«Wir wollen an der Regierung in Form eines Föderalismus teilhaben»

Engagement für ein friedliches Zusammenleben von Tamilen und Singhalesen

Interview mit Professor S. J. Emmanuel, katholischer Priester und Präsident des «Global Tamil Forum»

Professor S. J. Emmanuel (Bild thk)
Professor S. J. Emmanuel (Bild thk)

Vor mehr als einem Jahr entschied Professor Emmanuel, nachdem er nahezu 25 Jahre im Exil gelebt hatte, nach Sri Lanka zurückzukehren. Auf Einladung des amtierenden Präsidenten, bei der Versöhnungsarbeit zwischen Tamilen und Singhalesen mitzuwirken, und bestärkt durch die Worte Papst Franziskus machte er sich auf in seine Heimat. 

Im aktuellen Interview berichtet Professor Emmanuel, wie sich der unerwartete Kurswechsel des amtierenden Präsidenten im letzten Oktober auf seine Arbeit in Sri Lanka ausgewirkt hat und welchen Gefahren er 10 Jahre nach Ende des Bürgerkrieges immer noch ausgesetzt ist. 

Zeitgeschehen im Fokus Professor Emmanuel, Sie sind jetzt mehr als ein Jahr wieder in Ihrem Heimatland. Wie kam es dazu, und hat sich das Leben dort positiv entwickelt? 

Professor S. J. Emmanuel Zuerst hatte ich die Einladung von Präsident Sirisena am 11. März 2015. Das war, kurz nachdem er zum Präsidenten gewählt worden war. Ich habe ihn in London und Berlin getroffen, und er hat seine Einladung wiederholt. Als ich mein goldenes Priesterjubiläum mit Papst Franziskus zelebriert hatte, ermutigte er mich, nach Sri Lanka zurückzukehren und für die Versöhnung zu arbeiten. Mit dieser Einladung und Ermutigung bin ich im September 2017 zurückgegangen. Zuerst für einen Monat, um zu schauen, wie die Lage ist.

Wie haben Sie sich ein Bild von der Lage verschafft?

Ich habe viele Politiker getroffen, Vertreter der Regierung, ehemalige Präsidenten und war mit den Ergebnissen zufrieden. Daraufhin bin ich im Dezember 2017 ganz nach Sri Lanka zurückgekehrt und habe Wohnsitz in Jaffna genommen. Hier war ich von 1992 bis 1996 als Generalvikar als Assistenz der Bischöfe tätig. 1996 bin ich wegen des Bürgerkriegs aus Sri Lanka geflohen. Zunächst war ich für ein Jahr in England, danach lebte ich in Deutschland. Später unternahm ich als Präsident des Global Tamil-Forums viele Reisen durch die Welt, um für die Sache der Tamilen zu lobbyieren. 

Wie war die Lage für die Tamilen nach dem Ende des Bürgerkriegs?

27 Nationen hatten die LTTE verboten. 20 Staaten hatten der damaligen Regierung Geld und Waffen gegeben, um den Krieg gegen die LTTE zu gewinnen. Und so geschah es. Im Mai 2009 ging der Krieg zu Ende. Der amtierende Präsident Mahinda Rajapakse hat sich für eine baldige Versöhnung ausgesprochen und dies dem Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon versprochen. Doch er hat einen schlimmeren Krieg weitergeführt. Sein Plan war, die Tamilengebiete in ein singhalesisch-buddhistisches Gebiet umzuwandeln. Das war schlimmer als der Krieg. Deshalb wollten die Tamilen unbedingt eine andere Regierung.

Ist der Plan mit einer neuen Regierung aufgegangen?

Wir Tamilen, Hindus, Christen und Muslime wollten einen neuen Präsidenten, Maithripala Sirisena. Er wurde nicht nur von seiner Partei unterstützt, sondern auch von anderen Parteien. Er hat gesiegt, und alle Tamilen freuten sich. Als Anerkennung für mein Lobbyieren für ihn hat er die Einladung an mich gerichtet, ins Land zurückzukehren und Versöhnungsarbeit zu leisten. So kam ich zurück nach Sri Lanka. Dort mache ich, was ich für die Kirche als Professor für Theologie, als Priester immer gemacht habe. Auf der anderen Seite habe ich Kontakt zu anderen religiösen Organisationen aufgenommen, um zusammen mit ihnen etwas für die Versöhnung beizutragen. 

