Artikel in dieser Ausgabe
- Ein Entwurf für Frieden in der Ukraine
- «Wenn die Ukraine fällt, ist das das Ende der westlichen Hegemonie» (Boris Johnson, April 2024)
- Wenn die Politik in der Schweiz versagt, muss das Volk eingreifen
- Gegen Kriegshysterie und Phantastereien vom Sieg der Ukraine
- «Was wir brauchen, ist Versöhnung»
- Naher Osten: «Letztlich geht es den USA darum, die Kontrolle über die Region nicht an China zu verlieren»
- «Eine Institution, eine Akademie und ein Ort, an dem Träume wahr werden» – gezielt zerbombt
Ein Entwurf für Frieden in der Ukraine
Da immer mehr Politiker und Wissenschaftler erkennen, dass der Ukraine-Konflikt nicht militärisch gelöst werden kann, dass es keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird, sollten wir uns darauf konzentrieren, das Gemetzel zu beenden. Dies ist die einzige vernünftige Politik, die wir verfolgen können, und sie sollte von allen Unterorganisationen der Uno vorangetrieben werden, insbesondere von der Generalversammlung, dem Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, dem Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge, der Weltgesundheitsorganisation und so weiter.
Mein Plan für den Frieden ist einfach.
1. Waffenstillstand auf der Grundlage der Uno-Charta,
2. ein Verbot von Waffenlieferungen an die kriegsführenden Parteien,
3. von der Uno organisierte internationale Hilfe für alle Bevölkerungsgruppen, die unter dem Krieg, dem Mangel an Energie und Nahrungsmitteln leiden,
4. von der Uno organisierte und überwachte Referenden im Donbas und in den anderen russischsprachigen Provinzen, die Russland zu seinem Staatsgebiet erklärt hat. Verhandlungen über den Status der Krim,
5. Aufhebung der Sanktionen, die die Vorteile der Globalisierung zunichte machten, Lieferketten unterbrachen, den internationalen Handel störten und die Ernährungssicherheit gefährdeten,
6. Ausarbeitung einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa, die Russland mit einschliesst,
7. koordinierte Bemühungen der Staaten und des UNHCR, um die Rückführung der ukrainischen Flüchtlinge «in Sicherheit und Würde» zu erleichtern,
8. ein globaler Fonds für den Wiederaufbau der Infrastrukturen in allen vom Krieg betroffenen Regionen,
9. die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, um die Klagen aller Seiten anzuhören,
10. Untersuchung und Bestrafung von Kriegsverbrechen durch die jeweiligen Regierungen, wie in den Genfer Konventionen von 1949 und den Protokollen von 1977 vorgesehen: Ukrainische Verbrechen werden von ukrainischen Richtern verfolgt, russische Verbrechen werden von russischen Gerichten untersucht und geahndet.
Es gibt eine Vorgeschichte zu dieser Katastrophe. Wenn wir zu einer tragfähigen Friedenslösung kommen wollen, müssen wir die Ursachen verstehen und eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens schaffen. Ausserdem dürfen wir den Konflikt nicht nur aus der Sicht der USA, Westeuropas oder Osteuropas analysieren, sondern müssen auch die Ansichten von 1,5 Milliarden Chinesen, 1,5 Milliarden Indern, 240 Millionen Pakistanern, 170 Millionen Bangladeschern, 280 Millionen Indonesiern, 220 Millionen Nigerianern, 220 Millionen Brasilianern, 140 Millionen Mexikanern und so weiter berücksichtigen. Es steht zu viel auf dem Spiel, und wir Amerikaner und Europäer haben kein Recht, das Überleben des Planeten wegen eines innereuropäischen Streits zu riskieren. Für den durchschnittlichen Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner ist es völlig unerheblich, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört.
Die afrikanischen Führer haben einen 10-Punkte-Fahrplan für den Frieden vorgelegt,¹ und China hat einen eigenen 12-Punkte-Vorschlag gemacht.² Beide Initiativen sind ausgewogen und neutral.
Entscheidend ist, sich JETZT auf einen Waffenstillstand zu einigen und Vermittler wie Papst Franziskus einzuschalten, die konkrete Vorschläge machen. Professor Jeffrey Sachs hat in zahlreichen Vorträgen auf eine Beendigung der Feindseligkeiten auf dem Verhandlungswege gedrängt und vor der Gefahr eines Atomkriegs gewarnt.³ Er zitiert eine Rede von John F. Kennedy aus dem Jahr 1963: «Vor allem müssen die Atommächte bei der Verteidigung ihrer eigenen lebenswichtigen Interessen solche Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug oder einen Atomkrieg zu führen. Ein solcher Kurs im Atomzeitalter wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt.»4
Ein realistisches Konzept für den Frieden in der Ukraine kann nicht erwarten, in die Welt vor dem 24. Februar 2022 zurückzukehren. Das unipolare Modell ist nicht mehr lebensfähig. Es entsteht eine neue Ordnung, in der der globale Süden einen grösseren Einfluss haben wird als bisher.
Die Krim, Donezk und Lugansk werden niemals zur Ukraine zurückkehren, denn nach dem Beschuss dieser Gebiete durch die Ukraine seit 2014 hat sich ein erheblicher Hass auf die ukrainischen Behörden entwickelt. Es ist nicht Sache der Nato, darüber zu entscheiden, sondern ausschliesslich eine Frage der Selbstbestimmung und der Entscheidung der betroffenen Bevölkerung.
So wie die Kosovaren einer Wiedereingliederung in Serbien niemals zustimmen werden, würde die russische Bevölkerung der Krim, von Donezk und Lugansk gegen jeden solchen Vorschlag rebellieren. Es sollte eine neue europäische Sicherheitsarchitektur aufgebaut werden, die den legitimen Sicherheitsinteressen aller in der Region lebenden Menschen Rechnung trägt. Die Unabhängigkeit der Ukraine muss selbstverständlich garantiert werden, ebenso wie die Unabhängigkeit Russlands. Wie der österreichische Aussenminister Alexander Schallenberg kürzlich sagte, existiert Russland und wird nicht verschwinden: «Wir können Russland nicht abschaffen. Wir können es nicht wegzaubern».5
Der Krieg in der Ukraine war durchaus vermeidbar. Die beiden russischen Vertragsentwürfe vom Dezember 2021⁶ hätten eine ehrliche Diskussion verdient, aber sie wurden von Jens Stoltenberg kurzerhand abgelehnt. Der Frieden wäre möglich gewesen, wenn die Vermittlung der Türkei und Israels nicht von denjenigen torpediert worden wäre, die wirklich glaubten, dass der «Sieg» über Russland nahe sei.
Zu den vielen Hindernissen für den Frieden gehören mangelnde Vorstellungskraft und Grabenmentalität. Ob wir im Westen dieser Einschätzung zustimmen oder nicht, die Osterweiterung der Nato wurde von Russland als existenzielle Bedrohung empfunden. Früher oder später würde Russland reagieren, wie George F. Kennan7 und John Mearsheimer8 warnten. Wir sollten nicht vergessen, dass Russland von 2014 bis 2022 an den Minsker Vereinbarungen, an OSZE-Treffen und am Normandie-Format teilnahm. Russland hat im Einklang mit Artikel 2 Absatz 3 der Uno-Charta gehandelt und acht Jahre lang versucht, die Probleme, die sich aus dem Maidan-Putsch von 2014 ergeben haben, mit friedlichen Mitteln zu lösen. Leider war es die Ukraine, die sich mit Unterstützung der USA und des Vereinigten Königreichs weigerte, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen.
Als Uno-Beamter hatte ich die Möglichkeit, die russische Sprache zu erlernen und mein Zertifikat zu erwerben. Beim OHCHR hatte ich Gelegenheit, die russische Sprache bei zahlreichen Missionen in den baltischen Staaten und Russland sowie 1994 bei Missionen in der Ukraine zur Beobachtung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anzuwenden. Zweifellos fühlt sich die grosse Mehrheit der Menschen im Donbas und auf der Krim russisch.
Bestrafung
Es besteht kein Zweifel, dass russische Soldaten in der Ukraine Greueltaten begangen haben und dass ukrainische Soldaten Verbrechen begangen haben, ebenso wie Nato-Truppen in Afghanistan, Irak, Abu Ghraib und Guantanamo. Es ist nicht hilfreich, Kriegsverbrecherprozesse vorzubereiten, denn die Erfahrung zeigt, dass solche Prozesse nur dann stattfinden können, wenn es eine bedingungslose Kapitulation gegeben hat, wie 1945, als Deutschland und Japan kapitulierten.
Das heutige Szenario ist ein anderes, denn die Chance, dass Russland kapituliert, ist gleich null. Wenn die Spannungen weiter eskalieren, besteht die Gefahr, dass jemand in der Nato einen «nuklearen Präventivschlag» gegen Russland vorschlägt. Dies würde eine nukleare Antwort Russlands auslösen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Meere voller U-Boote der Nato und Russlands sind, die alle mit Atomsprengköpfen ausgerüstet sind. Wir sollten also keine nukleare Konfrontation provozieren, die sehr wohl das Leben von Menschen (und Tieren) auf unserem Planeten auslöschen könnte.
Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass wir die Spannungen abbauen und versuchen müssen, einen Kompromiss, einen Modus Vivendi, zu finden, auch wenn es viele Jahre dauern wird, bis die Beziehungen zwischen den Nato-Staaten und Russland wieder zu einer respektvollen Koexistenz zurückkehren können. Was wir brauchen, ist Versöhnung, nicht die Fortsetzung des Krieges durch Kriegsverbrechergerichte.
Es gibt in der Geschichte viele Präzedenzfälle, in denen grosse Kriege mit Amnestien endeten.⁹ Der Dreissigjährige Krieg (1618 bis 1648), der etwa 8 Millionen Europäern den Tod brachte, sah keine Vergeltungsmassnahmen vor. Die Verträge von Münster und Osnabrück aus dem Jahr 1648 legten in ihrem gemeinsamen Artikel 2 fest: «Es soll auf beiden Seiten ein ewiges Schuldbekenntnis, eine Amnestie oder eine Begnadigung für alles, was begangen worden ist, gelten […] in der Weise, dass keine Körperschaft […] irgendwelche Feindseligkeiten ausüben, Feindschaften unterhalten oder sich gegenseitig Unannehmlichkeiten bereiten soll.»10 Der Westfälische Friede von 1648 ist als ein Meilenstein des Völkerrechts in die Geschichte eingegangen.11
Wir können uns auf Artikel 3 des Vertrags von Rijswijk (1697) beziehen, der eine Amnestie für die Soldaten der französischen und britischen Monarchie vorsah. Artikel XI der Schlussakte des Wiener Kongresses (1815) sah eine Amnestie trotz der Greueltaten der napoleonischen Kriege vor. Im Vertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918, einem von den Mittelmächten Russland aufgezwungenen Vertrag, verzichteten die Parteien auf jegliche Ansprüche für ihre Kriegskosten sowie auf eine Entschädigung für Kriegsschäden. Kriegsverbrecherprozesse waren nicht vorgesehen. In jüngerer Zeit wurde in Kapitel II des Abkommens von Evian von 1962, das den grausamen algerischen Unabhängigkeitskrieg beendete, eine Amnestie für beide Seiten festgelegt. Der Gedanke der Versöhnung stand hinter Artikel 6 des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1949 aus dem Jahr 1977, in dem es unter anderem heisst: «Bei Beendigung der Feindseligkeiten bemühen sich die zuständigen Behörden, den Personen, die an dem bewaffneten Konflikt teilgenommen haben, eine möglichst umfassende Amnestie zu gewähren.»
Zugegeben, die heutige Welt mag das Konzept der «Amnestie» nicht und scheint süchtig nach Rache zu sein. Das ist gefährlich, denn wir tanzen am Rande des Abgrunds.
¹ todaynewsafrica.com/african-leaders-present-10-point-solution-to-putin-urging-resolution-of-war-with-ukraine/
² www.globaltimes.cn/page/202303/1286595.shtml
³ www.jeffsachs.org/interviewsandmedia/sfky22dggez9rmkpet9dnthx3yt6ll
4 www.jfklibrary.org/archives/other-resources/john-f-kennedy-speeches/american-university-19630610
5 vk.com/wall-221571675_1272
⁶ archive.org/details/russia-draft-agreements-nato-usa-december-2021
7 www.nytimes.com/1997/02/05/opinion/a-fateful-error.html
8 The Great Delusion, Yale University Press, New Haven 2018
⁹ Alfred de Zayas: «Amnesty Clause» in Rudolf Bernhardt (ed.): Encyclopedia of Public International Law, vol, I, North Holland, Amsterdam 1992, pp. 148–151.
10 avalon.law.yale.edu/17th_century/westphal.asp
11 Alfred de Zayas: «Westphalia, Peace of» in Bernhardt: Encyclopedia of Public International Law, vol. IV, pp. 1465–1469, North Holland, Amsterdam 2000
veröffentlicht 15. Mai 2024
«Wenn die Ukraine fällt, ist das das Ende der westlichen Hegemonie» (Boris Johnson, April 2024)
Zeitgeschehen im Fokus Wie ist die militärische Lage aktuell in der Ukraine?
Jacques Baud Die Lage ist schlecht für die Ukraine. Russland setzt seine Strategie der «aggressiven Abnutzung» fort, die im Oktober 2022 von General Surowikin, damaliger Chef der russischen Streitkräfte in der Ukraine, angekündigt wurde. Die russische Armee bedrängt die Ukrainer dynamisch, indem sie sie daran hindert, sich neu zu gruppieren und neue Verteidigungslinien zu bilden.
Der ukrainischen Armee fehlen Männer und die Zwangsrekrutierungskampagnen, die seit Ende 2022 eher unauffällig auf dem Land durchgeführt wurden, werden nun in den Grossstädten durchgeführt. Darüber hinaus hat die Regierung das Mindestalter für die Einberufung zum Wehrdienst gesenkt.¹ Wie ich Ihrer Zeitung bereits berichtet hatte, haben sich viele junge Ukrainer an Universitäten eingeschrieben, um der Einberufung zu entgehen. An einigen Universitäten hat sich die Zahl der männlichen Studierenden um das Zwölffache erhöht, während insgesamt seit Beginn der russischen Operation 82 Prozent mehr männliche Studierende an ukrainischen Universitäten eingeschrieben sind. Die ukrainische Regierung hat die konsularischen Dienste für ukrainische Jugendliche im wehrfähigen Alter, die nach Europa geflohen sind, abgeschafft.
Diese Massnahmen tragen zur Unbeliebtheit der Regierung bei, die verstärkt auf Repressionen setzen muss. Die Zahlen über die ukrainischen Verluste, die von den westlichen Medien stark unterschätzt wurden, um die Unterstützung für den Krieg zu fördern, beginnen sich zu verbreiten. Es ist schwer, zwischen Gerüchten und der Realität zu unterscheiden, aber wie die New York Times betont, dezimiert die Ukraine eine Generation.² Einige Schätzungen gehen von bis zu einer Million Toten aus, dann wären wir weit entfernt von den 31 000 Toten, die Selenskyj im Februar 2024 verkündete.³
Auf operativer Ebene scheint Russland eine neue Front im Charkow-Sektor eröffnen zu wollen. Die Angriffe der Ukrainer auf Dörfer im Belgorod-Sektor veranlassten Russland, eine «Pufferzone» entlang der Grenze einzurichten, die als Grundlage für eine grössere Offensive dienen könnte. Innerhalb weniger Tage eroberte die russische Armee ein Dutzend Dörfer. Mit anderen Worten: Die von den Ukrainern durchgeführten «tiktok-Operationen» brachten nicht nur keine taktisch-operativen Ergebnisse, sondern führten lediglich dazu, dass Russland sich in der Ukraine stärker engagierte.
In der Tat treibt der kategorische Widerstand des Westens gegen jegliche Verhandlungen mit Russland dieses dazu, die Ukraine vollständig zu zerstören. Ich erinnere daran, dass das Ziel der Russen darin bestand, die Bedrohung gegen die russische Bevölkerung der Ukraine zu beseitigen. Es gab mehrere Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen.
Die erste war die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen (UN Security Council Resolution 2022) , was die Russen versuchten, aber weder Petro Poroschenko noch Angela Merkel, François Hollande, Emmanuel Macron oder Wolodymyr Selenskyj wollten dies tun.
Die zweite bestand darin, den ukrainischen Behörden zu erklären, dass ihre russischsprachige Bevölkerung keine Bedrohung darstellte und das gleiche Ziel verfolgte, in Frieden zu leben, wie der Rest der Ukraine. Dies versuchte Wladimir Putin mit seinem Artikel vom 12. Juli 2021 «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern».4 Dieser Artikel war eine Reaktion auf die Verabschiedung des Gesetzes vom 1. Juli 2021 über die indigenen Völker der Ukraine, das den Russen in der Ukraine andere Rechte vorsah.
Die dritte war, eine Vereinbarung mit der ukrainischen Regierung zu erzielen, die es ermöglichte, die Sicherheit der russischen Minderheit zu gewährleisten, indem der eigentliche Grund für die Entschlossenheit der Ukrainer, gegen sie vorzugehen, beseitigt wurde. Dies war Wolodymyr Selenskyjs Vorschlag, den Russland im März 2022 zu akzeptieren bereit war,5 aber vom Westen gezwungen wurde, ihn zurückzuziehen.⁶
Die vierte Möglichkeit, damit die Ukraine keine Bedrohung mehr darstellt, ist, dass sie nicht mehr funktionsfähig ist. Ich weiss nicht, was die russische Führung vorhat, aber der westliche Ansatz, die Ukraine dazu zu bringen, den Krieg fortzusetzen, könnte dazu führen, dass die Russen dafür sorgen, dass die Ukraine als Staat nicht mehr existiert. Ich denke, dass unsere Diplomaten dies nicht verstanden haben, als sie ihre sogenannte «Friedenskonferenz» im Juni auf dem Bürgenstock organisierten.
