lateinamerika gegen Kuba, gegen Honduras, gegen Panama, gegen Haiti und die Dominikanische Republik, alle Eingriffe in die Staaten, um mit einem Putsch und militärischen Massnahmen unliebsame Regierungen zu beseitigen, das sind alles Verletzungen von Artikel 2, Abs 4 der Uno-Charta; ebenso der Angriff, die Besetzung, die Bombardierungen von Zypern durch die Türkei 1974: ein klassisches Beispiel eines Angriffskriegs genauso wie die Interventionen in Libyen, in Syrien, in Somalia usw. Die Liste ist unendlich lang.

Hat Russland nicht lange versucht, die Situation über den Verhandlungsweg zu lösen?

Ja, es hat tatsächlich 8 Jahre lang versucht, eine friedliche Lösung für den andauernden Konflikt im Donbas zu finden. Im Dezember 2021 hat Russland zwei moderate Verträge vorgelegt, um eine Sicherheitsarchitektur für ganz Europa zu erreichen, und zwar juristisch in einem Vertrag verankert. Das ist von Jens Stoltenberg an der Sicherheitskonferenz von München, Februar 2022, abgeschmettert worden: «Wenn das Ziel des Kremls ist, weniger Nato an seinen Grenzen zu haben, wird es nur mehr Nato bekommen.» Das war eine deutliche Drohung, und man muss bedenken, dass Artikel 2 Abs. 4 der Uno-Charta nicht nur die Anwendung, sondern auch die Androhung von Gewalt verbietet.

Und tatsächlich hat die Nato in den letzten 30 Jahren nichts anderes getan, als mit Gewalt zu drohen.

Das bedeutet doch

…eine permanente Verletzung der Uno-Charta durch ständige Be- und Androhung von Gewalt. Das muss unbedingt miteinbezogen werden, wenn man die Situation in der Ukraine beurteilen will.

Zurück zum Uno-Menschenrechtsrat. War die Idee des Menschenrechtsrats nicht auch, gerade den Dialog zu fördern?

Richtig. Sowohl die Uno-Generalversammlung als auch der Uno-Menschenrechtsrat agieren im Grunde genommen gegen die Ziele und Prinzipien der Uno-Charta. In einer derartigen Situation sind Verhandlungen absolute Priorität. Das ist Artikel 2 Abs. 3 der Uno-Charta. Er verlangt, dass man alle Differenzen auf friedliche Weise löst. Aber man kann sie nur auf friedliche Weise lösen, wenn man redet. Es liegt auf der Hand, dass es besser ist, beide Staaten, Russland und die USA im Menschenrechtsrat zu haben, damit sie sich miteinander einigen können, anstatt den einen oder den anderen hinauszuwerfen. Wenn man ein Land isoliert, wird die Möglichkeit einer Verhandlungslösung entsprechend gemindert. Das eskaliert, es besteht die Gefahr, dass das Ganze in einen Dritten Weltkrieg mündet und man mit Atomwaffen spricht. Diese Entscheidung ist höchstgefährlich. Die Extreme werden wahrscheinlicher als vorher.

Was wäre zu tun?

Zuerst einmal muss man festhalten, dass eine Verletzung von rechtsstaatlichen Prinzipien vorliegt. Aber tatsächlich wissen wir über die Vorgänge von Butscha nichts. Die Russen haben sofort dementiert und abgelehnt, irgendeine Verantwortung dafür zu haben. Für mich ist es deutlich, dass prozedural gesehen, man zunächst feststellen müsste, was die Fakten sind.

Wie hätte man vorgehen müssen?

Man muss die Zeitzeugen, die Menschen auf allen Seiten interviewen – audiatur et altera pars. Nur so kann man feststellen, was eigentlich dort geschehen ist. Wie sind die Menschen gestorben? Sind sie durch Artillerie getötet worden und wenn ja, durch welche? Die Frage, ob hier einzelne Fälle von aussergerichtlicher Exekution vorliegen oder es sich um Mord an Zivilisten handelt, muss untersucht werden. Sind die Menschen mit einem Kopfschuss getötet worden? Kam der Schuss von vorne oder von hinten? War es aus nächster Nähe? Das sind alles Fragen, die geklärt werden müssen, aber es gab keine Untersuchung bzw. die Ergebnisse liegen nicht vor. Die Russen haben die Videos als «false flag operation» entlarvt und somit den Vorgang in Frage gestellt. Damit verlangt das Ganze nach einer forensischen Untersuchung. Das ist aber nicht geschehen. Wie kann man handeln, ohne die Beweise zu haben?

Was spricht denn gegen das westliche Narrativ?