Der Weg der Versöhnung wurde vom Präsidenten so nicht fortgesetzt …

Am 26. Oktober kam die schockierende Nachricht, dass der Präsident seinen amtierenden Premierminister abgesetzt und den ehemaligen Präsidenten Rajapakse als Premierminister eingesetzt hat. Eine Mehrheit im Parlament hat gegen den Präsidenten protestiert und an den Gerichtshof appelliert. Der Präsident hatte gegen die Verfassung des Landes verstossen. Der Gerichtshof hat das Vorgehen kritisiert.

Warum hat er das getan?

Sirisena war unzufrieden mit seinem Koalitionspartner Ranil Wickremesinghe, der das Amt des Premierministers innehatte. Aber nach der Ernennung von Rajapakse herrschte in der Regierung Chaos, denn die Mehrheit wollte den alten Präsidenten Rajapakse nicht als Premierminister. Alle wichtigen Parteien waren über diesen Schritt entsetzt. Das ganze Kabinett kämpfte gegen diese personelle Änderung. Auch den Parlamentspräsidenten wollte er auswechseln. 

Das gerichtliche Vorgehen war also erfolgreich?

Ja, die Verfassung ist hier von grosser Bedeutung. Auch ist die tamilische Partei mit anderen Parteien an den Gerichtshof gelangt. Die Tamilen haben sich um die Situation gekümmert und gegen das Vorgehen von Sirisena Protest eingelegt. Die Tamilen wollen den Weg der Demokratie weitergehen und die Verfassung aufrechterhalten. Nur so können wir Tamilen innerhalb der Demokratie weiterkämpfen. Die tamilischen Abgeordneten haben sich dafür eingesetzt, dass die Verfassung berücksichtigt wird. Sogar singhalesische Politiker haben sich für den Einsatz der Tamilen bedankt.  

Was ist danach geschehen?

Der alte Premierminister wurde wieder in das Amt zurückgeholt, und die Situation hat sich äusserlich beruhigt. Aber die inneren Beziehungen sind nicht wie früher. Der amtierende Präsident hat immer noch Kontakt mit dem alten Präsidenten Rajapakse, und das ist für uns Tamilen gefährlich.

Was bedeutet das jetzt für Sie?

Der amtierende Präsident hat mich nach Sri Lanka eingeladen. Aber er hat einen Ausverkauf veranstaltet. Wenn jetzt der alte Präsident Rajapakse und sein Bruder an die Macht kommen, dann wird es für mich ganz gefährlich. 

Gibt es einen Weg über die Uno?

Im Jahre 2015 hat die USA im Uno-Menschenrechtsrat die Resolution 30/1 zu Sri Lanka eingebracht, die die Regierung verpflichtet in Richtung Wahrheit und Gerechtigkeit weiterzugehen.

Ging es nicht darum, einen Gerichtshof einzusetzen, der die möglichen Kriegsverbrechen untersuchen sollte?

Ja, Sri Lanka hatte damals die Resolution unterschrieben, und der Aussenminister Mangala Samaraweera hat sich bemüht, die internationalen Beziehungen zu Sri Lanka und den anderen Nationen zu klären. Er hat der Uno versprochen, alle diese Bedingungen, die die internationale Gemeinschaft an Sri Lanka gestellt hatte, zu erfüllen. Versprochen hat Sri Lanka viel, getan hat es ganz wenig. Es geht nur ganz langsam voran, ohne Herz und Überzeugung.

Was bedeutet diese geänderte Ausgangslage für die Tamilen?

Sie sind betroffen und weinen immer noch über all die Opfer, die dieser Krieg hinterlassen hat. Tausende sind noch immer verschwunden, niemand weiss, wo sie hingekommen sind. Das Militär hält bis heute das Land besetzt, das es den Tamilen weggenommen hat. Die Tamilen leiden unter den von den Singhalesen begangenen Ungerechtigkeiten. Deshalb ist es wichtig, dass wir Tamilen die Unterstützung an der Uno haben, andernfalls wären wir verloren. Ohne die Hilfe der Uno sind wir in Gefahr. Wir wollen Demokratie und nicht weiter von der Mehrheit unterdrückt werden.

Was machen Sie jetzt in dieser Situation?

