«Es ist unabdingbar, die alten Rahmenbedingungen für eine Lösung zwischen Israel und Palästina wieder herzustellen»

Interview mit Pierre Krähenbühl, Uno-Generalkommissar für Palästina-Flüchtlinge

Pierre Krähenbühl (Bild thk)
Pierre Krähenbühl (Bild thk)
Kurz nach der Gründung des Staates Israel 1948 entstand das Uno-Flüchtlingshilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge (UNRWA). Bis heute ist das Flüchtlingsproblem von damals nicht gelöst und stellt den staatlichen Akteuren und der viel beschworenen internationalen Gemeinschaft ein schlechtes Zeugnis aus. Der Krieg in Syrien hat die Situation der dort lebenden Palästina-Flüchtlinge dramatisch verschärft und die UNRWA neben den schon bestehenden Aufgaben vor eine neue, riesige Herausforderung gestellt. Denn noch immer konnten seit dem Gaza-Krieg im Jahre 2014 70 000 Familien nicht in ihre Häuser und Wohnungen, die durch die Bombardierung der Israeli zerstört wurden, zurückkehren. Die Lage dort ist prekär und eine Verbesserung der Gesamtsituation in weiter Ferne. Vor welchen Aufgaben das Uno-Flüchtlingswerk steht und wie die Situation einzuschätzen ist, erklärt im folgenden Interview der Chef der UNRWA, Uno-Generalkommissar Pierre Krähenbühl.
 
Zeitgeschehen im Fokus: Wie muss man sich die humanitäre Situation heute, drei Jahre nach dem letzten Krieg im Gaza-Streifen, vorstellen?
 
Pierre Krähenbühl: Man muss versuchen, das möglichst von einer individuellen Perspektive aus zu betrachten. Dabei geht es nicht um meine Perspektive, sondern um die unserer Studenten. Die UNRWA hat 260 000 Schülerinnen und Schüler in 150 Schulen im Gaza-Streifen. Über 90 % der jungen Menschen haben den Gaza-Streifen in ihrem Leben noch nie verlassen. Das heisst, sie kennen nichts anderes. Die Jugend, die hier aufwächst, ist in ihrem Leben keinem Israeli begegnet. Also ganz anders als in der Konfliktdynamik. Im Gegensatz zu ihren Eltern und Gross­eltern, die die Israeli noch persönlich kannten, ist das heute nicht mehr der Fall.
 
Was bedeutet das für die Dynamik im Israel-Palästina-Konflikt?
 
Ich denke, das ist als Grundlage für Zukunftsperspektiven und eine friedliche Ausgangslage ein grosses Problem. Man diskutiert ja oft über die Zerstörungen im Gaza-Streifen nach dem Krieg im Jahre 2014. Ein Wiederaufbau hat stattgefunden. Das ist sehr wichtig, aber 50 % sind immer noch zerstört. Das bedeutet, dass die Menschen noch nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten. Es gibt Bilder von der Situation vor und nach dem Konflikt. Wenn man sich diese anschaut, dann sieht man, dieser Stadtteil wurde wieder aufgebaut, dieser noch nicht. Ich beschreibe das deswegen, denn das ist die physische Problematik. Daneben gibt es die psychologische Problematik, und die hat eine katastrophale Dimension angenommen.
 
Das kann man sich vorstellen. Wie zeigt sich das?
 
Ich schaue einmal nicht auf die politische, sondern bewusst auf die menschliche Problematik. Und das muss man sich einmal vorstellen. Eine Million Menschen von 1,9 Millionen im Gaza-Streifen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, die sie von der UNRWA bekommen. Das ist wichtig, dass sie diese bekommen, aber es ist auch eine internationale Schande. Tatsache ist, dass sich heute eine Million Menschen auf Nahrungsmittelverteilung verlassen müssen, wobei die Leute gut ausgebildet sind und als Angestellte gearbeitet oder sogar eine eigene Firma geführt haben. Sie exportierten nach Israel, ins Westjordanland, nach Europa und haben jetzt aufgrund der Konfliktdynamik und der Blockade alles verloren. Psychologisch geht das sehr tief.
 
Wie stellt sich das im täglichen Leben dar?
 
Ich habe vor kurzem eine Familie besucht. Ein Familienmitglied sitzt im Gefängnis in Israel, ein anderes im Gefängnis in Gaza, ein Sohn wurde verletzt während des Krieges von 2014. Der Siebenjährige steht vor mir. Er ist krebskrank, und es ist unmöglich für ihn, den Gaza-Streifen zu verlassen, um eine medizinische Behandlung zu bekommen. Das ist zwar ein Einzelfall, wenn man das dann auf die anderen überträgt, sieht es äusserst prekär aus.
 
Wie sind die Perspektiven für die Jugend im Gaza-Streifen?
 
Man muss sich vorstellen, 65 % der Jugendlichen haben keine Arbeit. Solche Zahlen können wir uns nicht vorstellen. Das ist natürlich keine Grundlage für Stabilität und Würde. Das muss irgendwann einmal geändert werden. Das ist im Moment die Ausgangslage im Gaza-Streifen.
 
Sie haben am Anfang erwähnt, dass 50 % wieder aufgebaut worden sei. Was heisst das in konkreten Zahlen? Wie viele Menschen sind davon betroffen?
 
Im Gaza-Streifen leben 70 % der Bevölkerung in Flüchtlingslagern, und in diesen waren über 140 000 Häuser entweder leicht beschädigt oder vollständig zerstört worden. Die leichten Beschädigungen konnte man mit verteiltem Geld relativ schnell wieder aufbauen. Da liegt die Quote etwa bei 60 %. Hier konnten ungefähr 70 000 wieder in ihre Häuser zurückkehren. Das grösste Problem bestand bei den Häusern, die völlig zerstört waren, denn es brauchte Baumaterial, und das kommt nicht leicht nach Gaza.
 
Womit hängt das zusammen?
 
Es geht um die Lieferungen von Zement und die Frage, wofür er im Gaza-Streifen gebraucht oder gar missbraucht wird. Hier möchte ich kurz betonen, ich habe oft mit israelischen Generälen die Diskussion geführt und sie gefragt, ob sie konkrete Angaben hätten, dass das Baumaterial, das von UNRWA importiert wurde – und ich kann nur darauf Einfluss nehmen – missbraucht wurde. Die Antwort war immer ganz klar: Nein. Insofern wissen wir, dass die Israeli wissen, wenn UNRWA Baumaterial hereinbringt, dass dieses auch für die Schulen und die Häuser sehr konkret gebraucht wird. Aber 70 000 Familien haben noch keine Lösung.
 
Damit stehen Sie immer noch vor einer grossen Aufgabe.
 
Ja, das ist eigentlich unglaublich, wenn man sich überlegt, was die Menschen erleben. Man muss sich das vorstellen, wir sind bereits drei Jahre nach dem Konflikt. Teilweise ist es wirklich ein Problem des Baumaterials, aber es ist natürlich auch eine finanzielle Frage. Nicht alle Geberländer haben ihre Versprechen von der Kairo-Geber-Konferenz eingehalten.
 
 
Wo sehen Sie die Hauptursachen des Konflikts, und sehen Sie unter dem Aspekt des Völkerrechts eine Lösung?
 
Da kann man zwei Dinge dazu sagen. Zum einen ist es ein bewaffneter Konflikt, bei dem die Genfer Konventionen uneingeschränkt anwendbar sind. Vor allem die Vierte Konvention, die auch das Problem, das in den besetzten Gebieten besteht, zum Inhalt hat. Der Rahmen des humanitären Völkerrechts ist ganz klar. Da kommen wir auch nicht darum herum: Siedlungen werden darin ganz klar als illegal anerkannt, was übrigens auch vor kurzem vom Uno-Sicherheitsrat bestätigt wurde. Weil es ein polarisiertes Umfeld ist, werden diese Fragen natürlich oft diskutiert, kommentiert und kritisiert. Wenn man sich aber überlegt, dass eine Organisation wie die UNRWA, die 1949 als Übergangslösung geschaffen wurde, heute noch existiert, dann ist das auch eine Erinnerung an das Versagen der Politik, auch wenn die UNRWA gute Arbeit leistet – und darauf bin ich sehr stolz – und vielen Menschen, vor allem auch Jugendlichen, geholfen hat.
 