Wenn Russland die Ukraine zerstören wollte, hätte es das ohne weiteres tun können. Es hätte massive Bombardierungen aus der Luft machen können, wie die USA es im Zweiten Weltkrieg getan haben. Man hätte 1000 Bomber nach Kiew oder Charkow schicken können. Aber das machen die Russen nicht. Sie verfolgen eine ganz andere Strategie. Putin hat gehofft, dass Selenskij in den ersten Tagen des Krieges einlenkt. Er hat auch immer zu Friedensverhandlungen eingeladen. Und die russischen Forderungen waren klar. Die Russen wollen die Neutralität der Ukraine und sie wollen, dass die Bevölkerung im Donbas in Ruhe gelassen wird.

Warum war das nicht erfolgreich?

Die USA wollen unbedingt einen längeren Krieg. Die USA wollen den Krieg gegen Russland «bis zum letzten Ukrainer» führen und verwenden dabei die Ukrainer als Kanonenfutter. Selenskij ist meines Erachtens eine USA/EU-Marionette, eigentlich ein Verräter am eigenen Volk. Er ist wie ein Quisling und tut das, was die USA und die EU von ihm verlangen. Er opfert sein eigenes Volk in diesem nutzlosen Krieg. Es ist eine Tragödie, die sich hier abspielt. Die Mainstreammedien lügen non-stop. Meinungen, die sich nicht decken mit den Interessen von Brüssel oder Washington werden einfach ignoriert. Menschen, die eine andere Auffassung haben, werden ausgegrenzt, ihre Beiträge werden auf Youtube gelöscht oder blockiert, auf Facebook und Twitter auch. Dann kritisiert man die Russen, wenn sie die Deutsche Welle oder andere Sender blockieren. Natürlich tun sie das, denn diese westlichen Medien manipulieren die Fakten. Auch die NGOs in Russland lügen, das sind trojanische Pferde.

Was ist deren Aufgabe?

Viele NGOs sind da, um zu destabilisieren. Sie sind da, um den Regime Change vorzubereiten, genau wie auf dem Maidan 2014. Das ist auch etwas, was immer wiederholt werden muss. Dieser Krieg begann nicht am 24. Februar 2022, dieser Krieg begann am 22. Februar 2014, und zwar mit dem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Dieser Vorgang verrät alle Werte der Europäischen Union. Wir leben in einem Ozean von Lügen. Dieser Ozean ist Brüssel und die «FAZ», der «Spiegel» und sogar die «Neue Zürcher Zeitung». Ich lese Artikel in der «NZZ» und bin absolut darüber erschrocken, wie sehr sie die westliche Propaganda unkritisch übernimmt.

Was bräuchte es jetzt?

Erstens die Wahrheit – zuverlässige Information über den Krieg und über seine Vorgeschichte. Professor John Mearsheimer von der Universität Chicago hat ein kluges Buch geschrieben – «The Great Delusion» – und viele up-to-date Artikel und Interviews im Internet gegeben. Wir müssen erst verstehen, was eigentlich passiert ist – und warum – aber wir brauchen keine Schuldzuweisungen, und gewiss keine Provokationen wie die Schnapsidee, ein «Nürnberger Tribunal» gegen Putin einzurichten. Wenn Putin – dann auch George W. Bush, Tony Blair, Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden. Wir brauchen ein Ende der Kampfhandlungen. Aber dies wollen weder die Nato noch die USA.

Was kann Europa tun?

Dringlicher als alles andere ist ein ehrlicher Dialog und der entschiedene Wille zum Frieden. Europa müsste der Kriegstreiberei ein Ende setzen und sich entschieden gegen die US-amerikanischen Machtinteressen stellen. Putins Bestreben galt immer einer besseren und engeren Zusammenarbeit mit Europa. Dies wird durch die Medien vollkommen falsch dargestellt. Würde Europa aus der Logik der Gewalt aussteigen, hätte der Frieden eine reelle Chance. Ohne die Europäer könnten die USA nichts gegen Russland unternehmen. Auch wäre es so möglich, einen Dialog zwischen der Ukraine und Russland zu fördern, der einen tragfähigen Frieden bringen könnte. Aber Europa muss das wollen.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Buchbesprechung: Marokko führt seit 47 Jahren Krieg gegen die Sahraouis – offen oder unterschwellig