Sie haben sich in einem Interview in dieser Zeitung schon zu Beginn des Krieges dahingehend geäussert, dass die Ukraine Russland nicht besiegen wird. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die heutige Situation betrachten?
Ich stelle fest, dass die Analysen, die den Westen dazu veranlassten, das Minsker Abkommen zu sabotieren und die Ukraine zu unterstützen, auf einer verfälschten Sicht der Realitäten basierten. Unterschätzt wurden die Art und Robustheit der russischen Wirtschaft, die Unterstützung der Bevölkerung für Wladimir Putin und die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte. Umgekehrt gab es eine Überbewertung der Stärke der Ukraine, der Unterstützung der Bevölkerung für Wolodymyr Selenskyj und der Fähigkeiten der Ukraine, Widerstand zu leisten.
Wie ich bereits zu Beginn des Konflikts in meinen Büchern geschrieben habe, waren diese Einschätzungen jedoch falsch und mussten zwangsläufig zu der Situation führen, in der sich die Ukraine und wir uns heute befinden.
Ich erinnere daran, dass die US-Strategie,7 die seit zwei Jahren vor unseren Augen abläuft – das heisst Waffenlieferungen an die Ukraine, Waffenlieferungen an syrische Rebellen, Unterstützung eines Regimewechsels in Belarus, Ausnutzung der Spannungen zwischen Armeniern und Aseris, verstärkte Aufmerksamkeit gegenüber Zentralasien und Isolierung Transnistriens –, zeigt, dass der Westen ein sorgfältig beschriebenes Szenario umgesetzt hat.
Aber wie ich bereits geschrieben hatte, waren sich die Experten der RAND-Corporation, die gebeten worden waren, diese Strategie zu formulieren, selbst darüber im Klaren, dass diese Strategie zu einer Katastrophe für die Ukraine führen könnte und «unverhältnismässig hohe Verluste an Menschenleben, Gebietsverluste und Flüchtlingsströme für die Ukraine zur Folge haben könnte» und dass sie «die Ukraine zu einem unvorteilhaften Frieden drängen könnte».8
Während der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 1. März 2022 erklärte: «Wir werden den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft herbeiführen!»⁹ und behauptete, dass «die Sanktionen wirksam sind. Die wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen sind sogar erschreckend wirksam!»10 und dass «das russische Volk auch die Konsequenzen tragen wird».11 Dabei hatten die Experten der RAND-Corporation drei Jahre zuvor noch gewarnt, dass der Zusammenbruch Russlands durch Sanktionen eine «übertrieben optimistische Annahme» sei.
Mit anderen Worten: Unsere Politiker und Journalisten der Mainstream-Medien wussten, dass sie die Ukraine in eine Katastrophe führen, nur weil sie Putin nicht mögen.12 Mit anderen Worten, sie versuchten, die öffentliche Meinung auf einer falschen Grundlage zu manipulieren, indem sie Tausende von Ukrainern in den Tod trieben, nur um ihre soziopathische Hybris zu befriedigen.
Der Westen hat Milliarden in die Ukraine gesteckt in Form von Waffen, militärischer Ausbildung und Milliarden für den Wiederaufbau versprochen. Stimmen Sie Ihrer früheren Aussage: «Es geht nicht darum, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu bekämpfen.» heute noch zu?
In einer Rede an der Universität Oxford am 3. Mai erklärte Josep Borrell, der für die Aussenpolitik der EU zuständig ist:
« […] Wir sind Teil des Problems. Wir haben dieses Problem auf die eine oder andere Weise geschaffen, und wir haben eine grosse Verantwortung, wenn wir versuchen, es zu lösen. Die ukrainische Existenz hängt von uns ab. Ich weiss, wie man den Krieg in der Ukraine beenden kann. Ich kann den Krieg in der Ukraine in ein paar Wochen beenden, indem ich einfach den Nachschub kappe. Wenn ich die Waffenlieferungen an die Ukraine unterbreche, kann die Ukraine keinen Widerstand leisten, sie wird sich ergeben müssen, und der Krieg wird beendet. Aber ist das die Art und Weise, wie wir den Krieg beenden wollen? Ich will das nicht, und ich hoffe, dass viele Menschen in Europa das auch nicht wollen.»13
Mit anderen Worten, der Chefdiplomat der EU gibt zu, dass der Westen die Ursache für die Ukraine-Krise ist: Es war die EU, die ein Abkommen abgelehnt hat, das der Ukraine ermöglicht hätte, sich Europa anzunähern und gleichzeitig die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten. Es waren Frankreich und Deutschland, die ihre Verpflichtung nicht eingehalten haben, das Abkommen zwischen der Opposition und der ukrainischen Regierung vom 21. Februar 2014 zu garantieren, es waren die USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, die ihre Verpflichtung zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen nicht eingehalten haben, es waren auch die Westmächte, die Selenskyj dazu gedrängt haben, seinen Friedensvorschlag, den Russland im März 2022 zu akzeptieren bereit war, zurückzuziehen. Der Westen tauschte daraufhin seine Unterstützung für «so lange wie nötig» gegen den von Selenskyj angestrebten Frieden ein.
Im Oktober 2023 erklärte die niederländische Verteidigungsministerin, Kajsa Ollongren, dass «die Unterstützung der Ukraine ein sehr kostengünstiger Weg ist, um sicherzustellen, dass Russland mit diesem Regime keine Bedrohung für die Nato-Länder darstellt».14 Das mag schockierend sein, aber von Seiten der Niederländer, deren Militär das Massaker von Srebrenica mit den Händen in den Taschen geschehen liess, ist das nicht wirklich überraschend und zeigt, wo ihr Ehrgefühl liegt. Abgesehen davon ist Ollongren mit ihrer Meinung nicht allein, denn im August 2023 hatte Senator Lindsey Graham (Republikaner) bereits gesagt, dass die Ukrainer bis zum letzten Mann kämpfen würden,15 solange sie mit Waffen versorgt würden, und die Unterstützung für die Ukraine als «das beste Geld, das wir je ausgegeben haben» bezeichnet, nachdem er festgestellt hatte, dass «die Russen sterben würden.»16
Der Westen – und dazu gehören auch Schweizer Politiker – sah die Unterstützung für die Ukraine als «Investition» im Kampf gegen Russland. So erklärte Senator Richard Blumenthal (Demokrat): «Für weniger als 3 Prozent unseres nationalen Militärbudgets haben wir dafür gesorgt, dass die Ukraine die militärische Stärke Russlands halbiert […] ohne dass ein einziger amerikanischer Soldat, ob Mann oder Frau, verletzt wurde oder verloren ging.»17
Es ist also der blosse Hass auf Wladimir Putin, der es akzeptabel macht, das ukrainische Volk zu opfern. Natürlich ist es für unsere Politiker einfach, mit dem Blut anderer Menschen Krieg zu führen. Ich war kürzlich in einer Debatte mit einer unserer «grünen» Parlamentarierinnen in der Schweiz und stellte eine unglaubliche Unkenntnis des Konflikts in der Ukraine fest. Mit solchen Leuten, die ignorant, dumm und fanatisch sind, werden Kriege geführt.
Sie erwähnten bereits 2022, dass Putin zwei Ziele verfolge, die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine. Kann Putin für sich in Anspruch nehmen, diese Ziele erreicht zu haben?
Die beiden Ziele, die Wladimir Putin am 24. Februar 2022 für seine «Militärische Sonderoperation» (SVO) nannte, waren die «Entmilitarisierung» und die «Entnazifizierung» der Bedrohung gegenüber der Bevölkerung des Donbas. Das Ziel der Entnazifizierung wurde am 28. März 2022 nach der Einkesselung von Mariupol erreicht, und die Entmilitarisierung wurde – in Wirklichkeit – dreimal erreicht: im Mai/Juni 2022, als Selenskyj erklärte, er sei nunmehr waffentechnisch vom Westen abhängig; im Dezember 2022, nachdem das von den ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR gelieferte Material vernichtet worden war, und im Sommer 2023, nachdem das vom Westen für die Gegenoffensive gelieferte Material vernichtet worden war. Man könnte sagen, dass die Russen dieses Ziel heute zum vierten Mal erreicht haben. Wenn man den täglichen Bulletins des russischen Verteidigungsministeriums über die ukrainischen Verluste Glauben schenkt, hatte man 2022 bis 2023 zehn Tote für einen zerstörten Panzer. Heute hat man 150 bis 200 Tote pro zerstörtem Panzer, was bedeutet, dass die Ukrainer keine Kampfpanzer mehr haben.
Die russische Kriegsführung folgt den von Clausewitz formulierten Prinzipien. Das bedeutet unter anderem, dass taktische Ziele so formuliert werden, dass ein operativer Erfolg erzielt werden kann, und dass man die operativen Ziele somit in strategische Erfolge wandeln können muss. Es findet also eine ständige Anpassung der Ziele an die Situation statt, um den strategischen Erfolg zu erreichen. Dies ist auch heute zu beobachten. Die anfänglichen Ziele werden evolutionär angepasst, um zum strategischen Erfolg zu führen.
Das Problem ist, dass der Westen, indem er die Ukraine dazu brachte, weiter zu kämpfen, sie dazu brachte, ihre menschlichen Ressourcen zu opfern, und die Russen dazu brachte, ihre Abnutzungsstrategie aggressiver zu betreiben, indem sie den Gegner «abholten», was sie dazu veranlasste, Territorium einzunehmen. Ich erinnere daran, dass die Einnahme von Territorium nicht das Ziel der Russen war. Im Übrigen waren sie im März 2022 bereit, ihre Truppen aus der Ukraine im Austausch gegen die Neutralität des Territoriums abzuziehen. Heute haben sie festgestellt, dass sie die Ukraine zerstören müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Aus diesem Grund greifen sie die kritische Infrastruktur des Landes an.
In den Jahren 2022 bis 2023 attackierten die Russen nur Kraftwerke, um die ukrainische Luftabwehr zu zermürben. Heute greifen sie die Stromerzeugungszentren an, die schwerer zu reparieren sind, um eine wirtschaftliche Tätigkeit zu erschweren. Da der Westen die Ukraine daran gehindert hat, eine Einigung mit Russland zu erzielen, hat er Russland dazu gebracht, seinen Druck zu erhöhen.
Der Westen hat Russland und seine Kriegsführung absolut nicht verstanden. Es ist nicht zuletzt unseren Medien und der Ignoranz unserer Journalisten zu verdanken, dass die Russen heute die Oberhand haben.
Russland ging es nicht darum, Land zu gewinnen, sondern darum, die Ukraine militärisch zu schwächen. Ist dieses Ziel erreicht worden?
Ja, sehr deutlich. Das erkläre ich in meinem neuesten Buch «Russische Kriegskunst», das schnell zu einem Standardwerk für diejenigen wurde, die sich mit dem Konflikt in der Ukraine beschäftigen. Ironischerweise ist es unseren Journalisten und ihrem Mangel an Kultur und intellektueller Neugier zu verdanken, dass die Russen diesen Erfolg erzielen konnten.
Man besiegt einen Gegner nicht, indem man beschliesst, dass er schwach ist, sondern indem man davon ausgeht, dass er stark ist, und seine Schwächen entdeckt und ausnutzt. Dank unserer Medien, die erklärten, dass die Russen schlecht kommandiert, demotiviert und schlecht bewaffnet seien, unterschätzten die Ukrainer systematisch die russischen Fähigkeiten. Wie ihre Medien feststellten, zogen die Ukrainer wie 1914 «mit der Blume im Gewehr» in den Kampf, mit der Vorstellung eines leichten Sieges. Die Realität sah jedoch ganz anders aus: Sie verloren das Vertrauen. Laut Oleksej Arestowitsch, dem ehemaligen Berater von Wolodymyr Selenskyj, soll es rund 100 000 ukrainische Deserteure geben. Wie er es ausdrückt: «Bevor man die Menschen auffordert, ihr Land zu verteidigen, sollte man ein Land haben, das man verteidigen will!»18
Für die westlichen Länder steht etwas anderes auf dem Spiel, und es hat nichts mit der Ukraine zu tun. Wie Boris Johnson im April 2024 sagte: «Wenn die Ukraine fällt, ist das eine Katastrophe; für den Westen ist es das Ende der westlichen Hegemonie.»19 So haben uns die europäischen Führer innerhalb von zwei Wochen daran erinnert, dass sie die Ursache der Krise sind und dass ein Fall der Ukraine das Ende ihrer Hegemonie bedeuten würde. Johnson verwendet das Wort «Hegemonie», wir befinden uns hier also nicht in der russischen Propaganda!
«Wenn die Ukraine fällt, ist das eine Katastrophe; für den Westen es ist das Ende der westlichen Hegemonie». («If Ukraine falls, it will be a catastrophe; for the West it will be the end of Western hegemony».)
Die Kriegshysterie, die am Anfang erschreckende Ausmasse angenommen hatte und an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erinnerte, ist wie damals der Realität des Kriegs gewichen. Findet irgendwo eine Reflexion über dieses Verhalten statt?
Nein, nirgends. Unsere Journalisten in den Mainstream-Medien sind Fanatiker und Dogmatiker. Das sieht man daran, dass sie sich weigern, die – nachgewiesenen – Verbrechen Israels zuzugeben, aber russische Verbrechen, die niemand bewiesen hat, vorbehaltlos verurteilen. Das ist auch der Grund, warum sie weder im einen noch im anderen Fall Untersuchungsausschüsse fordern.
Wir haben ein kriegslüsternes Klima geschaffen, das von der Annahme ausgeht, dass es Opfer gibt, die wichtiger sind als andere, und dass der Krieg daher eine reinigende Funktion hat. Das erklärt, warum sich unsere Medien nicht für die Opfer von Konflikten interessieren, da diese nur da sind, um die Hybris und den Fanatismus unserer Politiker und Journalisten zu befriedigen. Ich erinnere daran, dass ein Westschweizer Journalist einer der Inspiratoren von Anders Breivik war …
Paradoxerweise ist es wahrscheinlich derselbe Geist, den unsere Vorfahren hatten, als sie zu den Kreuzzügen aufbrachen oder den die Kämpfer des Islamischen Staates haben.
Um diese Hybris aufrechtzuerhalten, drohen heute dieselben Leute, die zwei Jahre lang behauptet und uns «bewiesen» haben, dass Russland keine Kapazitäten hat und schwach ist, für einem Angriff auf Europa. Unsere Journalisten sind Lügner, die ihre Lügen hinter anderen Lügen verstecken müssen.
Ein häufig gehörter Vorwurf lautet, der Westen habe zu langsam und zu wenige Waffen geliefert, deshalb sei die Ukraine in dieser misslichen Lage. Wie sehen Sie das?
Nein, es geht nicht um die Menge der Waffen. Der Westen hat die ukrainische Armee dreimal bewaffnet, gegen eine russische Armee, die als schwach ausgerüstet, schlecht kommandiert usw. gilt. Es handelt sich also nicht um eine Frage der Quantität, sondern um ein qualitatives Problem.
Das Problem ist komplexer. Eine Armee ist ein System, in dem die Doktrin, die Ausrüstung/Waffen, die Ausbildung der Soldaten und die Struktur der Streitkräfte mit dem Auftrag der Streitkräfte übereinstimmen müssen. Es ist also ein Ganzes, das auf die Missionen und Ziele, die man erreichen will, zugeschnitten ist. Wenn auch nur eines dieser Elemente nicht angemessen ist, bricht das Ganze zusammen.
Es kommt nicht auf die Anzahl der Waffen an, sondern auf ihre Integration in ein kohärentes System. Das erklärt, warum der Vietcong die USA besiegen konnte oder warum es der Hamas gelingt, die israelische Armee zu dominieren. Nicht die Technologie oder die Anzahl der Waffen sind entscheidend, sondern ihre Eignung für Strukturen, die Ausbildung von Kämpfern, eine Doktrin usw. Die Waffen werden in der Regel von der Armee eingesetzt.
Das Problem ist, dass die an die Ukraine gelieferten Waffen von sehr unterschiedlicher Qualität waren: Panzer aus den 1950er Jahren, andere aus den 2000er Jahren, Artilleriegeschütze aus den 1940er Jahren und andere aus dem Jahr 2020, bei denen das ukrainische Militär manchmal die Bedienungsanleitungen übersetzen musste, indem es Google Translate konsultierte.20 Mit einem Wort: Diese Materialien konnten nie in eine operative Kohärenz eingebunden werden.
