Ständerat hat 2016 die Pleite der Credit Suisse mitverursacht

Als Ständerätin half Karin Keller-Sutter nach dem Wunsch der Banken, eine Abtrennung der Risikogeschäfte zu verhindern

von Urs P. Gasche

Es war im Jahr 2016: Der Nationalrat hatte ein Jahr zuvor bereits zugestimmt, dass Grossbanken die systemrelevanten Aktivitäten wie Zahlungsverkehr und Kreditgeschäfte (Geschäftsbank) von den risikoreichen Spekulationsgeschäften mit Derivaten und Devisengeschäften (Investmentbank) abtrennen sollten. Dies wurde in den USA von 1933 bis 1999 mit Erfolg praktiziert.

Doch der Ständerat versenkte die Vorlage. Dagegen stimmten der damalige SP-Ständerat und SP-Präsident Christian Levrat, obwohl sowohl die Fraktionen der SP wie der SVP den Vorschlag gemacht hatten. Dagegen stimmte auch die heutige FDP-Bundesrätin Keller-Sutter, weil «man nicht so tun kann, als ob wir noch in der ­Finanzkrise von 2008 wären».
Für das Trennbanksystem votierten und stimmten der heutige SP-Bundesrat Alain Berset und der parteilose Thomas Minder, Initiant der «Abzockerinitiative».
Die heutige Verzahnung der normalen stabilen Bankgeschäfte mit dem spekulativen Investmentbanking kann Regierungen und Notenbanken zwingen, grosse Verluste zu decken, weil sonst Sparguthaben, Geschäftskredite und Pensionskassengelder gefährdet wären.
Dass Banken ihre risikoreichen Investment- von ihren normalen Geschäftstätigkeiten trennen und in verschiedenen Banken abwickeln, befürwortet der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney schon lange: «Das hätte geholfen, die Krise der Credit Suisse zu verhindern.»
Gegner des Trennbanken-Prinzips argumentierten in erster Linie damit, dass es besser sei, den Banken ein deutlich höheres Eigenkapital vorzuschreiben. Das sei wirksamer und weniger interventionistisch.
Sobald aber Vorschläge auf dem Tisch waren, das Eigenkapital im Verhältnis zur Bilanzsumme von damals 3 Prozent auf 15 und mehr zu erhöhen, gaben diese Parlamentarier der Banken-Lobby nach und waren dagegen.
Bei der Vergabe von Hypotheken verlangen die Banken von den Hauskäufern als Sicherheit einen Eigenkapitalbeitrag von 20 bis 30 Prozent. Doch ihre eigenen Schulden decken Grossbanken heute nur zu 5 Prozent mit Eigenkapital. Das setzt ein riesiges Vertrauen der Anleger voraus.
Deshalb dürfen Bankkunden auf keinen Fall zu viele Guthaben auf einmal der Bank entziehen, sonst wird die Bank rasch insolvent. Das zwingt Bankenvertreter, Behörden und sogar die Aufsichtsbehörde Finma dazu, in der Öffentlichkeit Probleme stets schönzureden und Optimismus zu verbreiten.
Tritt der schlimmste Fall ein wie jetzt bei der CS, tun die Verantwortlichen so, als ob nicht das mickrige Eigenkapital, eine riskante Geschäftspolitik oder unregulierte Wettgeschäfte zum Kollaps führten, sondern «Gerüchte in den sozialen Netzwerken» (CS-Präsident Axel P. Lehmann) schuld seien oder sogar die «Kunden und Kundinnen, die wegen eines Vertrauensverlusts massiv Gelder abzogen» (Finma-Präsidentin Marlene Amstad) oder einfach der «Vertrauensverlust» (Bundesrätin Karin Keller-Sutter). ■

Quelle: www.infosperber.ch/wirtschaft/kapitalmarkt/staenderat-hat-2016-die-pleite-der-credit-suisse-mitverursacht/

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Die westlichen Waffen verlängern den Konflikt, ohne die Situation der Ukraine zu verändern

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wir sind tagtäglich in der medialen Berichterstattung mit Meldungen konfrontiert, deren Wahrheitsgehalt nicht für alle Menschen fragwürdig erscheint. Die Propaganda läuft nach wie vor auf Hochtouren, und ein normaler Mensch weiss nicht, was stimmt und was nicht stimmt.So gibt es immer wieder Meldungen in der Presse, dass Russland Gelände verliere und die Ukrainer Territorium zurückeroberten. Ist das glaubhaft?

Jacques Baud Das ist völlig falsch und fern der Realität. Es wird immer deutlicher, und das ist schon seit letztem Jahr klar gewesen: Die ukrainische Armee hat nie Gelände erobert, aus dem die russische Armee nicht schon früher und absichtlich abgezogen war. Die russische Armeeführung hat aus verschiedenen Gründen entschieden, diese Gebiete nicht zu halten. In der Folge «eroberte» die ukrainische Armee dieses Gebiet. Seit dem Beginn des Krieges hat die ukrainische Armee kein Territorium durch Kampf erobert. Schaut man eine Karte an, dann sieht man, die Ukraine hat an manchen Punkten Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht, aber das war nie das Resultat eines Kampfes. Und das ist heute immer noch die Situation. In meinem Buch «Operation Z», das vor dem russischen Abzug aus Charkow und Cherson veröffentlicht wurde, habe ich eine im Juli 2022 gezeichnete Karte, aus der hervorgeht, dass die russische Truppendichte in den Sektoren Charkow und Cherson bei einem Bataillon pro 20 km lag. Im Donbas lag die Truppendichte bei einem Bataillon pro 1 bis 3 km. Mit anderen Worten: Schon lange vor den sogenannten ukrainischen Offensiven im September und Oktober waren diese Gebiete für die Russen eine dritte Priorität.
In den Zonen, die die Russen den Ukrainern überliessen, waren sozusagen keine Truppen vorhanden, was erkennen lässt, dass die Russen kein Interesse an diesem Gebiet hatten. Im Kampf um Bachmut ist es anders als in Cherson oder Charkow.
Im Sommer 2022 hatte Russland sein Ziel der «Entmilitarisierung» erreicht. Die Ukraine hatte fast ihre gesamte Einsatzfähigkeit verloren und begann, von westlicher Militärhilfe abhängig zu werden. Selenskij musste die Territorialverteidigung mobilisieren und bat den Westen um Waffen¹.
Das Problem der Ukrainer ist nicht die Menge der Waffen, sondern die Art und Weise, wie sie diese einsetzen. Die ukrainischen Streitkräfte wurden von der Nato nicht auf diese Art von Krieg vorbereitet. Ab Sommer 2022 stellten die Russen daher fest, dass die westlichen Waffen den Konflikt verlängern würden, ohne die Situation der Ukraine zu verändern.
Die Russen änderten daher ihre Strategie. Sie hatten ihre Ziele der «Entnazifizierung» im März und der «Entmilitarisierung» im Juni 2022 erreicht. Die im Februar, März und August 2022 vorgeschlagenen Verhandlungen wurden von den Europäern und Grossbritannien verhindert. Für die Russen geht es also nicht mehr darum, die Ukrainer zu Verhandlungen zu bewegen, sondern darum, sie schrittweise zu zerstören.
Dies erklärte der General Surowikin im Oktober 2022. Es geht nicht darum, Gebiete einzunehmen, sondern den Ukrainern zu erlauben, Gegenangriffe zu starten und sie methodisch und systematisch zu zerstören. Genau das geschieht in Bachmut.


In unseren Medien heisst es aber, die Russen verlören bei ihrer Strategie Tausende von Soldaten.
Niemand kennt die genauen Zahlen der russischen oder ukrainischen Verluste. Niemand, ausser den Behörden beider Länder, die diese Daten geheim halten. Die einzigen Zahlen, die «offiziell» angegeben werden, sind die von der ukrainischen Propaganda. Es sind die Zahlen, die von den Schweizer Medien genannt werden, obwohl man weiss (ich wiederhole: man weiss!), dass es sich dabei um Propaganda handelt. Deshalb sind die Zahlen für die Russen so hoch, und deshalb werden diejenigen, die diese Zahlen anzweifeln, als «Verschwörungstheoretiker» bezeichnet. Man kann nachweisen, dass unsere Journalisten keine Informationen überprüfen und wie Papageien arbeiten.
Über die Verluste der Ukraine haben wir nur Aussagen des ukrainischen Militärs. Von der Schlacht bei Bachmut weiss man, dass die Ukraine ungefähr ein Bataillon pro Tag verliert, das sind nicht nur die Toten, sondern auch die Verwundeten. Das heisst täglich zwischen 200 und 300 Toten. Das sind absolut enorme Zahlen.


Woher weiss man das?
Ein Bericht des Bundesnachrichtendienstes für den deutschen Bundestag erwähnte nicht die exakten Zahlen, aber berichtete, dass die Verluste sich im dreistelligen Bereich bewegen. Für die russische Seite haben wir eine Vorstellung von den Verlusten dank einer Website, die zu Beginn der russischen Offensive von der BBC und «Mediazona», einem Medium der russischen Opposition, erstellt wurde. Die Aussagen von «Mediazona basieren auf Todesanzeigen in russischen Zeitungen. Sie kommen mit Zahlen, die etwas ernsthafter scheinen als die in unseren Medien in der Schweiz. Die Zahlen von «Mediazona» zeigen, dass die Zahl der Toten etwa zehnmal niedriger ist als die von der ukrainischen Propaganda und unseren Propagandamedien angegebenen Zahlen. Das Verhältnis der Verluste ist so, dass die Ukraine ungefähr zehnmal mehr Armeeangehörige verliert als die Russen. Das ist seit Beginn des Krieges so. Bei dem, was die ukrainische Propaganda sagt, und unsere Medien übernehmen, spricht man von Spiegeleffekt. Wenn die Ukrainer im Kampf 100 Leute verlieren, dann behaupten sie, die Russen hätten 100 verloren. Tatsächlich machen die Russen zehnmal weniger Verluste. Die Ukrainer sagen genau die umgekehrten Zahlen. Diese Methode wird allgemein angewendet. Man kann das im Nachhinein feststellen. Wenn man die Daten vor einer Woche, vor drei Wochen vergleicht mit dem, wie es heute im Gelände aussieht, dann kann man mit aktuellen Karten, wohlgemerkt ukrainischen, das abschätzen. Man sieht daran, dass die Informationen, die unsere Medien gehabt haben, Informationen der ukrainischen Propaganda gewesen sind. Diese Informationen sind falsch. Wenn Ukrainer sagen, sie machten eine Gegenoffensive, sind es in Tat und Wahrheit die Russen, die eine Offensive durchführen. Wenn sie behaupten, die Russen hätten 1000 Verluste, dann ist das immer umgekehrt.


In unseren Medien kann man lesen, die Russen kämen in Bachmut nicht vorwärts, weil der ukrainische Widerstand so gross sei.
Nein, das stimmt nicht. Die Russen gehen ständig vorwärts seit Anfang der Operation. Aber die Russen wollen ihre Truppen schonen, und die Ukrainer beachten das in ihrem Kampf nicht. Die Russen attackieren nur, wenn die Gelegenheit günstig ist oder sie eine Überlegenheit haben. Aus diesem Grund sind die Verluste der Russen viel weniger gross, aber dafür kommen sie langsamer vorwärts. Es ist eine völlig falsche Annahme, wenn man meint, der Angreifer hätte mehr Verluste als der Verteidiger. Die Russen haben ständigen Erfolg. Die Soldaten, die im Raum Bachmut kämpfen, sind die sogenannten Wagner Truppen. Die Wagner-Gruppe ist das Pendant zur Fremdenlegion in Frankreich und geniesst in Russland das gleiche Ansehen wie ihr französisches Pendant.