Der «wertebasierte» Westen sieht, hört und sagt nichts …

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

ISBN 978-3-947729-36-4
ISBN 978-3-947729-36-4

Wenn die Situation um die Ukraine wie Ende Februar 2022 eskaliert, beherrscht dies die Schlagzeilen in unseren Medien. Und wenn Marokko Krieg führt gegen die Sahraouis? Nada… In den Ländern des Südens mit ihrer leidvollen kolonialen Vergangenheit kennt man den marokkanischen Krieg gegen die Sahraouis in der besetzten Westsahara. Aber in Europa und den USA ist dieser Krieg weitgehend unbekannt. Spricht man das Thema an, ist häufig die Frage: «Sahraouis, wer ist das?» Das zeigt, wie wichtig es ist, diese Thematik in der westlichen Welt bekannt zu machen. Dem dient der 2021 erschienene Sammelband «Westsahara – Afrikas letzte Kolonie»¹, in dem der heutige Wissensstand zu dieser Thematik wissenschaftlich fundiert, breitgefächert, quellenbasiert und detailliert vorliegt.

Zur Geschichte2

Nach dem 2. Weltkrieg mehrten sich in der 3. Welt die Bestrebungen, sich aus den kolonialen Fesseln zu befreien. Daher entschied die Uno-Generalversammlung mit der Resolution 1514 (XV), dass allen Kolonien das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gewährt werden muss, so auch der spanischen Kolonie Westsahara³. Spanien setzte sich jedoch über die Resolution 1514 hinweg und schloss am 14. November 1975 mit Marokko und Mauretanien den Vertrag von Madrid, der die Westsahara nach dem Abzug von Spanien zwischen Marokko und Mauretanien aufteilte. Bereits ab dem 31. Oktober 1975 hatten marokkanische und mauretanische Truppen die Westsahara infiltriert und die sahraouische Bevölkerung unter anderem mit Napalm und Phosphor bombardiert.

Am 26. Februar 1976 verliessen die letzten spanischen Soldaten die Westsahara. Am 27. Februar riefen die sahraouische Unabhängigkeitsbewegung Frente POLISARIO⁴ und die Mehrheit der Ältesten der sahraouischen Stämme in Bir Lehlou die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus und kündigten den bewaffneten Kampf an, um ihr Land zu befreien. Während ein Teil der Sahraouis in der besetzten Westsahara verblieb, flüchteten viele in die algerische Wüste nahe der Oase Tindouf, wo ihnen Algerien ein grösseres Gebiet zur Verfügung stellte, wo sie ihre Flüchtlingslager errichteten, provisorisch ihren Exilstaat einrichteten und wo sie bis heute leben.

1991 stimmte das sahraouische Volk einem Waffenstillstand zu, nachdem die Uno versprochen hatte, dass die Sahraouis in einem Referendum über die Zukunft der Westsahara abstimmen können. Um das Referendum zu organisieren und den Waffenstillstand zu überwachen, setzte der Uno-Sicherheitsrat die Mission Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental (MINURSO) ein. Im Januar 2000 legte die MINURSO die Liste der 86 386 stimmberechtigten Sahraouis für das Referendum vor. Daraufhin lehnte Marokko die Durchführung des Referendums ab. «Je näher wir kamen, desto nervöser wurden die Marokkaner, weil sie befürchteten, das Referendum nicht zu gewinnen», so James Baker, ehemaliger US-Aussenminister und damaliger Persönlicher Gesandter der Uno für die Westsahara.⁵ Seitdem wurde das Referendum auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt.⁶ Obwohl der Uno-Sicherheitsrat das Mandat der MINURSO immer wieder erneuert – so letztmals am 29. Oktober 2021 bis zum 31. Oktober 2022 – geschieht nichts!

Im November 2020 verletzte ein marokkanisches Militärkommando das Waffenstillstandsabkommen von 1991, indem es in die Uno-Pufferzone bei Guergerat eindrang und friedliche sahrauische Demonstranten gewaltsam vertrieb. Daraufhin kündigte die POLISARIO das Waffenstillstandsabkommen auf. Seither herrscht wieder Krieg an der Berm⁷ zwischen Marokko und der POLISARIO. Der Uno-Sicherheitsrat blieb «weitgehend passiv» (S. 59).

De facto annektiert Marokko die besetzte Westsahara…
…Siedlerkolonialismus

Völkerrechtswidrig⁸ wurden und werden marokkanische ­Landsleute in der besetzten Westsahara angesiedelt, wo sie staatliche Privilegien wie Steuerbefreiung, hochsubventioniertes Öl, Zucker, Brot, Treibstoff oder doppeltes Gehalt für Staatsangestellte geniessen (S. 168). Ziel ist, die Sahraouis «zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land» zu machen (S. 44).