Wo sehen Sie einen Ausblick?
 
Ich möchte nicht UNRWA Schulen besuchen, und dass die Studenten dort mich oder die UNRWA als ihre Zukunftsperspektive sehen. Das darf nicht sein. Deswegen war es so wichtig, dass der Generalsekretär Antonio Guterres die Konfliktprävention und die Konfliktlösung betont hat. In den letzten 20 Jahren hat sich die internationale Gemeinschaft auf Konfliktmanagement konzentriert. Konflikte kann man managen, man kann sie begleiten. Wenn man das Konfliktmanagement so weiter betreibt, wird die UNRWA noch weitere 70 Jahre bestehen bleiben. Eine ganz wichtige Frage ist heute: Werden wir die Philosophie oder die Kultur des politischen Handelns und der Diplomatie wieder mit mehr Energie anpacken können? Es ist unabdingbar, dass man die alten Rahmenbedingungen für eine Lösung zwischen Israel und Palästina wieder herstellt.
 
Steht dies nicht auch für weitere Konflikte an?
 
Ja, natürlich, in Syrien, im Jemen, in Libyen, in Somalia. Ich kenne das auch noch aus meiner IKRK-Zeit. Es gibt sicher noch andere Konflikte als Israel-Palästina, aber wenn diese Kernfrage nicht gelöst ist, dann gibt es keine Stabilität. Das hat Auswirkungen auf die Nachbarländer, aber auch auf die weitere Region. Europa hat vielleicht zu lange gedacht, dass diese Dinge sich sehr weit weg von uns abspielen und uns nicht direkt tangieren: Die Probleme sind zwar nicht gelöst, aber sie betreffen nur die Region dort. Jetzt sieht man den Druck auf Europa, was zeigt, dass man das nicht mehr trennen kann.
 
Wie könnte man denn zu einer tragfähigen Lösung der Palästina-Frage kommen?
 
Die Grundlage für die Uno ist die Zweistaatenlösung. Das sagt der Uno-Sicherheitsrat, und das bestätigt auch der Generalsekretär. Natürlich ist sie anspruchsvoll und schwierig durchzusetzen, sie ist aber nicht unmöglich, jedoch muss man jetzt handeln. Wenn ich mit Diplomaten oder Politikern spreche, und ich hier grosse Skepsis gegenüber der Zweistaatenlösung höre, kann das aber auch eine Kapitulation vor dieser Frage sein, wenn ich die Zweistaatenlösung für unmöglich erkläre. Die Grundlage der Uno bleibt die Zweistaatenlösung.
 
Welche Auswirkungen hat der Syrien-Krieg auf die Lage der Palästina-Flüchtlinge?
 
Das hat grosse Auswirkungen. Vor dem Konflikt lebten 560 000 Palästina-Flüchtlinge in Syrien, davon 80 % in Damaskus und der unmittelbaren Umgebung, aber auch in Aleppo, in Homs oder im Süden in Daraa. Was mich in diesem Zusammenhang am meisten bewegt, ist, dass eine neue Generation von Palästina-Flüchtlingen erneut eine Vertreibung miterleben muss. 60 % sind interne Vertriebene und 120 000 haben das Land verlassen. Vor dem Krieg ging es ihnen nicht schlecht. Die meisten hatten einen guten Zugang zu Arbeitsplätzen, und somit waren sie fast selbständig. Sie haben natürlich auf eine politische Lösung gewartet. Von der UNRWA haben sie eigentlich nicht so viel erwartet, ausser dass sie in Notlagen helfen kann. Die wenigsten brauchten soziale Unterstützung oder gar humanitäre Nothilfe.
 
Wie ist das heute?
 
Jetzt sind 90 bis 95 % auf unsere Unterstützung angewiesen, sie haben die Arbeitsplätze verloren, sie haben ihre Häuser verloren, sie haben Freunde und Familienmitglieder verloren. Ich glaube, dass die jüngere Generation aus Erzählungen der Grosseltern von 1948 und 1967 erfahren hat. Wahrscheinlich dachten sie, dass es wichtig sei, aber als ein Teil der Vergangenheit ihrer Eltern und Grosseltern. Jetzt machen sie selbst die Erfahrung und erleben, was das heisst, alles zu verlieren. Das war für viele ein Schock, auch für die Palästina-Flüchtlinge an anderen Orten, vor allem weil sie wieder daran erinnert wurden, dass für sie nichts garantiert ist.
 
Wenn Sie den Gaza-Streifen mit dem Westjordanland vergleichen, wo ist das Leben erträglicher?
 
Wenn wir unter Lebensqualität den Zugang zu Wasser, zu Elektrizität und zu Arbeitsplätzen verstehen, dann ist das Westjordanland entschieden besser dran als der Gaza-Streifen. Wenn man die Bewegungsfreiheit betrachtet – und diese ist im Gaza-Streifen auch sehr eingeschränkt – aber im Westjor-danland kann man sozusagen nicht von Jenin im Norden nach Hebron im Süden fahren. Dieser Vergleich enthält also verschiedene Aspekte. Was aber häufig zu wenig beachtet oder vielleicht auch zu wenig beschrieben wird, ist, was es bedeutet, 50 Jahre unter einer Besatzung zu leben. Man kann seine eigene Zukunft weder planen noch definieren. Es wird einem nicht erlaubt, sich frei zu bewegen. Auch kommt es in den verschiedenen Lagern immer wieder zu militärischen Einsätzen von Israel. Dort wird jemand festgenommen, da kommt jemand ums Leben. Ich bin 1966 geboren. Wäre ich in Jenin geboren, dann hätte ich mein ganzes Leben unter Besatzung verbracht. Man muss sich einmal vorstellen, was das heisst. Ich will damit nicht sagen, dass die Israeli keine Sorgen haben in Fragen von Sicherheit. Aber das hat nichts mit der Besatzung zu tun, denn das findet ausserhalb der Grenzen von 1967 statt. Was das für die Schüler und Studenten im Westjordanland heisst, das darf man nicht unterschätzen.
 
Sie erwähnten immer wieder die Schülerinnen und Schüler, wo liegt der Schwerpunkt bei der Bildungsarbeit?
 
Ich bin natürlich kein Bildungsexperte. Was mir aber auffällt, ist, dass man sich bisher in der humanitären Arbeit sehr wenig auf Bildung konzentriert hat. Man ist allgemein der Meinung, dass man in einer Krisensituation sich auf die medizinische Versorgung konzentrieren, Leben retten und Nahrungsmittel verteilen und andere Notunterstützung bereitstellen müsse. Wenn sie bei UNRWA einen Studenten oder einen Schüler in einer Krisensituation sehen, dann werden sie erst einmal als Opfer betrachtet. Man sieht sie und denkt, dass sie erst einmal Nahrungsmittel, Wasser, medizinische Versorgung etc. brauchen. Wenn man aber an Bildung denkt, dann betrachtet man den Studenten oder die Studentin als Person mit Zukunftsperspektiven, mit der Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln, und als Akteur der eigenen Zukunft. Das sind Betrachtungsweisen, die sind im humanitären Bereich fast revolutionär. Man sieht die Person als Person und nicht als Opfer.
 
Wie beurteilen das die Studenten selbst?
 