Vor kurzen schrieben einige Zeitungen und zeigten auch ein Bild, wie ein russischer Soldat mit einem Spaten in der Hand unterwegs ist. Kommentiert wurde das Ganze, die «Russen haben keine Munition mehr und deshalb müssen sie mit Spaten oder nackten Händen kämpfen.»
Das ist reine Propaganda. Die russischen Soldaten haben immer einen Feldspaten gehabt.
Bereits in den 1980er Jahren wurde gezeigt, wie die russischen Spetsnaz mit Feldspaten den Nahkampf trainierten. Es ist eine extrem effektive, gefährliche und schreckliche Waffe, die sozusagen das «Markenzeichen» der russischen Spezialeinheiten ist. Ironischerweise waren es während des Kalten Krieges die Sowjets, die mit diesen Bildern Propaganda machten. Heute sind es die Westler, die mit denselben Bildern Propaganda gegen die Russen machen. Die Zeiten ändern sich.
Übrigens, die Schweizer Armee hat diese Spaten auch. Als Panzergrenadier hatten wir auch in der Schweiz diese Feldspaten und lernten, damit zu kämpfen. Im Nahkampf ist das eine ideale Waffe. Damals, als ich zum Panzergrenadier ausgebildet wurde, war unsere Spezialität Häuserkampf. Dabei ist man nur wenige Meter vom Feind entfernt, und es kommt sehr schnell zum Nahkampf. In dieser Situation sind alle möglichen Waffen gut. Es ist also nicht erstaunlich, dass die Russen mit Feldspaten ausbilden.
Es gibt keine Hinweise dafür, dass die Russen zu wenig Waffen zur Verfügung hätten. Die Russen haben viel mehr Waffen, als der Westen der Ukraine offerieren kann². Hier sieht man wieder den Spiegeleffekt, denn es ist der Westen, der Probleme hat, die Ukraine mit Waffen zu versorgen. Die westliche Rüstungsindustrie reicht nicht aus, um den Bedarf der Ukrainer zu decken. Aus diesem Grund werden in Rumänien alte Produktionslinien für Munition aus der Sowjetzeit reaktiviert, und es wird vorgeschlagen, ukrainische Flüchtlinge für die Produktion dieser Munition einzustellen.
Die Russen haben genügend Waffen und Munition. Bereits am 2. März letzten Jahres hat man behauptet, die Russen hätten keine Raketen mehr. Seit einem Jahr haben sie Hunderte von Raketen geschossen. Was man in unseren Medien liest oder was sie sagen, das ist mehr als Propaganda, das ist Desinformation. Doch die wird immer mehr durchschaut.
Umfragen in den Vereinigten Staaten zeigen eine zunehmende Müdigkeit der Bevölkerung in Bezug auf die Ukraine-Krise³.
Trotz der ukrainischen Siegesmeldungen scheint sich auf dem Schlachtfeld nichts zu bewegen. Man hat ein wachsendes Gefühl, dass diese Erklärungen nur dazu dienen, die Unterstützung des Westens aufrechtzuerhalten.
Es gibt kein Ziel, auch wenn man sagt, die Ukraine müsse siegen. Was heisst Sieg für die Ukraine? Niemand hat das definiert. Die Eroberung von den besetzten Gebieten scheint wenig wahrscheinlich. Ist es die Eroberung der Krim? Niemand weiss genau, was siegen heisst.
Der Öffentlichkeit wird klar, dass das, was der Westen mit der Ukraine tut, keinen Sinn mehr hat. Wenn unsere Politiker wirklich so viel Mitgefühl mit den Ukrainern gehabt hätten, hätten sie auf der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen bestanden, was sie absichtlich nicht getan haben. Selenskij erklärte selbst, dass er nie die Absicht gehabt habe, diese Vereinbarungen umzusetzen⁴. Die derzeitige Situation in der Ukraine ist das Ergebnis des katastrophalen Konfliktmanagements unserer politischen Eliten seit 2014. Aus diesem Grund sahen sich die Russen gezwungen, einzugreifen, um das Leben und die Würde der Zivilbevölkerung im Donbas zu retten.


Warum haben die Medien diesen Umstand nur ungenügend oder gar nicht thematisiert?
Viele Medien zeigen die gleiche Haltung wie die Neo-Nazis in der Ukraine, nämlich dass die russische Bevölkerung im Donbas «Untermenschen» seien.
Tatsächlich werden sie so behandelt, da sie nicht die gleichen Verfassungsrechte geniessen wie die anderen Ukrainer. Das wurde durch das Gesetz vom 1. Juli 2021 zementiert. Keines unserer Medien hat das aufgegriffen und das Gesetz kritisiert, geschweige denn unsere Politiker. Aus diesem Gesetz gegen die russische Bevölkerung spricht der gleiche Geist wie aus den Nürnberger Rassengesetzen von 1935, und das ukrainische Gesetz hat der Westen akzeptiert⁵. Unsere Medien haben diese rassistische Gesinnung akzeptiert. Wenn Putin sagt, das seien Neo-Nazis, hat er Recht. Ich möchte jedoch betonen, dass Neo-Nazismus etwas anderes ist als Nazi-Ideologie. Neonazis haben eine aggressive und rassistische Einstellung gegenüber anderen, aber keine politische Ideologie im eigentlichen Sinne.
Dieses Gesetz richtet sich nicht gegen das, was man tut, sondern gegen das, was man ist. Es erinnert uns an die dunklen Stunden Europas, aber keine unserer Medien hat es verurteilt. Deshalb befinden wir uns heute im Krieg, weil Russ­land den berechtigten Eindruck hat, dass es ungerecht ist, dass die russischsprachige Bevölkerung diskriminiert und nicht wie die anderen Ukrainer, sondern wie Untermenschen behandelt wird.
Genau das ist das Problem. Die Russen hatten nie die Absicht, die Ukraine zu erobern oder Kiew einzunehmen. Sie haben sogar Selenskij und seine Kommandostruktur verschont.
Die Russen funktionieren nach einer clausewizianischen Logik und versuchen ihre taktischen Erfolge, in strategische Möglichkeiten umzuwandeln. Die Situation der Bevölkerung im Donbas und die Schutzverantwortung (R2P), die sie zum Handeln veranlasst hat, wird sicherlich für eine Verhandlung mit strategischem Charakter genutzt werden.
Indem wir die Robustheit der russischen Wirtschaft unterschätzten und die Auswirkungen unserer Sanktionen überschätzten, schafften wir eine für die Russen günstige Situation. Hätten wir vor 2022 gehandelt, um die Bevölkerung im Donbas zu schützen, hätten wir Wladimir Putin diesen Vorwand genommen. Geblendet von ihrem Hass auf Russland legitimierten unsere Politiker das Vorgehen Russlands auf Kosten der ukrainischen Bevölkerung.
Der einzige Grund, warum wir diese Mechanik nicht verstehen, ist, dass unsere Medien exklusiv – ich betone: ausschliesslich – auf der Grundlage ukrainischer Propaganda arbeiten. Selbst die ukrainischen Medien, berichten oftmals differenzierter als unsere eigenen Medien.


Mit welcher Berechtigung und Begründung grenzt die ukrainische Regierung die russischsprachige Bevölkerung aus, und das Parlament stimmt diesem rassistischen Gesetz zu?
Das ist die gleiche Gesinnung, warum man die Russen von der Katzenausstellung ausschloss. Das ist genau die gleiche Gesinnung, warum man die russische Bevölkerung mit Sanktionen belegt. Das ist genau die gleiche Gesinnung wie bei Angriffen auf Restaurants in Frankreich, weil sie Poutine (ein traditionelles Gericht aus Québec) auf der Speisekarte haben⁶. Das ist genau die gleiche Gesinnung, warum man Konten von Menschen mit russischen Namen blockiert⁷.
Man hat Leute in politischen Positionen wie Frau von der Leyen, wie Olaf Scholz, wie Chrystia Freeland, wie Antony Blinken oder wie Victoria Nuland. Diese Menschen hassen von ihrer Familiengeschichte her die Sowjets bzw. heute die Russen. Darum geht es.
Die Ukraine-Krise wird von inkompetenten Staatsführern auf der Grundlage von Informationen bestimmt, die von ungebildeten Journalisten übermittelt und von Einfaltspinseln gelesen werden. Dieser Kreislauf wird sorgfältig durch eine Zensur aufrechterhalten, die sogar die ukrainischen Medien ausschliesst!
Das ist der Hintergrund, und die Ukraine hat diese Spannungen mit der russischen Bevölkerung aufrechterhalten. Ihr Ziel ist es, die ethnische Reinheit zu erreichen, und das wurde klar gesagt und auch schriftlich festgehalten. Das ist in meinem Buch «Operation Z» in Auszügen zitiert. Man wollte die russischsprachige Bevölkerung aus der Ukraine herauswerfen oder ihnen das Leben unmöglich machen. Wenn man heute die Situation der Flüchtlinge anschaut, sind die meisten Flüchtlinge nach Russ­land geflohen. Natürlich sind auch welche nach Polen und in andere Staaten gegangen, aber die Mehrheit brachte sich in Russland in Sicherheit. Die Propaganda betrachtet das natürlich anders und sagt, die Flüchtlinge sind in den Westen geflohen. Wenn man alles zusammenzählt, ist die Mehrheit in den Westen gegangen, das stimmt, aber betrachtet man die einzelnen Länder, dann wurden die meisten Flüchtlinge von Russland aufgenommen. Das erklärt die Situation in der Ukraine. Das war die Ausgangslage im Februar letzten Jahres.


Wie haben die Russen darauf reagiert, als immer mehr Waffen in die Ukraine geliefert wurden?
Das kann man seit letztem Sommer beobachten. Die Russen haben verstanden, dass die westlichen Länder immer mehr Waffen bringen. Waffen kann man herstellen und zerstören. Aber wenn die Soldaten «zerstört» werden, nützen die Waffen nichts. Die Russen haben das Ziel ins Auge gefasst, die ukrainische Armee zu zerstören. Wenn die Ukrainer so weiter kämpfen wollen, dann ist das ihr Entscheid.
Seit dem Sommer letzten Jahres haben die Russen begriffen, dass die westlichen Länder lediglich versuchen, den Konflikt zu verlängern. Es ist bekannt, dass die Ukraine nicht in der Lage sein wird, die Situation vom Februar 2022 wiederherzustellen, aber es werden weiterhin Waffen geliefert.
Die Russen haben sich angepasst: Wenn sie den Waffenfluss nicht unterbrechen können, zerstören sie die Nutzer. Der Westen kann unendlich viele Waffen produzieren, aber nicht die Kämpfer. Das war die Quintessenz der Aussage des russischen Generals Surowikin im Oktober 2022⁸.
Man sieht, die Kämpfer auf der ukrainischen Seite werden immer jünger oder älter. Sie haben bereits die 16-jährigen rekrutiert. Man sieht immer mehr, dass die 50-jährigen Ukrainer im Donbass sterben. Die besten und jüngeren Soldaten sind noch nicht ganz erschöpft, aber es wird ein Punkt kommen, dann wird die Ukraine keine Soldaten mehr haben. Sehr viele Einheiten desertierten. Deshalb wurde im Januar das Gesetz gegen Desertation und Mangel an Disziplin verschärft⁹. Die Soldaten auf der ukrainischen Seite wollen nicht mehr kämpfen. Das Problem gibt es auf der russischen Seite nicht. Beim Kampf um Bachmut haben sie Freiwillige, sie verweigern den Dienst nicht. In der Ukraine hat man immer mehr Beispiele von forcierter Mobilmachung. Das heisst, Leute wurden, man könnte fast sagen, entführt, um an die Front geschickt zu werden. Das betraf sehr stark die ungarische Minderheit, vor allem im Westen der Ukraine. Dieser Vorgang führte zu Spannungen zwischen Ungarn und der Ukraine und natürlich auch zwischen Ungarn und der EU. Ungarn hat immer noch Interesse an ihrer ungarischsprachigen Minderheit. Der ungarische Aussenminister tritt daher für Verhandlungen zur Beendigung des Konflikts ein.
Diese Hintergründe werden in unseren Medien nicht erwähnt. Es heisst dann, Orban sei rechts orientiert etc. Das Problem ist nicht, ob man rechts oder nicht rechts ist, sondern es ist eine Frage der Menschenrechte. Dieses Problem besteht im Grunde genommen seit 2014, denn die ungarische Minderheit sowie die rumänische, die zwar viel kleiner ist, werden seit 2014 gezielt in der Ukraine diskriminiert. Opportunistisch, wie unsere Medien sind, wird das nicht berichtet. Denn das würde das Bild, dass die Ukraine ein demokratischer Staat sei, der die «westlichen Werte» vertrete, demontieren.