…Marokkanisierung

In der besetzten Westsahara betreibt Marokko «eine Politik der ‹Marokkanisierung›, die darauf abzielt, die sahrauische Kultur und das sahrauische Erbe auszulöschen oder zu verdrängen.» Während der sahraouische Dialekt Hassaniya verboten ist, fördert die Besatzungsmacht in öffentlichen Einrichtungen und im Bildungswesen marokkanische Dialekte (S.44). 

…Eröffnung ausländischer Botschaften

Seit 2019 wirbt Marokko bei afrikanischen und arabischen Staaten dafür, dass sie in der besetzten Westsahara Botschaften eröffnen, was zu einer international de facto Anerkennung der Westsahara als marokkanisches Territorium führen soll (S. 156–157). Die Afrikanische Union (AU) unterstützt jedoch nach wie vor das Recht der Sahraouis auf Selbstbestimmung. So fordert die AU den Uno-Generalsekretär dazu auf, per Rechtsgutachten zu überprüfen, ob die Eröffnung von Botschaften in der besetzten Westsahara völkerrechtlich legal sei.⁹

…Missachtung der Menschenrechte

Seit 1975 werden die Menschenrechte in der besetzten Westsahara massiv verletzt, wie Isabel Lourenco dokumentiert10: Enteignungen, willkürliche Verhaftungen, Razzien, Folter mit Todesfolgen, militärische Belagerungen sahraouischer Häuser und Wohnviertel, Entführungen und Verschwindenlassen von Sahraouis. Gewaltlose Proteste werden brutal zusammengeprügelt und Viehbestand und Lager sahraouischer Nomaden «routinemässig» vernichtet.11

Seit der Rückkehr zum Krieg am 13. November 2020 hat sich die Lage verschärft. Als die zwölfjährige Hayat am 16. November «eine kleine sahraouische Nationalflagge auf ihren Schulkittel gemalt» hatte, wurde sie von der Lehrerin bei der Besatzungsbehörde denunziert. «Sie wurde in das Hauptquartier der marokkanischen Sicherheitsbehörde gebracht. (…) Hayat wurde gezwungen, die marokkanische Hymne zu singen, sich hinzuknien und das Bild des Königs von Marokko zu küssen. Darüber hinaus wurde sie von marokkanischen Staatsbediensteten belästigt und sexuell missbraucht, sie wurde mit allen möglichen Beleidigungen konfrontiert, brutal in den Bauch getreten und an den Haaren gezogen. (…) Doch die Uno hat bis heute weder einen Besuch noch eine Untersuchung durchgeführt.» (S. 251–252)

Isabel Lourenco spricht von einem schleichenden Völkermord: «Die Übergriffe gegen die sahrauische Bevölkerung stellen nicht nur Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dar. Denn wenn wir die Gesamtheit der marokkanischen Massnahmen gegen die Sahrauis betrachten, wird deutlich, dass vor den Augen der internationalen Gemeinschaft und vor allem der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union und der Europäischen Union ein schleichender Völkermord stattfindet, der völlig ungestraft bleibt (S. 260).» (vgl. Kasten) Lourenco weist darauf hin, dass die Uno-Mission «kein Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung besitzt» und dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die politischen Gefangenen in der besetzten Westsahara nicht besucht. (S. 261–262). Uno und IKRK müssen hier dringend aktiv werden. Andernfalls bleiben sie mitschuldig.

Die unabhängige sahraouische Menschenrechtsorganisation CODESA dokumentiert12, wie Marokko mittels Polizei, Gendarmerie und Armee «die Vierte Genfer Konvention und das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafen verstossen hat» (S. 270).

«Wertebasierte» westliche Welt schweigt und profitiert…

Geopolitisch und von den Ressourcen her ist die besetzte Westsahara für die USA, Frankreich und die EU von Interesse, wie der Soziologe und Politikwissenschaftler Werner Ruf in seinem Beitrag nachzeichnet.13 Zum marokkanischen Königshaus pflegt man gute Beziehungen. Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschheit führen weder zu Verurteilungen noch zu Sanktionen. Berichte in den Medien fehlen.