Sie sehen das, dass sie Flüchtlinge, dass sie Opfer der historischen Entwicklung sind. Aber sie wollen auch, dass die Welt sie mit ihren Fähigkeiten und Qualitäten anerkennt, die Motivation und den Willen, einen Beitrag in unserer Welt zu leisten. So wollen sie gesehen werden. Und die Tatsache, dass man in die Bildung investiert, finde ich hervorragend.
Haben Sie als Bürger der neutralen Schweiz Vorteile bei Ihrer Arbeit als Generalkommissar der UNRWA?
Die Schweiz setzt sehr grosses Vertrauen in die Arbeit der UNRWA, und gleichzeitig gibt es den Dialog an Ort und Stelle. Man stellt sich zur Verfügung und unterstützt die Kommunikation zwischen den verschiedenen Parteien. Das ist keine einfache Rolle in einer Welt, in der diese Art von Dialog nicht immer unterstützt wird. Aber das gehört zu der Materie, und die Neutralität der Schweiz ist hier sehr von Vorteil. Der Bedeutung der Neutralität bin ich mir bei der UNRWA noch mehr bewusst geworden als beim IKRK. In der Region sind wir anerkannt, das hilft natürlich sehr. Man wird als Akteur wahrgenommen, der nicht von einer Perspektive beeinflusst ist.
 
Herr Krähenbühl, ich danke Ihnen für das Gespräch.
 
Interview Thomas Kaiser

Differenzbereinigung beim Gentech-Moratorium

Interview mit Nationalrat Marcel Dettling

Aufgrund der Annahme des Gentech-Moratoriums im Jahre 2005 gilt in der Schweiz ein Anbauverbot von gentechnisch veränderten Organismen (GVO). Seit dieser Zeit wurde das Verbot nach Ablauf des Moratoriums immer wieder verlängert. Da bis heute GVO in der Schweiz auf Ablehnung stossen, stand die unbefristete Verlängerung des Verbots im Raum. Diese konnte sich jedoch in beiden Räten nicht durchsetzen. Welche Hürden das politische Geschäft noch zu überwinden hat, legt im folgenden Interview Nationalrat und Landwirt Marcel Dettling dar.

Zeitgeschehen im Fokus: Wo sind sich Nationalrat und Ständerat bei der Gentech-Vorlage nicht einig?

Nationalrat Marcel Dettling: Es sind drei strittige Punkte gewesen, und zwei davon waren auch in der Kommission kontrovers diskutiert worden. Es ging um die Frage der Koexistenz. In dem Zusammenhang hat man verschiedene Massnahmen zur Überprüfung festgelegt. Man hat ein Umwelt-Monitoring in der ursprünglichen Gesetzesvorlage gehabt. Das zweite waren Sanktionen, damit man Verwaltungsmassnahmen ergreifen kann, – wenn die Regeln nicht eingehalten werden –, die nicht über das ordentliche Strafrecht laufen, sondern dass die Verwaltung auch schon Massnahmen beschliessen kann wie z. B. die Beschlagnahmung von Pflanzen oder ähnliches.

Wie hat sich die Kommission dazu gestellt?

Ein Teil der Kommission hat argumentiert, wenn die Koexistenz nicht eingeführt wird, dann braucht es auch kein zusätzliches Umwelt-Monitoring. Es darf niemand anbauen. In dem Sinne gibt es die Koexistenz gar nicht. Somit sind die Verwaltungsmassnahmen unnötig.
Die Mehrheit der Kommission folgt jedoch der Argumentation des Ständerates und möchte dies im Gesetz haben.

Wie hat der Ständerat argumentiert?

Obwohl die Koexistenz nicht zugelassen ist, argumentierte er, falls sie doch käme, hätte man das Monitoring bereits eingeführt. Jetzt ist die Koexistenz tatsächlich vom Tisch, aber man hat die Massnahmen nicht herausgenommen, und deshalb musste unsere Kommission nochmals darüber befinden.

Was war ein weiterer Punkt?

Den Einsatz von Antibiotikaresistenzgenen in der Forschung wollte der Bundesrat zulassen, aber die Mehrheit der Kommission ist der Meinung, dass dies in der aktuellen Antibiotikadiskussion nicht tragbar wäre, und deshalb bleibt das untersagt. Hier ist weiterhin höchste Vorsicht im Umgang angezeigt. Das sind die strittigen Punkte.

Das heisst, das Moratorium wird sicher verlängert, aber nur für vier Jahre.

Genau. Der National- wie auch der Ständerat wollen keine unbefristete Dauer, sondern alle vier Jahre neu darüber befinden. Es ist klar, die Mehrheit will von gentechnisch veränderten Produkten nichts wissen. Die Bürgerinnen und Bürger kaufen die Ware auch nicht.

Das bedeutet, in vier Jahren muss erneut darüber abgestimmt werden?

Ja, die Mehrheit der Räte wollte es bei einem Moratorium belassen. Man will eine neue Beurteilung der Lage vornehmen und allenfalls ein viertes oder ein fünftes Mal verlängern. Aber die Koexistenz ist gestorben.

Lassen Sie mich nochmals auf den Punkt des Monitorings zurückkommen. Warum will der Bund das unbedingt?

Sie argumentieren, dass man z. B. in Basel, wo Futtermittel angeliefert werden, schon heute vermutet wird, dass gewisse Pflanzen bereits Genträger sind. Deshalb müsse man das alles überwachen, auch für den Fall, wenn jemand illegal anbauen würde. Deshalb brauche es ein Monitoring. Aber wenn es nicht erlaubt ist, dann braucht es auch kein Monitoring, und man muss auch der Verwaltung nicht mehr Macht geben, damit sie eingreifen kann.

Wie würde denn ohne die Verwaltungsmassnahmen verfahren?

Das Strafrecht kommt zum Zug. Wenn etwas getan wird, was verboten ist, dann ist es doch eine strafrechtliche Angelegenheit. Dazu haben wir unser Gesetz. Was soll da die Verwaltung Massnahmen ergreifen können? Wenn es Verstösse gegen das Gesetz gibt, dann muss das Strafrecht angewendet werden.

Warum ist man auf den Vorschlag der unbefristeten Gültigkeit des Gen-Anbauverbots nicht eingegangen?

Das Volk hat damals über ein vierjähriges Gentech-Verbot abgestimmt. Inzwischen hat man das immer wieder verlängert und hat immer etwas Mühe damit, weil ursprünglich vier Jahre ausgemacht waren. Und so war man etwas zögerlich und hat die zeitliche Begrenzung weiterhin beibehalten.

Ist die Stimmung im Volk heute so, dass man Gentech-Nahrungsmittel möchte?

Ich glaube es eigentlich nicht. Es werden keine gekauft. Aber die Gegner dieser Vorlage argumentieren natürlich, dass es in vielen Nahrungsmitteln bereits gentechnisch veränderte Bestandteile habe, und deshalb könne man es freigeben. Das würde aber bedeuten, dass der Anbau auch erlaubt wäre, und das würde grosse Probleme bereiten, vor allem wegen der Vermischung der Pflanzen.

Herr Nationalrat Dettling, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Energiestrategie 2050» – nur ein Zwischenschritt?

von Thomas Kaiser

Wenn Schweizerinnen und Schweizer am 21. Mai an die Urne gebeten werden, um über die «Energiestrategie 2050» abzustimmen, dann stehen sie vor einer grundsätzlichen Frage: Wieviel Wert hat die Souveränität unseres Staates? Diese Frage stellt sich in mehreren Bereichen, die unsere einzigartige Demokratie im Kern betreffen. Somit ist die Abstimmung vom 21. Mai nicht isoliert zu betrachten, sondern muss auch unter diesem Gesichtspunkt dringend beurteilt werden, denn in mehreren Bereichen droht der Schweiz ein immer grösserer Souveränitätsverlust. Wir können diese Entwicklung in der Landwirtschafts- und Sicherheitspolitik, in der Steuer- und Finanzpolitik und in weiteren Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens beobachten.