Was die Mainstream-Medien immer wieder thematisieren, ist die russische Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung. Haben Sie Informationen darüber?
Das stimmt nicht, das ist Propaganda. Es ist natürlich nicht auszuschliessen, dass es zu Gewalttätigkeiten gekommen ist. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass es systematisch Gewalt gab. Wenn man die Karte anschaut, dann sieht man, dass die russischen Truppen sich im russischsprachigen Gebiet der Ukraine aufhalten. Diese Menschen verstehen und fühlen sich als Russen. Das Gesetz vom Juli 2021, das einen Unterschied macht zwischen einer russischstämmigen Bevölkerung und der nicht russischstämmigen Bevölkerung, verstärkt ihr Gefühl. Sie hatten sich nie als Ukrainer gefühlt. Die russischen Truppen haben also keinen Grund, sich gegenüber der Bevölkerung brutal zu verhalten. Das ist Unsinn. Das Hauptproblem ist, wie bereits erwähnt, ein Gesetz, das einen Unterschied zwischen den verschiedenen Ethnien macht. Das ist der Grund, warum niemand in der Schweiz über das Gesetz spricht. Das wäre, wie wenn es in der Schweiz ein Gesetz gäbe, das den Deutschschweizern Vorrechte gegenüber den übrigen Schweizern einräumen würde. Es hätte zwar jeder einen Schweizer Pass, aber sie hätten nicht die gleichen Rechte. Ein Indiz dass es sich um eine Falschaussage handelt, ist, dass es in den besetzten Gebieten keine Widerstandsbewegungen gibt.
Das oben erwähnte Gesetz über indigene Völker zeigt, dass Kiew nie versucht hat, die russischsprachige Bevölkerung ihres Landes für sich zu gewinnen. Das Ergebnis ist, dass sich diese Bevölkerung heute eher den Russen zugehörig fühlt. Das bedeutet, dass es zu neuen Gewalttätigkeiten kommen würde, wenn diese Gebiete auf die eine oder andere Weise an die Ukraine zurückfallen sollten.
Im Irak oder in Afghanistan, die US- oder Nato-Truppen waren nie sicher. Alle waren Feinde. Das gibt es bei den russisch besetzen Gebieten nicht. Dazu kommt, dass die Russen sofort begonnen haben, Städte wie Mariupol wieder aufzubauen. Die Russen sind im Krieg, aber hinter der Front bauen sie alles wieder auf, was zerstört worden ist. Die Bevölkerung sieht den Unterschied zwischen dem, was sie unter der Herrschaft der Ukrainer erlebt haben und wie es jetzt mit den Russen ist. Wenn man vor 2014 die Investitionen von Kiew auf der Krim oder im Donbas anschaut, da geschah nichts, aber auch gar nichts. Die Bevölkerung in den besetzten Gebieten hat keinen Grund, eine Antipathie gegen die Russen zu haben.
Aber es gibt noch ein wichtiges Element, und da ist die Aussage von Olekseï Arestovitch bemerkenswert. Er war Personalberater von Selenskij. Er hat im Januar ein Interview gegeben. Er sagte, die Russen hätten ihre Operation so geplant, dass so wenig wie möglich Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wird. Er sagte sogar: «Sie haben eine schöne und elegante Operation geplant.»


Der ehemalige Präsident des IKRK, Peter Maurer, hat in einem Interview auch betont, dass das humanitäre Völkerrecht noch nie so eingehalten wurde wie in diesem Krieg.
Ja, das ist genau das. Natürlich lassen sich zivile Opfer in einem Krieg nicht vermeiden, aber die Behauptung, dass die Russen absichtlich gegen die Zivilbevölkerung vorgehen, ist völlig falsch. Das ist reine Propaganda. Diese Propaganda ist allgegenwärtig, aber die Menschen realisieren langsam, dass alles, was unsere Medien geschrieben oder gesagt haben, wie z. B. Russland verliert, der Sieg ist auf Seiten der Ukrainer, sie sind ehrlich, die anderen sind unehrlich, nichts mit der Realität zu tun hat. Das alles, was man uns vorsetzte, wird langsam demontiert und erweist sich als völlig falsch. Das wirkt gegen die Ukrainer. Mehr und mehr liest man in den Medien – natürlich nicht in den Schweizer Zeitungen – das sind Papageien, die alles nachplappern und sich dabei ständig wiederholen, dass etwas nicht stimmen kann. Es sind immer die gleichen Informationen, die die einen Medien von den anderen abschreiben und umgekehrt. Das sind keine unabhängigen Informationen, sondern es sind die gleichen Informationen, die woanders dargestellt wurden. Das ist die Art und Weise, wie unsere Medien arbeiten.


Nach Ihren Erfahrungen und sorgfältigen Recherchen interessiert es, ob es keine Medien gibt, die seriös berichten und nicht wie die Mainstream-Medien.
Doch, das gibt es schon. Medien im Ausland beginnen langsam, auch andere Inhalte zu berichten, denn sie merken, was sie bisher berichteten, war falsch. Es kommt immer mehr an die Öffentlichkeit, dass uns die Ukrainer belogen haben. Auch die Medien haben uns belogen, und das wendet sich langsam gegen die Ukraine. Die Medien erzählen, dass die Ukraine siegt, aber sie braucht dringend Waffen, Panzer, Flugzeuge und, und, und. Irgendetwas stimmt hier nicht. Wenn man die Zahlen sieht, die im Westen verbreitet werden, dann haben die Russen mehr Panzer verloren, als die Ukraine Panzer besitzt. Das ist doch völlig neben der Realität, und man merkt, dass es falsch ist. Unsere Medien – und ich habe das von Anfang an gesagt – haben mit ihrer Berichterstattung gegen die Ukraine gearbeitet. Sie haben mit ihren Veröffentlichungen Propaganda betrieben. Es war unmöglich, eine Gegenposition in die Diskussion zu bringen. Immer hiess es, die Ukraine gewinnt, sie kämpfen besser, sind motivierter etc. und wenn man gewisse Zweifel daran hatte oder dem widersprach, galt es als russische Propaganda. Sie haben geschrieben über die Stärke der Ukraine, dass die Russen daran scheitern werden, dass Putin unzufrieden ist mit der Armee etc.
Der schlimmste Fehler, den man im Krieg machen kann, ist, den Feind zu unterschätzen. Und das haben wir gemacht. Die Ukrainer werden den Preis der falschen Information unserer Medien bezahlen.


Eine neue Geschichte wird in unseren Mainstream-Medien erzählt, dass Russland Moldawien angreifen will. Halten Sie das für realistisch?
Ich habe davon auch gehört. Ich kann natürlich nicht in den Kopf von Putin schauen. Aber die Russen haben meines Erachtens kein Interesse, Moldawien anzugreifen. Aber die Ukrainer wollen einen Zwischenfall provozieren. Das versuchen sie seit dem Beginn der russischen Operation, um die Nato in den Krieg zu ziehen: mit den Artilleriegeschossen auf das Atomkraftwerk in Saparoschje oder verschiedenen Behauptungen von Angriffen auf die Zivilbevölkerung wie in Mariupol, etc. Sie wollten, dass die Nato nicht nur Waffen liefert, sondern direkt eingreift, um auf der Seite der Ukrainer zu kämpfen. Es könnte sein, dass die Ukrainer Transnistrien angreifen in der Hoffnung, dass die Russen die Moldau – denn Transnistrien gehört formell zur Moldau – in die Schranken weisen. Es gibt in diesem Krieg nicht mehr viele Optionen für die Ukrainer. Man redet von Gegenoffensive, aber ich glaube, das ist mehr Rhetorik als Wirklichkeit. Es könnte sein, dass sie versuchen, so eine Aktion durchzuführen, aber ich bin nicht davon überzeugt. Sicher ist, dass die Russen Moldawien nicht angreifen wollen. Man muss wissen: Die Regierung in Moldawien hat mit falscher Politik das Land in eine wirtschaftliche Katastrophe geführt. Es gibt Probleme innerhalb der Regierung. Das Land ist instabil aufgrund der katastrophalen moldawischen Politik. Das spielte sich aber alles vor dem Krieg ab. Sie hatten russisches Gas gekauft, aber nie dafür bezahlt. Das führte zu Problemen in der Energieversorgung. Das Ganze verschärft sich jetzt. Es gibt eine hohe Inflation. Die Menschen sind damit nicht zufrieden. Die EU spielt mit Moldawien, denn das könnte dazu dienen, einen Zwischenfall zu kreieren, vielleicht um die Lage der Ukraine etwas zu verbessern. Deshalb besteht eine gewisse Gefahr.
Im Moment ist es so, dass niemand in der Lage ist, das Problem zu lösen. Die USA wissen nicht, wie sie aus dem Konflikt herauskommen können. Das Gleiche gilt für die EU, die sich verpflichtet hat, für den Wiederaufbau der Ukraine Milliarden zu bezahlen, aber mit jedem Tag wird das schwieriger. Militärisch hat die Ukraine keine Lösung. Die paar Panzer, die man schickt, bringen tatsächlich nichts. Die Staaten hätten Hunderte von Panzern liefern müssen, aber sie sind nicht in der Lage, dies zu tun.
Ausserdem ist es nicht nur eine Frage der Anzahl Panzer, sondern auch der Art und Weise, wie der Krieg geführt wird. In der Ukraine führt im Grunde genommen Selenskij den Krieg. In Russland führen hohe Militärs wie Gerassimow und Surowikin den Krieg. Das ist etwas ganz anders. Es sind militärische Leute, die den Krieg führen. Putin sagt kein Wort zu militärischen Operationen. Er hat die politischen Richtlinien gegeben. Das ist normalerweise so, und das Militär muss diese in militärische Operationen umsetzen. In der Ukraine ist das eine reine politische Führung. Das Militär führt das aus, was Selenskij sagt, und deshalb ist die Propaganda so wichtig für die Ukraine. Das Ziel der Ukraine ist nicht einmal, im Feld zu siegen. Das wichtige Element für die Ukrainer ist, dass Russland verliert. Man sieht mehr und mehr, das Ziel wird nicht erreicht. Wir sind im Westen in einer Situation, in der niemand genau weiss, wie das Problem jetzt zu lösen ist. Das Problem der russischen Seite löst sich im Feld, im Gelände. Die russische Armee hat eine Artillerieüberlegenheit von 10 zu 1 gegenüber den Ukrainern. Das erklärt auch die Verluste von 10 zu 1 im umgekehrten Sinn. Derjenige, der mehr Artillerie hat, tötet mehr Soldaten. Wenn man die Zahlen anschaut, dann gibt es eine gewisse Kongruenz. Die Russen schiessen das Zehnfache an Munition, was die Ukrainer schiessen. Der Westen ist unfähig, die Anzahl Munition den Ukrainern zu liefern, um ein Gleichgewicht zu schaffen. Die Ukraine verschiesst in einer Woche so viel Munition wie die monatliche Produktion von 155 mm-Geschossen in den USA10. Die USA kommen nicht vorwärts. Sie haben jetzt gesagt, sie würden die Produktion beschleunigen. Das braucht viel Zeit, bis man die Produktion hochfahren kann. Es gibt keine Munition. Das ist auch ein weiteres Beispiel für den Spiegeleffekt. Man behauptet ganz einfach, die Russen hätten keine Munition. Das stimmt nicht. Die Russen haben jede Munition verfügbar, und zwar in grossen Mengen. In Afghanistan zum Beispiel haben die USA pro Tag 300 Artilleriegeschosse verschossen. Die Produktion von Artilleriegeschossen in den USA ist pro Tag ungefähr 400. Die Russen schiessen 30 000 Geschosse am Tag, die Ukrainer 3 000. Die Nato war überhaupt nicht darauf vorbereitet, der Ukraine etwas zu liefern, weil sie in der Vergangenheit ganz andere Kriege geführt hat. Deshalb ist die Kapazität zur Produktion von Waffen und Munition sehr ungenügend. Die Russen haben das Potential beibehalten und genügend Munition auf Lager. Sie brauchen keine Munition von den Chinesen oder aus Nord-Korea usw. Bisher liefert China keine Waffen, aber wenn man China weiter so behandelt, wie es in der letzten Zeit geschehen ist, und China als Feind betrachtet wird, dann muss man sich auch nicht wundern, wenn China sich gegen den Westen wendet. Wir haben von Anfang an und von A bis Z völlig falsch auf die Situation reagiert.


Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch. Es wäre ein Segen, wenn Bundesbern Ihre Ausführungen zur Kenntnis nehmen würden.
Interview Thomas Kaiser

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.


¹«Zelenskiy Asks NATO Allies For Modern Heavy Weapons, More Financial Support», RFE/RL's Ukrainian Service, 29 juin 2022 (www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-nato-modern-weapons-financial-supprot/31921346.html)
²Henry Foy, «A year of war in Ukraine has left Europe’s armouries dry», Financial Times, 15 février 2023 (www.ft.com/content/661a7278-3dc4-4afd-b6b4-3f0e8eb4477c)
³Wolfgang Münchau, «The first signs of Ukraine war fatigue in the West are starting to appear», The New Statesman, 13 janvier 2023 (www.newstatesman.com/comment/2023/01/ukraine-war-fatigue-republicans-europe-west)
⁴Rakshit Sharma, «Zelenskyy takes credit for derailing Minsk Agreement meant to establish peace in eastern Ukraine», FirstPost, 10 février 2023 (www.firstpost.com/sports/zelenskyy-takes-credit-for-derailing-minsk-agreement-meant-to-establish-peace-in-eastern-ukraine-12134822.html)
⁵«Нардеп від "Слуги народу" Семінський заявив про "позбавлення конституційних прав росіян, які проживають в Україні"», AP News, 2 juillet 2021 (apnews.com.ua/ua/news/nardep-vid-slugi-narodu-seminskii-zayaviv-pro-pozbavlennya-konstitutciinikh-prav-rosiyan-yaki-prozhivaiut-v-ukraini/)
⁶Maxime Fettweis, «Les restaurants ‹Maison de la Poutine› menacés depuis l’invasion russe en Ukraine», Ouest-France, 3 mars 2022 (www.ouest-france.fr/monde/guerre-en-ukraine/les-restaurants-maison-de-la-poutine-menaces-depuis-l-invasion-russe-en-ukraine-285bc824-9b1a-11ec-9b84-e19eae6be2d1)
⁷Clément Kasser, «Des Français privés de compte en banque à cause de leur nom russe», L’Obs, 26 juillet 2022 (www.nouvelobs.com/entreprises/20220726.OBS61366/des-francais-prives-de-compte-en-banque-a-cause-de-leur-nom-russe.html)
⁸«Суровикин: российская группировка на Украине методично "перемалывает" войска противника», TASS, 18 octobre 2022 (tass.ru/armiya-i-opk/16090805)
⁹«Zelensky Signs Controversial Law Toughening Punishment for Desertion in Army», AFP/Kiyv Post, 25 janvier 2023 (www.kyivpost.com/post/11498)
10 «‹A day in Ukraine is a month or more in Afghanistan› in terms of artillery ammo consumption – expert», Euromaidan, 27 novembre 2022 (euromaidanpress.com/2022/11/27/a-day-in-ukraine-is-a-month-or-more-in-afghanistan-in-terms-of-artillery-ammo-consumption-expert/)

Gedanken eines denkenden Reservisten

von Dr. Stefan Nold

Die weissen Tauben sind müde.
Sie fliegen lange schon nicht mehr.
Sie haben viel zu schwere Flügel,
und ihre Schnäbel sind längst leer.

Jedoch die Falken fliegen weiter.
Sie sind so stark wie nie vorher.
Und ihre Flügel werden breiter,
und täglich kommen immer mehr.
Nur weisse Tauben fliegen nicht mehr.


Als Hans Hartz 1982 mit diesem Lied von Christoph Busse heraus kam, war ich 23. Vierzig Jahre, mein halbes Leben, sind seitdem vergangen. Willy Brandts Kniefall 1970 vor den Helden des Warschauer Ghettos ist mir lebhaft in Erinnerung: Meine Mutter hat damals geweint. Als Wladimir Putin sich 2001 im Bundestag in berührendem Deutsch an uns gewandt hat und die Hand zur Zusammenarbeit ausgestreckt hat, haben wir das nicht mitbekommen. Zu der Zeit wollten wir nur unser Haus fertig bauen. Welche Chance ist da vertan worden!
1978/1979 habe ich Wehrdienst geleistet. Einmal mussten wir mit dem G3 auf eine Figur schiessen, die hinter einem Holzstoss kauernd dargestellt war. Wir sollten auf den Punkt zwischen den Augen zielen. Am Abend vor dem Einschlafen habe ich lange überlegt, ob ich nicht doch verweigern soll. Aber hätten das alle getan, wäre das Gleichgewicht der Kräfte gefährdet worden, mit dem wir am Ende den Kalten Krieg an der Seite der USA glücklich überlebt haben. Gerade die Behandlung von Skandalen wie etwa Watergate zeigten, dass die Demokratie dort funktionierte: Ein amtierender Präsident wurde seines Amtes enthoben, weil er einen Einbruch abgenickt hatte.
Heute teilt uns der US-Präsident mit, er würde einer deutsch-russischen Milliardeninvestition «ein Ende bereiten» – und unser Kanzler steht stumm daneben. Nach der Sprengung der Nordstream-Pipelines freut sich ein Mitglied der US-Regierung, dass das nur noch «ein Haufen Schrott auf dem Boden des Meeres ist.» Und Deutschland schweigt. Das ist keine Partnerschaft mehr – das ist eine toxische Beziehung. Unsere Eliten sind Vasallen der USA; ihr Rückhalt in der Bevölkerung schwindet. Wenn die da oben von «Verantwortung übernehmen» schwafeln, wissen wir da unten, dass wir die Suppe auszulöffeln haben. Dazu kommt der zur Schau gestellte Militarismus von Dummbeuteln, die nie ein Gewehr in der Hand gehalten haben. Das ist einfach nur noch grotesk.
Aber sollten wir nicht einem Angegriffenen helfen? Ja! Beispiel: Ein kleiner Junge prügelt sich mit einem älteren. Im einen Fall feuern die Zuschauer den kleinen Jungen an, immer weiter zu kämpfen, geben ihm Klappmesser und Pistole – obwohl der Ältere sich das alles auch besorgen kann und beide schon blutüberströmt sind – besonders der Kleine. Im anderen Fall gehen die Zuschauer dazwischen und bringen die Streithähne auseinander. Wenn der kleine Junge Ihr Kind wäre, bei wem würden Sie sich bedanken?
Nur durch unermüdliches Bemühen um Frieden in der Tradition von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl könnte unsere Regierung zur Lösung des Konflikts beitragen. Aber solche Persönlichkeiten fehlen, die letzten weissen Tauben beschimpft man. Nun kreisen im Westen die ersten Pleitegeier. Die werden über kurz oder lang die Falkner fressen: Kein Futter, keine Falken; keine Kohle, kein Krieg. Wenn Herz und Verstand fehlen, ist es am bitteren Ende die Not, die den Frieden erzwingt.

«Zeitenwende», «Nachkriegsordnung», «regelbasierte Ordnung» – hohle Phrasen?

von Thomas Kaiser

Emotional aufgeladene Begriffe wie «Zeitenwende» oder «Verletzung der regelbasierten Ordnung» werden in den letzten Monaten vor allem von Annalena Baerbock und Olaf Scholz bei jeder sich bietenden Gelegenheit regelrecht beschworen, meist garniert mit der «Auflösung der Nachkriegsordnung», die durch die «militärische Sonderoperation» Russlands in der Ukraine vollzogen worden sei. Diese manipulative Rhetorik wird bemüht, um die illegalen Sanktionen gegen Russland und die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine zu rechtfertigen. Die im Gleichschritt von Medien und Politikern angefachte Hysterie ermöglicht eine Kriegstreiberei, die man im 21. Jahrhundert für unmöglich gehalten hat. In fast allen europäischen Ländern lässt sich dieses Phänomen beobachten.


Im September 1918 wandte sich der deutsche Kaiser in einer Rede an eine versammelte Arbeiterschaft, um sie für den Endsieg zu motivieren und zu ermutigen, auf dem Schlachtfeld keine Schwäche zu zeigen und für den Sieg zu kämpfen: «Es ist jetzt keine Zeit für Parteiungen; wir müssen uns jetzt alle zusammenschliessen zu einem Block, und hier ist wohl am ehesten das Wort am Platze: Werdet stark wie Stahl, und der deutsche Volksblock, zu Stahl zusammengeschweisst, der soll dem Feinde seine Kraft zeigen. Wer also unter Euch entschlossen ist, dieser meiner Aufforderung nachzukommen, wer das Herz am rechten Fleck hat, wer die Treue halten will, der stehe jetzt auf und verspreche mir an Stelle der gesamten deutschen Arbeiterschaft: Wir wollen kämpfen und durchhalten bis zum Letzten.» Tatsächlich hat die Arbeiterschaft mit einem lauten «Ja» den Kaiser bestätigt. Die Rede wurde gehalten, als schon klar war, dass der Krieg verloren geht Es ist erschreckend, dass sich das im Zitat verwendete Vokabular bis heute kaum geändert hat. So spricht man vom «heldenhaften Kampf» der Ukrainer, die «Ukraine wird gewinnen» und «bis zum letzten Ukrainer kämpfen». Ein Sprachgebrauch, der nicht nur im Ersten Weltkrieg die Menschen in Kampfstimmung versetzen sollte, sondern es gehörte auch zur Rhetorik dunkelster deutscher Vergangenheit, als der «Endsieg» und «der totale Krieg» lauthals beschworen wurden oder bis «zum letzten Mann» gekämpft werden sollte.


Man kann tatsächlich die Sanktionen als eine indirekte Kriegserklärung verstehen
Auf welchem Dampfer fahren die EU und ihre Mitgliedsländer? Die von Deutschland häufig bemühte «regelbasierte Ordnung» brach die Bundesregierung – mit Sahra Wagenknecht gesprochen, «die dümmste Regierung die Europa jemals hatte»¹ – bereits wenige Tage nach dem russischen Angriff mit der Schnürung des ersten illegalen Sanktionspakets gegen Russ­land. Illegal sind die Sanktionen deshalb, weil nur der Uno-­Sicherheitsrat befugt ist, Sanktionen gegen ein Land zu erlassen.² Man kann tatsächlich die Sanktionen als eine indirekte Kriegserklärung verstehen, denn es geht um die Zerstörung der russischen Wirtschaft mit dem Ziel, das Land in die Knie zu zwingen. Frau Baerbock prophezeite vollmundig: «Die Sanktionen werden Russland ruinieren.»³ Nach Aussagen von Wirtschaftswissenschaftern schaden die Sanktionen aber vor allem Eu­ropa. So wandern z. B. deutsche Firmen in die USA ab, die diese mit billigen Energiepreisen und Steuererleichterungen anlocken. Ist das ein Wirtschaftskrieg gegen den eigenen Verbündeten?⁴ Auch wenn der Begriff «regelbasierte Ordnung» in den Medien ständig bemüht wird, erstaunt es, dass die illegalen USA-/EU-Sanktionen gegen Russland nirgends angeprangert werden: Einseitige Zwangsmassnahmen sind ein Verstoss gegen das Völkerecht.
Als Olaf Scholz die «Zerstörung der Nachkriegsordnung» als Konsequenz des Krieges zwischen der Ukraine und Russland in inszenierter theatralischer Weise beklagte und in der Folge 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung Deutschlands sprach, bestätigte sich Sahra Wagenknechts Aussage tatsächlich. Denn dafür brennen müssen die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.
Die Nachkriegsordnung entstand durch die Einigung der beiden Grossmächte USA und Sowjet­union, indem sie auf den verschiedenen Konferenzen während des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Beendigung die gemeinsamen Einflusssphären absteckten und festlegten. Das im Nachgang dieser Entscheidung beide Seiten versuchten, ihre Einflusssphären auszudehnen, führte zum «Kalten Krieg». In Europa blieb er ohne direkte militärische Konfrontation, aber in Asien und Afrika führte er zu blutigen Kriegen. Es sei nur an den Korea- oder Vietnamkrieg erinnert.