…die USA

Seit der Unabhängigkeit von 1956 verfolgt das marokkanische Königshaus, das sich auf das Almohadenreich14 zurückführt, sein Ziel eines Gross-Marokko vom Mittelmeer bis zum Senegalfluss einschliesslich der Westsahara. Um diesem Ziel näher zu kommen, nahm Marokko diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Als Gegenleistung anerkannte US-Präsident Trump – in Missachtung des Völkerrechtes und der Uno – am 10. Dezember 2020 die marokkanische Souveränität über die Westsahara. (S. 157) Marokko ist zudem am Mittelmeerdialog der Nato beteiligt.15

… Frankreich

Marokko gilt als «eine der am schnellsten aufsteigenden Volkswirtschaften Afrikas», wobei die in der besetzten Westsahara erbrachte Wirtschaftsleistung Marokko zugerechnet wird (S. 161–162). Damit gewinnt Marokko als Handelspartner Richtung Europa und Afrika wirtschaftlich an Bedeutung. Der Berater der marokkanischen Regierung, der französische Ökonom Christian de Boissieu, empfiehlt Marokko «auf zwei Beinen, Europa und Afrika» zu gehen, da Afrika «der Kontinent des XXl. Jahrhunderts» sei. Im Maghreb sei nur Marokko fähig, eine panafrikanische Strategie zu entwickeln. «Klarer kann die französische Vision von Marokko als einer euro-afrikanischen Scharniermacht wohl kaum formuliert werden», so Werner Ruf (S. 162). Daher pflegen Frankreich und die grossen französischen Unternehmen gute Beziehungen zum marokkanischen Königshaus16. Entsprechend tendierte Frankreich dazu, den völkerrechtswidrigen marokkanischen Anspruch auf die Westsahara anzuerkennen, so Werner Ruf (S. 169).

...und die EU

Für die Sahraouis sind die Bodenschätze ihrer Heimat und ihre reichhaltigen Fischgründe vor der Atlantikküste, die von Marokko ausgeräubert werden, ein Fluch.17 Die EU ist Komplizin, da in ihren Wirtschaftsabkommen mit Marokko die besetzte Westsahara inbegriffen ist. Damit verletzt die EU wissentlich die Uno-Resolutionen, das Gutachten des Internationalen Gerichtshof von 1975 sowie verschiedene Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofes. Es ist völkerrechtlich glasklar, dass die besetzte Westsahara nicht zu Marokko gehört. Verträge zwischen der EU und Marokko dürfen daher nur auf die Westsahara angewendet werden, wenn das Volk der Sahraouis, vertreten durch die POLISARIO, damit einverstanden ist.

Unter anderem gewährte die EU im Rahmen des partnerschaftlichen Fischereiabkommens Marokko sektorale Fördermittel, die «zum Teil für den Bau von Wohnanlagen für die aus Marokko stammenden marokkanischen Fischer bestimmt» sind (S. 278). Damit finanziert die EU den marokkanischen Bruch des Völkerrechts, das einer Besatzungsmacht verbietet, ihre eigene Bevölkerung in besetzten Gebieten anzusiedeln.

…und die grossen Unternehmen

Über weltweite Handelsbeziehungen bereichert sich Marokko an der Ausbeutung der Westsahara. Neben Ressourcen gibt es dort dank Sonne und Wind ein «so enormes Potenzial für die Gewinnung von erneuerbaren Energien, dass es die gesamte Maghreb-Region mit Strom versorgen könnte» (S. 193). Grosse Unternehmen wie Continental, Siemens, die deutsche Reederei Oldendorff Carriers GMBH, die HeidelbergCement oder das Schweizer Unternehmen Holcim profitieren von der Plünderung der Westsahara und finanzieren damit auch indirekt die völkerrechtswidrige marokkanische Besetzung wie Mitglieder des internationalen Netzwerkes Western Sahara Resource Watch (WSRW) detailliert darlegen (S. 193–215).

Ausblicke

Völkerrechtlich18 ist die Situation mit dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) von 1975 eindeutig: Die Westsahara ist kein Niemandsland. «Es gibt eine ansässige Bevölkerung, und diese hat ein Recht auf Selbstbestimmung.»19 Der Uno-Sicherheitsrat zieht bis heute keine Konsequenzen, obwohl die Westsahara sich seit 1963 auf der Uno-Liste der nicht selbstverwalteten Gebiete befindet, «die noch entkolonialisiert werden müssen» (S. 45). Solange die Weltgemeinschaft diese Aufgabe nicht löst, wird es keinen Frieden geben. Aber die wertebasierten westlichen Länder und ihre Medien, die Menschenrechte und Demokratie unablässig im Munde führen, wollen nichts sehen, nichts hören und nichts tun…

Solidarität, die diesen Namen verdient, findet sich bei den 14 Mitgliedsländern der Southern African Development Community (SADC), die 2019 in Südafrika eine Konferenz zur Solidarität mit der Westsahara durchführte, an der die Regierungschefs oder ihre Vertreter teilgenommen haben. Die SADC forderte die Uno und die Afrikanische Union (AU) auf, «alle Uno-Resolutionen und Entscheide der AU bedingungslos umzusetzen», um das Recht der Sahraouis auf Selbstbestimmung friedlich und endgültig zu verwirklichen. Weiter forderte die SADC den Uno-Sicherheitsrat auf, das Mandat der MINURSO auf die Beobachtung der Menschenrechtslage in der Westsahara auszuweiten und wies darauf hin, dass der völkerrechtswidrigen Plünderung der sahraouischen Ressourcen ein Ende gesetzt werden müsse.