Ich bin noch Präsident des Verbunds der Diaspora-Tamilen (Global Tamil Forum). Ich lebe jetzt in Sri Lanka. Wie mit dem Präsidenten besprochen, führe ich eine kritische Zusammenarbeit mit der Regierung. Ich muss um meiner Sicherheit willen mit politischen Aussagen vorsichtig sein. Gott hilft mir weiter, treu gegenüber Gott und meinem Gewissen zu sein. 

Wie sieht Ihr Leben konkret aus? 

Ich lebe momentan in Jaffna. Ich lese alle Zeitungen, aber ich nehme an keinen politischen Sitzungen teil. Ich tausche mich mit den Menschen aus und bringe dort meine Meinungen ein. Ich bin auch sehr enttäuscht von der Regierung. Sie hat vor der Weltöffentlichkeit, vor der Uno, sehr viel versprochen, aber sie hat so wenig getan. Sie haben die nötigen Schritte immer hinausgezögert und hinausgezögert. Sie müssten das Ziel verfolgen, den Wunsch haben, dass Tamilen und Singhalesen friedlich miteinander leben können. 

Was braucht es dazu?

Gerechtigkeit und die Aufarbeitung der Verbrechen während des Krieges und danach. Wir wollen keine Rache, wir wollen Frieden, Demokratie und eine neue Verfassung. Hier ist noch nicht viel geschehen. Die neue Verfassung soll die Macht der Regierung mit den Tamilen teilen im Sinne eines Föderalismus, die Macht soll auch auf die einzelnen Provinzen verteilt werden, damit die Tamilen in den nördlichen und östlichen Provinzen selbst entscheiden können. Aber die Mehrheit der Singhalesen missverstehen uns als Separatisten, gegen die Einheit der Insel. Das stimmt nicht. Wir wollen kein eigenes Land und keine eigene Regierung haben. Wir wollen an der Regierung in Form eines Föderalismus teilhaben. Das ist unser Wunsch. Aber wir kämpfen weiter. Die Regierung hat nicht den starken Willen, etwas in diese Richtung zu tun. Sie müssen ihre Versprechungen umsetzen. Das ist es, was wir wollen. 

Herr Professor, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Interview Thomas Kaiser, Genf

«Nur die Syrer können über die Zukunft ihres Landes entscheiden»

«Wenn man die Einmischung von aussen in unsere Angelegenheiten weglässt, wird es nicht schwierig sein, eine Einigung unter den Syrern herbeizuführen»

Interview mit dem Ständigen Vertreter der Syrischen Arabischen Republik bei den Vereinten Nationen in Genf, Botschafter Hussam E. A'ala

Botschafter Hussam E. A'ala (Bild thk)
Botschafter Hussam E. A'ala (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie sieht die allgemeine Situation in Syrien aus?

Botschafter Hussam E. A'ala Die Situation verbessert sich sicherlich, da die syrische Regierung ihre Autorität über die syrischen Gebiete wieder gefestigt hat, nachdem sie sie im letzten Jahr vom Terrorismus befreit hatte. Dies wurde durch zwei parallele Vorgehensweisen erreicht, die Hand in Hand gingen: militärische Operationen gegen terroristische Gruppen in verschiedenen Teilen des Landes einerseits und andererseits nationale Versöhnungsmechanismen, die Syrern, die ihre Waffen gegen die Regierung gerichtet hatten, die Möglichkeit gaben, wieder in ein normales Leben zurückzukehren. 

Was bedeutet das für die syrische Bevölkerung?

Das bedeutet, dass das Leben in den Teilen des Landes, in denen die Terroristen vorübergehend die Kontrolle innehatten, wieder auf Normalniveau ist, und dass staatliche Institutionen wieder vor Ort sind, um die Menschen in diesen Gebieten wieder mit dem Nötigsten und mit Dienstleistungen zu versorgen. Zu den verbleibenden Herausforderungen gehören für uns die Provinz Idlib und die angrenzenden Gebiete, in denen die al-Nusra-Brigaden, der Ableger von Al-Qaida in Syrien, stark vertreten sind. Bisher haben wir versucht, mit der dortigen Situation im Rahmen des Astana-Prozesses fertig zu werden, bei dem die Russen mit anderen Garanten zusammengearbeitet haben, um eine friedliche Lösung zu finden, die das Leben von Zivilisten retten könnte. Aber bisher haben wir keine ermutigenden Ergebnisse erzielt, da Al-Nusra-Terroristen ihre Kontrolle über die Provinz Idlib ausweiten, was bedeutet, dass die Türkei ihre Versprechen gegenüber der russischen Seite nicht eingehalten hat. Daher bleibt die Situation in Idlib eine grosse Herausforderung.