Mit der Nato-Osterweiterung Nachkriegsordnung endgültig zerstört
Spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Liquidation des Warschauer Pakts und der Aufnahme der ehemaligen Ostblockländer, einschliesslich der drei baltischen Staaten – vormals Sowjetrepubliken – in die Nato, war die Nachkriegsordnung endgültig zerstört. Das störte im ­Westen aber niemand, weil dieser dadurch seinen eigenen Machtbereich ausweiten konnte, und – was wir heute sehen – Russ­land immer weiter einkreiste und in die Defensive trieb.
Das Auseinanderfallen Jugoslawiens ist ein weiterer Schritt in der Auflösung der Nachkriegsordnung. Josip Tito, Staatspräsident Jugoslawiens, war sehr darauf bedacht nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs und der Kollaboration Kroatiens und zum Teil Bosniens, mit Hitler das Land zu einen, was ihm auch gelang.⁵ Er tat alles dafür, keinem der beiden Blöcke anzugehören und gründete mit Ägyptens Präsident Abdel Nasser sowie 25 weiteren Staaten 1961 das Non-Allied-Movement, die «Bewegung der Blockfreien», der heute ca. 130 Staaten angehören. Die Auflösung Jugoslawiens führte zu heftigen, teilweise militärischen Konfrontationen, wozu auch der Krieg der Nato gegen Serbien gehörte. Um den Konflikt zwischen der serbischen Provinz Kosovo und Serbien dem Anschein nach friedlich zu lösen, wurden mit verschiedenen Nato-Staaten und Japan sowie Serbien und den Vertretern des serbischen Kosovo Verhandlungen geführt. Serbien galt in der Auseinandersetzung um die Provinz Kosovo als an einer friedlichen Lösung uninteressiert und kriegsbereit, weil der serbische Präsident Slobodan Milošević dem Vertrag von Rambouillet zwar in Teilen zustimmte, aber ihn in seiner Gesamtheit als unausgewogen und nicht annehmbar ablehnte. Ha­shim ­Thaçi, der wie Phönix aus der Asche zum Verhandlungsführer der Kosovaren aufgestiegen war und den gemässigten, für einen friedlichen Weg plädierenden Ibrahim Rugova verdrängt hatte, akzeptierte den Vertrag sofort.


Historische Selbstdefinition einer streng defensiven Koalition aufgegeben
Dass Milošević den Vertrag nicht unterschreiben würde, war auch für die übrigen an der Ausarbeitung des Vertrags beteiligten Staaten klar. Der Haupttext dieses Mach(t)werks hatte noch einen Appendix, und in diesem wurde festgelegt, dass sich die Nato in ganz Serbien frei bewegen durfte. Das hat auch Henry Kissinger in einem Artikel in der «Welt am Sonntag» vom 19. September 1999 bestätigt: «Das Bündnis [die Nato] hat seine historische Selbstdefinition einer streng defensiven Koalition aufgegeben und darauf bestanden, die Provinz [Kosovo] eines Staates zu besetzen, mit dem es sich nicht im Kriegszustand befand. Und es verstärkte diesen beispiellosen Vorgang, indem es die Forderung anschloss, dass Nato-Truppen das Recht haben müssten, sich in ganz Jugoslawien ungehindert zu bewegen. Ein Anliegen, das selbst von einer gemässigten serbischen Führung zurückgewiesen worden wäre.»⁶ Kein Staat hätte das akzeptiert.


Die Nato wollte Krieg
Wenn man von der durch Scholz erfundenen und in ständiger Wiederholung in die Welt gesetzten «Zeitenwende» sprechen will, dann vollzog sich diese mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien unter der Beteiligung Deutschlands, wodurch es zusätzlich die eigene Verfassung brach.⁷
Die Nato wollte damals Krieg (gegen einen unterlegenen Gegner), zum einen, um das weitere Bestehen des Bündnisses zu rechtfertigen, denn schliesslich war es ein Relikt des Kalten Kriegs und seit der Auflösung des Warschauer Pakts obsolet, und um Staaten wie Deutschland in einen Angriffskrieg zu verwickeln, unter Verletzung der eigenen Verfassung. Zum andern, weil die USA einen militärischen Stützpunkt auf serbischem Boden errichten wollten, was sie mit dem Bau des Camps Bondsteel, einer Basis von ca. 380 Hektar Fläche, auch erreichten.⁸ Das Camp wurde auf serbischem Hoheitsgebiet errichtet – lange vor der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo –, was einen erneuten Bruch des Völkerrechts bedeutete. «But who cares?» Wenn die USA der Aggressor sind, werden angebliche, moralisch unantastbare Gründe ins Feld geführt, so dass das Töten von Menschen zu einem «humanitären Akt» stilisiert wird, Völkerrecht hin oder her. Der von den USA losgetretene und von der Nato willfährig begleitete Krieg gegen Serbien war unbestritten ein Völkerrechtsbruch.⁹ Das einstige Verteidigungsbündnis Nato wurde zum Angriffsbündnis. Weitere Kriege bestätigten diese Wende der Nato.


Doppelte Standards
Wenn die «Guten» sich über das Völkerrecht hinwegsetzen, ist es ein Akt der «Humanität», bei Russ­land ein «skrupelloser, brutaler Angriff», während die Ukraine mit ihrer Armee «heldenhaft» unsere Werte verteidigt, indem sie von 2014 bis zum Beginn der «militärischen Sonderoperation» ungefähr 15 000 eigene Staatsbürger, vor allem Zivilisten, im Donbas mit ständigem Artilleriebeschuss tötete und mit rassistischen Gesetzen die russischstämmige Bevölkerung diskriminierte und zu Menschen zweiter Klasse degradierte.10 Bis heute finden die ständigen Angriffe der Ukraine auf die russischstämmige Bevölkerung im Osten des Landes kaum Erwähnung. Alles «regelbasiert»? Die Frage stellt sich: Sind die Regeln nur selektiv gültig?
Das Vorgehen der USA in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien etc. – denn all diese Länder überzogen die USA mit Krieg ohne eine völkerrechtliche Legitimation und unter Verletzung der territorialen Integrität – war oder ist noch immer ein offensichtlicher Bruch der Uno-Charta. Keine Verletzung der «regelbasierten Ordnung»? Wie in Serbien bereits durchexerziert, errichteten die USA auf syrischem Hoheitsgebiet einen Luftwaffenstützpunkt unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung.11 Die Einhaltung des Völkerrechts in weiter Ferne.


Gezielte Tötungen gegen das Völkerrecht
Einen eklatanten Völkerrechtsbruch stellen die gezielten Tötungen von mutmasslichen Terroristen durch die USA dar. Dies geschieht meist mit Drohen, deren Einsatz seit der Regierungszeit Obamas ein ungeheuerliches Ausmass angenommen hat: «Dieser Luftkrieg, vielfach geführt mit Drohnen, nahm ab 2014 unter Präsident Obama richtig an Fahrt auf. Allein in den folgenden fünf Jahren flogen die USA mehr als 50 000 Luftangriffe.»12
Drohnen verletzen die Souveränität der Länder, in denen sie zum Einsatz kommen. Menschen zu töten, ohne sich in einem Verteidigungskrieg zu befinden, ist völkerrechtswidrig. Das Töten von Zivilisten ist immer ein Verstoss gegen die Genfer Konvention.13 Die US-amerikanischen Foltergefängnisse in Abu Ghraib, Bagram, Guantanamo, Mazar e Sharif usw. sowie die zahlreichen illegalen Folterflüge, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch in der Schweiz gelandet sind, zeigen, wie ernst es die USA mit dem Völkerrecht nehmen.14 Um die ungesetzliche und völkerrechtswidrige Vorgehensweise zu legitimieren, wollte George W. Bush das Völkerrecht sowie das humanitäre Völkerrecht zu seinen Gunsten ändern. Wie schnell hat man all das vergessen?
Deutschlands engster Verbündeter, die USA, haben die «regelbasierte Ordnung» immer missachtet, wenn es um ihren Vorteil ging. Das weiss die Bundesregierung auch, aber sie hält es wie die drei Affen – «nichts hören, nichts sehen, nichts sagen (und nichts denken)». Die Bundesregierung weiss ganz genau, dass Deutschland sich gerade in der Frage der Ukraine nicht an die völkerrechtlichen Verträge gehalten hat. Denn Minsk II ist durch eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats völkerrechtlich verbindlich geworden. Der Verstoss Deutschlands und anderer daran beteiligter Staaten ist also eine krasse Verletzung des Völkerrechts und müsste von der Uno sanktioniert werden.
Aber darüber spricht keiner. Die Enthüllungen Angela Merkels haben zu keiner Konsequenz geführt: «Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.»15


«Keine Lösung in Sicht»
Dass Europa den Respekt vor dem Krieg verloren hat, wie 1999 im Zuge des Kosovokriegs der inzwischen verstorbene Schweizer Divisionär, Hans Bachofner, warnend feststellte, zeigt sich auch heute, da man keine Ernsthaftigkeit im Vorfeld des Einmarschs der Russen in die Ukraine zeigte, um das drohende Unheil mit der Umsetzung der Minsker Abkommen und ernsthaften Verhandlungen abzuwenden. Im Gegenteil, die EU- und Nato-Staaten befeuern mit allen medialen und politischen Mitteln den Krieg in der Ukraine. Anstatt auf Verhandlungen zu setzen, wie es Russland seit dem ersten Tag seiner «Sonderoperation» tat und auch im weiteren Verlauf immer wieder versuchte, mischte sich der Westen massiv in die Auseinandersetzung ein, verhinderte Verhandlungen, lieferte Waffen aller Gattungen und bestärkte die Ukrainer darin, weiterzukämpfen, koste es, was es wolle. Und es kostet: mindestens 200 000 Menschenleben, andere Zahlen sprechen von bis zu 400 000 und Milliarden von Dollar für die Waffen an die Ukraine. Wenn der Schweizer Bundesrat, Ignazio Cassis, an der privaten Sicherheitskonferenz in München sich so äussert: «Leider ist keine Lösung in Sicht, zumindest kurz- und mittelfristig», dann zeigt das die Interessen des Westens, den Krieg weiterzuführen. An dieser privaten Konferenz schlossen die Veranstalter Russ­land aus, folglich hatte Cassis mit den Russen nicht sprechen können, wenn er es denn überhaupt gewollt hätte, und kennt deren Position wahrscheinlich nur aus den europäischen Mainstream-Medien. Von Neutralität der Schweiz ist bei ihm wenig zu spüren. Dass die Schweiz nicht mehr als neutraler Staat wahrgenommen wird, bekräftigte die russische Regierungssprecherin, Maria Sacharowa,16 was Cassis in einem Interview im Schweizer Fernsehen selbst bestätigte. Cassis‘ Aussage über die Stimmung an dem privaten Treffen in München war entlarvend: «Im Moment gibt es keinen Raum für Verhandlungen, wir stehen vor einer militärischen Eskalation, was man hier gut spürt.»17 Plauderte Cassis hier etwas aus, was die Nato immer vertuschen will, dass sie weiterhin auf Krieg setzt und nicht auf Verhandlungen? Es ist also der Westen, der Verhandlungen ausschliesst, nicht Russland.