Ausserdem waren die Waffen, die wir an die Ukraine geliefert haben, sehr oft von schlechter Qualität, beschädigt oder schlichtweg defekt. Im September 2023 gesteht die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock gegenüber CNN,21 dass von Berlin gelieferte Waffen «veraltet und unbrauchbar sind».22 Die Ukraine lehnte sogar von Deutschland angebotene Leopard 1A5-Panzer ab, da sie unbrauchbar waren.23 Die ukrainische Presse berichtete, dass die von Dänemark geschenkten Leopard 1A5 defekt waren. 24
Maria Berlinskaya, die für die Unterstützung der ukrainischen Luftwaffe zuständig ist, erklärte kürzlich: «Ohne unseren westlichen Partnern zu nahe treten zu wollen, haben sich die meisten ihrer Systeme als schlecht erwiesen.»25
All dies zeigt, dass das Ziel des Westens nicht darin bestand, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu zerstören. So war der amerikanische Plan, Russland als Staat zu zerschlagen, Gegenstand mehrerer internationaler Konferenzen, darunter eine im Europäischen Parlament in Brüssel, die von keinem der europäischen Medien erwähnt wurde.
Die USA und die EU wollen weiter Waffen liefern. Was hat das für einen Zweck?
Es ist ein Nachhutgefecht, um nicht das Gesicht zu verlieren, aber nichts von dem, was geliefert wird, wird den Verlauf des Konflikts ändern. So ist beispielsweise zu beobachten, dass sich im jüngsten Waffenpaket, das an die Ukraine geliefert wurde, kein einziges Luftabwehrwaffensystem befindet. Der Grund dafür ist, dass die Europäer kein Geld mehr haben, um die ukrainischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Andererseits hat der Westen nun Angst, die Schwächen seiner Systeme offen zu legen. So haben sich die Patriot-Systeme als unwirksam gegen russische Raketen erwiesen. Die Panzer Challenger 2 und M1 Abrams wurden von der Front in der Ukraine abgezogen, um zu verhindern, dass weitere Exemplare von den Russen erbeutet und in ihrem kürzlich eröffneten «Trophäenmuseum» in der Nähe von Moskau ausgestellt werden.
Der Mythos der Wirksamkeit westlichen Materials rührt daher, dass es bis dahin nur gegen technologisch unterlegene Armeen eingesetzt worden war. Heute zeigen sie gegen eine moderne russische Armee Leistungen, die weit hinter den ursprünglichen Versprechungen zurückbleiben. Die Schweiz wird dies mit den Patriot-Raketen und der F-35 feststellen.
Hat Russland im Laufe des Krieges sein Ziel geändert?
Nein, die Ziele sind im Wesentlichen immer noch dieselben, aber sie haben sich mit der Situation verändert. Aus der «Entmilitarisierung der Bedrohung für die Bevölkerung des Donbas» wurde eine «Entmilitarisierung der Ukraine». Ebenso wurde aus der am 28. März 2022 erreichten «Entnazifizierung der Bedrohung für die Bevölkerung des Donbas» die «Entnazifizierung der Macht in Kiew». Es handelt sich also um dieselben Ziele, die jedoch auf eine höhere Ebene gestellt wurden.
Umgekehrt waren weder die Ukrainer noch der Westen in der Lage, konkrete und realistische Ziele zu definieren. Die Ukrainer wollen die Russen auf die Grenzen von 1991 zurückdrängen, aber das vom Westen formulierte Ziel ist nach wie vor «der Zusammenbruch Russlands», und niemand nennt operative oder strategische Ziele, die dazu führen könnten. Der Grund dafür ist, dass der Westen diese Ziele unerreichbar gemacht hat: Dank westlicher Massnahmen verliert die Ukraine auf dem Schlachtfeld, und dank der Sanktionen des Westens ist Russland stärker geworden und hat seine Verbindungen zu China ausgebaut. Auf die Frage eines US-Senatsausschusses konnte Verteidigungsminister Lloyd Austin nicht definieren, was für die Ukraine ein Sieg sein könnte. Ohne den Begriff «Sieg» definieren zu können, ist es unmöglich, strategische und operative Ziele zu formulieren. Die Ukraine wird also in einen Krieg ohne Ziel getrieben. Wie Sun Tzu schon sagte: «Taktik ohne Strategie ist nur Geräusch vor der Niederlage». Genau in dieser Situation befindet sich die Ukraine heute.
Weil die Russen taktische und operative Ziele definiert haben, konnten sie ihr strategisches Ziel erreichen. Im Westen ist die politische Führung seit vielen Jahren und in allen Bereichen nicht mehr in der Lage, klare Ziele zu formulieren. Tatsächlich verfügen unsere Führungskräfte nicht mehr über die intellektuellen Qualitäten, die notwendig sind, um mit der Komplexität der modernen Welt umzugehen. Wir werden von «Klassenbesten» regiert, die ihre Lektion gut gelernt haben, aber nicht in der Lage sind, nachzudenken und kreativ zu sein. In allen unseren Ländern werden wir von Mittelmässigen regiert.
Wie man in Frankreich und insbesondere beim israelisch-palästinensischen Konflikt sieht, sind es in Wirklichkeit unsere Medien, die die Wahl unserer «Eliten» treffen und unsere Wahl beeinflussen (um nicht zu sagen «manipulieren»), um diejenigen auszuwählen, die dem, was sie denken, am nächsten stehen. So entwickelt sich eine regelrechte Gedankendiktatur, die Andersdenkenden den Zugang zu den Medien verwehrt.
Heute sagen Selenskyj und seine Generäle genau das, was ich zu Beginn der russischen Operation in meinen Büchern geschrieben habe!
Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
Dieses Interview ist auch in französischer Sprache verfügbar: https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/fr/newspaper-ausgabe-fr/articles-traduits-en-francais.html#article_1682
* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.
¹ https://www.nytimes.com/2024/04/03/world/europe/Selenskyj-ukraine-military-draft-age.html
² https://www.nytimes.com/interactive/2024/04/11/world/europe/ukraine-demographics.html
³ https://www.washingtonpost.com/world/2024/02/25/ukraine-war-casualties-Selenskyj-russia/
4 http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181
5 https://www.ft.com/content/7b341e46-d375-4817-be67-802b7fa77ef1
⁶ https://www.pravda.com.ua/articles/2022/05/5/7344096/
7 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, « Extending Russia : Competing from Advantageous Ground », RAND Corporation, 2019; James Dobbins & al., « Overextending and Unbalancing Russia », RAND Corporation, (Doc Nr RB-10014-A), 2019
8 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, « Extending Russia : Competing from Advantageous Ground », RAND Corporation, 2019, p.100
⁹ https://www.bfmtv.com/economie/economie-social/bruno-le-maire-nous-allons-provoquer-l-effondrement-de-l-economie-russe_AN-202203010131.html
10 https://www.vie-publique.fr/discours/284205-bruno-le-maire-01032022-ukraine
11 https://twitter.com/i/status/1498563077440159745
12 https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/warum-russland-verliert-auch-wenn-putin-den-krieg-gegen-die-ukraine-gewinnt-ld.1672752
13 https://www.eeas.europa.eu/eeas/united-kingdom-speech-high-representativevice-president-josep-borrell-oxford-university-about-world_en
14 https://www.youtube.com/watch?v=NTehZQkJG-4
15 https://www.facebook.com/RevolutionIreland/videos/senator-lindsey-graham-who-has-been-up-to-his-tits-in-ukraine-since-2016httpsrig/1218472818909921/
16 https://www.newsweek.com/lindsey-graham-appears-say-russians-dying-best-money-weve-ever-spent-1803073
17 https://responsiblestatecraft.org/ukraine-war/
18 https://odysee.com/@TMSLL:6/Ex-Selenskyj%C2%B4s-advisor-Arestovich--Why-100K-of-Ukrainians-are-deserters-:2
19 https://www.youtube.com/watch?v=M8ZmkIhs8r0
20 Thomas Gibbons-Neff & Natalia Yermak, « Potent Weapons Reach Ukraine Faster Than the Know-How to Use Them », The New York Times, 6 juin 2022 (https://www.nytimes.com/2022/06/06/world/europe/ukraine-advanced-weapons-training.html)
21 https://edition.cnn.com/videos/tv/2023/09/25/amanpour-annalena-baerbock-ukraine-unga.cnn
22 Dinara Khalilova, « German foreign minister acknowledges some of Berlin's weapons are outdated, inoperational », The Kyiv Independent, 26 septembre 2023 (https://kyivindependent.com/german-foreign-minister-acknowledges-issues-with-weapons-delivered-to-ukraine/)
23 Martin Fornusek, « Ukraine refused 10 Leopard 1 tanks from Germany due to poor condition », The Kyiv Independent, 19 septembre 2023 (https://kyivindependent.com/media-ukraine-refused-10-leopard-1-tanks-from-germany-due-to-poor-condition/)
24 Dinara Khalilova, « Danish Leopard 1 tanks donated to Ukraine have defects », The Kyiv Independent, 22 septembre 2022 (https://kyivindependent.com/media-danish-leopard-1-tanks-donated-to-ukraine-have-defects/)
25 https://www.reddit.com/r/UkraineRussiaReport/comments/1cb0cuo/ua_pov_no_offense_to_our_western_partners_but/
veröffentlicht 15. Mai 2024
Wenn die Politik in der Schweiz versagt, muss das Volk eingreifen
Orientierungslosigkeit in der Aussen- und Verteidigungspolitik deutlich korrigieren
Die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene «Zeitenwende» zur Stimulation der Kriegshysterie wirkte sich auf nahezu alle Länder des sogenannten Westens aus. Auch die Schweiz wurde Opfer dieser Stimmung. Wie schnell die Grundlagen eines Staatswesens erschüttert werden können, lässt sich an vielen europäischen Staaten erkennen, vor allem an den ehemals neutralen wie Finnland, Schweden, aber leider auch an der Schweiz. Besonders gravierend ist ihre Abkehr von der Neutralität. Es ist nur schwer zu verstehen, warum Teile des Parlaments und des Bundesrats die Neutralität – einen zentralen Pfeiler unseres Staatswesens – leichtfertig ausser Kraft setzen. Wie hat sich das entwickelt?
Im März 2014 stellte die Krim nach einem Plebiszit, das eindeutig ausfiel, den Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation. Nach einer Änderung der Verfassung durch die Duma konnte die Krim aufgenommen werden. USA und EU akzeptierten die Abstimmung nicht, bezeichneten den Vorgang als «völkerrechtswidrig» und verhängten Sanktionen gegen Russland. Diese stellen aber einen Verstoss gegen die Uno-Charta dar und sind daher völkerrechtswidrig.¹
Wert der Neutralität ist unbestritten
Die neutrale Schweiz stand damals vor der Frage, sich der EU und den USA anzuschliessen und die Sanktionen 1:1 zu übernehmen oder Eigenständigkeit und Neutralität zu bewahren, um Gespräche mit den Konfliktparteien anbieten und damit zu einer diplomatischen Lösung beitragen zu können. Der damalige Bundesrat, Johann Schneider-Ammann, erklärte, dass die Schweiz als neutraler Staat die Sanktionen nicht übernehme, aber man prüfe, ob allenfalls Umgehungsgeschäfte verhindert werden müssten. Hier ist eine Unschärfe. Da die Sanktionen illegal sind, gibt es auch keine Umgehungsgeschäfte, die zu verhindern wären.²
Der Wert der Neutralität wurde damals von verschiedenen Parlamentariern betont, und es war klar, dass sich die Schweiz nicht den Machtblöcken der USA und der EU unterwerfen darf.³
Das Bewusstsein, welche Bedeutung die Neutralität bei internationalen Konflikten haben kann, war unbestritten. Aus diesem Grund konnte der damalige Bundespräsident, Didier Burkhalter, auch Vermittlungen zwischen Russland und der Ukraine anbieten.4 Unsere Landesregierung blieb standhaft und handelte im Sinne der Neutralität.
Erneute Sanktionen gegen Russland
Acht Jahre lang setzte sich nach dem Sturz von Victor Janukowitsch der 2014 in der Ukraine begonnene Bürgerkrieg fort. Trotz den von allen Konfliktparteien ratifizierten Friedensabkommen Minsk I (kam durch Vermittlung der Schweiz zustande5) und Minsk II führte die Ukraine den Krieg gegen die beiden Provinzen Lugansk und Donezk rücksichtslos weiter. Sie hatten sich zu autonomen Republiken erklärt, wollten jedoch integraler Bestandteil der Ukraine bleiben. Die ukrainische Regierung akzeptierte das nicht und verstärkte ihre militärischen Aktionen gegen die beiden autonomen Republiken. Bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine gab es laut der Uno über 14 000 Tote, allein 10 000 auf der Seite des Donbas, und zusätzlich noch Hundertausende von Flüchtlingen.⁶
Im Februar 2022 entschied die russische Regierung, in diesen Konflikt militärisch einzugreifen. Einer der Gründe war, dass die Nato eine baldige Aufnahme der Ukraine in Aussicht stellte und Verhandlungen mit Russland verweigerte, ganz abgesehen davon, dass die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine einer massiven Diskriminierung ausgesetzt war. Die Reaktionen von USA und EU auf den Einmarsch Russlands liessen nicht lange auf sich warten. Sie schnürten das erste Sanktionspaket, dem weitere folgten.
Schweiz ergreift Partei für die Ukraine
Was macht die Schweizer Regierung? Knüpft sie an die aufrechte Haltung von 2014 an? Nein, sie führt bis heute einen Zick-Zack-Kurs, der vor allem von Forderungen der EU und der Nato bestimmt wird. Fünf Tage nach den von EU und USA erlassenen Sanktionen übernahm der Bundesrat diese und stellte sich auf die Seite der Ukraine. Die Neutralität war suspendiert.
Der damalige Bundespräsident, Ignazio Cassis, zelebrierte Anfang März 2022 auf dem Bundesplatz die Verbrüderung mit Wolodymyr Selenskyj und zeigte sich beeindruckt darüber, «wie Ihr Grundwerte der freien Welt verteidigt, die auch unsere Grundwerte sind.»7
Nach dieser Rede hätten die anderen Mitglieder des Bundesrats Cassis zurückpfeifen und alles daran setzen müssen, den angerichteten Schaden zu «beheben». Dies geschah nicht. Der ehemalige Oberst des Schweizer Nachrichtendienstes, Jacques Baud, der unter anderem als Berater bei der Uno und der Nato tätig war, kommentierte das Verhalten von Bundespräsident Cassis in einem Interview mit deutlichen Worten: «Das ist absolut blödsinnig. Es ist unverantwortlich, solche Dinge zu sagen. Ich denke, dass die Staaten politische Lösungen fördern sollten. Aber ich meine, es ist bestimmt nicht die Aufgabe der Schweiz, sie [die Ukraine] zum Kampf zu ermutigen. Die europäischen Länder – und allen voran die Schweiz – sollten versuchen, die Wogen zu glätten, anstatt Öl ins Feuer zu giessen.»8
Die Quittung für die einseitige Positionierung kam postwendend. Moskau setzte die Schweiz auf die Liste «der unfreundlichen Staaten.»⁹
Damit nahm das Schicksal vorerst seinen Lauf. Der Neutralität, einer Säule des Schweizer Staatswesens, wurde das Fundament genommen. Den dringend in diesem Konflikt gebrauchten neutralen Vermittler gab es nicht mehr. Staaten wie die Türkei übernahmen jetzt diese Rolle.
Die Abkehr von der Neutralität
Als Joe Biden im Mai 2022 in seiner Rede zur Lage der Nation die Schweiz explizit erwähnte, hob er unumwunden ihre parteiische Haltung hervor: «even Switzerland». Sogar die Schweiz «stehe diesmal auf der Seite einer Kriegspartei.» Deutlicher konnte man es nicht mehr sagen.10
Die offensichtliche Abkehr von der Neutralität veranlasste die europäischen Staaten, die in grossem Stil Waffen und Munition an die Ukraine lieferten, das jetzt auch von der Schweiz zu verlangen. Für sie schien nach den Worten Bidens die Neutralität endlich «begraben». Zuerst ging es um 12 600 Schuss Munition für die deutschen Gepard-Panzer, eine Anzahl, die völlig unbedeutend ist. Ein Gepard kann mit seinen beiden Kanonen zusammen pro Minute 1100 Schuss abfeuern. Nach gut 11 Minuten wäre der Schweizer Bestand verschossen.11 Es ging also weniger um die Munition als vielmehr darum, die Schweiz mit Lieferungen von Kriegsmaterial weiter in den Krieg hineinzuziehen. Der Bundesrat hielt hier stand und lehnte gemäss der Gesetzesgrundlage die Lieferung der Gepard-Munition ab. (Auch Brasilien unter Lula da Silva, das 300 000 Schuss der Munition in seinen Beständen hat, verweigerte die Weitergabe).
Wer Bedenken gegenüber Waffenlieferungen hatte oder sich kritisch dazu äusserte, wurde als unmenschlich und Unterstützer des «brutalen Angriffskriegs» diffamiert. Das sind heftige Vorwürfe, die einen massiven moralischen Druck erzeugen. Es braucht schon eine rechte Portion Rückgrat, um hier nicht einzuknicken. Leider gelang dies Regierung und Parlament nur selten.
Um den verstärkten Forderungen von anderen Staaten nachzukommen, wollte die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerats mit einem Vorstoss dem Bundesrat mehr Spielraum bei der Ausfuhr militärischer Güter geben. Das Ganze war demokratisch äusserst fragwürdig, denn das Volk hatte in einer Volksabstimmung 2021 dem indirekten Vorschlag des Bundesrats zur Verschärfung der Waffenausfuhrbestimmungen zugestimmt.12
Droht Deutschland wieder mit der Kavallerie?
Der Druck auf die Schweiz bleibt. Deutschland zeigt sich hier von seiner «besten Seite», wie sie der Schweiz nicht unbekannt ist. – Es sei nur an den SPD-Finanzminister Peer Steinbrück erinnert, der im Steuerstreit Deutschlands mit der Schweiz mit der Kavallerie gedroht hatte.