Welche Versprechungen machte die Türkei den Russen gegenüber?

Die Türkei hat als Garant verschiedener bewaffneter Gruppen konkrete Zusagen zum Umgang mit der Situation gemacht, indem sie terroristische Gruppen isoliert hat, um deren Präsenz zu beenden. Aber sie haben das nicht erfüllt, im Gegenteil, wir haben gesehen, wie sich al Nusra unter den Augen der Türken ausbreitete. Die Türkei hat es bisher versäumt, ihre diesbezüglichen Zusagen einzuhalten. Wir hoffen nach wie vor, dass eine friedliche Lösung gefunden werden kann, denn wir wollen das Leben unschuldiger Zivilisten in diesen Gebieten retten, aber die Situation kann so nicht ewig bleiben. 

Wer unterstützt al Nusra, damit sie expandieren kann?

Um meinen Gedankengang fortzusetzen: Sicherlich kann die Situation nicht ewig so bleiben, es sollte eine Lösung gefunden werden, um ihre Präsenz zu beenden. Den Menschen dort, die unter der Kontrolle terroristischer Gruppen leben, wird zwangsweise ein Lebensstil auferlegt, der ihre Grundrechte verletzt. Es ist also notwendig, diese ungewöhnliche Situation zu beenden und die Präsenz des syrischen Staates wieder herzustellen. Das ist das Ziel. Nun zu Ihrer Frage, wer al Nusra unterstützt. Al Nusra hat direkte Unterstützung von verschiedenen regionalen Mächten und Ländern und indirekte Unterstützung von westlichen Ländern erhalten. Natürlich kam ihnen über die Türkei, die seit 2011 die Hauptursache für die Probleme der Situation in Syrien ist, grosse Unterstützung zu, und Katar war ein wichtiger Partner der Türkei bei der Finanzierung und Bewaffnung von Al-Nusra und anderen Terroristen.

Auf welche Weise?

Die Türkei öffnete ihre Grenzen, damit Terroristen aus mehr als 100 Ländern nach Syrien einreisen und zusammen mit al-Nusra, dem IS und anderen Terrororganisationen kämpfen konnten. Und an dieser Situation, das heisst an der türkischen Politik hat sich bis heute nichts geändert. Wir haben keine Anzeichen dafür gesehen, dass sie ihren Kurs geändert hat. Sie behauptet, dass sie den Terrorismus bekämpfen wolle, aber in Wirklichkeit ohne konkrete Massnahmen ihrerseits. Ihre Behauptungen, den Terrorismus bekämpfen zu wollen, müssen noch bewiesen werden. Heute sehen wir, wie sich al-Nusra unter den Augen der Türken ausdehnt, entgegen den Vereinbarungen von Astana, bis zur Wiederherstellung der Präsenz des syrischen Staates. 

Ist Katar der einzige Unterstützer?

Grundsätzlich erhält al Nusra Unterstützung aus Katar, aber al Nusra, IS und andere Gruppen erhielten Unterstützung aus verschiedenen Ländern in der Golf-Region, einschliesslich Saudi-Arabien und darüber hinaus. Diese waren die wichtigsten Operateure und Sponsoren verschiedener terroristischer Gruppen in Syrien. Aber auch in Bezug auf die spezifische Situation in Idlib sind wir daran interessiert, eine Lösung zu finden, die das Leben unserer Bürger retten könnte. Wir sind entschlossen, diese Situation zu beenden und den Menschen dort die Rückkehr in ihr normales Leben zu ermöglichen, wie wir es in anderen Teilen des Landes getan haben. Die andere Herausforderung betrifft die östlichen Teile Syriens, wo die Amerikaner zusammen mit einigen Europäern, seien es französische oder britische Streitkräfte, illegal in syrischen Gebieten präsent sind und Teile des syrischen Territoriums illegal besetzt halten.

Das ist letzlich eine Verletzung des Völkerrechts.