Die Energieversorgung ist für ein Land von essentieller Bedeutung. Die Schweiz hat keine eigenen fossilen Energieträger und ist in diesem Bereich vollständig vom Ausland abhängig. Hingegen könnte die Schweiz bis jetzt ihren Strombedarf zu beinahe 100 % decken, was energiepolitisch grundsätzlich positiv zu bewerten ist, auch wenn 40 % des Stroms in Atomkraftwerken produziert werden. Dass Atomstrom problematisch ist, lässt sich nicht von der Hand weisen: Zum einen sind die Atomanlagen in die Jahre gekommen, zum anderen produzieren sie atomaren Abfall, der noch während Millionen von Jahren unsere Umwelt belasten wird, wenn es nicht bald eine technische Lösung dafür gibt. Das Problem scheint im Moment jedoch nicht lösbar, ausser es wird weiter intensiv an umweltverträglichen Lösungen geforscht. Somit ist der Forschung auch auf dem Gebiet der Nuklearenergie und der Entsorgung oder Recycling des Leben vernichtenden Abfalls Priorität einzuräumen.
 

Ausbau der Wasserkraft

Unsere Generation hat es zum Glück bis jetzt nicht erleben müssen, was es heisst, einen Winter zu überstehen, in dem fossile Brennstoffe Mangelware sind, weil Lieferungen von Öl und Kohle, wenn überhaupt nur in sehr beschränktem Masse zur Verfügung stehen. Die beiden Öl-Krisen 1956 (Suez-Krise) und 1973 (Yom Kippur-Krieg) haben nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs eine schwache Vorstellung vermittelt, was es bedeutet, in essentiellen Dingen vom Ausland abhängig zu sein. Auch wenn die beiden Ölkrisen keinen tatsächlichen Versorgungsnotstand bedeutet haben, sind sie doch als bedrohliche Szenarien in der Erinnerung haften geblieben.
 
Grimsel-Stausee (Bild thk)
Grimsel-Stausee (Bild thk)
 
 
Als Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg hat die Schweiz begonnen, die Wasserkraft auszubauen. Die grossen Staumauern in den Alpen und eine Vielzahl von Flusswasserkraftwerken sind Zeugen der damaligen Anstrengungen. Damit konnte das Ziel einer Selbstversorgung mit Strom nahezu erreicht werden. Fossile Energieträger hat man in der Schweiz in grösserem Ausmass bis heute nicht entdeckt, aber man hat begonnen, die Rohstofflieferanten zu diversifizieren, um weniger krisenanfällig zu sein.

Versorgungslücke von 40 Prozent

Der Reaktorunfall in Fukushima hat dazu geführt, dass man Hals über Kopf im Sinne einer Schockstrategie aus der Atomstromproduktion aussteigen wollte. Doris Leuthard hatte 2011 das Parlament auf den Atomausstieg eingeschworen. Der Forderung, ihr zu folgen, auch wenn sie die Fakten und Details zu diesem Schritt erst später nachliefern könne, schloss sich das Parlament an und votierte für einen zukünftigen Atomausstieg, ganz ähnlich der Politik Angela Merkels und ihrer CDU, der Schwesterpartei, und ihrer auf grüne Politik getrimmte Ausrichtung.  
 
Ein allfälliger Atomausstieg der Schweiz, wie in der «Energiestrategie 2050» vorgesehen, hinterlässt eine massive Versorgungslücke von 40 %, für die es bis heute keine Alternative gibt.
 
Diese fehlende Energie mit Solarstrom und Windkraft ersetzen zu können, ist eine Illusion. Das einzige, was in der Schweiz, wenn überhaupt, die Lücke schliessen könnte, wäre ein Ausbau der Wasserkraft. Doch hier tut sich die Politik unheimlich schwer. Was uns am Schluss blühen könnte, ist ein noch grösserer Import billigen Atomstroms aus Frankreich oder «dreckigen» Stroms aus deutschen Braunkohlekraftwerken.
 
In Deutschland ist völlig klar, dass Braunkohlekraftwerke noch Jahrzehnte die Umwelt belasten ­werden, da ohne diese die riesige Lücke in der Energieversorgung – ausgelöst durch das Abschalten der Atomkraftwerke – in Deutschland nicht gefüllt werden kann. Wo bleibt hier der vielbeschworene Umweltschutz?

Billiger Strom aus EU-Ländern ruiniert unsere Wasserkraft

Dass die Menschheit sich mit dem Atomstrom und der bis heute nicht geregelten Endlagerung des Atommülls ein riesiges Problem aufgehalst hat, ist unbestritten, aber ob die «Energiestrategie 2050» die richtige Antwort darauf ist, bleibt fraglich. Auch ein Blick in das Gesetz und die bundesrätlichen Empfehlungen werfen mehr Fragen auf, als dass Antworten gegeben werden. Hier wird von der Stärkung der einheimischen Stromproduktion gesprochen und dem Abschluss eines Stromabkommens mit der EU, damit die Schweiz ihren Strom aus Wasserkraft exportieren könne. Ein paar Seiten vorher wird die problematische Lage der Wasserkraft beschrieben, die mit dem billigen (Dreck)-Strom aus Frankreich und Deutschland nicht konkurrenzfähig ist und deshalb staatliche Subvention brauche. Solange der Stromkonsum dem «freien Spiel» der Märkte unterliegt, wird billiger Strom aus der EU importiert und die Schweizer Wasserkraft ein Schattendasein führen.
 
Durch die Teilliberalisierung des Strommarktes sind die Folgen dieser Politik schon heute deutlich zu erkennen. Grosse Firmen können billigen Strom aus Deutschland oder Frankreich importieren, während die Schweizer Wasserkraftwerke in der Zwischenzeit häufig rote Zahlen produzieren. Dass ausländische Investoren Interesse an den gut gewarteten und technisch hochwertigen Wasserkraftwerken und Stauseen in der Schweiz haben, ist ein offenes Geheimnis und hinterlässt ein ungutes Gefühl. Hier liegt vieles im argen, was mit der «Energiestrategie 2050» nicht besser geordnet werden kann.

Windräder und Solaranlagen können Stromlücke nicht füllen

Einzelne Experten in Energiefragen sehen denn auch in der «Energiestrategie 2050 nur einen Zwischenschritt», dem «eine neue Marktordnung folgen muss.» Aber, wozu einen ersten Schritt ins Ungewisse machen in der Hoffnung, der zweite gleiche dann die Fehler des ersten wieder aus? Warum ist unsere Politik nicht in der Lage, Nägel mit Köpfen zu machen, die vor allem die Energiesicherheit unseres Landes garantieren und im zweiten Schritt ein realistisches Szenario zum Ausstieg aus der Atomenergie formulieren? Man kann sich als aufmerksamer Zeitgenosse des Eindrucks nicht erwehren, dass hier auf eine weitere Liberalisierung des Strommarktes hingearbeitet wird, die dann «helfen» soll, die entstehende Energielücke mit ausländischem Strom zu füllen. Schon 2013 hat Frau Leuthard gewusst, dass mit Windrädern kaum 10 % des Stromverbrauchs in der Schweiz ersetzt werden können, und das so oder so nur, wenn nicht zu wenig und nicht zu viel Wind bläst. Auf jedem Dach eine Solaranlage produziert vor allem um die Mittagszeit viel Energie, aber für eine kontinuierliche Stromerzeugung und die Netzstabilität wird das kaum genügen.
 
Ob in diesem Zusammenhang das Bundesgerichtsurteil, das die Erhöhung der Grimsel-Staumauer erlaubt, zufällig gerade jetzt ergeht oder kalkuliert ist, muss offen bleiben. Tatsache ist, dass die Betreibergesellschaft nahezu 20 Jahre kämpfen musste, bis dieser Entscheid kam. Ob jetzt gebaut werden kann, steht jedoch immer noch nicht fest, denn es sind noch weitere Einsprachen hängig. Und welche Garantien haben die Schweizer Stromproduzenten, dass ihrem Produkt nicht billiger Strom aus dem Ausland vorgezogen wird?