Unterstützung und Hilfe erhalten die Sahraouis vor allem von NGOs aus der Zivilgesellschaft,20 die international oder in ihren Ländern über die Situation der Sahraouis berichten und für materielle oder rechtliche Unterstützung21 sorgen. Dies hat unter anderem bei gerichtlichen Klagen zum Erfolg geführt. So entschied der EuGH 2016, dass die Vereinbarung von 2012 zwischen Marokko und der EU über die Einfuhr von Produkten aus Marokko nicht auf die Westsahara angewendet werden darf (S. 86–88). In einem weiteren Urteil stellte der EuGH 201822 fest, dass die Vereinbarung von 2012 auch nicht auf die Seegebiete der Westsahara angewandt werden kann.

2018 beschlagnahmte der südafrikanische High Court aufgrund einer Klage der DARS und der POLISARIO in Südafrika das Motorschiff NM Cherry Blossom, das mit Phosphat aus der sahraouischen Phosphatmine Bucraa auf dem Weg nach Neuseeland zum Käufer der Ladung war. Das Gericht anerkannte die POLISARIO als Vertreterin des sahraouischen Volkes und entschied, dass das Phosphat auf dem Schiff Eigentum der DARS sei (S. 88–91).

Jeffrey J. Smith, ehemaliger Berater der Uno in Osttimor, befasst sich mit der Frage, wie das Völkerrecht künftig angewendet werden könnte, um das Recht auf Selbstbestimmung umzusetzen (S.107–128). «Nach geeigneten Gerichtsbarkeiten ausserhalb Europas zu suchen», wie auch «koordinierte Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und in einzelnen Staaten» sieht Smith als Möglichkeiten.

Wenn die westlichen Staaten ihre Werte, zu denen das Völkerrecht gehört, tatsächlich umsetzen, kann der Krieg von heute auf morgen beendet, die DARS in der unabhängigen Westsahara umgesetzt und der Umzug von den Flüchtlingslagern in die Heimat organisiert werden. 

¹ Judit Tavakoli, Manfred O. Hinz, Werner Ruf und Leonie Gaiser (Hrsg.): Westsahara – Afrikas letzte Kolonie. Berlin 2021. 
² Eine ausführliche Darstellung des geschichtlichen Hintergrunds findet sich in: Henriette Hanke Güttinger: Das Referendum über die Zukunft der Westsahara muss durchgeführt werden. In: «Zeitgeschehen im Fokus», Nr. 3 vom 3. März 2020.

³ Resolution 1514 (XV) vom 14.12.1965, Resolution 2072 von 1965, Resolution 2229 (XXI), 1966.
4 POLISARIO-Front (Frente Popular para la Liberacion de Saguia el Hamra y Rio de Oro)
⁵ James Baker, zitiert in: Westsahara, S. 47.
⁶ Jacob Mundy: Das Ende des Friedensprozesses in der Westsahara und der Zusammenbruch des UN-Waffenstillstands. In: Westsahara, S. 59.
⁷ Zwischen 1981 und 87 baute Marokko einen mit Minen gesäumten Sandwall (2 700km) quer durch die Westsahara, der die besetzte Westsahara (2/3) von den Befreiten Gebieten (1/3), die die POLISARIO kontrolliert, trennt.
⁸ Genfer Konvention IV, Art. 49, Abs. 6.
⁹ Communiqué des Friedens- und Sicherheitsrates der Afrikanischen Union vom 9. März 2021, zitiert in: Westsahara, S. 159–160.
10 Isabel Lourenco: Die Menschenrechtslage in der Westsahara. In: Westsahara, S. 245–265.
11 S. 276.
12 Vgl. Westsahara, S. 267–278.
13 Westsahara, S. 153–171.
14 Im 11. Jahrhundert erstreckte sich das Almohadenreich von Valencia und Saragossa im Norden bis zum Senegalfluss im Süden (S. 154).
15 Dieser besteht seit 1994. Mitglieder sind Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Mauretanien, Marokko, Tunesien. Nato, Sicherheit durch Partnerschaft. S. 22.
16 Seit der französischen Kolonialzeit bestehen zwischen Frankreich und Marokko enge Beziehungen. Als Marokko 1956 unabhängig wurde, installierte Frankreich dort Mohammed V, der bereits während des französischen Protektorates als Sultan formaler politischer Repräsentant war. 1965 liess die französische Regierung in Paris den Führer der marokkanischen Sozialistischen Partei, Mehdi Ben Barka entführen und übergab ihn dem marokkanischen Geheimdienst, der ihn zu Tode folterte. Zusammen mit dem ersten algerischen Staatspräsidenten Ahmed Ben Bella und Fidel Castro bereitete Ben Barka die Trikont-Konferenz vor, die in Kuba für 1966 geplant war. «Viele Indizien sprechen dafür, dass an dieser Entführung auch die CIA und der Mossad beteiligt waren, da die geplante Trikont-Konferenz, die klar gegen die imperialistischen Interessen des Westens gerichtet war, um jeden Preis verhindert werden sollte», so Werner Ruf (S. 167). 
17 In der besetzten Westsahara liegt «eines der grössten und qualitativ hochwertigsten Phosphatvorkommen weltweit.» Seine Fischbestände an der 1200 Kilometer langen Atlantikküste gehören zu den grössten weltweit (S. 193). 
18 Gemäss Uno-Charta, Artikel 73, ist die Westsahara ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung.