Im März 2023 sah sich der Bundesrat mit einer Anfrage aus Deutschland konfrontiert, dem Land eingemottete Leopard-II-Panzer aus den Beständen der Schweizer Armee zu verkaufen. Sie sollten als Ersatz für die an die Ukraine gelieferten deutschen Leopard-II herhalten. Da der Wunsch Deutschlands direkt im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg stand, schien der angestrebte Deal wenig erfolgsversprechend, denn ein bisschen neutral wollte man noch sein. Doch dann war die Lösung gefunden: Stillgelegte Panzer können nicht verkauft werden, ausgemusterte hingegen schon. Das Parlament stimmte dem Antrag zur Ausmusterung zu, – gegen die Stimmen von SVP und einigen Parlamentariern der FDP. Einem Verkauf stand nun nichts mehr im Wege.13
Im Zweifelsfall neutralitätskonform
Die Vorsteherin des Militärdepartements, Viola Amherd, der die Neutralität bei ihrem Marsch in Richtung EU und Nato lästig zu sein scheint, rechtfertigte den Deal als neutralitätskonform, weil die Schweiz damit «einen Beitrag zur Sicherheit in Europa» leiste. (Werden demnächst Schweizer Soldaten in der Ukraine kämpfen, weil sie zur Sicherheit in Europa beitragen?) Der Bundesrat unterzeichnete im November 2023 den Vertrag.14
Die 25 Leopard II gingen auf die Reise nach Deutschland.15 Damit war die Schweiz nun indirekt am Krieg beteiligt. Amherds Vorgehen, «zur Sicherheit in Europa» staatspolitische Grundsätze ausser Kraft zu setzen, realisierte auch das Ausland.
Um die Luftabwehr der Ukraine zu verstärken, hat sich der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius aktuell an verschiedene europäische Staaten gewandt, auch an die Schweiz. Diesmal konnte sie jedoch nicht dienen. Ihr Luftabwehrsystem ist aus den 80er Jahren, hoffnungslos veraltet und den heutigen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Die Armee ist dabei, es zu verschrotten.16
Der Versuch, selbst Verfassungsgrundsätze für die Unterstützung der Ukraine über Bord zu werfen sowie eine überhastete Aufrüstung voranzutreiben, lässt sich in dem vor zwei Wochen lancierten Vorstoss der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats erkennen. Die Motion verlangt vom Bund, 10 Milliarden Franken für die Schweizer Armee und 5 Milliarden für den Wiederaufbau in der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Geschmiedet wurde der Plan von Mitte-Links. Mit einer Mehrheit von 8:5 Stimmen wurde die Motion angenommen. Sie verlangt die Schaffung eines Bundesgesetzes «über einen ausserordentlichen Beitrag für die Sicherheit der Schweiz und den Frieden in Europa angesichts des Krieges gegen die Ukraine». Die Idee war, den Betrag an der Schuldenbremse vorbeizuschleusen.17
Aushebeln der Schuldenbremse vorerst gescheitert
Argumentiert wurde, dass die Schuldenbremse unter bestimmten Umständen auch «ausserordentliche Ausgaben» zulasse, was für die Initianten mit dem Krieg in der Ukraine erfüllt sei. (s. Kasten) Uneinig ist man sich in der Bundesverwaltung über die Auslegung des Verfassungsartikels. Während die Mehrheit des Bundesrats die Motion ablehnt, steht Viola Amherd dem Vorstoss des Ständerats positiv gegenüber.18
Der Deal ist jedoch vorerst gescheitert. Die Finanzpolitische Kommission des Nationalrats sollte über die gleiche Motion befinden, um den Prozess zu beschleunigen. Nachdem unsicher gewesen war, ob eine Mehrheit der nationalrätlichen Kommission zustimmen würde, zogen die Initianten den Vorstoss zurück: «Mit dem Rückzug des Antrags können die Drahtzieher das Gesicht wahren.»19 In der Sommersession wird der Ständerat darüber befinden. Gibt es hier keine Mehrheit, ist die Motion vom Tisch.
Friedenskonferenz als Feigenblatt
Die von Bundesrat Cassis ambitionierte einseitige «Friedenskonferenz», die die Neutralität der Schweiz beweisen sollte, scheint zu einem Flopp zu werden. Eine der beiden Kriegsparteien, nämlich Russland, ist nicht erwünscht. Von den angeblich 150 eingeladenen Staatschefs haben die Granden der EU und einige Vertreter kriegstreibender europäischer Staaten zugesagt. Mit Neutralität und Friedensvermittlung hat das alles nichts zu tun, auch wenn Cassis sich bemüht, diesen Schein aufrecht zu erhalten. Sein grosser Auftritt auf der Weltbühne ist so oder so zum Scheitern verurteilt.
Den Kompass verloren
Der Schweizer Bundesrat, aber auch das Parlament haben im Zuge des Ukraine-Kriegs zunehmend den Kompass verloren. Angesteckt von der bewusst erzeugten Kriegshysterie in Europa, warf man wichtige Grundlagen des Schweizer Staatswesens über Bord. Zwar scheint man auf politischer Ebene zu realisieren, dass die Schweiz nicht mehr als neutral wahrgenommen wird, versucht aber jetzt möglichst alle Entscheide als mit der Neutralität vereinbar zu erklären: von der Übernahme der Sanktionen bis zur Lieferung von Panzern. Zeigt sich der Bundesrat bei manchen Forderungen aus dem Ausland zögerlich, weil deren Erfüllung neutralitätspolitisch und rechtlich nicht mehr zu begründen ist, wird das Parlament zur treibenden Kraft und versucht, am Neutralitätsgebot oder an der Verfassung vorbei zu politisieren.
Fehlentwicklungen korrigieren
In dieser Lage braucht es das Volk. In unserem Staatswesen hat es eine entscheidende Bedeutung. Es kann Fehlentwicklungen korrigieren und damit das Land wieder zur Neutralität zurückführen, ehe es immer schwieriger wird. Damit man die Politik in eine konstruktive Richtung lenken kann, muss die Bevölkerung sich mit unterschiedlichen Standpunkten auseinandersetzen können. Damit sind auch die Medien in der Pflicht, unterschiedliche Positionen zu präsentieren, um eine eigenständige Meinungsbildung zu unterstützen. Die Volksrechte der Schweiz erlauben es, mit einem Referendum die Umsetzung von Gesetzen, die das Parlament verabschiedet hat, zu verhindern. Durch das Initiativrecht können wir Änderungen in der Verfassung erreichen. Besondere Bedeutung kommt im Moment der Neutralitätsinitiative zu.20 Sie möchte mit einem neuen Verfassungsartikel die Neutralität zurückholen, die Regierung explizit auf die Neutralität verpflichten und die Schweiz wieder zu einem neutralen Land machen, um in Konflikten zwischen verfeindeten Staaten vermitteln zu können und um zu verhindern, dass unser Land in Konflikte hineingezogen wird, wie es aktuell im Ukraine-Krieg der Fall ist. Noch ist nichts verloren, aber es braucht eine klare Stellungnahme des Volks. Bleibt sie aus, finden wir uns bald in den Fängen der EU und der Nato wieder.
¹ www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/141566.pdf
² www.swissinfo.ch/ger/johann-schneider-ammann-spricht-sich-gegen-russland-sanktionen-aus/40535216
³ www.srf.ch/news/schweiz/schweiz-sanktionen-gegen-russland-schneider-ammann-will-eu-nicht-folgen
4 www.srf.ch/news/schweiz/schweiz-weitere-massnahmen-gegen-russland-beschlossen
5 www.srf.ch/news/schweiz/sie-zog-die-faeden-in-minsk-heidi-tagliavini
⁶ www.swissinfo.ch/ger/dauerkonflikt-in-der-ostukraine-un-erhoeht-opferzahl-deutlich/47257138
7 www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/cassis-zu-selenski-beeindruckt-wie-dein-volk-fuer-freiheit-kaempft?urn=urn:srf:video:6f2b26ea-1900-4a7d-b832-85c960ea25e9
8 zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-6-vom-5-april-2022.html#article_1332
⁹ www.20min.ch/story/darum-setzt-russland-die-schweiz-auf-die-liste-unfreundlicher-laender-462725892361
10 www.nzz.ch/schweiz/fuer-den-rest-der-welt-ist-die-schweiz-nicht-mehr-neutral-ld.1684472
11 www.srf.ch/news/schweiz/waffenlieferungen-im-krieg-wie-wichtig-ist-die-schweizer-munition-fuer-den-gepard-panzer
12 https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-sik-n-2023-07-23.aspx
13 www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2023/20230926105621516194158159038_bsd062.aspx
14 www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-98885.html
15 www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/indirekte-ruestungshilfe-schweizer-leopard-2-panzer-auf-dem-weg-nach-deutschland/49171172
16 NZZ vom 8. Mai 2024
17 www.efv.admin.ch/efv/de/home/themen/finanzpolitik_grundlagen/schuldenbremse.html
18 Thurgauer Zeitung vom 8. Mai 2024
19 Thurgauer Zeitung vom 8. Mai 2024
20 neutralitaet-ja.ch
Ausserordentliche Ausgaben
«Die Ausgabenregel der Schuldenbremse bindet den Bundesrat und das Parlament. In aussergewöhnlichen und vom Bund nicht steuerbaren Situationen – beispielsweise schweren Rezessionen oder Naturkatastrophen – sind jedoch zusätzliche, ausserordentliche Ausgaben möglich. Das Parlament muss dazu den Ausgabenplafond mit einem qualifizierten Mehr beider Räte erhöhen. Die Möglichkeit für ausserordentliche Ausgaben erlaubt es, auf Ausnahmesituationen zu reagieren.»
www.efv.admin.ch/efv/de/home/themen/finanzpolitik_grundlagen/schuldenbremse.html
veröffentlicht 15. Mai 2024
Gegen Kriegshysterie und Phantastereien vom Sieg der Ukraine
Ein realistisches Verhandlungskonzept zuhanden der Bundesregierung (und EU)
thk. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und damit höchster Soldat in der deutschen Armee, General a. D. Harald Kujat, war einer der ersten Mahner vor der Beteiligung des Westens am Ukrainekonflikt und gegen Waffenlieferungen, die zu einer Verlängerung des Kriegs beitragen und zu viel mehr Toten auf der Seite der Ukraine führen werden. Aktiv versuchte er in verschiedenen Interviews, in dieser Zeitung, aber auch auf unterschiedlichen Fernseh- und Internetkanälen sowie in öffentlichen Diskussionsrunden und Vorträgen der Kriegshysterie, die in einem erschreckenden Ausmass um sich griff, Vernunft und militärische Erfahrung entgegenzusetzen. Auch entwarf er letztes Jahr einen Friedensplan, mit dem eine Beendigung des Krieges möglich gewesen wäre.
Er hat unter verschiedenen Verteidigungsministern gearbeitet, bis er den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hatte. Der letzte war der SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Harald Kujat war Vorsitzender des Nato-Militärausschusses und damit höchster Nato-Militär sowie Vorsitzender des Nato-Russland-Rates und der Nato-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs – ein ausgewiesener Kenner der Materie.
Eine wichtige Persönlichkeit war für ihn der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der die Fähigkeiten Harald Kujats förderte und jahrelang mit ihm zusammengearbeitet hatte. Aufgrund dieses engen Verhältnisses wurde er in einem Interview gefragt, wie Helmut Schmidt in der heutigen Situation wohl reagiert hätte. Darauf antwortete Harald Kujat:
«Als Helmut-Schmidt-Schüler bin ich ein Anhänger seiner Strategie des militärischen Gleichgewichts. Ein elementarer Grundgedanke dieser Strategie ist, dass man einen Zustand herstellt, bei dem keine Seite stärker als die andere ist – und somit ein Krieg gar nicht erst in Erwägung gezogen wird. Schmidt hat jedoch betont, dass ein Gleichgewicht der Kräfte zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Element ist, den Frieden zu bewahren. Hinzukommen muss die Bereitschaft, das Gleichgewicht der Kräfte politisch zu stabilisieren. Dazu gehört das Aufrechterhalten der Verbindung zur anderen Seite, um zu verstehen, wo deren Probleme und Interessen liegen. Dazu gehören auch stabilisierende Vereinbarungen, militärische vertrauensbildende Massnahmen sowie Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge. Hier haben insbesondere die US-Amerikaner schwere Fehler begangen, indem sie den ABM-Vertrag über antiballistische Raketenabwehr, die notwendige Ergänzung zum SALT-Vertrag über die Begrenzung nuklearstrategischer Offensivwaffen und entscheidend für die Aufrechterhaltung des nuklearstrategischen Gleichgewichts, einseitig kündigten. Russland hat dies als Versuch verstanden, das interkontinentalstrategische Gleichgewicht zugunsten der USA zu verändern. Auch der für die europäische Sicherheit so wichtige INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme und der Vertrag über den offenen Himmel wurden von den USA einseitig gekündigt.
Insofern würde ich dem Bundeskanzler raten, die Fähigkeit der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung – wie es die Verfassung fordert – wiederherzustellen und gemeinsam mit unseren Nato-Verbündeten Russland die Entschlossenheit zu signalisieren, keine Veränderung des dann entstandenen Gleichgewichts zuzulassen. Zugleich sollte er dafür sorgen, dass die Kriegshysterie über einen angeblich in wenigen Jahren bevorstehenden russischen Angriff auf Nato-Staaten eingestellt wird, denn falls sich Russland auf ein Eingreifen der Nato oder von Nato-Staaten in den Ukraine-Krieg vorbereitet, könnten die beiderseitigen Fehleinschätzungen zu dem führen, was beide Seiten eigentlich vermeiden wollen. Zugleich sollte der Kanzler sich um ein Ende der Kampfhandlungen und eine politische, friedliche Lösung des Ukraine-Krieges sowie um eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung bemühen, in der beide Staaten ihren Platz haben. Schliesslich sollten wieder Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge vereinbart werden, die diese neue Sicherheitsarchitektur stabilisieren und das gegenseitige Vertrauen sowie die politische und militärische Berechenbarkeit stärken. Ich bin ziemlich sicher, dass Helmut Schmidt so vorgehen würde.
Anfangen würde ich weder bei den Russen noch bei den Ukrainern, sondern bei uns. Ich würde versuchen, dem Kanzler die Lage – so wie hier – schonungslos darzustellen. Dann würde ich Scholz dringend raten, seine Ukrainestrategie – falls es eine solche gibt – zu überdenken. Seine Position besteht offenbar aus drei Elementen: ‹Wir unterstützen die Ukraine, solange es nötig ist. Die Ukraine darf nicht verlieren und Russland darf nicht gewinnen. Deutsche und Nato-Truppen dürfen nicht in die Kampfhandlungen eingreifen.› Viel zu sehr hat sich unsere Ukrainepolitik bislang an Wunschvorstellungen ausgerichtet. Faktisch ist die Lage des Landes kontinuierlich kritischer geworden. Wir haben also genau das Gegenteil von dem erreicht, was wir erreichen wollten.
Eines muss ich dem Bundeskanzler allerdings hoch anrechnen. Er hält gegen eine von sicherheitspolitischer und strategischer Unkenntnis geprägten Polemik an seiner Entscheidung fest, Taurus-Marschflugkörper nicht an die Ukraine zu liefern und räumt damit deutschen Sicherheitsinteressen höchste Priorität ein. In der Europäischen Union und in der Nato sollte der Kanzler die Initiative ergreifen und einen vernünftigen Interessensausgleich zwischen den Kriegsparteien anstreben, der letztlich auch unseren Interessen und denen aller Europäer dient. Die Zeit drängt. Eine katastrophale militärische Niederlage der Ukraine kann nur verhindert werden, wenn die Kampfhandlungen möglichst bald eingestellt werden und es zu Friedensverhandlungen zwischen den beiden kriegsführenden Staaten kommt. Wer die Ukraine retten will, muss diesen Weg entschlossen und unbeirrbar gehen.
Denn wenn man die Lage unvoreingenommen betrachtet, wird man schnell feststellen, dass es nur einen Weg für das Überleben der Ukraine und für eine Zukunft des ukrainischen Volkes gibt – und der besteht darin, diesen Krieg schnellstmöglich durch eine politische Lösung zu beenden. Wer jedoch auf dem bisherigen Weg weitergehen will, muss wissen, dass er sich eine unverantwortbar grosse Schuld auflädt. Und er sollte bereit sein, dem ukrainischen Volk zu sagen, welche weiteren Verluste an Menschenleben und welches Ausmass an Zerstörungen des Landes er ihnen für das Erreichen politischer Ziele zumutet, die nicht erreichbar sind.»
Quelle: paz.de/artikel/es-gibt-nur-einen-weg-fuer-das-ueberleben-der-ukraine-a11218.html
veröffentlicht 15. Mai 2024
«Was wir brauchen, ist Versöhnung»
Zeitgeschehen im Fokus Wie ist der Stand im Verfahren Nicaragua gegen die Bundesrepublik Deutschland?
Professor Dr. Alfred de Zayas Am 2. Februar 2024 kündigte Nicaragua an, einen Fall gegen Deutschland vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) zu bringen¹. Die Klage wurde registriert und wird zurzeit beraten. Eine endgültige Entscheidung wird noch Monate dauern. Dem Antrag Nicaraguas auf eine einstweilige Verfügung gegen Deutschland (provisional measures Art. 41 IGH Statute) wurde jedoch am 30. April 2024 nicht stattgegeben. Die Sache bleibt sub-judice und muss von den 15 Richtern weiterhin untersucht werden².