Wir müssen die Suppe auslöffeln

Energie zu sparen, wie es das Energiegesetz fordert, ist sicher angesagt. Aber wie das gesellschaftlich verträglich getan werden kann, muss mit der Bevölkerung breit diskutiert werden. Als Bürger wird man aber den Eindruck nicht los, dass hier über etwas abgestimmt werden soll, was nicht ausgereift ist. In den Amtsstuben des Bundesamtes für Umwelt wurde etwas zusammengeschustert, ohne die Bevölkerung zu konsultieren und sie zu fragen, ob sie weiterhin Atomkraftwerke haben möchte, auf die Gefahr hin, dass beim Abschalten der Atomkraftwerke eine riesige Versorgungslücke entstehen würde. Hier wurde etwas Wichtiges versäumt. Es ist überhaupt nicht klar, ob der Inhalt des Gesetzes das hält, was die Verpackung verspricht. Sollen wir Bürgerinnen und Bürger im blinden Vertrauen, dass die Politik das Ganze zum Guten wenden wird, diesem Gesetz zustimmen oder als Souverän signalisieren, dass hier unvollständige Arbeit geleistet wurde, die es zu revidieren gilt? Denn letztlich werden wir als Einwohner dieses Landes die Suppe auslöffeln müssen. ■

Warum müssen kleinere Gemeinden fusionieren?

von Reinhard Koradi

Seit 1960 sind in der Schweiz rund 984 Gemeinden durch Fusionen verschwunden. Vor allem in den letzten zehn Jahren hat sich die Auflösung von Gemeinden massiv beschleunigt. Dieser Prozess ist gewollt, auch wenn keine eindeutige Bilanz vorliegt, die den Nutzen von Gemeindefusionen bestätigt. Vielmehr stellt eine neu veröffentlichte Studie den Spareffekt bei Gemeindefusionen in Frage. Warum dann dieser Drang zur Selbstaufgabe in zahlreichen Gemeinden?

Offiziell wird argumentiert, dass es schwierig sei, geeignete Kandidaten für ein Amt in der Gemeinde zu rekrutieren oder dass viele Gemeinden aufgrund ihrer Kleinheit nicht mehr effizient arbeiten könnten. Die Kantone versprechen dann auch fusionswilligen Gemeinden einen erheblichen finanziellen Zustupf, so etwas wie eine «Heiratsprämie». Diese Argumentation lässt sich bei einer genaueren Betrachtung nicht aufrecht erhalten.

Effektivität der «kleinen Einheit»

Eines der Erfolgsrezepte der Schweiz liegt in ihrer dezentralen Struktur. Die einst hochgehaltene Autonomie der Gemeinden ebnete den Boden für das erfolgreiche Milizsystem. Mit dem Milizsystem wurde der uneigennützige Einsatz für das Allgemeinwohl gefördert und gleichzeitig ein staatstragendes Fundament etabliert, welches sich aus Eigenverantwortung, Eigenleistung und Engagement für den inneren Zusammenhalt zusammensetzt. Die Gemeinden verfügen über übersichtliche Strukturen, sind damit transparent und bürgernah. Die Effektivität der «kleinen Einheit» bietet eine hervorragende Grundlage für die exzellente Aufgabenerfüllung innerhalb einer Gemeinde und das persönliche politische Engagement der Bürger für ihr Dorf.

Der Kampf gegen diese Tradition erfolgte mit der Lancierung von «New Public Management». Mit dieser Verwaltungsreform wurde die Gemeinde neu definiert. Der Bürger wurde zum Kunden und die Gemeindeverwaltung zum Dienstleister. Die Gemeinde kreiert und verkauft Produkte (Strassen, Schwimmbäder, Friedhöfe, Schulen usw.), schafft Leistungsanreize und fördert den Wettbewerb. Die Stadt Bülach hat in diesem Zusammenhang unter dem Stichwort «Wirkungsorientierte Verwaltung» festgehalten, dass sich die Verwaltung als Dienstleistungsunternehmen versteht und die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden in den ­Vordergrund stellt. Im Mittelpunkt der Verwaltungsarbeit stehen Effektivität und Effizienz. Standen bis anhin bei den öffentlichen Aufgaben (Infrastruktur) Chancengleichheit, Versorgungssicherheit und der innere Zusammenhalt (Kohäsion) im Fokus, werden heute wirtschaftliche Prinzipien als Leistungskriterien angewendet. Mit anderen Worten, die Gemeinde respektive die Gemeindeverwaltung mutiert zum Unternehmen mit abgegrenzten Geschäftsfeldern, was unter anderem sehr wohl als Zwischenschritt zur Liberalisierung und Privatisierung der öffentlichen Aufgaben eingeordnet werden kann.

Fusionen bringen keine Kosteneinsparungen

Gemäss einer Umfrage der «Rundschau» haben die 26 Kantone insgesamt über 730 Millionen ­Franken an die fusionswilligen Gemeinden bezahlt. Begründet werden diese Fördergelder mit Synergiegewinnen durch Fusionen. Solche Gewinne werden aber gar nicht generiert, wie aus der bereits erwähnten Studie hervorgeht. Fusionen bringen keine Kosteneinsparungen. Die meisten Gemeinden haben nämlich bereits vor den Zusammenschlüssen Wege und Lösungen gefunden, um ihre Kosten unter Kontrolle zu halten. Diese Voraussicht und der sorgfältige Umgang mit den Steuergeldern der Ortsansässigen ist eben in den Gemeinden dank der politischen Kontrolle durch die Bürger traditionell verankert. Die Kostenbewirtschaftung erfolgt durch eigene Initiativen der Gemeinden, indem man sich zu Zweckverbänden zusammen-schliesst oder im Rahmen der interkommunalen Zusammenarbeit (IKZ) Aufgaben auslagert, die die Gemeinde nicht mehr allein bewältigen kann (Spitäler, Pflegeheime usw.). Immer öfters stossen die Gemeinden wegen der steigenden Anforderungen und neuer administrativer Vorschriften an ihre Grenzen. Das Diktat von oben zwang beispielsweise die Gemeinde Ochlenberg (Kanton Bern) zur ­sektoriellen Regionalisierung der ­Feuerwehr. Der Ort musste seine eigenständige Feuerwehr wegen der Vorschrift aufgeben, eine Atemschutzgruppe einzuführen.

Verzicht auf Prestigeprojekte

Zur Wahrung der Unabhängigkeit einer Gemeinde trägt auch der Verzicht auf unnötige Investitionen bei. Da jedes Projekt vor dem Bürger bestehen muss, übt der Gemeinderat schon im Vorfeld der Anträge Zurückhaltung. Der bewusste Verzicht auf Prestigeprojekte (zum Beispiel Drei-Fach-Turnhallen, wie sie landauf und landab propagiert wurden), kann ein entscheidender Beitrag zur Unabhängigkeit der Gemeinde sein.

Die Voraussetzungen wären also da, den Gemeindehaushalt mit all den anstehenden Aufgaben unabhängig von der Grösse erfolgreich zu führen. Warum dann die Millionen-Investition in eine weniger effiziente und politisch unterlegene Gemeindeorganisation? Mit Bezug auf die Fusionsanträge im Kanton Schaffhausen meinte eine Bürgerin: «Die Stadt Schaffhausen will doch nur den Rheinfall.» Sind es also geplante Natur- oder Technologie-Reservate, die Einführung grenzüberschreitender EU-Regionen, die dazu motivieren, die Grenzen im wahrsten Sinne zu verschieben?

Der Staat und seine Strukturen im Visier der Propagandisten

Im Zeitalter des Wandels soll kein Stein mehr auf dem andern bleiben. Mit diesem destruktiven Ansatz werden die sehr wertvollen Leistungen, der unbezahlbare Erfahrungsschatz aus der Vergangenheit und die damit verbundene Sicherheit für die Zukunft an die Wand gefahren. Auch der Staat und seine Strukturen sind ins Visier der Propagandisten für die Veränderung um der Veränderung Willen geraten. Ein Vorhaben, das wache und verantwortungsbewusste Bürger in einer direkten Demokratie allerdings immer noch zurückweisen können.