Silberstreifen am Horizont
Doch die Vernunft geht nicht unter. Nachdem der Bundesrat in unverantwortlicher Weise einen wichtigen Trumpf aus der Hand gegeben hat, nämlich als neutraler Staat Initiativen für Verhandlungen zu starten und Raum dafür zu bieten, springen glücklicherweise andere Staaten in die Bresche. China legte einen Friedensplan vor, um «eine friedliche Lösung im Dialog» zu erreichen. Inzwischen gab es bereits Gespräche zwischen Xi Jinping und Vladimir Putin in Moskau sowie mit Emanuel Macron und Olaf Scholz, um Friedensverhandlungen in Gang zu bringen. Auch Lateinamerika unter der Führung Lula da Silvas möchte mit einer Friedensinitiative dem Krieg eine Ende setzten.18
Von den 193 Staaten der Uno sind es nur deren 35, die die Sanktionen der EU und der USA mittragen, aber auch hier herrscht keine Einigkeit.
In Berlin gingen aufgrund des Friedensmanifests von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer vor wenigen Wochen Zehntausende von Menschen auf die Strasse. Auch in Städten anderer Länder fanden Kundgebungen statt. Es regt sich langsam Widerstand gegen die unsägliche Kriegspolitik. Auch in der Schweiz gibt es eine Volksinitiative, die die Neutralität in der Verfassung verankern und die Schweiz wieder zurück auf den Pfad der Neutralität führen will.
Es gibt also trotz allen Widrigkeiten Grund zur Hoffnung, dass der Krieg mit Verhandlungen beendet werden kann, bevor weitere Zehntausende von Menschen geopfert werden.

¹ www.youtube.com/watch?v=yJm4MTBfTOc
² www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-12-13-vom-20-juli-2022.html#article_1378an
³ www.youtube.com/watch?v=r2Vskc9XxmY
www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Deutsche+Firmen+wandern+in+die+USA+aus#fpstate=ive&vld=cid:f391bab4,vid:VZcfIcE00FI
⁵ Jürgen Elsässer: Wie der Dschihad nach Europa kam, Wien 2005, S. 29ff
⁶ Welt am Sonntag vom19.09.1999
www.mdr.de/heute-im-osten/interview-zwanzig-jahre-nato-angriff-jugoslawien-100.html
www.nato.int/Kfor/chronicle/1999/chronicle_199901/p12.htm
https://programm.ard.de/?sendung=281116097670119ss
10«Нардеп від "Слуги народу" Семінський заявив про "позбавлення конституційних прав росіян, які проживають в Україні"», AP News, 2 juillet 2021 (https://apnews.com.ua/ua/news/nardep-vid-slugi-narodu-seminskii-zayaviv-pro-pozbavlennya-konstitutciinikh-prav-rosiyan-yaki-prozhivaiut-v-ukraini/)
11 www.inamo.de/us-militaerstuetzpunkt-in-syrien/
12 www.srf.ch/news/international/tausende-zivile-opfer-der-schmutzige-drohnenkrieg-der-usa
13 www.ecchr.eu/thema/drohnen/
14 www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/cia-folterfluege-auch-in-der-schweiz-gelandet?urn=urn:srf:video:ec79c728-4319-49e6-82ad-422b3ec0e8b2
15 www.wsws.org/de/articles/2022/12/20/merk-d20.html
16 parstoday.ir/de/news/world-i78468-moskau_schweiz_kann_nicht_im_ukrainekrieg_neutralit%C3%A4t_f%C3%BCr_sich_beanspruchen
17 www.srf.ch/audio/nachrichten/nachrichten-von-14-00-uhr-18-02-2023?id=12339343#autoplay
18 www.deutschlandfunk.de/der-tag-31-01-dlf-937c2572-100.html

Die Jahrestage dreier Angriffskriege*

In diesen Tagen jähren sich drei völkerrechtswidrige Überfälle westlicher Mächte auf fremde Staaten, die zahllose Opfer forderten – auch durch Kriegsverbrechen –, aber bis heute straflos bleiben.

Die ersten Bombardierungswellen dreier völkerrechtswidriger Angriffskriege, die für die Täter keinerlei Konsequenzen hatten, jähren sich in dieser Woche. Heute vor 20 Jahren starteten US-Truppen die Invasion in den Irak, an der sich britische, australische und polnische Einheiten beteiligten. Sie wurde mit offenen Lügen legitimiert und diente genauso machtstrategischen Zielen wie der Überfall auf Libyen, den französische Kampfjets gestern vor zwölf Jahren einleiteten – erst unter Berufung auf eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats, die allerdings umgehend gebrochen und illegal zum Sturz der libyschen Regierung missbraucht wurde. Am Freitag vor 24 Jahren überfielen Nato-Truppen, darunter deutsche, ebenfalls völkerrechtswidrig Jugoslawien, um dessen südliche Provinz Kosovo abzuspalten. Aussenministerin Annalena Baerbock fordert unter grossem medialen Beifall, das Führen von Angriffskriegen dürfe nicht «straflos bleiben», will dies freilich – ebenso wie die deutschen Leitmedien – nicht auf westliche Kriege bezogen wissen. Dasselbe gilt für schwerste Kriegsverbrechen, die westliche Soldaten begangen haben. Bestraft werden lediglich Whistleblower, die sie aufzudecken halfen.


Kriegsziel: Umsturz-Domino
Der US-geführte Überfall auf den Irak begann vor genau 20 Jahren mit ersten Luftangriffen in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 und mit der unmittelbar folgenden Invasion von Bodentruppen. Beteiligt waren neben den US-Streitkräften Einheiten aus Grossbritannien, Australien und Polen. Der Überfall erfolgte ohne Zustimmung des Uno-Sicherheitsrates und damit unter Bruch des Völkerrechts. Die offiziell vorgebrachte Begründung, Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, war frei erfunden. In Wirklichkeit ging es darum, eine dem Westen miss­liebige Regierung durch eine prowestliche zu ersetzen. In der Regierung von Präsident George W. Bush war damals ausserdem von einem «demokratischen Dominoeffekt» die Rede, wonach auf einen Sturz der Regierung im Irak derjenige weiterer Regierungen im Nahen und Mittleren Osten folgen werde, insbesondere in Syrien und Iran. Eine «erste arabische Demokratie» im Irak werde «einen sehr grossen Schatten in der arabischen Welt werfen», erklärte damals der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz.¹ Auch Rohstoffinteressen spielten eine zentrale Rolle. Der damalige polnische Aussenminister Włodzimierz Cimoszewicz etwa bekräftigte Anfang Juli 2003, Warschau habe «nie unseren Wunsch» nach «Zugang zu Rohstoffquellen für polnische Ölfirmen verborgen»; dieser sei «unser letztes Ziel».²


Hunderttausende zivile Todesopfer
Die menschlichen Kosten des Irak-Kriegs haben mehrfach Wissenschaftler vom Costs of War Project des Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University in Providence (US-Bundesstaat Rhode Island) zu beziffern versucht; die Brown University zählt zu den acht berühmten Ivy League-Universitäten in den Vereinigten Staaten. Seine jüngste Untersuchung hat das Costs of War Project kurz vor dem heutigen Jahrestag der US-Invasion vorgelegt. Demnach sind allein während der ersten grossen Angriffswelle vom 19. März bis zum 19. April 2003 nachweislich mindestens 7043 Zivilisten zu Tode gekommen, ein Drittel von ihnen durch Luftangriffe der US-Kriegskoalition.³ Die Kämpfe haben allerdings nie wirklich aufgehört und sind nicht zuletzt in den westlichen Krieg gegen den IS gemündet; die Terrormiliz entstand faktisch aus den zerfallenden sozialen Strukturen des kriegszerstörten Iraks. Insgesamt beziffert das Costs of War Project die Zahl der Todesopfer, die bis zum März 2023 im Irak und in den zeitweise IS-kontrollierten Gebieten Syriens zu verzeichnen waren, auf 549 587 bis 584 006, darunter bis zu 348 985 Zivilisten. Der Bericht weist darauf hin, dass es sich dabei nur um die nachgewiesenen unmittelbaren Todesopfer handelt. Die Anzahl der indirekten Todesopfer – durch Kriegsfolgen wie Krankheit, Unterernährung etc. – sei wohl drei- bis viermal so hoch.


Kriegsziel: Einfluss ausweiten
Gestern vor zwölf Jahren begann der Krieg des Westens gegen Libyen, der mit Angriffen der französischen Luftwaffe startete und schon bald zum Nato-Krieg ausgeweitet wurde. Zu der offiziellen Kriegsbegründung, man habe ein Massaker der libyschen Streitkräfte an Zivilisten verhindern wollen, erklärten renommierte Experten später vor einem britischen Parlamentsausschuss, ein solches Szenario sei überaus unwahrscheinlich gewesen. In der Tat bestätigten französische Geheimdienstoffiziere dem Ausschuss, die tatsächlichen Ziele der französischen Regierung seien gewesen, «Frankreichs Einfluss in Nordafrika zu vergrössern», stärkeren Zugriff auf die libysche Erdölförderung zu bekommen sowie die Schlagkraft der französischen Streitkräfte zu demonstrieren (german-foreign-policy.com berichtete⁴). Ein Uno-Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung wurde zum Sturz der Regierung missbraucht, also gebrochen. Die Zahl der zivilen Todesopfer des Krieges allein im Jahr 2011 wurde von der britischen Organisation Airwars mit mindestens 1142, womöglich sogar bis zu 3400 angegeben.⁵ Der Krieg hat Libyen nicht nur materiell, sondern auch gesellschaftlich weitestgehend zerstört; immer wieder sind Kämpfe zwischen unterschiedlichen Milizen zum Bürgerkrieg eskaliert. Zwölf Jahre nach dem Nato-Krieg liegt das Land immer noch am Boden.


«Pro-Kreml-Desinformationsnarrativ»
Am kommenden Freitag vor 24 Jahren wiederum überfiel die Nato Jugoslawien – gleichfalls ohne ein Mandat des Uno-Sicherheitsrats und damit unter Bruch des Völkerrechts. Begründet wurde der Angriffskrieg mit der Behauptung, im Kosovo drohe eine sogenannte ethnische Säuberung. Interne Berichte widerlegen dies; so hiess es etwa am 19. März 1999 in einem Dokument der OSZE, die Lage «über die ganze Region hinweg» sei «angespannt, aber ruhig», während Fachleute im Bonner Verteidigungsministerium noch am 22.  März konstatierten, Tendenzen zu «ethnischen Säuberungen» seien «weiterhin nicht erkennbar».⁶ Dem Überfall auf Jugoslawien kommt insofern besondere Bedeutung zu, als er der erste völkerrechtswidrige Angriffskrieg seit den Umbrüchen der Jahre von 1989 bis 1991 war und damit einen Präzedenzfall für spätere Angriffskriege wie diejenigen gegen den Irak oder gegen Libyen schuf. Die Zahl der zivilen Todesopfer wird etwa vom Wilson Center auf rund 2000 geschätzt.⁷ Dabei muss sich die renommierte Washingtoner Einrichtung heute von einer EU-Stelle («EuvsDisinfo»), die angebliche Propaganda widerlegen soll, vorwerfen lassen, dies sei ein «Pro-Kreml-Desinformationsnarrativ».⁸ Zu den Zielen, die die Nato damals bombardierte, gehörten unter anderem die Botschaft der Volksrepublik China in Jugoslawien sowie das Hauptgebäude des staatlichen Fernsehsenders RTS.