Nicaragua hatte die Bundesrepublik Deutschland vor den IGH gezogen mit dem Vorwurf, den Genozid im Gaza-Streifen zu unterstützen. Ist Nicaragua dazu befugt?
Jeder Staat, der die Völkermordkonvention ratifiziert hat, kann gemäss Artikel 9 der Konvention eine Sache direkt an den IGH zur Untersuchung und Entscheidung bringen. Art. 9 der Konvention stipuliert:
«Streitfälle zwischen den vertragschliessenden Parteien hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung dieser Konvention einschliesslich derjenigen, die sich auf die Verantwortlichkeit eines Staates für Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen beziehen, werden auf Antrag einer der an dem Streitfall beteiligten Parteien dem Internationalen Gerichtshof unterbreitet.»
Ist die Argumentation Nicaraguas stichhaltig? Ist ein Staat, der Waffen liefert, tatsächlich an einem Genozid beteiligt?
Der Antrag Nicaraguas ist solide und brillant formuliert. Die Anwälte für Nicaragua waren der Franzose Prof. Alain Pellet, Mitglied der Uno-Völkerrechtskommission, und der Deutsche Dr. Daniel Müller.
Waffenlieferungen an einen Staat, der dabei ist, Völkermord zu begehen, stellt eine klare Verletzung des Artikels III e der Völkermordkonvention dar. Der IGH hat in zwei einstweiligen Verfügungen gegen Israel festgestellt, dass genug Beweise vorliegen, um zu schliessen, dass ein Völkermord im Gange ist.³ Gemäss dem IGH-Urteil im Fall Bosnien gegen Serbien gilt die Prävention als Hauptziel der Konvention.4 Alles muss unternommen werden, um einen Völkermord zu verhindern, und wenn er bereits begonnen hat, muss man alles tun, um ihn zu stoppen. Art. I der Konvention stipuliert: «Die vertragschliessenden Parteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäss internationalem Recht ist; sie verpflichten sich zu seiner Verhütung und Bestrafung.»
Es geht also vor allem um Verhütung, um das Vermeiden von Krieg, der Anlass zu Massakern gibt. Die Bestrafung von Verbrechen ist immer ex post facto und hilft den Opfern nicht. Der Westen will aber stets bestrafen, sieht sich gern in der Rolle des Richters und Henkers. Netanjahu, Biden, Sunak, Macron, Scholz denken kaum, dass sie eines Tages vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) stehen könnten.
Was müsste geschehen, dass diese Politiker, die viel Elend angerichtet oder Verbrechen unterstützt haben, tatsächlich vor den IGH oder den IStGH gezogen werden?
Der IGH hat keine Kompetenz über Strafsachen. Er kann natürlich feststellen, ob eine bestimmte politische oder militärische Handlung völkerrechtswidrig ist beziehungsweise gegen eine bestimmte Vertragsverpflichtung stösst. Zweifelsohne stellen die Handlungen der USA, Kanadas, Grossbritanniens, Frankreichs, Deutschlands im Gaza Krieg eine Verletzung des Artikels III e der Völkermordkonvention dar. Vor dem IGH sind die Staaten – nicht die Individuen - mitverantwortlich für die Verbrechen der Israelis. Die individuelle Verantwortung kann nur der IStGH oder ein ad hoc Strafgerichtshof zum Beispiel das Sierra Leone Tribunal feststellen. Der IStGH hat bereits mehrere Klagen von verschiedenen Staaten gegen israelische Politiker registriert.
Wir werden noch sehen, ob der IStGH überhaupt etwas tut. Ich hege keine Erwartungen, denn der jetzige Hauptankläger Karim Khan, hat sich stets parteiisch verhalten, zum Beispiel als er die Untersuchungen über die Nato-Verbrechen in Afghanistan einstellte, während er die Untersuchungen über die Verbrechen der Taliban fortsetzte. Persönlich halte ich nichts von der «Bestrafung» von Politikern und Militärs, es sei denn, alle werden nach denselben Kriterien angeklagt und bestraft. Der IStGH wird nur Glaubwürdigkeit haben, wenn die Nato-Verbrechen im Irak, in Afghanistan, Abu Ghraib, Guantanamo, Libyen, Syrien und so weiter untersucht werden und wenn Personen wie Tony Blair, George W. Bush, Dick Cheney, Paul Wolfowitz, Victoria Nuland, Boris Johnson, Rishi Sunak, Emmanuel Macron, Olaf Scholz, Annalena Baerbock vor Gericht kommen. Heute scheint dies vollkommen unrealistisch und unerreichbar. Bisher ist die Strafgerichtsbarkeit nur zum Zwecke gebraucht worden, um die Gegner des Westens als Verbrecher zu brandmarken und zu bestrafen. Der IStGH ist vor allem ein propagandistisches Organ, ein nützlicher Kollaborateur im geopolitischen Kampf des Westens. Ich halte den IStGH für kein juristisches Organ -- er ist eher ein Instrument der politischen «Justiz».
Analog gesehen, welche Verantwortung tragen die Staaten, die der Ukraine Kriegsmaterial und sogar noch Berater zur Verfügung stellen? Sind sie am Krieg beteiligt, also Kriegspartei?
Stimmt. Staaten, die Waffen liefern, militärische Intelligenz oder Berater zur Verfügung stellen – wie die USA, Grossbritannien, Frankreich, Polen, Deutschland – sind Kriegspartei. Aber in der Ukraine geht es nicht um Völkermord, obwohl alle Seiten Kriegsverbrechen begangen haben, indem sie chemische Waffen und Streubomben eingesetzt haben. Nach Beendigung der Kampfhandlungen werden die Verantwortlichkeiten festgestellt. Dabei ist das Urteil des IGH aus dem Jahre 1986 im Fall Nicaragua gegen die USA5 von grosser Relevanz. Politiker und Militärs aus den USA, aus Kanada, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Polen werden gewiss zur Rechenschaft gezogen – natürlich auch Personen aus Russland.
Warum ist der IGH nicht auf den Antrag Nicaraguas auf eine einstweilige Verfügung eingegangen?
Die 15 Richter am IGH sind unter enormen Druck gekommen und haben gekniffen. Man muss bedenken, dass eine einstweilige Verfügung gegen Deutschland einem Donnerschlag gleichkäme und bedeuten würde, dass alle Waffenlieferanten eine Verpflichtung hätten, die Lieferungen sofort einzustellen.
Ist damit die Klage vom Tisch?
Keinesfalls. Deutschland hat den wichtigsten Punkt in der Verhandlung verloren – nämlich die Jurisdiktion des Gerichts. Deutschland wollte die Klage ganz und gar vom Tisch haben beziehungsweise dass sie als unzulässig erklärt wird – entweder wegen fehlender Jurisdiktion oder als prozedural unzulässig. Dies hat nicht funktioniert, denn der Gerichtshof hat deutlich seine Kompetenz bestätigt mit vielen Hinweisen auf die eigene Jurisprudenz. Präzedenzfälle gibt es genug. Ich gehe davon aus, dass Deutschland am Ende verurteilt wird. Die Verweigerung einer einstweiligen Verfügung war gewissermassen eine Art Kompromiss. Die Parteien werden genug Gelegenheit haben, alle Beweise und Argumente vorzubringen.
Bei der Klage Südafrikas hat das Gericht vor dem Entstehen eines Genozids gewarnt. Warum tritt das Gericht in Falle Nicaraguas nicht darauf ein?
Völkerrechtlich gesehen, hätten die Richter der einstweiligen Verfügung stattgeben müssen, denn es geht um die Verhütung des Völkermords. Der IGH hat politisch, nicht juristisch gehandelt, wie er es allzu oft tut. Jedenfalls hat der IGH bereits zwei einstweiligen Verfügungen gegen Israel stattgegeben. Der Fall Südafrika gegen Israel läuft weiter. Das Urteil gegen Israel wird hoffentlich bald kommen.
Müssten nicht noch mehr Staaten vor das Gericht gezogen werden, wenn das Vorgehen Deutschlands eine Beihilfe zum Genozid ist?
Selbstverständlich. Hauptschuldige sind die USA, aber man kann die USA vor dem IGH nicht zu Rechenschaft ziehen, denn die USA haben einen Vorbehalt gemacht, als sie 1992 die Völkermord-Konvention endlich nach 44 Jahren ratifizierten. Mit anderen Worten, ein Antrag gemässs Art. 9 der Konvention wäre ratione personae unzulässig. Aber die anderen – Kanada, Grossbritannien, Frankreich, Polen und so weiter sind alle schuldig und sollen nicht nur vor den IGH, sondern auch vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen, beziehungsweise ihre Politiker und Militärs.
In den deutschen Medien zeigte man sich irritiert, dass ein Land, das die Menschenrechte nicht schütze, eine Klage gegen Deutschland einreichen kann.
Natürlich gibt es Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua, wie übrigens auch in den USA, in Kanada, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Spanien, Polen, in der Tschechischen Republik sowie in den meisten EU-Staaten, wo Meinungsterror herrscht und die Versammlungsfreiheit nicht mehr gewährt wird. Was die Medien betrifft, sind sie in ganz Europa so ziemlich gleichgeschaltet. Die deutschen Medien sind hoffnungslos ideologisiert, narzisstisch, parteiisch. Man kann sich auf die FAZ, die Welt, die Zeit die Süddeutsche Zeitung schon lange nicht mehr verlassen.
Ist grundsätzlich jeder Staat befugt an den IGH zu gelangen, um einen anderen Staat zu verklagen, oder braucht es gewisse Vorbedingungen?
Manche Verträge wie zum Beispiel die Völkermordkonvention erkennen die sofortige Kompetenz des IGH an. Ferner gibt es gemäss Artikel 36 des Statuts des IGH die Kompetenz, alle Streitfälle grundsätzlich anzunehmen. Art. 36 stipuliert:
« 1. Die Zuständigkeit des Gerichtshofes erstreckt sich auf alle Angelegenheiten, welche die Parteien ihm vorlegen, sowie auf alle Fälle, die in der Satzung der Vereinten Nationen oder in den geltenden Verträgen und Abkommen besonders vorgesehen sind.
2. Die Staaten, welche das vorliegende Statut angenommen haben, können jederzeit die Erklärung abgeben, dass sie ipso facto und ohne besondere Abkommen gegenüber jedem anderen, die gleiche Verpflichtung übernehmenden Staat die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes in allen Rechtsstreitigkeiten als obligatorisch anerkennen, welche zum Gegenstande haben:
a) die Auslegung eines Vertrages;
b) irgendwelche Fragen des internationalen Rechtes;
c) das Bestehen einer Tatsache, die, wenn sie bewiesen wäre, die Verletzung einer internationalen Verpflichtung bedeuten würde;
d) die Art und den Umfang der wegen Verletzung einer internationalen Verpflichtung geschuldeten Wiedergutmachung.⁶
Gibt es andere unbefriedigende Beispiele in der IGH-Jurisprudenz?
Leider zu viele. Ein besonders skandalöser Fall war die Klage der Ukraine gegen Russland im Februar 2022.7 Der Fall Ukraine gegen Russland lag eigentlich ausserhalb der Jurisdiktion des Gerichts, denn es ging nicht um eine Untersuchung, ob möglicherweise Russland einen Völkermord an den Ukrainern beging, sondern um eine Umkehrung der Prozedur, um die Invasion Russlands zu verurteilen. Dies lag aber nicht in der Kompetenz des Gerichts gemäss Art. IX der Völkermordkonvention. Der juristische Trick bestand darin, dass die Ukraine eine Feststellung des Gerichts anstrebte, dass die Ukraine eben keinen Völkermord in Donbas beging, obwohl dies Russland vor dem IGH gar nicht behauptet hatte! Hier lag also eine primitive Instrumentalisierung der Konvention beziehungsweise «abuse of process» (Prozessmissbrauch), der das Gericht sofort als unzulässig hätte erklären müssen. Die Ukraine bat um «provisorische Massnahmen» – beziehungsweise eine einstweilige Verfügung gegen Russland, um einen sofortigen Stopp der Invasion zu verlangen.8 Die Ukraine missbrauchte Artikel 9 der Völkermordkonvention, nicht um einen Völkermord zu verhüten, sondern um Propaganda für sich selbst zu machen und einen «Persilschein» für seine Donbas-Angriffe zu beantragen. Obwohl dies ein primitiver Missbrauch der Gerichtsbarkeit des IGH darstellte, hat der IGH der einstweiligen Verfügung stattgegeben und einen Waffenstillstand verlangt, was er eben NICHT tat im Fall Südafrika gegen Israel oder im Fall Nicaraguas gegen Deutschland.
Noch ein skandalöses Versagen des IGH war der Fall Marshall Inseln gegen neun Atommächte, insbesondere gegen Grossbritannien.9 Obwohl der Gerichtshof Jurisdiktion besass, hat er sich mit skurrilen Argumenten der Verantwortung entzogen und schliesslich behauptet, er habe keine Jurisdiktion. Dies illustriert, wie kompromittiert die Richter – und das Gericht – sind. Es lohnt sich auch, die abweichende Meinung des Richters Antonio Cançado Trindade im Fall Marshall Inseln gegen das Vereinigte Königreich zu lesen. Einfach brillant. Man verliert jeden Respekt für die anderen IGH Richter, die keinen Mut hatten, die legitimen Klagen der Marshall Inseln zu beraten.10 Und dennoch, ich gebe die Hoffnung nicht auf, denn eine fundamentale Wandlung ist im Gange, eine Zäsur, eine Befreiung, eine geistige Entkolonisierung. Allmählich ist die globale Mehrheit wach geworden. Sie lässt sich nicht mehr von den USA, von Frankreich und Grossbritannien das Völkerrecht oder die Moral diktieren. Ich vermisse Richter Cançado Trindade, der genau in meinem Alter war und den ich von Begegnungen in Den Haag persönlich kannte. Ich schätzte ihn als Jurist und als Mensch. Leider ist er am 29. Mai 2022 an Krebs gestorben. Er hatte nicht nur das Völkerrecht im Griff. Er besass auch Anstand, Rationalität – und Hoffnung für die Menschheit.
Meinen Sie damit, dass der IGH nicht neutral ist?
Genau! Es werden nur solche Juristen nominiert, die die Politik ihrer Staaten brav vertreten werden. Die USA wird nie und nimmer einen unabhängigen Juristen nominieren wie etwa Professor Richard Falk oder Professor Francis Boyle. Die frühere US-Richterin, Joan Donoghue, und die jetzige, Sarah Cleveland, die ich auch persönlich kenne, denn sie war Mitglied des Uno-Menschenrechtsausschusses, sind zwar exzellente Juristinnen – aber gleichzeitig zuverlässige US-Ideologinnen. Dasselbe gilt für die französischen, deutschen, australischen Richterinnen und Richter. Ein grosses Problem liegt darin, dass der IGH kaum die Welt repräsentiert,11 sondern eine deutliche West-Orientierung aufweist – nicht nur, weil viele Richter aus westlichen Ländern und Kulturen kommen, sondern auch, weil die, die aus anderen Ländern kommen, überwiegend die westliche Mentalität vertreten, da sie ihre Ausbildung an Universitäten in den USA oder in Grossbritannien gemacht haben. Man darf die Indoktrinierung nicht unterschätzen, der man in Harvard, Yale, Berkeley, Oxford oder Cambridge ausgesetzt ist. Auch ich habe sie als Student und als Lehrer an Harvard erlebt. Die jetzigen Mitglieder des IGH kommen aus den folgenden Ländern: Australien, Brasilien, China, Frankreich, Deutschland, Indien, Japan, dem Libanon, Mexiko, Rumänien, der Slowakei, Somalia, Südafrika, Uganda, den USA. Es wäre wünschenswert, wenn auch Richter aus Barbados, Belarus, Bolivien, Honduras, Irak, Iran, Kuba, Russland, Syrien, Ost-Timor oder Venezuela vertreten wären. Dies würde die ideologischen Tendenzen des IGH etwas ins Gleichgewicht bringen und der Doppelmoral entgegenwirken.
Wie kann man dieser Doppelmoral Einhalt gebieten?
Die Glaubwürdigkeit der Institutionen ist eine zentrale Frage der Demokratie. In meinen Vorlesungen und Büchern komme ich immer wieder auf die Frage Juvenals: «Quis custodiet ipsos custodes?» (6. Satire, Vers 347f. Dt.: Wer wird über die Wächter wachen?) zurück. Leider konstatiere ich, dass die Institutionen, die für unseren Schutz erschaffen wurden, nicht immer gemäss ihren Statuten agieren, nicht immer unseren uneingeschränkten Respekt verdienen. Darum müssen wir stets aufpassen.
Wer wird über die Wächter wachen? Nur wir selbst. Dies kommt in meiner Menschenrechts-Trilogie häufig zum Vorschein – in «Building a Just World Order», 2021, «Countering Mainstream Narratives», 2022, und «The Human Rights Industry», 202312. Bisher hat der IGH einige sehr gute Urteile gefällt, aber auch er gerät mehr und mehr unter politischen Druck, und seine Mitglieder denken und urteilen mehr politisch als richterlich. Dies ist ein echtes Problem. Ich kämpfe immer gegen die naive Vorstellung, dass diese Institutionen automatische Glaubwürdigkeit besitzen, dass man ihre Entscheidungen unbedingt achten muss, denn sie heissen «Internationaler Gerichtshof», «Internationaler Strafgerichtshof», «Europäischer Menschenrechtsgerichtshof» und so weiter.