19 International Court of Justice. Reports of judgments, advisory opinions and orders. Western Sahara. Advisory Opinion of 16 October 1975, S. 12.
20 Zu erwähnen als nachahmenswertes Beispiel sind auch der Senat und die Bürgerschaft der Stadt Bremen, die seit 1975 für die Sahraouis in den Flüchtlingslagern humanitäre Hilfe leisten (S.29–30) sowie einzelne Parlamentarier oder Parlamentariergruppen aus verschiedenen Ländern (S. 353–360). 
21 Bereits gibt es Erfolge. «Unternehmen wie Continental ziehen sich aus der Westsahara zurück.» Und der CEO des Unternehmens Seabird Exploration wird wie folgt zitiert: «Wir geben zu, einen Fehler begangen zu haben. Es fühlt sich sehr unangenehm an, eine Besatzungsmacht unterstützt zu haben» (S. 215).

22 Entscheidung des EuGH vom 27. Februar 2018

 

0.311.11 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes

Übereinkommen vom 9. Dezember 1948

Art. I

Die Vertragsparteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäss internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten.

Art. II

In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

d) Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Quelle: www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2002/358/de

 

Evakuierung in der Hängematte ist passé

Katastrophenschutz in Honduras

von Sandra Weiss

Das Bauerndorf Nueva Esperanza im Süden von Honduras ist durch den Klimawandel bedroht. Die Dorfbevölkerung schöpft dank der Hilfe des SRK neue Hoffnung. Der Katastrophenschutz gibt den Anstoss für viele Verbesserungen des Alltagslebens, wie hier auf dem Bild die verbesserte Trinkwasser-Versorgung.

Die verbesserte Trinkwasserversorgung in Nueva Esperanza (Bilder: Florian Kopp)

 

Eliecer Cruz diktiert Daten aus der Wetterstation: «Temperatur 32 Grad, leichte Brise aus Westen, Luftfeuchtigkeit 90 Prozent.» Die Wetterstation ist vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) finanziert und liegt auf einer Anhöhe im Weiler Nueva Esperanza im Süden von Honduras. Der Blick von oben ist atemberaubend: Grüne Hügel bis zum Horizont, klare Bergflüsse, dazwischen Maisfelder und ein paar Höfe. Aus der Ferne hört man Hühnergackern. Doch die Idylle trügt: Nueva Esperanza ist ein bitterarmes Bauerndorf. Für die 10 Kilometer bis zur nächsten geteerten Landstrasse braucht man im Geländewagen eine Dreiviertelstunde. Die nächste Schule ist 20 Minuten zu Fuss, die nächste Gesundheitsstation 30 Minuten mit dem Moped entfernt. Die Menschen leben in einfachen Häusern mit Aussenküchen und Latrinen. Das Wasser stammt aus Brunnen. Obwohl sie so einfach leben und nur wenig CO2 verursachen, sind sie stark gefährdet durch den Klimawandel. Nueva Esperanza ist auf den Karten des honduranischen Katastrophenschutzes tiefrot gefärbt. 

Die Wetterstation des SRK warnt vor starkem Niederschlag und damit vor einem Erdrutsch. 

 

«Nueva Esperanza ist auf den Karten des honduranischen Katastrophenschutzes tiefrot gefärbt.»