Doch woher kommt dieser Druck, und wer profitiert von den angestrebten und umgesetzten Veränderungen? Grundsätzlich bedeutet Zentralisation zusätzliche Macht. Die Machtzentralen wollen bis zur Basis durchgreifen. In einer direkten Demokratie, wo jeder einzelne Bürger über autonome Gestaltungs- und Entscheidungskompetenzen verfügt, ist dieser Durchgriff versperrt. Veränderungen stossen auf vielschichtigen Widerstand der einzelnen Bürger. Mündige Bürger, viele kleine autonome Gruppen bilden ein Bollwerk gegenüber den zentralistischen Machtansprüchen (zum Beispiel Gemeinden oder Vereine). Menschen, die sich in irgendeiner Form zusammenschliessen, verfügen über einen belastbaren Gemeinschaftssinn und sind in der direktdemokratischen Tradition tief verwurzelt. Sie entwickeln einen gesunden und auch natürlichen Widerstand gegenüber zentralistischen Eingriffen und lassen sich nicht so leicht über den Tisch ziehen. Sie fallen weder in die Resignation noch lassen sie sich mit der Begründung, «die da oben machen sowieso nur, was sie wollen», in die politische Abstinenz treiben.

Vielfalt ist der Feind zentralistischer Machtansprüche

Innerhalb einer dezentralen Vielfalt lassen sich Durchgriffe der Zentrale nur schwer oder gar nicht durchsetzen. In einem ersten Schritt muss dann auch diese Vielfalt gebrochen und in einer gleichgeschalteten Einheit zusammengeführt werden. Bestehende Verbindungen und Strukturen versucht man aufzulösen. In der Organisationsentwicklung wurde für diesen Prozess der Begriff «defreezing» (auftauen) eingeführt. Blicken wir auf die Reformen in den letzten Jahren zurück, dann stossen wir immer wieder auf solche «Auflösungsprozesse» (Bildung, Gesundheitswesen, Staatsaufbau usw.).

Die Gemeinde als funktionierende autonome Institution steht dem Anspruch nach zentralen Führungs- und Durchsetzungsstrategien im Wege. Wer die Macht im Staat zentralistisch wahrnehmen will, muss die Wege verkürzen und Instanzen ausschalten, welche die Durchsetzungskraft behindern könnten. Die vielen kleinen autonomen Gemeinden bilden solche Hindernisse und müssen daher in lenkbare Grosseinheiten zusammengefasst werden. Ein Konzept, das quer zum Staatsverständnis der Schweiz und ihrer direktdemokratischen Tradition steht.

So stellt sich zum Schluss die einfache und doch sehr schwer zu beantwortende Frage: Und warum stellt sich dann die Schweiz in den Dienst der Zentralisten? Vielleicht überwiegt in den oberen Bundes- und Kantons-Etagen der Drang, der Wirtschaft zu dienen oder mit allen Mitteln die Europatauglichkeit der Schweiz voranzutreiben. Oder ist es einfach das Resultat, dass auch in der Schweiz die Wirtschaft den Primat über die Politik übernommen hat?

Korrektur durch Dezentralisierung

Was von oben geopfert werden soll, gilt es von unten zu schützen und zu verteidigen. Die direkte Demokratie stellt uns die Mittel zur Verfügung, die durch die Gemeindefusionen eingeleitete «Staatsreform» wieder auf die Bahn autonomer Gemeinden zu lenken. Projekte, die grenzauflösend sind, müssen mit Nachdruck zurückgewiesen werden. Die Quellen der zentralistischen Strömungen sind stillzulegen. Dazu gehören unter anderem: der vorauseilende Gehorsam gegenüber der EU und den Mächtigen der Welt, die Einmischung von aussen in unsere inneren Angelegenheiten, und die Konferenz der Kantonsregierungen (Zusammenschluss der kantonalen Regierungen zu interkantonalen Fachkonferenzen). Wir Bürger können das Fundament der Souveränität unseres Landes, bestehend aus demokratischer Selbstbestimmung, Föderalismus und Subsidiarität, Eigenverantwortung, Eigenleistung, intakter und sicherer Grundversorgung sowie der Unabhängigkeit gegenüber dem Ausland vor dem «Auftauen» bewahren, indem wir uns mit aller Kraft für die Werte und das politische System der Schweiz einsetzen. ■

Konsum heute – braucht ihn unsere Jugend?

von Dr. phil. Alfred Burger

Frage ich meine Schülerinnen, was sie gerne in der Freizeit machen, so nennen sie oft das «Shoppen» in der Stadt. Manche halten sich denn auch stundenlang in den Shopping-Centern rund um die Stadt auf. Auch die Jungen verbringen dort gerne ihre Freizeit, weniger wegen der Mode, vielmehr wegen der lockenden Angebote in der Elektronik und wegen der Computer-Spiele.

Nicht nur für die jungen Menschen, für einen grossen Teil der Gesellschaft scheint der Konsum einen immer wichtigeren Stellenwert einzunehmen. Enorm bedeutend ist dabei die Werbung, vor allem die Werbung im Netz. Die Gewinne sprudeln, weil über die Nutzung von WhatsApp, Instagram, Facebook, Google usw., die Betreiber die Adressen der Benutzer an die Werbeindustrie mit sehr viel Gewinn verkaufen können. Es geht nicht um die Förderung sozialer Kontakte der jungen Leute untereinander, sondern allein um den Profit der Betreiber. Mittels sogenannter Algorithmen wird die Persönlichkeit jedes Benutzers genau erfasst, damit man ihn noch gezielter bewerben kann (vgl. Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 1 vom 21.01.2017). Dabei ist es erwiesen, dass soziale Netzwerke echte Kontakte nicht ersetzen können. Soziale Fähigkeiten erwirbt man nur in der direkten Begegnung von Mensch zu Mensch.

Das Internet ist heute überall

Neuerdings stellen junge Frauen mit einigem Bekanntheitsgrad Fotos ins Internet, die möglichst natürlich und spontan aussehen sollen. Wie zufällig ist ein Produkt darauf zu sehen, das beworben wird. Diese Frauen werden Influencer (Beeinflusser) genannt, ihre Bilder werden gepostet, sie haben Tausende von Followern. Wichtig ist die Reichweite; je grösser das Publikum ist, desto mehr Geld fliesst. Werbung ist wirksam – und man merkt das im täglichen Leben. Ein neuer Trend? Es vergehen nur wenige Wochen, schon hat eine Vielzahl der jungen Menschen einen neuen Stil umgesetzt. Nicht nur hier, nein, auf der ganzen Welt. Das Internet ist heute überall, auch in abgelegenen Gebieten. Vor allem die Jugend wird damit angepeilt, und sie vertändelt einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens mit Fragen um Konsum und Besitz. Dazu gehören auch die Musik, die Filme, YouTube-Filmchen, die Videos und die verschiedenen Spiele, die heute von der Unterhaltungsindustrie angeboten werden.

Von den wahren Problemen in der Welt ablenken

Diese Art der Freizeitgestaltung zwingt die Benutzer in eine eher passive und vorwiegend konsumierende Haltung. Sie lernen nicht mehr, sich die Freizeit aktiv einzurichten und lassen sich treiben, als gäbe es kein morgen. Wären wir Erwachsene nicht dafür verantwortlich, der Jugend Grundlagen für ein erfülltes Leben in der Zukunft zu geben? Gemeint sind die Vorbereitung auf einen Beruf, Fragen des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft mit Freunden und Freundinnen und mit der Familie, im Dorf oder im Quartier. Es gäbe auf der Welt für die Jugend doch wahrhaftig viel zu tun.

Die zunehmende Bedeutung des Konsums und die damit einhergehende Passivität und Interesselosigkeit kommen sicher nicht von ungefähr. Soll vielleicht mit diesem organisierten Zwang hin zum Konsum und zur Unterhaltung die Jugend von den wahren Problemen in der Welt abgelenkt werden? Soll eine willen- und gedankenlose Masse heranwachsen, die sich so gut lenken lässt?