Die Namen klingen zwar gut, aber die Realität ist, dass sie zunehmend parteiisch entscheiden. Immerhin ist es gut, diese Institutionen zu haben. Unsere Verantwortung muss sein, daran zu arbeiten, dass sie besser funktionieren, dass sie keine Doppelmoral aufweisen, dass sie konsequent unsere Menschenrechte fördern und schützen.
Als Professor lehren Sie noch immer an der Geneva School for Diplomacy. Was vermitteln Sie Ihren Studenten in diesen Fragen?
Ich empfehle meinen Studenten, die abweichenden Meinungen von Richtern zu lesen. Tatsächlich steckt häufig mehr Sinn und Gerechtigkeit in den abweichenden Meinungen. Diese richterlichen Querdenker besitzen oft mehr Rationalität und zeigen Rückgrat, lassen sich von einer politisierten Mehrheit nicht beeindrucken. Der IGH hat 1999 arg versagt, als er die Klage Jugoslawiens gegen die Nato-Staaten nicht akzeptierte. Die Argumente der Mehrheit waren mehr als peinlich. Der russische Richter Vladlen S. Vereshetin hat in seiner Stellungnahme in Bezug auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien 1999 schon damals auf das zögerliche Verhalten des Gerichts aufmerksam gemacht. (s. unten)
Wir brauchen unbedingt junge Leute, die wieder auf dem Boden der Realität und der Rationalität stehen. Sie müssen der Emotionalisierung, dem Schwarz-Weiss-Denken eine Absage erteilen und sich mit den Fakten auseinandersetzten. Wir brauchen Menschen, die denken können und nicht jeder Propaganda hinterherlaufen wie einst dem Rattenfänger von Hameln, die das Völkerrecht nicht à la carte anwenden und nur auf ihren Vorteil bedacht sind. Wenn es gelingt, eine neue Generation heranzuziehen, die die Grundwerte der Menschlichkeit internalisiert hat, dann könnte die Welt friedlicher werden und ein konstruktives Zusammenleben möglich sein. Das ist doch unsere Aufgabe als Mensch, als Politiker, als Lehrer, als Wissenschaftler.
Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
¹ www.icj-cij.org/case/193
² Artikel I: Die Vertragschliessenden Parteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäss internationalem Recht ist; sie verpflichten sich zu seiner Verhütung und Bestrafung.
³ www.icj-cij.org/case/192
4 icj-cij.org/case/91
5 www.icj-cij.org/case/70/judgments
⁶ icj-cij.org/declarations
7 www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/182/182-20220316-ord-01-00-en.pdf.
8 icj-cij.org/case/182
⁹ icj-cij.org/case/160
10 icj-cij.org/sites/default/files/case-related/160/160-20161005-JUD-01-06-EN.pdf
11 icj-cij.org/current-members
12 www.claritypress.com/book-author/alfred-de-zayas/
Der russische Richter Vladlen S. Vereshetin zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien 1999
«Die aussergewöhnlichen Umstände, unter denen Jugoslawien seinen Antrag auf vorläufige Schutzmassnahmen gestellt hat, zwangen zu einer sofortigen Reaktion. Der Gerichtshof hätte unverzüglich seine tiefe Besorgnis über das sich ausbreitende menschliche Elend, den Verlust von Menschenleben und die schwerwiegenden Verstösse gegen das Völkerrecht zum Ausdruck bringen müssen, die zum Zeitpunkt des Antrags bereits öffentlich bekannt waren. Es ist unangemessen, dass das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, dessen Daseinsberechtigung die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten ist, in einer solchen Situation schweigt. Selbst wenn der Gerichtshof letztlich zu dem Schluss kommen sollte, dass er aufgrund der Zwänge seines Statuts nicht in der Lage ist, gegenüber dem einen oder anderen der beklagten Staaten vollwertige vorläufige Massnahmen gemäss Artikel 41 des Statuts zu ergreifen, ist der Gerichtshof von Natur aus befugt, die Parteien zumindest unverzüglich aufzufordern, den Konflikt weder zu verschärfen noch auszuweiten und im Einklang mit ihren Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen zu handeln. Diese Befugnis ergibt sich aus seiner Verantwortung für die Wahrung des Völkerrechts und aus wichtigen Erwägungen der öffentlichen Ordnung. Ein solcher autoritativer Appell des ‹Weltgerichtshofs›, der auch mit Artikel 41 seiner Satzung sowie mit Artikel 74 Absatz 4 und Artikel 5 Absatz 1 seiner Geschäftsordnung in Einklang stünde, könnte eine ernüchternde Wirkung auf die an dem militärischen Konflikt beteiligten Parteien haben, wie es sie in der europäischen Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben hat.»
veröffentlicht 15. Mai 2024
Naher Osten: «Letztlich geht es den USA darum, die Kontrolle über die Region nicht an China zu verlieren»
Zeitgeschehen im Fokus Man hörte immer wieder, dass ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas ausgehandelt werden soll. Vor wenigen Tagen kam die Meldung, das Abkommen sei gescheitert und Israel bereite den Angriff auf Rafah vor. Dann legten Katar und Ägypten einen neuen Vorschlag vor, den die Hamas akzeptierte. Trotzdem hat die israelische Armee mit der Bombardierung Rafahs weitergemacht und den Grenzübergang nach Ägypten bei Rafah besetzt.
Karin Leukefeld Das ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Die englischsprachigen Medien berichten sehr unterschiedlich. Die Grundinformation, dass es einen befristeten Waffenstillstand von israelischer Seite geben soll sowie einen Gefangenenaustausch, wird von vielen Medien aufgegriffen. Die Hamas hatte bereits im Januar 2024 einen umfassenden Plan für einen Waffenstillstand vorgelegt. Das war ein Drei-Phasen-Plan. Israel wies diesen zurück. Zuletzt verhandelten Katar und Ägypten auf der Seite der Hamas und die USA auf der Seite von Israel. Katar hatte vor ungefähr drei Wochen gesagt, es würde das Mandat niederlegen, weil es mit Israel keine Fortschritte gebe. Vor zwei Wochen schickte Ägypten eine Delegation nach Tel Aviv. Sie sei mit einem neuen Plan dorthin gekommen, so hiess es. Daraufhin legte Israel einen eigenen Plan vor. Es ist ein ständiges Hin und Her. Die Inhalte der Pläne verändern sich immer wieder. Zunächst hiess es: eine Waffenruhe von 40 Tagen. Danach sollte der Waffenstillstand in zwei Phasen bis zu einem Jahr verlängert und im Gegenzug die Geiseln frei gelassen werden. Gleichzeitig soll die Hamas eine Liste von noch lebenden Geiseln vorlegen. Dafür würde Israel die palästinensischen Gefangenen freilassen. Darüber gibt es im Moment Verhandlungen. Die Hamas verlangt, dass Israel sich in Phasen aus dem Gaza-Streifen vollständig zurückzieht. Es wird Wiederaufbauhilfe für Gaza gefordert und konkret umschriebene Hilfe bei der Versorgung der Bevölkerung.
Schauen wir nach Gaza. Uno-Organisationen wie die UNRWA und andere Hilfsorganisationen zeigen sich tief besorgt über die Versorgungslage. Israel erklärt, dass es die palästinensische Zivilbevölkerung schonen würde, aber nahezu 35 000 Tote, davon 10 000 Frauen und 6000 Kinder, zeigen ein ganz anderes Bild. Ist irgendwo eine Verbesserung der Lage eingetreten?
Im Norden des Gaza-Streifens herrscht Hunger. Die Palästinenser dort haben sehr viel weniger an Kalorien als das Tagesminimum. Es gibt kaum noch medizinische Versorgung. Die UNRWA kann nicht in den Norden fahren und somit auch keine Hilfsgüter liefern. Alle Anträge der UNRWA, die von Israel kontrolliert und bewilligt werden müssen, werden abgelehnt. Israel liess hin und wieder 10 oder mal 20 LKWs mit Hilfsgütern von Ashkelon aus in den Norden des Gaza-Streifens fahren. Aber die Verteilung der Hilfsgüter, die sonst über die UNRWA und ihre Strukturen erfolgt ist, findet nicht statt. Das vor allem, weil die UNRWA-Einrichtungen zerstört sind, zum Beispiel Lagerhäuser, in denen man die Vorräte gelagert hat. Die UNRWA hat 186 Mitarbeiter durch Angriffe der Israelis verloren. Da die bisherige systematische Verteilung der Nahrungsmittel nicht mehr gewährleistet ist, kommen viele Produkte auf den freien Markt und sind völlig überteuert. Die Menschen können sich das nicht leisten. Im Süden war die Versorgungssituation zuletzt etwas besser. Zwar kamen keine 500 Lastwagen pro Tag in den Gaza-Streifen, aber vielleicht bis zu 250. Bei Rafah wurde eine Wasserentsalzungsanlage, die zerbombt worden war, wieder in Betrieb genommen. Auf dem Markt konnte man Lebensmittel kaufen, allerdings auch sehr überteuert. Das reichte natürlich vorne und hinten nicht für die Menschen. Nun hat die israelische Armee die zwei südlichen Grenzübergänge geschlossen – Kerem Shalom und Rafah – und lässt keine Hilfstransporte passieren. Der Grenzübergang Rafah wurde von der israelischen Armee am 7. Mai besetzt. Bombardierungen der Stadt wurden nie eingestellt – ausser Ende November, als eine Woche die Waffen schwiegen. Nun wird gerätselt, ob die israelische Armee die angekündigte Offensive auf Rafah begonnen hat. Vieles deutet daraufhin, dass sie die Stadt Stück für Stück einnehmen will. Die US-Administration, Joe Biden, hat angekündigt, ein kürzlich bewilligtes Waffenpaket zu stoppen, darunter 3000 schwere Bomben, 500 bis 1000 kg schwer. Der Krieg geht also weiter, mit täglich Dutzenden von Toten. Die Menschen hungern. Das lässt sich auch den Äusserungen des Chefs der UNRWA, Philippe Lazzarini, entnehmen, die er vor einigen Tagen an einer Pressekonferenz in Genf machte.
Was ist aus dem ominösen Projekt der USA und der EU geworden, einen schwimmenden Hafen vor der Küste des Gaza-Streifens zu errichten?
Die US-Armee baut diesen Hafen unter Kontrolle und im Auftrag des Pentagon, die israelische Armee baut vom Land her einen Pier ins Meer hinaus. Dort sollen dann kleinere Schiffe anlegen, die die Hilfsgüter an dem provisorischen Hafen abholen und zwischen dem Hafen und dem Pier pendeln. An Land wird ein weites Gebiet von Israel plattgewalzt, um Lagerfläche für die Hilfsgüter und Standorte für Lastwagen zu schaffen. Dort standen noch Häuser, aber die meisten Gebäude waren von Israel schon bombardiert worden. Die Israeli benutzen die Trümmer der zerstörten Häuser, auch wenn nicht einmal geklärt ist, ob unter ihnen noch Tote liegen. Diese Anlegestelle ins Meer hinaus scheint ihnen sehr wichtig zu sein. Die Massnahme ist gegenüber den Palästinensern zutiefst verächtlich. Das Projekt ist nicht mit ihnen abgesprochen. Die Verteilung der Hilfsgüter könnte möglichweise von der US-Organisation World Central Kitchen übernommen werden, die in Kriegs- und Krisengebieten Menschen mit Essen versorgt. Nach dem Tod von sieben ihrer Mitarbeiter durch einen israelischen Angriff hatte die Organisation das Gebiet verlassen und ihre Arbeit ausgesetzt. Nun will sie offenbar wieder zurückkehren. Israel ist daran interessiert, weil es plant, dass diese World Central Kitchen die UNRWA, also die Uno-Strukturen, ersetzen soll.
Das Ganze sieht sehr nach einem militärischen Projekt aus. Viele Palästinenser befürchten, dass die Anlage eine Besatzung des Gaza-Streifens vorbereiten könnte. Die Hamas gab dazu eine Erklärung ab, dass die fremden Soldaten als Besatzer und der Hafen als eine militärische Basis angesehen würden, und so auch Ziele von Angriffen werden könnten. Gleichzeitig entledigen sich die Israeli der Verantwortung, dass sie die Palästinenser versorgen müssten. Der amtierende Verteidigungsminister Yoan Galant sagte kürzlich, wenn die humanitäre Hilfe klappe, dann könne man den Krieg weiterführen.
Quelle: https://de.wiktionary.org/wiki/Datei:Gazastreifen_Karte.png#/media/Datei:Gaza_Strip_map2.svg
Welche Rolle haben die USA im Ganzen?
Sie verfolgen ihre eigenen Interessen. Sie streben eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien an. Das ist ein Plan der USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Roosevelt hatte Anfang 1945 – noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieg – versucht, sich mit dem saudischen König zu einigen, dass er das zukünftige Israel akzeptieren werde. König Saud lehnte ab. Heute bemühen sich die USA immer noch darum, und die jetzige Regierung unter Joe Biden verfolgt diesen Plan weiter. Dieses Interesse steht für die USA im Vordergrund, auch angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Biden will das als «Trophäe» präsentieren. US-Aussenminister Blinken war in der letzten Woche viel unterwegs. Zuerst war er in Jordanien, dann ein paar Tage in Riad und jetzt in Tel Aviv. Ein Resultat dieser Besuche scheint zu sein, dass die Regierung die Situation in Gaza von dem US-Plan trennen wollen. Verhandelt wird über ein Abkommen, in dem Saudi-Arabien unter den Schutz der USA gestellt werden soll. Es gibt verschiedene Szenarien, die nach und nach an die Öffentlichkeit gekommen sind. Wie ich eingangs bereits geäussert habe, ist das eine hochkomplizierte Angelegenheit.
Der Hamas geht es darum, dass sich die israelischen Truppen aus dem Gaza-Streifen zurückziehen. Sie will, dass Gaza Aufbauhilfe bekommt und dass die Gefangenen im Tausch gegen israelische Geiseln freigelassen werden. Daran wird sie festhalten. Teile dieses Plans wurden von Ägypten und Katar in Israel vorgelegt, und die Hamas erklärte, man werde dem Vorschlag zustimmen. Das hat Netanyahu überrascht, zumal er gerade noch erklärt hatte, Israel werde Rafah angreifen, ob es zu einem Gefangenenaustausch käme oder nicht. Also besetzten die israelischen Streitkräfte den Grenzübergang Rafah-Ägypten und intensivierten die Bombardierung von Ost-Rafah. Sie forderten 100 000 Personen östlicher Viertel auf, das Gebiet zu verlassen. Die ganze Operation ist eine Provokation. Netanjahu beharrt darauf, weil er sonst sein Regierungsbündnis mit den extremen Siedlern verlieren wird. Es sieht nicht danach aus, dass sich Grundlegendes verändert.
Wird Saudi-Arabien auf das Spiel der USA einsteigen?
Das Land hat sich nach den Blinken-Besuchen immer sehr deutlich geäussert, und zwar in einer ganz anderen Art und Weise, als sich Blinken vernehmen liess. Saudi-Arabien liess verlauten, es beharrte vor irgendeiner Vereinbarung mit Israel auf der Anerkennung Palästinas als Staat in den Grenzen von 1967 mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Netanjahu lehnt das komplett ab. Nachdem der US-Plan über die Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel bekannt geworden war, äusserte sich Israel nicht dazu.
In den US-Medien kann man lesen, dass die USA kurz vor einem Durchbruch in der Vereinbarung mit Saudi-Arabien stünden, diesen militärischen Schutzschirm zu installieren und das Land aufzurüsten und die Entwicklung von Atomtechnologie zu unterstützen. Ob das stimmt, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Das Team um Blinken verbreitet geschönte Information, weil es weiss, es muss den Journalisten etwas sagen. Es stellt seinen Wunsch als Faktum dar. Ob sich Saudi-Arabien dafür hergibt, ist ungewiss, aber ich würde es nicht ausschliessen. Ich kann mir vorstellen, dass der jetzige Machthaber, Kronprinz Mohammed bin Salman, darauf eingehen könnte, sollte er dafür von den USA ein Atomprogramm bekommen. Das gehört zu dem sogenannten Verhandlungskorb. Es kann aber auch gut sein, dass der Kronprinz auf innersaudischen Widerstand stösst. Es ist eine sehr komplexe Situation. Letztlich geht es den USA bei dieser ganzen Angelegenheit darum, die Kontrolle über die Region nicht an China zu verlieren.
Dabei geht es doch kaum um Saudi-Arabien?
Es wurde in einigen Kommentaren erwähnt, dass Saudi-Arabien das Verhalten der USA kritisch beobachte. Saudi-Arabien ist enorm auf Abstand zu den USA gegangen, als sie sich von heute auf morgen aus Afghanistan zurückgezogen hatten. Seine Schlussfolgerung daraus war, selbst wenn man ein Bündnis mit den USA schliesst, kann man sich nicht darauf verlassen. Das ist der Türöffner für chinesische Diplomatie in der Region. Den USA ist diese Wahrnehmung bewusst, und es gibt auf US-amerikanischer Seite Versuche, das Vertrauen der arabischen Golfstaaten wiederherzustellen. Doch das alles braucht Zeit.