Denn in den umliegenden Hügeln befinden sich alte Minen, die zum Teil noch aus der Kolonialzeit stammen. Silber und Gold förderten die Spanier dort; die letzten Stollen wurden vor einem Vierteljahrhundert geschlossen. Doch die malerischen Hügel sind durchlöchert und so instabil, dass sie bei schwerem Regen abrutschen und im schlimmsten Fall das Dorf unter sich begraben könnten. Die Wetterstation soll frühzeitig vor einem erhöhten Risiko warnen.

Sorgen der Bevölkerung

«Uns war die Gefahr nicht bewusst. Aber worunter wir ziemlich litten, waren die marode Schule und der lange Weg zum Gesundheitsposten», erzählt Dorfvorsteher José Pavón. Mit 73 Jahren ist er einer der Ältesten im Ort. Als das Rote Kreuz wegen der rotgefärbten Karte ins Dorf kam und von einem Katastrophenplan sprach, nickte er – und trug dann die brennenderen Sorgen der Dorfbevölkerung vor. So entstand gemeinsam ein umfassender Aktionsplan. «Er war eine Wende für unser Dorf­leben», sagt Pavón. Finanziert wurde diese vom SRK. «Den Anfang machte unsere Organisation», erzählt er weiter. Mehrere Komitees wurden gebildet – eines für Gesundheit, eines für Infrastruktur, eines für Katastrophenschutz. Die Schule erhielt eine Gemeinschaftsküche und zwei neue Latrinen. Der Gesundheitsposten wurde renoviert. Das Quellgebiet des Flusses wurde aufgeforstet. Damit wird sichergestellt, dass auch in der Trockenzeit das Wasser nicht ausgeht. Gleichzeitig werden die Hänge befestigt, sodass Erdrutsche weniger wahrscheinlich sind. Schutzmauern an Flussufern und an Häusern in extremen Hanglagen wurden gebaut. 

«Auf den steinigen Wegen mussten wir Kranke in Hängematten aus dem Dorf tragen.» 

Das Material stellte das Rote Kreuz zur Verfügung, die Arbeit leisten die Dorfbewohnerinnen und -bewohner. Nach demselben Schema entstehen gerade zwei zementierte Fahrspuren. Mit ihnen wird die Piste auch bei schlechtem Wetter befahrbar. Eine Evakuierung geht dadurch schneller. «Davon haben wir lange geträumt», schwärmt Pavón. «Früher mussten wir Kranke in Hängematten aus dem Dorf tragen.» 

Hand in Hand mit dem Katastrophenschutz geht die Gesundheitsförderung. Hebammen wurden ausgebildet, um Risikoschwangerschaften frühzeitig zu erkennen und die werdenden Mütter in Spitäler einzuweisen. Rotkreuz-Helferinnen und -Helfer organisieren gemeinsam mit dem Fachpersonal des Gesundheitspostens mobile Kliniken. So können sich alle impfen und untersuchen lassen. Parallel dazu finden Informations-Workshops statt über Säuglingspflege und Empfängnisverhütung, über gesunde Ernährung und Erste Hilfe.

Dorfvorsteher José Pavón ist zufrieden mit den Verbesserungen, zu denen die Dorfbevölkerung selber beigetragen hat mit Ideen und Arbeitseinsatz. 

 

Gemeinsam viel gelernt

«Wir haben gemeinsam viel gelernt», sagt Hebamme Suyapa Funes. «Bei uns gab es in den letzten fünf Jahren keinen einzigen Todesfall bei der Geburt», sagt sie stolz. Sie ist ausserdem die Herrin über den gemeinschaftlich eingerichteten Krisenfonds. Das Startkapital von umgerechnet knapp 150 Franken stellte das SRK. Nun kann jede und jeder sich etwas leihen aus dem Fonds und muss es zu einem gemeinschaftlich vereinbarten Zins zurückzahlen. «Das ist ungemein nützlich», sagt Eliecer Cruz. «Neulich stürzte meine Tochter vom Baum und musste am Oberschenkel genäht werden.» Geld hatte er keines. Das hätte ihn früher in tiefe Verzweiflung gestürzt, denn er hätte bei Angehörigen und in der Nachbarschaft betteln müssen. «Nun ging ich schnurstracks zu Suyapa Funes, habe mir das Geld für den Transport ins Spital geliehen und los gings», erzählt er und umarmt die sechsjährige Scarlet, deren Narbe gut verheilt ist. «Das ganze Dorf hat profitiert», betont er. «Die Unterstützung des SRK hat unsere Gemeinschaft zusammengeschweisst. Wir können nun unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.» 

Quelle: Humanité 1/2022

Wir danken der Redaktion von «Humanité» und der Autorin für die Abdruckgenehmigung. 

www.redcross.ch/de/unser-engagement/news-und-geschichten | Magazin Humanité

 

Zurück