Ausrichtung auf Konsum und Unterhaltung

Der Gedanke ist sicher nicht ganz abwegig – schon heute beklagen sich Vereine über mangelnden Nachwuchs, Gemeinden finden keine Leute, die sich für das Gemeinwesen einsetzen möchten. Einzelbedürfnisse, eben auf das Individuum bezogenes Konsumverhalten, werden von immer mehr Menschen über die Interessen der Gemeinschaft gestellt. Die Ausrichtung auf Konsum und Unterhaltung lenkt ab, wirft die Menschen auf sich selbst zurück und bestärkt das Egoistische. Der Konsum, das Empfangen werden wichtiger als das Geben, und die Ausrichtung auf den anderen Menschen – man denkt nicht mehr daran, wie es anderen geht, nimmt keinen Anteil mehr und hat weniger Interesse, die Situation aller zu verbessern.

«Panem et circenses» für das einfache Volk

Nicht nur die Jugend, auch die Erwachsenen werden so steuer- und manipulierbar. Es erstaunt darum nicht, dass Zbigniew Brzeziński in seinem Buch «Die einzige Weltmacht» der Politik empfiehlt, vor allem der US-Politik, die Menschen mit «Tittytainment» zu versorgen. Er sieht darin ein wichtiges Instrument, um die Menschen auf die «Inhalte» des «American way of life» zu trimmen. Brzeziński meint mit diesem Begriff die US-Unterhaltungs- und Konsumindustrie, die überall auf der Welt die Menschen abhalten soll, sich mit den von der Politik gesteuerten Vorgängen zu befassen. Im alten Rom hat es «panem et circenses» für das einfache Volk geheissen. Die Einflussreichen konnten so in Ruhe ihre Machtpolitik vorantreiben und die Kriege des Imperiums vorbereiten.

Wollen wir wieder in solche Zeiten zurückfallen? Die grosse Zahl der Bürgerinnen und Bürger will das nicht. Sollten wir in dieser Situation uns nicht wieder mehr um die Jugend kümmern und sie nicht einfach den Fängen einer ungezügelten globalen, einseitig profitorientierten Wirtschaft und der Kriegsindustrie überlassen? Die Jugend wäre nämlich sehr empfänglich für soziale Anliegen, sie interessiert sich für das Wohlergehen anderer Menschen. Aber wer gibt ihnen heute dazu die Informationen? Etwa die Schulen? Leider nein, die Verherrlichung des Individualismus und des individuellen Wettbewerbs finden auch in den Schulen immer mehr ihren Niederschlag. Auch übernehmen die Schulen ganz unreflektiert die Vorgaben der globalen Wirtschaft und wollen mit der elektronischen Revolution im Schulzimmer die Kinder auf die Welt der Zukunft vorbereiten. Das wird sicher in einem Desaster enden, bleiben doch so die Pädagogik und die Erziehung und mit ihnen die wahren Bedürfnisse der zukünftigen Generation auf der Strecke. Nein, da sind wir Erwachsenen gefordert: Erzieher, Eltern, Grosseltern. Wir müssen mit der Jugend sprechen und ein Gegengewicht setzen. Nicht indem wir die Errungenschaften des Internets herabwürdigen, sondern wir müssen sie auf ihre Möglichkeiten aufmerksam machen, die Freizeit sinnvoll zu verbringen. Wir müssen Anlässe organisieren, in denen sie ihre soziale Natur kreativ umsetzen können.

Eltern müssen ihre Kinder anleiten

Nicht die Elektronik ist das Problem, sondern was die Kinder alles sonst verpassen, wenn sie stundenlang pro Tag vor irgendeinem Bildschirm sitzen. Die Eltern müssten ihre Kinder darum wieder mehr zum Spiel anleiten, sie mitnehmen auf Wanderungen, auf Erkundungsausflüge im Wald und ihnen die Natur zeigen. Ihnen vorlesen oder mit ihnen zusammen lesen. Es braucht dazu heute unbedingt die Initiative der Erwachsenen, da Kinder schnell einmal zu Handy und Tablet greifen, wenn es ihnen langweilig ist. Sie können immer weniger mit sich anfangen. Ohne Vorangehen von uns läuft wenig bis nichts. Wir Erwachsenen sollten uns auch überlegen, wie wir sie im Quartier oder in der Dorfgemeinschaft einbinden und damit mit aufbauenden Tätigkeiten beschäftigen können. Man kann sie in die Jugendfeuerwehr oder in das Jugendrotkreuz einladen oder sie könnten bei den Verkehrskadetten mitmachen. Auch die Samaritervereine oder Sportvereine in den Gemeinden wären für die Jugend eine erfüllende Alternative.

Bei aller Ablenkung, der die Jugendlichen heute ausgesetzt sind, fühlen sie sich dann ernstgenommen, wenn man ihnen ihrem Alter entsprechende Verantwortung übergibt. Die erwähnten gemeinnützigen Vereine bieten auf natürliche Weise Gelegenheit dazu.

Nichts Befriedigenderes als Menschen zu helfen

Nicht zuletzt könnten Eltern beispielsweise auch gemeinsames Lernen initiieren. Einige Jugendliche treffen sich und lernen zusammen. Das ist viel interessanter und lustiger als alleine; am Schluss geht man vielleicht noch gemeinsam aus. Wie sehr die Jugend solche Anregungen von uns Erwachsene brauchen, zeigt folgendes Beispiel: Wir hatten einmal an der Schule einen Jugendlichen, der bei den Pontonieren mitgemacht hat. Auf unsere Anregung hin hat er andere Schüler eingeladen, die waren ganz begeistert, sie haben nicht gewusst, dass es das überhaupt gibt. Oder als wir einmal den Brückenbauer Toni Rüttimann an der Schule hatten, der den Kindern erzählte, wie er viele Brücken mit einfachsten Mitteln in armen Ländern gebaut habe und dass es nichts Schöneres und Befriedigenderes gebe, als anderen Menschen zu helfen, waren viele spontan begeistert und wollten es sich auch zu ihrem Ziel machen, anderen beizustehen.

Die Jugend will aktiv sein und mitgestalten – aber wenn wir sie den elektronischen Spielen, der Werbung, dem Konsum und dem hohlen Showbusiness überlassen, ohne ihnen etwas Positiveres zu bieten – was kommt dann heraus? Wie sieht dann unsere Gesellschaft und das Zusammenleben in Zukunft aus? ■

«Staaten müssen das Recht auf Leben garantieren»

von Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und Historiker

Alfred de Zayas  (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)

Gemäss dem allgemeinen Völkerrecht und insbesondere dem Uno- Pakt über bürgerliche und politische Rechte müssen die Staaten das Recht auf Leben garantieren, die Familie als Basis der Gesellschaft fördern und religiöse Überzeugungen schützen. Trotzdem werden zur Zeit in einigen Staaten Pro-Life-, Pro-Familie- und Pro-Religions-Aktivitäten unter dem Vorwand eingeschränkt, den Säkularismus durchzusetzen, und zwar durch willkürliche Interpretationen der Normen, manchmal unangemessen restriktiv, ein anderes Mal unvorstellbar expansiv. Der Text dieser klaren völkerrechtlichen Normen wird bewusst unterminiert durch eine Korrumpierung der Sprache, so dass Worte ihre Bedeutung verlieren. Das beabsichtigte Ergebnis besteht darin, den Zweck der Vertragsbestimmungen zu untergraben, um eine absichtliche Erosion der staatlichen Verpflichtung zur Achtung der Heiligkeit des Lebens zu erreichen, gleichgeschlechtliche Verbindungen zu fördern und die Lehren der Bibel zu ahnden. In einem Szenario der kognitiven Dissonanz werden Pro-Life, Pro-Familie und Pro-Religionsbewegungen als gegen die Menschenrechte gerichtet dargestellt. Aber von welchen Menschenrechten sprechen wir? Obwohl die Verleumdung des christlichen Glaubens und der Familienwerte zweifellos gegen den Uno-Pakt über bürgerliche und politische Rechte verstösst, insbesondere gegen die Artikel 17, 18, 19 und 23 , versuchen in einigen Ländern neue Gesetze gegen «Hassrede» (Hate speech laws) Grundrechte und Freiheiten der Gesellschaft zu zerstören. Es geht um orwellsche, totalitäre Gesetzgebung. Es ist gewiss keine «Hassrede», wenn ein Pastor oder Priester die traditionellen Werte der Familie predigt. Im Gegenteil. Es sind die Pastoren und Priester, die in mehreren Ländern wie England, Schweden und Spanien angeklagt worden sind, Opfer von Diffamierung und «Hassrede» durch die Lobbies.