Die USA stehen vor den Präsidentschaftswahlen, und es gibt enorme Proteste im eigenen Land gegen die US-Politik gegenüber den Palästinensern. Die Biden-Regierung steht von verschiedener Seite sehr unter Druck. Von den Wählern der Demokraten, besonders von den jungen Wählern, die die Administration scharf kritisieren – mit Unterstützung von amerikanischen Juden von «Voice for Peace». Auf der anderen Seite ist Druck der zionistischen Lobby um AIPAC, dem American Israel Public Affairs Committee. Die Biden-Regierung braucht einen kurzfristigen Erfolg, um die Wahlen zu gewinnen. Das wäre eine Vereinbarung zwischen Saudi-Arabien und Israel.
Aber Saudi-Arabien ist doch Mitglied bei den BRICS-Staaten. Hat es sich damit nicht schon festgelegt?
Seit Anfang 2024 ist Saudi-Arabien zusammen mit Iran, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Äthiopien neues Mitglied bei BRICS. BRICS führt eine Diplomatie, die vor allem die Kooperation der Mitglieder untereinander fördert. In Europa hören wir nicht viel darüber, als sei es unwesentlich. In unseren Medien werden uns überwiegend die Aktivitäten der USA präsentiert.
Aber gerade in der Frage Gaza-Krieg ist für BRICS, und vor allem für China und Russland, wichtig, dass zwischen den Emiraten, Saudi-Arabien und Iran gesprochen wird. Die Aussenministerien dieser drei Länder und vor allem Iran und Saudi-Arabien haben hier ihre Positionen kommuniziert. Das geschieht sehr zurückhaltend, zeigt sich aber unter anderem darin, dass die BRICS-Staaten die militärische Eskalation seitens der USA und Grossbritanniens im Roten Meer gegen die Huthi-Bewegung im Jemen ablehnen und sich nicht beteiligen. Man kann sich vorstellen, dass China darin involviert ist und natürlich den Dialog mit Saudi-Arabien, wie mit allen Golfstaaten führt. Bei den vielen Versuchen, eine Waffenstillstandsresolution im Uno-Sicherheitsrat zu erreichen, haben die arabischen Staaten intensiv mit China und Russland kooperiert. Das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und dem Iran hat sich offensichtlich entspannt. Auf der Ebene der Uno gibt es Kooperation, die bilateralen Handelsbeziehungen haben sich entwickelt.
Die USA schienen von dieser Entwicklung, die im März 2023 durch Vermittlung Chinas begann und sich positiv auf die Region auswirkte, überrascht. Nach einer ersten Schockstarre begann Washington dann, seine Blockaden in der Region wieder zu verstärken. Die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga, die Wiedereröffnung arabischer Botschaften in Damaskus, die geplante Kooperation für den Wiederaufbau und die Rückkehr syrischer Flüchtlinge wird von den USA – und der EU – weiterhin mit Sanktionen verhindert. Das spüren beispielsweise die Vereinigten Arabischen Emirate schon recht deutlich.
Die Anstrengungen der USA haben auch zum Ziel, Saudi-Arabien auf ihre Seite, auf die Seite Israels zu ziehen, um einen Keil in die Region zu treiben. Es soll eine «Frontlinie» zwischen den arabischen Staaten entstehen, die mit Iran kooperieren, und denjenigen, die der Westen als «Anti-Iran» verortet. So beschreibt es das European Council on Foreign Relations, ein europäischer Think-Tank.
Wie werden die Sanktionen gegen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) begründet?
Das bezieht sich auf das «Caesar-Gesetz» gegen Syrien. Wenn die VAE in Syrien investieren wollen, werden sie mit den Sanktionen konfrontiert, auch dafür, dass sie mit Russland kooperieren. Es gibt auch Sanktionen gegen Russland, konkret gegen Personen in Russland und in den VAE.
Ich würde gerne noch auf das angespannte Verhältnis zwischen Israel und dem Iran zu sprechen kommen. Durch den Angriff auf das iranische Konsulat in Syrien und die Reaktion Irans sowie Israels scheint eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Was bedeutet der Schlagabtausch, den wir in diesem Zusammenhang erlebt haben? Ist er vorderhand abgeschlossen oder wird er eine Fortsetzung erfahren?
Da streiten sich die Analysten. Aber es deutet vieles darauf hin, dass die Reaktion des Iran deutlich gemacht hat, welche militärischen Möglichkeiten das Land hat. Der Iran hat wegen des Angriffs auf sein Konsulat in Syrien eine Verurteilung im Uno-Sicherheitsrat gefordert. Ein Resolutionsentwurf dafür wurde von Russland vorgelegt. Die USA haben das mit Grossbritannien und Frankreich verhindert. Der Iran hat sein Recht auf Selbstverteidigung beansprucht und im Sicherheitsrat begründet mit einem Verweis auf die Angriffe Israels, die seit 15 Jahren in der Region stattfinden, auch innerhalb des Iran. Die Reaktion Irans, mit Drohnen und Raketen Israel in Absprache mit Russland und China sowie die vorgängige Information der USA und der umliegenden arabischen Staaten anzugreifen, war gut überlegt. Der Angriff auf das Konsulat kommt Israel in der Tat teuer zu stehen.
Inwiefern?
Israel hatte sich wohl überschätzt, als es diesen Angriff startete, denn eine Verurteilung kam sogar aus den USA, die klar gesagt haben, dass Israel den Angriff durchgeführt habe und es hier eine Grenze gebe, während sich die deutsche Bundesregierung auf den Standpunkt stellte, es sei unklar, wer den Angriff zu verantworten habe.
Das Eskalationspotential war doch sehr hoch?
Ja, das sieht man daran, dass Israel seine Truppen in Gaza enorm reduzierte. Es war sehr auffällig, dass sie sich innerhalb von wenigen Tagen zurückzogen und sich im Norden neu gruppierten, um sich de facto auf einen Angriff auf den Libanon vorzubereiten, der sich vor allem gegen die Hisbollah richten würde.
Es gibt innerhalb von Israel auch in der Armee enorme Konflikte. Mit dem Angriff auf das Konsulat in Damaskus und dessen Auswirkungen ist der Konflikt in der Armee deutlicher zu Tage getreten. Der Chef des militärischen Geheimdienstes ist offiziell wegen Versagens am 7. Oktober Ende April zurückgetreten. In dieser Situation zurückzutreten, war ein Signal, dass auch andere in Militär und Politik für die aktuelle Lage Verantwortung übernehmen müssen.
Woran entzündet sich der Konflikt innerhalb der Armee. Ist es ein Kampf zwischen Hardlinern und gemässigten Kräften?
Es gibt kritische Stimmen von ehemaligen (!) hochrangigen Militärs, die sich im Fernsehen äussern und den Krieg gegen Gaza als grossen Fehler bezeichnen. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Armee selbst. Allerdings erfährt man nicht viel davon, was hinter den Kulissen geschieht. Offen wird allerdings über die Erschöpfung der Soldaten und Reservisten in den Medien berichtet. Eine grosse Anzahl von Soldaten, die aus dem Gaza-Streifen zurückkommen, scheinen psychisch krank zu sein. Es gibt über 6000 solcher Fälle – diese Zahl ist vom März 2024 –, die psychologisch behandelt werden müssen. Die israelischen Medien wie Haaretz oder Times of Israel berichten darüber, wobei letztere auf der Seite der Regierung steht. Sie berichten über Konflikte und Widersprüche trotz der harten Kriegszensur. Aber es ist nicht einfach, hinter die Kulissen zu schauen.
Im Krieg in Gaza geht es im Kern um den Konflikt zwischen Israel und Palästina, um die Palästinenser. Es geht aber vor allem um Geopolitik der USA, die ihre Kontrolle in der Region mit bestimmten «Partnern» festigen wollen. Die Ausweitung von US-Militärbasen steht im Vordergrund. Aber es gelingt nicht so ohne weiteres.
Der Ukraine-Krieg weist sehr viele Parallelen auf, insbesondere, dass es nicht um die Ukraine, sondern um etwas anderes geht.
Man steckt mitten im Prozess der Formierung einer neuen Weltordnung. Im Nahen Osten, aber auch in der Ukraine sieht man, welche Instrumente die USA anwenden, die aber von China nicht angewendet werden. China, aber auch die anderen BRICS-Staaten, gehen ganz anders vor. Um Bündnisse zu schmieden, suchen sie immer wieder den Dialog. Wenn man die US-amerikanischen Medien liest, findet sich eine Debatte über den möglichen Abstieg der USA im Weltgeschehen. In einer Kolumne der Washington Post hiess es kürzlich, die USA seien auf einem «Abwärtspfad». Ohne neue Leute in der US-amerikanischen Politik seien die USA verloren.
Was machen Russland und China anders?
Allgemein kann man sagen, dass die beiden Staaten auf Diplomatie setzen und nicht auf Waffengewalt, wie wir das von den USA her kennen. Die Unterschiede werden deutlich sichtbar. Interessant ist dabei die Haltung Deutschlands immer an der Seite der USA. Es ist ein grosses Ringen um Einfluss. Blinken war in Peking, bevor er kürzlich nach Riad kam. Er traf sich dort mit dem chinesischen Aussenminister. China hat deutlich gesagt, dass es die Stationierung von Mittelstreckenraketen im asiatischen Raum nicht akzeptieren werde. Der chinesische Aussenminister hat sehr scharf und in der Wortwahl deutlich vor Medienvertretern auf Äusserungen von Blinken reagiert. Die USA versuchen, ein Militärbündnis mit den Philippinen und Japan gegen China zu konstituieren. China verfolgt seine Interessen, ja. Aber nicht mit Militärbasen, sondern durch Dialog und Handel.
Wir haben jetzt den breiteren Rahmen betrachtet. Ich möchte gerne noch nach Syrien schauen. Wie reagiert Syrien auf den Anschlag auf das iranische Konsulat, nachdem Israel syrisches Territorium verletzt und somit das Völkerrecht gebrochen hat?
Syrien gab sofort eine Erklärung über das Aussenministerium ab. Auf Antrag Russlands kam es direkt nach dem Angriff zu einer Sitzung im Uno-Sicherheitsrat. Russland legte einen Resolutionsentwurf vor, mit dem der Sicherheitsrat diesen Angriff verurteilen sollte, der aber von Grossbritannien, Frankreich und den USA zurückgewiesen wurde. Während dieser Sitzung sprach der syrische Aussenminister, der direkt neben dem iranischen Botschafter sass, deutliche Worte, in dem er die andauernde Verletzung der staatlichen Souveränität durch Israel anprangerte. Diese Vorfälle wurden von Syrien deutlich verurteilt und jeweils dem Uno-Sicherheitsrat gemeldet, in Erwartung, dass der Sicherheitsrat dieses Verhalten zurückweist. Damit sind die diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft. Doch die westlichen Veto-Mächte stellten sich immer auf die Seite Israels, so dass keine Verurteilung möglich war und bis heute nicht ist. Der iranische Botschafter hat an der Sitzung auch eine scharfe Rede gehalten. Israel hat seit diesem Vorfall schon wieder zwei- bis dreimal bombardiert. Die Angriffe sind also permanent.
Man fragt sich, wo die vom Westen bei jeder Gelegenheit bemühte «regelbasierte Ordnung» bleibt …
Das Ziel des Westens ist es, Syrien zu isolieren. Die USA haben das von mir bereits erwähnte «Caesar-Gesetz» verlängert. Man nennt es ein «Anti-Assad-Gesetz», denn solange er Präsident ist, werden die USA die Sanktionen aufrechterhalten. Die Haltung des Westens zeigt sich in der Unterstützung von Uno-Hilfsorganisationen, die mit den syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern arbeiten. Anstatt Syrien zu stabilisieren und zu helfen, damit die Menschen zurückkehren können, wird dafür bezahlt, dass man sie in Flüchtlingslagern behält.
Steckt hier nicht auch das Ziel dahinter, die Menschen zu politisieren und im Kampf gegen die Regierung zu missbrauchen?
In gewissem Sinne ist das ein Ziel. Syrien ist teilweise besetzt, wo es bereits bewaffnete Gruppen gibt, die von aussen unterstützt werden. Wir haben die USA bei den Ölfeldern, die die dort agierenden politischen und militärischen Strukturen der Kurden militärisch unterstützen, aber nicht, um sich gegen die Türkei verteidigen zu können. Seit Monaten greift die Türkei Kurdenstellungen an, aber die USA halten sich sehr zurück. Letztlich benutzen die syrischen Kurden auch Waffen, die sie von den USA bekommen hatten. Idlib ist unter der Kontrolle der Türkei – wohlgemerkt ein Nato-Mitgliedsstaat. Dort befinden sich dschihadistische Gruppen um die Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS), die aus der Nusra-Front und Al-Kaida hervorgegangen sind. Sie werden vom Westen durch Hilfsprogramme stabilisiert. Das trifft sowohl auf den Nordosten in Syrien zu als auch auf die Gebiete im Norden von Aleppo, die unter der Kontrolle der Türkei stehen. Die Türkei finanziert in Idlib eine sogenannte Nationale Syrische Armee, die sie aufgebaut hat und die unter dem Kommando der Türkei steht. Im Süden von Syrien liegt der Militärstützpunkt der USA bei Tanf, wo ebenfalls bewaffnete Kräfte ausgebildet werden.
Es gab doch einen Entspannungsprozess zwischen Syrien und der Türkei. Ist der nicht erfolgreich gewesen?
Man hat sich auf der Ebene der Geheimdienste, der Aussenminister und der Verteidigungsminister getroffen. Das wurde durch Russland vermittelt im sogenannten Astana-Format, aber das stagniert. Russland hat sich bemüht, ein Treffen zwischen Erdoğan und Assad zu organisieren. Das war vor drei Jahren. Aber Assad hat gesagt, solange türkische Truppen in Syrien stehen, geht das nicht. Die Position der Türkei in Bezug auf Syrien ändert sich an dem Punkt nicht, zumal sie ja Mitglied der Nato ist. Russland versucht mit den arabischen Staaten, die Beziehungen zu verbessern. Syrien soll geographisch umgangen und isoliert werden. Man lässt den Konflikt ruhen.
Russland ist mit der Ukraine und der Nato anderweitig beschäftigt. China hatte Assad zu einem einwöchigen Besuch eingeladen. Dabei wurden einige Verträge wirtschaftlicher Natur und eine strategische Partnerschaft besprochen. Auf der Ebene der zivilen Beziehungen, der Ausbildung, der medizinischen Versorgung werden die Kontakte intensiviert. Der grosse Durchbruch steht noch aus, weil China die Beziehungen zu Syrien in einem stabilen Umfeld mit Iran und den Golfstaaten ausbauen will. Durch die Blockadehaltung und die Politik der USA wird eine positive Entwicklung behindert. Syrien ist in einer sehr, sehr misslichen Lage.
Wie sind die Lebensbedingungen für die Menschen in Syrien?
Es gibt keinen umfassenden Wiederaufbau. Die syrische Regierung hat sich darauf konzentriert, die Infrastruktur wieder aufzubauen, Strassen, Brücken, Krankenhäuser, Schulen. Alles, was für die Öffentlichkeit wichtig ist. Was aber nicht vorankommt, ist der Wohnungsbau. Der Staat hat kein Geld und kann Baumaschinen und Baustoffe nur schwer zur Verfügung stellen. Die Inlandsvertriebenen leben nicht in Lagern, auch nicht in ihren Häusern, sondern sind woanders – bei Verwandten oder Freunden – untergekommen. Dadurch, dass so viele Menschen ausserhalb von Syrien leben, zum Beispiel in der Türkei, in Jordanien oder im Libanon stehen viele Häuser leer, und es geschieht nichts. Es gibt in Syrien ein Gesetz, wonach das Eigentum nicht angetastet werden darf. In der Altstadt von Damaskus haben wir heute noch Häuser von Juden, die in den 50iger Jahren nach Israel ausgewandert sind und ihre Häuser einfach abgeschlossen haben. Sie stehen heute noch so dort. Da geht niemand dran. Das ist in Homs ein grosses Problem, weil dort sehr viel zerstört worden ist. Viele Menschen sind geflohen und leben in Flüchtlingslagern in Idlib, während ihre Häuser unangetastet bleiben.
Man kann also nüchtern feststellen, dass die Menschen in Syrien immer noch stark unter den Folgen des Bürgerkriegs leiden.
Besonders schwierig ist die landwirtschaftliche Situation. Syrien ist ein Agrarland, aber die industrielle Verarbeitung von Obst und Gemüse in der Region kann nicht mehr in dem Umfang durchgeführt werden, weil es an Energie fehlt. Es gibt kaum Treibstoff und häufige Stromausfälle. Der Staat hat die Subventionen zurückgezogen, weil er nicht mehr in der Lage ist, sie zu finanzieren. Ein Liter Benzin kostet daher bis zu 1,30 Euro, in einem Land, das keine Euros hat, sondern ein schwaches syrisches Pfund, das sich zwar etwas stabilisiert hat und bei 22 000 syrischen Pfund für einen Dollar liegt. «Wen Allah liebt, der hat Angehörige im Ausland», heisst es übrigens nicht nur in Syrien. Diese Angehörigen schicken Geld an ihre Familien, so dass sie sich beispielsweise Solarpanele leisten können. Solarpanele auf den Dächern boomen. Es soll eine Fabrik gebaut werden, in der Solarpanele hergestellt werden können. Das reicht jedoch nicht aus, um Fabriken im Land mit Energie zu versorgen. Auch die kontinuierliche Produktion von Strom durch Elektrizitätswerke ist nach wie vor ein riesiges Problem.