Wer Angriffskriege führen darf
Die Staats- und Regierungschefs, die die völkerrechtswidrigen Angriffskriege befohlen haben, sind dafür nie zur Verantwortung gezogen worden. Das gilt für US-Präsident George W.  Bush, den britischen Premierminister Tony Blair und den polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski (Irak-Krieg 2003) genauso wie für den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy (Libyen-Krieg 2011) bzw. Kanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joseph Fischer (Jugoslawien-Krieg 1999). «Niemand darf im 21.  Jahrhundert einen Angriffskrieg führen und dabei straflos bleiben», erklärte Mitte Januar Aussenministerin Annalena Baerbock.⁹ Baerbock bezog das allerdings nicht auf Kriegsverantwortliche aus den westlichen Staaten, sondern einzig und allein auf die Regierung Russlands, mit dem der Westen einen Machtkampf austrägt.


Wer bestraft wird und wer nicht
Auch die Kriegsverbrechen, die die westlichen Militärs begangen haben – unter anderem auch im Afghanistan-Krieg –, sind so gut wie nie geahndet worden. Das gilt für ein Massaker an über 100 Zivilisten bei Kunduz, das von einem deutschen Offizier befohlen wurde¹⁰, ebenso wie für einen Initiationsritus einer berüchtigten australischen Spezialeinheit, der darin bestand, mindestens einen afghanischen Zivilisten zu ermorden¹¹, sowie für Dutzende Morde britischer Militärs an wehrlosen Gefangenen am Hindukusch¹². Verfolgt werden stattdessen Journalisten und Whistleblower, die die Kriegsverbrechen öffentlich machen. Das gilt etwa für den australischen Militäranwalt David McBride, der vor Gericht steht, weil er geholfen hat, australische Kriegsverbrechen öffentlich bekannt zu machen ¹³, sowie für den Journalisten, der im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh auf die Auslieferung in die USA wartet, da er US-Kriegsverbrechen im Irak dokumentierte: Julian Assange.

* Artikel in «German Foreign Policy» veröffentlicht am 20.03.2023

Quelle: www.german-foreign-policy.com/news/detail/9197

Wir danken «German Foreign Policy» für die Abdruckgenehmigung.

¹ Paul Reynolds: The ‘democratic domino‘ theory. news.bbc.co.uk 10.04.2003.
² Poland seeks Iraqi oil stake. news.bbc.co.uk 03.07.2003.
³ Neta C. Crawford: Blood and Treasure: United States Budgetary Costs and Human Costs of 20 Years of War in Iraq and Syria, 2003-2023. Providence, 15 March 2023.
⁴ House of Commons, Foreign Affairs Committee: Libya: Examination of intervention and collapse and the UK's future policy options. Third Report of Session 2016-17. London, September 2016. S. dazu Deutschlands Kriegsbilanz (III).
⁵ Oliver Imhof: Ten years after the Libyan revolution, victims wait for justice. airwars.org 18.03.2021.
⁶ Zitiert nach: Heinz Loquai: Krieg – ein wahnsinniges Verbrechen. In: Forum Friedens­Ethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden. Rundbrief 2/2010. April 2010. S. 4–11.
S. dazu Dammbrüche.
⁷ Aleksa Djilas: Bombing to Bring Peace. wilsoncenter.org.
⁸ Disinfo: About two thousand civilians were killed in Nato’s bombing of Yugoslavia. euvsdisinfo.eu.
⁹ Hans Monath: «Niemand darf Krieg führen und straflos bleiben». Tagesspiegel.de 16.01.2023.
¹⁰ S. dazu Die Bomben von Kunduz.
¹¹ S. dazu Die Ära der Straflosigkeit.
¹² S. dazu Der Club der Kriegsverbrecher.
¹³ Christopher Knaus: David McBride will face prosecution after blowing whistle on alleged war crimes in Afghanistan. theguardian.com 27.10.2022.

Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen (Teil II)

von Verena Tobler Linder

sl. Die Welt steht in Flammen, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer grösser und das seit Corona verstärkt um sich greifende Gruppendenken schafft politische und soziale Gräben. Die öffentliche Parteinahme unseres Bundesrates im Ukrainekonflikt hat dem Ansehen der Schweiz als neutralem Land zudem grossen Schaden zugefügt. Angesichts dieser Tatsachen ruft Verena Tobler zu mehr Besonnenheit für ein gelingendes Zusammenleben auf diesem Planeten auf. Im ersten Teil (vgl. Zeitgeschehen im Fokus Nr. 3/4 vom 08.03.23) hat sie ausgehend von der «Neutralitätsinitiative», die der Schweizer Neutralität Verfassungsrang verleiht und die Regierung zu einer aktiven Friedenspolitik verpflichtet, Möglichkeiten dargelegt, wie die Schweiz wieder zu einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik zurückfinden und einen wichtigen Beitrag zum Verständnis, zur Verhinderung und zur friedlichen Lösung von Konflikten leisten kann. Im zweiten Teil wirft die Autorin nun zwei Blicke ins Landesinnere, wo sie ebenfalls Handlungsbedarf sieht.


Zwei Blicke ins Innere der Schweiz
Zuerst sei klargestellt: Als Privatpersonen können Schweizerinnen und Schweizer selbstverständlich auch künftig Partei nehmen und sich der Probleme in aller Welt parteilich annehmen. Als eine, die lebenslang mit Migrierenden und Flüchtenden in und aus aller Welt und an den damit verbundenen Schwierigkeiten gearbeitet hat, bin ich aber seit langem überzeugt, dass in der Schweiz zwei Probleme anstehen, für die es ebenfalls Besonnenheit braucht, wenn sie denn konstruktiv gelöst werden sollen. Besonnene Neutralität ist nötig, damit unser Land nicht in im Tohuwabohu endet.
Die Bevölkerung der Schweiz hat sich in den letzten sieben Dekaden beinahe verdoppelt, und zwar aufgrund einer Immigration, die zuerst aus den südlichen Staaten Europas stammte, heute zu-nehmend aus aller Welt kommt. Inzwischen ist vermutlich ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung über die Einwanderung, die Eltern oder eine Heirat mit dem Ausland verbunden. Kurz: Die Schweiz ist multiethnisch oder multikulturell, aber auch extrem heterogen zusammengesetzt und inzwischen – ebenso stark – soziokulturell polarisiert. Darüber mag man nun jubilieren oder jammern! Aber gelingt es nicht, mit diesen Faktoren besonnen umzugehen, riskiert unser Land, sich politisch aufzureiben, weiter zu zersplittern, auseinanderzufallen, unterzugehen!
Wichtig für eine konfliktlösungsorientierte Aussen- und Innenpolitik ist es, zu wissen, dass die meisten Neulinge in unserem Land im internationalen System aufgestiegen sind und in die Schweiz gekommen sind, weil es ihnen hier besser geht. Sogar Deutsche wandern ein, weil sie hier mehr verdienen. Sofern die Immigrierten aber aus dem armen Teil der Welt stammen, gehörten sie oder ihre Eltern meistens der dortigen Mittel- oder Oberschicht an. Das gilt sogar für Kriegs- und Armutsflüchtlinge, denn die Ärmsten können selten weg!
Und sofern sie inzwischen eingeschweizert wurden – und das sind viele, haben sie oft ihren Pass behalten oder besitzen sogar mehrere Pässe. Ein Kurde hat mir geraten, sie als «Neuschweizer» zu bezeichnen. Viele davon, wenn auch nicht alle, nehmen selbstverständlich weiterhin und oft sehr aktiv am Geschick ihrer einstigen Heimat teil. Das ist gut so und darf auch so bleiben. Ihr politisches Engagement in Ehren: Das soll und darf Sache der immigrierten Personen bleiben.
Aus zwei gewichtigen Gründen darf es aber nicht zur Sache der offiziellen Schweiz werden: Erstens hegen manche Immigrationsgruppen Umsturzpläne mit Blick auf ihr Heimatland und haben unter sich entsprechend heftige politische Differenzen – das ist kein Vorwurf: Beides darf sein! Ihr politisches Engagement also in Ehren: Die offizielle Schweiz soll sich nicht darin verwickeln lassen. Sonst haben wir nicht nur den Parteiensalat, sondern das Tohuwabohu nimmt in unserem Land massiv zu. Bereits rufen iranische Neuschweizerinnen dazu auf, die Schweiz solle den Iran sanktionieren. Möchtegern-Bundesrat Jositsch nahm dieses Begehren – bezeichnenderweise just noch vor den Bundesratswahlen – sofort auf. Dass er damit gegen wichtige Grundsätze im Völkerrecht verstösst, ist dem Sozialdemokraten wohl genauso entgangen, wie dass Immigrierte aus der Türkei, aus Kurdistan, Eritrea oder Sri Lanka diese Einmischungspraxis ebenfalls einfordern könnten. Bereits hat Nationalrat Cédric Wermuth den Trick seines SP-Kollegen im Ständerat nachgeahmt: Er hat auf Twitter Putin und Serben – in arger Verkennung der Geschichte – als Faschisten beschimpft, dabei aber vermutlich auf die Stimmen der Schweizerinnen und Schweizer aus dem Kosovo geschielt: dem 27. Kanton der Schweiz. Doch darüber, wohin diese Anbiederung und das struktur- und regelblinde Moralisieren von aussen und oben führen sollen, haben die beiden Politiker vermutlich kaum nachgedacht. Sie sehen sich auch nicht in einem regelgebundenen Amt, das sie verantwortungsethisch zu erfüllen haben, vielmehr in einer persönlichen Rolle, in der es nur darum geht, sich zu profilieren und bei einer spezifischen Wählergruppen möglichst gut zu positionieren.