Absolut, dies ist ein Verstoss gegen das Völkerrecht, die Uno-Charta und gegen die Verpflichtungen dieser drei Länder, die als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates beauftragt sind, den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten. Dennoch sehen wir, dass sie – unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung – die Menschenrechte verletzen, unsere Infrastruktur zerstören und einige separatistische Bestrebungen in Syrien unterstützen. Sie bedrohen in der Tat die territoriale Einheit des Landes und verlängern die gegenwärtige Situation; sie sind nicht ehrlich, wenn sie sagen: «wir respektieren die Souveränität Syriens».

Das sind die doppelten Standards, mit denen wir an der Uno konfrontiert sind. 

Wissen Sie, jede vom Sicherheitsrat angenommene Resolution beginnt mit dem Satz: «Wir bekräftigen unsere volle Achtung vor der syrischen Souveränität», aber wir sehen, dass diese Länder vor Ort unterschiedlich handeln. Sie behaupten, sie unterstützten den politischen Prozess, aber sie arbeiten anders und versuchen, die aktuelle Situation zu verlängern. In Bezug auf die Situation in diesem Teil Syriens hat die Regierung deutlich gemacht, dass es zwei Möglichkeiten gibt, entweder durch Versöhnung oder durch Gewalt. Die Regierung hat einen Dialog mit Vertretern der syrischen Kurden und anderer in diesem Teil des Landes lebender Syrer aufgenommen, aber die Amerikaner haben sich eingemischt, um diesen Dialog zu stören, um ihren Interessen zu dienen. 

Welche Interessen haben die USA?

Die Amerikaner mögen keine Regierungen, die eine unabhängige Politik verfolgen, insbesondere in unserer Region. Dies ist der Hauptgrund für ihre Intervention in Syrien. Zweitens besteht das Haupt­interesse der USA in unserer Region darin, die Interessen Israels zu wahren und zu schützen. Ihre Politik in Syrien ist vor allem darauf ausgerichtet, den Interessen Israels zu dienen. 

Was ist mit den natürlichen Ressourcen Öl oder Gas usw.?

Syrien ist kein reiches Land, was die Ölproduktion betrifft, aber die Amerikaner nutzen alles, was ihrer Politik in Syrien dient – wenn sie denn überhaupt eine Politik verfolgen. Ich bezweifle, dass sie ein klares Ziel in Syrien oder anderswo im Nahen Osten haben, abgesehen von den Interessen Israels.

Es gab eine Ankündigung von Donald Trump, die Amerikaner aus Syrien zurückzuziehen. Waren das «fake news»?

Wir haben keine ernsthaften Hinweise dafür. Wir wurden Zeuge von täglich wechselnden Positionen. Für uns ist am Wichtigsten, dass vor allem ihre Anwesenheit illegal ist, da sie gegen das Völkerrecht und die Uno-Charta verstösst; daher ist ihre Anwesenheit zum Scheitern verurteilt. Wir sind entschlossen, unser Territorium vom Terrorismus sowie von jeder ausländischen, illegalen Präsenz fremder Streitkräfte in unserem Land zu befreien.

Diese Verletzung des Völkerrechts ist sehr ähnlich dem, was jetzt in Venezuela geschieht.

Die USA wiederholen in Venezuela genau das, was sie in Syrien getan haben, Schritt für Schritt. Dieser Trend ist für das gesamte internationale System sehr gefährlich. In diesem Jahr jährt sich die Gründung des Völkerbundes zum hundertsten Mal, und wir sehen heute ähnliche Symptome wie diejenigen, die zum Untergang des internationalen Systems auf der Grundlage des Völkerbundes geführt haben. Heute sind wir Zeuge einer Eskalation bei der Unterminierung der Grundlagen des Völkerrechts und des internationalen Systems. Das rücksichtslose Verhalten der USA, das gegen das Völkerrecht verstösst, ihr eskalierender Rückgriff auf Gewaltanwendung oder die Drohungen, Gewalt anzuwenden, sind alle sehr nachteilig für die ganze Welt und das internationale System. 

Darf ich auf die Situation mit den Kurden zurückkommen? Wäre es eine Perspektive, über eine Art föderales System in der Region nachzudenken?