Bekommt Syrien bei der wirtschaftlichen Misere Unterstützung von Russland oder China?
Ja, es bekommt Unterstützung wie zum Beispiel Öl von Iran, wenn es den Iranern gelingt, mit den Schiffen durch den Suez-Kanal zu fahren, was nicht einfach ist. Auch Russland gibt Unterstützung, aber nicht in dem Ausmass, wie es nötig wäre. Auch China engagiert sich in Syrien. Jedoch ist das Land in einem sehr desolaten Zustand und je länger die Sanktionen und die Teilung anhält, desto mehr vertiefen sich die Probleme. Aber wenn es gelingt, einen Ausgleich unter den arabischen Staaten in der Region zu finden – was die Bestrebungen von China sind – würde dies die Situation in Syrien wahrscheinlich um einiges verbessern.
Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
«Ungeheuerliche Entwicklung» – UNRWA-Hauptquartier in Jerusalem nach Brandanschlag jüdischer Siedler geschlossen
Mitteilung von Philippe Lazzarini, UNRWA per X
Heute Abend setzten israelische Bewohner das Gelände des UNRWA-Hauptquartiers im besetzten Ostjerusalem zweimal in Brand.
Dies geschah, während sich Mitarbeiter des UNRWA und anderer UN-Organisationen auf dem Gelände aufhielten.
Zwar gab es keine Verletzten unter den Mitarbeitern, doch verursachte das Feuer erhebliche Schäden an den Aussenanlagen. Auf dem Gelände des UNRWA-Hauptquartiers befindet sich eine Benzin- und Dieseltankstelle für den Fuhrpark der Organisation.
Unser Direktor musste mit Hilfe anderer Mitarbeiter das Feuer selbst löschen, da die israelische Feuerwehr und die Polizei erst nach einiger Zeit eintrafen.
Eine von bewaffneten Männern begleitete Menschenmenge wurde ausserhalb des Geländes beobachtet, wie sie «Brennt die Vereinten Nationen nieder» skandierte (siehe Video in der Quelle aus israelischen Medien).
Dies ist eine ungeheuerliche Entwicklung. Wieder einmal war das Leben von UN-Mitarbeitern ernsthaft in Gefahr.
Angesichts dieses zweiten entsetzlichen Vorfalls in weniger als einer Woche habe ich beschlossen, unser Gelände zu schliessen, bis die Sicherheit wiederhergestellt ist.
In den vergangenen zwei Monaten haben israelische Extremisten vor dem UNRWA-Gelände in Jerusalem Proteste veranstaltet, zu denen ein gewähltes Mitglied der Jerusalemer Gemeinde aufgerufen hatte.
In dieser Woche wurden die Proteste gewalttätig, als Demonstranten Steine auf UN-Mitarbeiter und auf die Gebäude des Geländes warfen.
In den vergangenen Monaten wurden die UN-Mitarbeiter regelmässig schikaniert und eingeschüchtert. Unser Gelände wurde schwer verwüstet und beschädigt.
Bei mehreren Gelegenheiten bedrohten israelische Extremisten unsere Mitarbeiter mit Gewehren.
Es liegt in der Verantwortung des Staates Israel als Besatzungsmacht, dafür zu sorgen, dass das Personal und die Einrichtungen der Vereinten Nationen zu jeder Zeit geschützt sind.
Das Personal der Vereinten Nationen, ihre Räumlichkeiten und ihre Aktivitäten sollten jederzeit im Einklang mit dem Völkerrecht geschützt werden.
Ich appelliere an alle, die Einfluss haben, diesen Angriffen ein Ende zu setzen und alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Urheber dieser Angriffe müssen ermittelt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Alles andere würde einen neuen gefährlichen Standard setzen.
Quelle: www.palestinechronicle.com/outrageous-developmnent-unrwa-jerusalem-hq-closed-after-jewish-settler-arson-attack/
(Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus)
veröffentlicht 15. Mai 2024
«Eine Institution, eine Akademie und ein Ort, an dem Träume wahr werden» – gezielt zerbombt
Sumud – Der gewaltlose Widerstand geht weiter
Der Krieg gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen geht einher mit einer gezielten Vernichtung der Landwirtschaft und damit der Nahrungsmittelversorgung.¹ Dazu gehört auch die Bombardierung der Zweigstelle der PARC, (Palestinian Agricultural Relief Committees) in Gaza. PARC, mit Hauptsitz in Ramallah, ist eine der wichtigsten landwirtschaftlichen Organisationen zur Unterstützung der lokalen Landwirtschaft in der West Bank und im Gazastreifen.²
Am 25. April erhielt ich eine E-Mail: «Grüsse aus Palästina. Der brutale Völkermord im Gazastreifen ist noch immer im Gange, und auch die zivilen und Hilfsorganisationen bleiben von der Zerstörung nicht verschont. Anfang 2024 wurde das Gebäude der Hauptniederlassung der PARC (Palestinian Agricultural Relief Committees) in Gaza-Stadt von israelischen Kampfflugzeugen vollständig zerstört (Bild beigefügt), im Anhang dazu eine arabische Nachricht der PARC-Zweigstelle im Gazastreifen ins Englische übersetzt. Trotz alledem, wir werden die Hoffnung für Gaza wieder und immer wieder aufbauen.
Mit herzlichen Grüssen
Saleem Abu Ghazaleh,
General Manager
Al Reef Fair Trade, Ramallah»
Die der E-Mail beigefügte Übersetzung des arabischen Textes der Mitarbeiter der PARC in Gaza ist erschütternd:
«Es ist eine Institution, eine Akademie und ein Ort, an dem Träume wahr werden […]. Es ist ein blühender Blumengarten und ein wunderschöner Obstgarten, mit Liebe erfüllt, Leidenschaft und Leben. Es ist unsere ehrwürdige Institution, unser Archiv, es ist der Ort, an dem wir uns treffen und unseren Geist stärken.
In all seinen Einzelheiten bleibt dieser Ort in unseren schönen und traurigen Erinnerungen lebendig. Es war nicht nur ein Arbeitsplatz, es war unser zweites Zuhause, in dem wir unser Leben verbrachten. Das sind nicht nur einfach Ziegelsteine, sondern in jeder Ecke sind liebgewonnene Erinnerungen, die sich in unser Gedächtnis eingraviert haben.
Die Türen der PARC standen den Bauern offen, um Projekte zu verwirklichen, die landwirtschaftliche Produktion zu entwickeln und die Widerstandsfähigkeit der Bauern, der Jugend, der frisch diplomierten Ingenieure, der Kleinunternehmer und der Unternehmer zu fördern. Wir waren wie ein Bienenstock, unermüdlich in unserer Arbeit.
So entstanden Erfolgsgeschichten, wir holten viele aus dem Elend von Armut und Arbeitslosigkeit, hauchten ihnen neues Leben ein und gaben ihnen Hoffnung. Es war ein Obstgarten, in dem die Träume der Angestellten und Bauern aufblühten und leidenschaftlich verfolgt wurden. Dieser Ort war ein Generator für Ideen, die leuchten und sich auf den Weg machen, das Licht der Welt zu erblicken.
Ähnlich wie Gaza sind wir von der Zerstörung ergriffen worden, unsere Träume wurden zwischen den Trümmern verstreut. Heute stehen wir auf diesen Ruinen, trauern um unseren Verlust und vergiessen Tränen über unsere Unterdrückung.
Die palästinensischen
landwirtschaftlichen
Unterstützungskomitees (PARC)»
Massivste Schäden in der Landwirtschaft
Die Zerstörungen im Kriegsgebiet sind horrend. PARC Gaza geht davon aus, dass im Norden des Gazastreifens – dem ertragreichsten Gebiet für Obst und Gemüse – ein Viertel aller landwirtschaftlichen Einrichtungen vernichtet worden sind. Rund 70 Prozent aller Fischerboote sind unterdessen unbrauchbar.
«Die nächsten zwei Monate sollten eigentlich die ‹goldene Zeit› der landwirtschaftlichen Produktion sein», so Hani Al Ramlawi von PARC Gaza Ende Februar 2024, «doch die wenigen landwirtschaftlichen Betriebe, die nicht zerstört wurden, können aus Angst der Menschen, zum Ziel von Angriffen zu werden, nicht betreten werden – und ohne Wasser und Strom ist Ackerland ohnehin nichts wert.»
Das diesjährige Ausbleiben der Ernten verschlimmert «nicht nur die ohnehin schon schlimme humanitäre Lage, sondern wird auch schwerwiegende langfristige Auswirkungen haben. Diese Krise wird zum Zusammenbruch der Landwirtschaft im Gazastreifen für viele Jahre führen», so Hani Al Ramlawi.³
Trotz der verzweifelten Lage und der Zerstörung ihres Zentrums arbeiten die Mitarbeiter von PARC weiter, indem sie unermüdlich nach Möglichkeiten suchen, um das Überleben der Bevölkerung zu sichern. Die internationale Solidarität und die Unterstützung humanitärer und Uno-Organisationen sind dabei eine wichtige Unterstützung.
Die Hauptniederlassung der PARC in Gaza vor und nach der israelischen Bombardierung. (Quelle PARC)
Im Krieg ging und geht die Arbeit weiter4
Am 10. und am 18. Oktober 2023 hatte sich PARC mit einem «Aufruf zur Beendigung der Massaker der israelischen Besatzung an unserem Volk im Gazastreifen» an die internationale Öffentlichkeit gewandt und berichtete unter anderem, dass «der gezielte Angriff der israelischen Besatzer auf das Al-Ahli Krankenhaus im Stadtteil Al-Zaitoun in Gaza Stadt» über 500 Tote gefordert hat, «darunter zahlreiche Frauen und Kinder».
Wenige Tage später liefen die Hilfsaktionen von PARC an: «Im Rahmen ihres Planes, 100 000 Bürger im Gazastreifen zu unterstützen, die unter Wasser- und Nahrungsmittelknappheit leiden, beginnt die Agrarhilfe mit der Verteilung von 3000 Gutscheinen. […] Diese Gutscheine decken einen Teil des Grundbedarfs an Lebensmitteln für Familien, die von ihren Wohnorten in Rafah, Kahn Younis und im zentralen Gazastreifen vertrieben worden sind.» Pakete mit Babymilch und Windeln, Hygieneartikel für Frauen und Familien folgten.
«Angesichts des gravierenden Mangels an Lebensmitteln und sauberem Wasser beginnt PARC mit der Verteilung von Trinkwasser in ‹Tal al Sultan› », bereits auf den Transport mit Pferdewagen angewiesen, so in den News von PARC vom 26. Oktober 2023.
Am 6. November 2023 kündigt PARC «die Einrichtung einer gebührenfreien Notrufnummer an, unter der Beschwerden und Vorschläge unserer Bevölkerung im Gazastreifen entgegengenommen werden können.»
Obwohl die Lage im Gazastreifen seither katastrophalste Ausmasse angenommen hat, arbeiten die Mitarbeiter von PARC Gaza auf Hochtouren weiter, Hand in Hand mit anderen gemeinnützigen Organisationen. Am 11. März 2024 wird über die Verteilung von Kleiderpaketen für vertriebene Familien aus Khan Yunis berichtet.
Neu bietet PARC Gaza auch «640 Arbeitstage für Hochschulabsolventen und Agraringenieure an, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern und ihnen eine Einkommensquelle zu verschaffen. Bei dieser Gelegenheit konnten die Begünstigten an der Organisation von Gemeinschaften und der Bildung von Schutzkomitees in den Unterkünften mitarbeiten, ausserdem an der Überwachung, Weiterverfolgung, Verteilung und Bewertung der Bedürfnisse der Vertriebenen sowie an der Erstellung einer Datenbank der vertriebenen Familien», so die News von PARC vom 13. März 2024.
Am 19. März begann die PARC in Zusammenarbeit mit dem World Food Programm (WFP) mit der Verteilung von 45 000 Lebensmittelpaketen für Familien in Notunterkünften und Zeltlagern: «Die begünstigten Familien erhalten jeweils zwei Lebensmittelpakete am Anfang und am Ende eines jeden Monats. Die Verteilung erfolgt schrittweise, da die Zahl der betroffenen Familien gross ist und der Zugang zu einigen Gebieten, vor allem in der Nähe der israelischen Militäroperationen in der Region, schwierig ist.» Am 20. März berichtet PARC, dass sie in Notunterkünften in der Region Rafah Wasser- und Abwassersysteme und sanitäre Anlagen saniert haben, die von der Islamic Relief Foundation France finanziert werden.
Fast täglich wird über die weiteren Arbeiten von PARC Gaza berichtet, so auch am 29. April: «Die Agricultural Development Association (Agricultural Relief) und das Community Protection Committee (CPC) haben im Rahmen des von der Europäischen Union in Partnerschaft mit Action Against Hunger (AAHa) finanzierten Projekts ‹Promoting Economic Opportunities, Psychosocial Support and Shared Livelihoods› (Förderung wirtschaftlicher Chancen, psychosoziale Unterstützung und gemeinsame Lebensgrundlagen) eine Gemeinschaftsinitiative zur Sanierung der sanitären Anlagen in der Unterkunft für Vertriebene am Palestine Technical College in Deir Al Balah gestartet. Während der Initiative wurden Lösungen für die wichtigsten Probleme gefunden, unter denen die Binnenvertriebenen in der Unterkunft litten, und zwar durch mehrere Massnahmen, darunter die Wasserversorgung, bei der eine ständige Stromquelle aus Solarenergie für den Brunnen am Palestine Technical College bereitgestellt wurde. Die Umsetzung der Gemeinschaftsinitiative führte dazu, dass der Brunnen acht Stunden am Tag in Betrieb war, […] was dazu beitrug, 70 Prozent des Leidens der Binnenvertriebenen und der Wasserknappheit zu beheben.
Die zweite Massnahme der Gemeinschaftsinitiative ‹Sanierung des Abwassernetzes› durch den Ausbau eines kompletten Abwassernetzes im Zentrum der Hochschule trug zur Sauberkeit der Unterkunft in der Hochschule bei und beseitigte die üblen Gerüche und die Verbreitung von krankheitsübertragenden Insekten unter den Binnenvertriebenen. Die Initiative umfasste auch eine dritte Massnahme, die die Sterilisierung und Reinigung der Unterkunft in der technischen Hochschule durch die Reinigung der Böden, der Badezimmer, der Zimmer und des Aussenhofs der Hochschule beinhaltete.»5
Am 2. Mai berichtet PARC, man habe für die Japan International Cooperation Agency 3780 Lebensmittelpakete für 21 168 Vertriebene verteilen können: «Jedes Paket enthielt eine ausreichende Menge an Lebensmitteln, um eine fünfköpfige Familie eine Woche lang zu ernähren, wobei ein Teil des Inhalts für schwangere und stillende Frauen bestimmt war, da diese gesundheitlich sensibel sind, und eine Reihe von Lebensmitteln abdeckt, um eine ausgewogene Mahlzeit zu enthalten.»
Eine der Grundlagen für den Willen und die Energie der Mitarbeiter von PARC, um auch in den schlimmsten Kriegswirren unermüdlich im Dienste des Gemeinwohles tätig zu sein, ist «Sumud».
Sumud – Der gewaltlose Widerstand geht weiter (Bild https://pal-arc.org/en )
«Sumud», ein «nationales palästinensisches Konzept»⁶
Der arabische Begriff «Sumud» steht für den Willen und die Entschlossenheit der palästinensischen Bevölkerung in ihrem Land und auf ihrem Grund und Boden zu bleiben und sich nicht durch den israelischen Siedlerkolonialismus vertreiben zu lassen. Schon die palästinensischen Kinder wissen: «To exist is to resist».
Sumud war auch grundlegend für die Bildung von Gesundheits-, Frauen- und Landwirtschaftskomitees, die in den 1970er und 80er Jahren auf freiwilliger Basis gegründet worden waren. So gründete eine Gruppe von Agronomen 1983 PARC mit dem Ziel, mit friedlichen Mitteln ganz konkret gegen die israelische Besatzung Widerstand zu leisten, indem sie die palästinensischen Kleinbauernfamilien bei der Kultivierung ihres Landes und den Produktionstechniken erfolgreich unterstützten, um in und auf ihrem Land bleiben zu können – bis heute. Und diese Arbeit geht weiter trotz alledem! ν
¹ Nach dem Angriff der Kassem-Brigaden aus dem Gazastreifen auf Israel äusserte sich der israelische Kriegsminister: Yoav Gallant ordnete eine «vollständige Belagerung» des Gazastreifens an, «keine Elektrizität, keine Lebensmittel, kein Treibstoff» dürfe in den Gazastreifen gelangen. CSIS Center for Strategic and International Studies, Famine in Gaza, 11. April 2024.
² https://pal-arc.org/en
³ Hani Al Ramlawi zitiert in: Oxfam Deutschland, Zerstörung der Landwirtschaft im Gazastreifen verschärft Hunger und Unterernährung, Pressemitteilung vom 27. Februar 2024
4 https://pal-arc.org/en
5 Vgl. https://pal-arc.org/news/en
⁶ Alexandra Rijke Toine Van Teeffelen, To Exist Is To Resist: Sumud, Heroism, and the Everyday, Institute for Palestine Studies, Jerusalem Quarterly, Issue 59, Summer 2014.
veröffentlicht 15. Mai 2024