Schweiz trägt Sanktionen mit, aber nur wenn diese von der Uno formell beschlossen wurden
Im «Tagblatt» habe ich vor Jahren gelesen, die Stadt Zürich beherberge Menschen aus 157 Nati-onen. Direkt damit verbunden ist die «Gretchenfrage»: Soll die Schweiz sich nun künftig struktur- und regelblind in die inneren Angelegenheiten dieser Länder in aller Welt einmischen? Eine Hybris, welche die Neutralitätsinitiative untersagt: Die Schweiz trägt Sanktionen mit, aber nur wenn diese von der Uno formell beschlossen wurden.
Zweitens ist es nicht nur unklug, sondern kontraproduktiv, wenn sich wirtschaftsmächtigere Staaten in die Innenpolitik von ärmeren Staaten einmischen. Diese Einmischungen sind weder demokratisch noch zielführend, weil unsachgemäss. Sicher, in vielen armen Ländern sind – genauso wie bei uns in der Schweiz – künftig Systemveränderungen nötig. Aber die Bevölkerung der betreffenden Staaten hat sich für Veränderungen zu entscheiden, die eigenständig aufgegleist und über die demokratisch entschieden wird – derzeit ein Kampf, bei dem die dortigen Ober- und Mittelschichten oft in der Minderheit sind. Das gilt nicht nur für den Iran, aus dem sich die Oberschichten und viele Gebildete in den Westen abgesetzt haben – in die USA, nach Österreich, in die Schweiz. Es gilt prinzipiell, nämlich überall in den Staaten und für die Bevölkerungen, die in der ungleichen Weltwirtschaft am unteren Ende platziert sind oder an den Rand geraten sind.
Was die Einmischung von aussen und oben bringt, sei am Beispiel von Ägypten erläutert: Denn was der liberale Westen 2011 als arabischen Frühling bezeichnet und aktiv unterstützt hatte, war zum Scheitern verurteilt. Von jugendlichen Netz-AktivistInnen lanciert, von den städtischen Mittelschichten beflügelt und von George Soros’ «Open Society Foundations» unterstützt, wurde Mubarak zwar gestürzt – zweifellos ein Despot! Er hatte das Militär zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor ausgebaut, so dass andere Wirtschaftsagenten kaum Geschäfte führen oder gründen konnten. Auch demokratische Verfahren waren unmöglich. Vorauszusehen aber war, was bei demokratischen Wahlen passieren würde. Denn für die Bevölkerungsmehrheit, vorab für die vielen Armen in den Städten und auf dem Land, gab es keine staatlich organisierte Umverteilungs- und Solidarinstitutionen. Der überfamiliale Ausgleich wurde seit Dekaden von den Moscheen und den Muslimbrüdern auf der Basis von religiösen Regeln organisiert – etwas, das der Westen und Kairos liberal orientierte Wohlstandskinder übersehen hatten, ja verabscheuten und bekämpften: System- und strukturblind dafür, dass in einem Staat, in dem die formelle Erwerbsarbeit einer Minderheit vorbehalten ist, modernistische bzw. individualistische Werte aus strukturellen Gründen nicht oder nur selten demokratisch durchgesetzt werden können. Besonders peinlich für den Westen: Als General Abdel Fattah al-Sisi den demokratisch gewählten Präsident Mursi stürzte, herrschte weitherum Erleichterung. Und als der Präsident, der sich an die Macht geputscht hatte, dann Hunderte Islamisten ermorden liess, den demokratisch gewählten Mursi samt seinen Regierungsmitgliedern ins Gefängnis steckte und ohne ausreichend rechtliche Grundlagen zahlreiche Todesurteile vollstrecken liess, schauten alle weg! Alle, die sich angeblich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte engagieren. Und die Schweiz? Sie macht bei dieser Drückebergerpolitik regelmässig mit – zu gewichtig ihre wirtschaftlichen Interessen; zu blind für die Schatten der liberalen Weltwirtschaft.
Wer – nota bene – ausreichend systembewusst ist, weiss auch, dass die westlichen Hilfsprogramme in Afghanistan oder Haiti die dortigen Armutsprobleme in keiner Weise lösen, weil sie nicht sachgerecht sind. Im Gegenteil: Sie führen zu potemkinschen Staaten, fördern die vertikale Integration und führen langfristig in die wirtschaftliche, soziale und politische Katastrophe. Wie erwähnt: Die liberale Optik fokussiert die Individuen und blendet aus, dass individuelle Freiheiten und Rechte wirtschaftliche Kapazitäten voraussetzen, die in armen Staaten fehlen. Die Welt lässt sich nicht von aussen und von oben integrieren! Es sei denn auf der Basis von extremen Ungleichgewichten und – direkt damit verbunden – einem ungeheuerlichen Totalitarismus.Besonnene Neutralität verzichtet darauf, system- und strukturblind zu moralisieren!
Derzeit mehren sich die Stimmen, die sich unbedarft aus dem wirtschaftlichen und juristischen Hochoben der westlichen Wohlfahrtsstaaten in die internen Belange und Auseinandersetzungen in aller Welt einmischen. Auch die offizielle Schweiz läuft Gefahr, gegenüber Staaten in Afrika und Asien diesen arroganten Kurs einzuschlagen und system- und strukturblind auf die arme oder auf traditionale Restwelt hinunter zu moralisieren. Besonnene Alt- und Neuschweizer warnen davor, das Hohelied von Menschenrechten und westlichen Werten zu singen, ohne die wirtschaftlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für den westlichen Rechtsstandard zu bedenken. Wir sind mit Widersprüchen und Ambivalenzen konfrontiert: Ambiguitätstoleranz ist erforderlich.
Was nun folgt, ist kein Plädoyer gegen die Menschenrechte! Ich plädiere dafür, genauer hinzusehen. Denn bereits 1948, als der Menschenrechtskatalog erarbeitet wurde, wiesen die Vertretungen der sechs sozialistischen Staaten darauf hin, dass einige der Menschenrechte an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden sind. Sie forderten deshalb ein Menschenrecht auf wirtschaftliche Teilhabe – ein Recht, das vom damals machtmässig weit überlegenen Westen abgeblockt wurde. Deshalb haben sich die sozialistischen Staaten in der Schlussabstimmung der Stimme enthalten.
Wie unsachgemäss und arrogant das system- und strukturblinde Moralisieren aus dem welt-wirtschaftlichen Hochoben ist, sei zum Schluss an der Geschlechtergleichstellung und an der One-Love-Kampagne illustriert.


Die Gleichstellung von Mann und Frau…
…ist – nota bene – ein wichtiges Ziel, um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen. Was der Westen aber beharrlich ignoriert, sind die Voraussetzungen finanzieller, energetisch-technologischer, medizinischer und institutioneller Art, die es für diese Gleichstellung braucht.
Konkret: Was hat mich denn als Frau befreit? Fliessendes Wasser und Elektrizität, die Waschmaschine, der Staubsauger, der Geschirrspülautomat etc., Binden, Tampons und die Pille sowie eine gute Bildung und Ausbildung. Dazu kommt eine ausreichende Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen, für die keine Spitzenmuskelkraft erforderlich ist. Dann die Kindergärten und Schulen, all die Krippen und Horte, in denen unsere Kinder versorgt werden. Ebenso teuer: Der aufwändige Rechtsapparat, der inzwischen in der Schweiz sowohl im öffentlichen Raum als auch in der Familie, sogar manchmal bis ins Ehebett für Ordnung sorgt – alles Errungenschaften, die im armen Teil der Welt für den Grossteil der Frauen aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu haben sind.


Die One-Love-Kampagne…
…hat in Qatar einen neuen Höhepunkt erreicht: eine Kampagne, die von einer Bewegung getragen wird, die sich seit drei Dekaden lauthals – wie an der Züricher Street-Parade – und publikumswirksam – wie die deutsche Innenministerin im Fussballstadion – in Szene setzt und das dank der neuen Medien immer auch effektiver kann. Als die Fussballer aufgefordert wurden, eine One-Love-Armbinde zu tragen, stoppte die Fifa diese öffentliche Inszenierung westlicher Werte und sorgte damit «on the spot» für eine Quasi-Ordnung.
Weit wichtiger: Die ganze Kampagne ist, obwohl ich persönlich die Anliegen der LGBTQ-Community durchaus verstehe und ernst nehme, erschreckend system- und strukturblind! Wir haben es erneut mit Moralisieren zu tun, statt mit einer Moral, die ihre Voraussetzungen beachtet und sich auf ihre Rahmenbedingungen besinnt. Die LGBTQueers fragen nämlich nie, was das alles kostet: künstliche Befruchtung und Besamung, Leihmutterschaft, Geschlechtsumwandlung etc.
Auch nicht, wie und von wem ihre anything-goes-Wünsche finanziert werden sollen. Stattdessen wird unethisch, weil weder auf dem Kontext noch auf die verfügbaren Ressourcen bezogen, ignoriert, dass im Jahr 2021 4,1 Milliarden Menschen ohne monetär abgesicherte Solidarnetze überleben mussten.
Konkret heisst das: Bis heute sind für die Hälfte der Menschen die eigenen Kinder meistens die einzige Altersversicherung! Es sei denn, die Kirchen, die Moscheen, die Tempel helfen. Konkret: Im armen Teil der Welt sind die Menschen, wenn sie alt und schwach werden, auf die Unterstützung ihrer physiologischen Kinder angewiesen. Deshalb ist in armen Staaten aus höchst rationalen Gründen die Homosexualität oft verpönt oder wird u. U. sogar bestraft. Nota bene sind die nicht-monetär abgesicherten Solidarinstitutionen auch ein gewichtiger Grund dafür, dass im armen Teil der Welt vielerorts an verbindlichen Verwandtschafts-, Generationen-, Geschlechtsrollen festgehalten wird.
Richtig: Es sind Ordnungsvorstellungen, die den Menschenrechten widersprechen bzw. mit den Erwartungen der LGBTQ-Community und vieler Feministinnen unvereinbar sind. Doch wenn wir genauer hinsehen, sind die Gründe dafür wirtschaftlicher Art. Sie haben zu tun mit den weltweiten Ungleichgewichten und der damit verbundenen mangelnden energetisch-technologischen Ausrüstung, mit der geringen Zahl an formellen Erwerbsarbeitsplätzen und entsprechend mit den fehlenden überfamilialen Solidarinstitutionen.
Besonnene Neuschweizer aus armen Ländern messen die Zustände in ihrer alten Heimat deshalb nicht am Schweizer Lebensstandard. Auch nicht am hiesigen Deluxe-Rechtskonsum. Sie kennen die Ursachen der Armut in ihrem Herkunftsland und sind mit den Gründen für deren «menschenrechtliche Besonderheiten» vertraut. Und genauso wie die Besonnenen unter den Altschweizerinnen und Altschweizern wissen sie, dass jedes Recht an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden ist, wenn es denn verlässlich und konstruktiv zum Tragen kommen soll. Und beide, besonnene Alt- und Neuschweizerinnen und -schweizer, sind sich bewusst, dass die anstössigen und problematischen Ungleichgewichte sich im Rahmen des westlichen Weltwirtschaftens herausgebildet haben. Wer einst über mehr Kapital und den effizienteren energetisch-technologischen Machtapparat verfügte, konnte früher die Welt kolonisieren. Und er kann sie bis heute beherrschen. Nur passiert das seit der Entkolonialisierung über den Freihandel und seit den 70er Jahren noch effektiver im Rahmen der vier neoliberalen Freiheiten. Das sind die Grundlagen nicht nur für das Blocher’sche Wirtschaftsimperium, sondern für alle Schweizer Konzerne, die im Ausland erfolgreich sind und selbstverständlich auch für unseren Wohlfahrtsstaat. Es hat also nicht nur mit firmenspezifischen, sondern auch mit nationalen Interessen zu tun: mit dem energetisch-technologischen, finanziellen und juristischen Machtapparat, der unserem Land für den Zugriff auf die Ressourcen zur Verfügung steht. Und wer noch genauer hinsieht, wird irritiert oder sogar erschreckt feststellen, dass – damals wie heute – das mit dem Machtapparat assozierte Machtgefälle und die damit verbundenen Zumutungen im Namen einer angeblich höheren Kultur, einer besseren Moral bzw. von zivilisatorischen westlichen Werte legitimiert werden.


Fazit und Ausblick
Karl Marx hat einmal gesagt: «Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.» Kolonialisierung, Sklavenhalterei, Ausbeutung – die einstige Tragödie. Die heutige Farce? Das system- und strukturblinde Moralisieren, wie es derzeit von Woke-Linken und zahlreichen westlichen Staatschefinnen und -chefs und Amtsträgern betrieben wird. Ein Wertegeschwurbel, das die realen Interessen verdeckt. Wer aber effektiv sensibel ist, wird feststellen, dass dieses Gerede sowohl die Gemeinschaften und Gesellschaften als auch die Mehrheit der Frauen und Männer an den weltwirtschaftlichen Rändern abwertet und immer tiefer in Not und Bedrängnis bringt. Wer noch genauer hinsieht, wird zudem erkennen, dass sogar jene Menschen in den USA, die von Hillary Clinton als die «Deplorables» bezeichnet wurden, ebenfalls mit im Boot dieser Aussätzigen sitzen.
Veränderungen sind dringend nötig! Bei uns in der Schweiz und selbstverständlich auch in der armen Welt. Was es für diese Veränderungen aber sicher nicht braucht, sind Kriege. Auch kein system- und strukturblindes Moralisieren – erst recht nicht im Namen der Menschenrechte!
Was es hingegen für die nötigen Veränderungen und für universelle Menschenrechte dringend braucht, sind neue Weltwirtschaftsregeln, Regeln, die einen Ausgleich zwischen Arm und Reich ermöglichen und die es uns ermöglichen, dass weltweit an der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit gearbeitet werden kann. Dafür legen besonnene Alt- und Neuschweizerinnen und -schweizer ihre Hand ins Feuer.
Deshalb gilt: Lassen wir in der demokratischen Schweiz das Lagerdenken und die Schwarz-Weiss-Malerei hinter uns. Stehen wir ein für die Neutralitätsinitiative. Sie öffnet der Schweiz das Tor zu jener informierten und weltoffenen Besonnenheit, von der letztlich – da bin ich mir schier sicher –nicht nur besonnene Alt- und Neuschweizerinnen und -schweizer, sondern auch system- und strukturblinde Alt- und Neuschweizerinnen und -schweizer träumen.

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