Eine solide Grundbildung in Handarbeit und Hauswirtschaft ist unverzichtbar

von Monika Cueni (CH) und Judith Schlenker (D)

Unlängst wollten drei junge männliche Kollegen unter Anleitung einer Handarbeitslehrerin «stylische» Turnbeutel als Weihnachtsgeschenke nähen. Wie stolz waren sie am nächsten Tag auf ihre selbstgemachten Beutel! Und nachdem im Handarbeitsunterricht in der Mittelstufe eine Kuriertasche entstanden war, wollte eine Schülerin unbedingt einmal mit der Tasche durchs Schulhaus laufen, um sich «stolz zu fühlen». Auch die selbstgehäkelten Mützen der Klasse 7 waren ein ständiger Begleiter der Macherinnen.

Solche Beispiele können Handarbeitslehrerinnen zuhauf erzählen – und sie zeigen, dass in Zeiten von Internet und Handygedudel so beruhigende, ja fast meditative Arbeiten mit den Händen wie Stricken, Häkeln, Sticken und Nähen ein willkommener Ausgleich sind. Wer einmal eine Runde strickender Mädchen beobachtet hat, weiss, wie kommunikativ diese Runden sind. Und wenn dann erst noch die Oma angefragt wird, ob sie helfen könne, weil man nicht mehr weiterkommt, dann sorgt dies auch für den Austausch unter den Generationen. Wie gerne erklären Omas ihren Enkelinnen doch das Maschenanschlagen, das Knopfannähen und vieles andere – und beide kommen sich dabei auch näher. Das ist schön, allerdings wäre es im Sinne einer guten Volksbildung Sache der Schule, den Schülern diese Grundkenntnisse weiterhin zu vermitteln. Dies trägt dann auch zu einer gesunden Volkswirtschaft bei. Wenn dann das Endprodukt gelungen ist, bringt dies einen enormen Schub für das Selbstwertgefühl. Aber nicht nur das. Auch Ausdauer wird trainiert und die Frustrationstoleranz erhöht. Handarbeit erfordert Geduld, Geduld, Geduld. Manchmal muss man einfach eine schiefe Naht auftrennen und neu nähen, damit das Endergebnis stimmt. Der Phantasie sind bei solch kreativen Tätigkeiten keine Grenzen gesetzt, und so mancher Schüler, dem die Lernfächer vielleicht schwer fallen, erlebt im praktischen Arbeiten, dass auch er zu tollen Leistungen in der Lage ist.

Nähen (Bild dw)

Nähen (Bild dw)

 

Kooperation und gegenseitige Hilfe trainieren

Auch im Hauswirtschaftsunterricht können Schülerinnen und Schüler ähnliche Erfahrungen machen. Wo kann man Kooperation und gegenseitige Hilfe besser trainieren als in einer kleinen Kochgruppe, deren Mitglieder alle zum Gelingen eines feinen Essens beitragen? Ganz abgesehen davon, dass mit dem Hauswirtschaftsunterricht ein guter Beitrag zur Gesundheit des einzelnen geleistet werden kann. Selbstgekochtes Essen aus regionalen und saisonalen Produkten ist allemal gesünder und schmackhafter als Convenience-Produkte mit vielen Hilfs- und Zusatzstoffen, deren krankmachende Wirkung auf den Körper hinlänglich bekannt sind. Durch die Verwendung von natürlichen Zutaten und regionalen Produkten leistet man einen wichtigen Beitrag zur Gesunderhaltung, zum Umweltschutz und zur viel beschworenen Nachhaltigkeit. Etwas Neues probieren, kreativ sein bei der Mahlzeitengestaltung, ein gemeinsames Essen einnehmen, dabei noch gleich Tischdecken und Regeln guten Benehmens bei Tisch lernen – all das kann der Hauswirtschaftsunterricht leisten.

Als altmodisch abgetan

Leider, ja leider findet dies kaum mehr einen Niederschlag in den neuen Lehrplänen der Länder wie der Schweiz (Lehrplan 21) und Deutschlands. In einer Zeit, in der Internetseiten mit Nähanleitungen sowie Kochshows im Fernsehen boomen, immer neue Handarbeitsmagazine herausgegeben werden und sogar die Discounter Wolle mit Strickanleitungen verkaufen, werden Fächer wie Handarbeit und Hauswirtschaft als überholt und altmodisch abgetan und abgeschafft. In Baden-Württemberg kommen sie nun in neuem Gewand als «Alltagskultur, Ernährung, Soziales» (AES) daher und reduzieren den Unterricht auf das Erwerben von «Kompetenzen» wie «Ernährungsbezogenes Wissen», «Essbiografie», «Konsumentscheidungen», «Verbraucherbildung» oder «Bewusste Freizeitgestaltung». Ebenso im «Lehrplan 21» in der Schweiz: Dort wird Kochen, Hauswirtschaft und Handarbeit nur noch theoretisch vermittelt. Die Zahl der Unterrichtsstunden erlaubt kaum mehr praktisches Arbeiten. Soll also künftig das Internet die Vermittlung von Kulturtechniken übernehmen, weil die Schule es nicht mehr tun darf?

Häkelkappen (Bild dw)

Häkelkappen (Bild dw)

 

Schüler präsentieren ihre Arbeiten. (Bild dw)

Schüler präsentieren ihre Arbeiten. (Bild dw)

 

 

 

Stärkung der Persönlichkeit

Die neuen Lehrpläne werden damit allerdings den Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht. Denn: so wie ein Schreiner, der nicht richtig gelernt hat abzumessen, zuzusägen, zu hobeln und zu schleifen – so wenig er damit einen neuen Schrank bauen kann, so wenig wird den jungen Menschen eine textile Arbeit oder ein selbst gekochtes Menü gelingen, wenn in der Schule dafür nicht die Grundlagen gelegt worden sind. Und die heissen: Grundlagen der Nahrungszubereitung und Grundfertigkeiten bei der Herstellung und Bearbeitung textiler Flächen. Da nützen inhaltsbezogene Kompetenzen wie «Nachhaltigkeit bei der Nahrungszubereitung» und «Gebrauchswerterhaltung» nichts, weil die jungen Menschen nicht mehr lernen, wie man eine Nähmaschine korrekt bedient oder ein Nahrungsmittel richtig zubereiten kann. Man mag einwenden, dass wir in unserer schnellebigen Zeit viele Hilfsmittel haben, die uns viele Arbeiten abnehmen. Das ist richtig. Aber: Der Thermomix kann zwar vieles, aber die Freude am Tun, die innere Zufriedenheit beim Selbermachen, vielleicht sogar beim gemeinsamen Selbermachen, die kann er uns nicht vermitteln. Die Fähigkeit, eigenständig den Werdegang eines Produkts zu verstehen, zu beeinflussen, zu optimieren und kreativ verändern zu können, ergibt eine Stärkung der Persönlichkeit, deren Wirkung wir nicht unterschätzen dürfen. Sie gibt dem einzelnen die Freiheit und Unabhängigkeit, die er braucht, um sein Leben sinnerfüllt zu gestalten. Und dazu soll ihm die schulische Bildung verhelfen. ■

 

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