Nein, auf keinen Fall. Föderalismus ist kein Rezept, das in Syrien existieren könnte oder eine Chance haben würde. Die Kurden sind ein wichtiger Bestandteil der syrischen Gesellschaft, wie andere Teile der syrischen Gesellschaft auch. Sie sind syrische Bürger. In Syrien behandeln wir alle Bürger auf gleicher Augenhöhe, so dass sie alle gleiche Rechte und Pflichten haben. Die syrische Regierung war offen, mit ihnen als syrische Bürger zu sprechen und ihre Anliegen zu diskutieren, soweit sie die Einheit des Landes, die Verfassung und die nationalen Gesetze respektieren. Die syrische Verfassung und die nationalen Gesetze können die Anliegen aller Syrer berücksichtigen, wenn sie vollständig umgesetzt werden. Das reiche kulturelle und soziale Gefüge Syriens macht die Erhaltung der Einheit, der territorialen Einheit und der Einheit der Menschen für uns zu einer Angelegenheit oberster Priorität. 

Syrien wird seit Jahren mit Sanktionen belegt. Was bedeutet das für das Land?

Zunächst möchte ich klarstellen, dass wir, wenn wir von Sanktionen sprechen, von Uno-genehmigten Sanktionen sprechen. Syrien unterliegt nicht den von den Vereinten Nationen genehmigten Sanktionen. Syrien ist Ziel der sogenannten einseitigen Zwangsmassnahmen, die von verschiedenen Ländern einseitig auferlegt werden, um politische Ziele zu erreichen. Diese Sanktionen sind naturgemäss illegal; sie sind unmoralisch, weil sie dazu bestimmt sind, politische Ziele auf Kosten des menschlichen Leidens zu erreichen. In allen Ländern, die von diesen Massnahmen betroffen sind, sind es die normalen Menschen, das tägliche Leben der Menschen, die von diesen Massnahmen betroffen sind. Syrien ist keine Ausnahme.

Was bedeutet das für die Menschen in Ihrem Land?

Diese Massnahmen tragen zu Härten im Alltag der Syrer bei. Sie schränken die Versorgung ihrer Grundbedürfnisse, einschliesslich Nahrung, Medizin und medizinischer Geräte, Heizöl, Verkehrs- und Bankensysteme, ein. Die umfassenden Massnahmen gegen Syrien sind in der Tat nichts anderes als eine Art Wirtschaftsembargo. Wenn man sich umfassend auf das Bankensystem, den Verkehrssektor, den Öl- und Gassektor, um nur einige zu nennen, konzentriert, dann zielt man auf die Grundlagen angemessener Lebensbedingungen der Menschen im Zielland. Die von diesen einseitigen Massnahmen beeinflusste Wirtschaftslage war ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung einer Reihe von Syrern, die das Land verliessen, um bessere Lebensbedingungen im Ausland zu finden. Daher liegt die Aufhebung einseitiger Zwangsmassnahmen meiner Meinung nach im Interesse der Länder, die solche Massnahmen ergreifen und mit ihren Folgen bezüglich Flüchtlinge und Migration konfrontiert sind. 

Lassen Sie uns einen Blick auf die Flüchtlinge werfen. Sie haben sie gerade erwähnt. Gibt es Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren? Ist das eine grosse Anzahl von Menschen? 

Die Syrer haben begonnen, vor allem aus Nachbarländern wie dem Libanon und Jordanien zurückzukehren. Die Regierung hat es sich zur wichtigsten Aufgabe gemacht, die Syrer zu ermutigen, zurückzukehren und zum Wiederaufbau ihres Landes beizutragen, während gleichzeitig die letzte Phase der Beseitigung des Terrorismus in Syrien erreicht wurde. Wir stehen vor Herausforderungen bei der Sanierung von Gebieten, die vom Terrorismus befreit sind, und wir arbeiten mit internationalen Organisationen zusammen, um damit fertig zu werden. Aber wir sehen, dass die Finanzierung einer solchen Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen innerhalb Syriens durch politische Auflagen bedingt ist; ebenso gibt es aus offensichtlich politischen Gründen Bemühungen, Syrer davon abzuhalten, in ihr Land zurückzukehren. Die Regierung hat die Syrer öffentlich ermutigt, zurückzukehren, und sie tut ihr Bestes, um ihre Rückkehr zu erleichtern und die Sorgen, die ihre Rückkehr betreffen, anzugehen und Lösungen für sie im Einklang mit den nationalen Gesetzen und der Verfassung zu finden. Dies hat viele Syrer ermutigt, zurückzukehren oder zu beginnen, aus dem Libanon, Jordanien und anderswo her zurückzukommen. 

Können wir also sagen, dass die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft stärker als bisher unter den Menschen verbreitet wird?

Sicher. Ich bin fest davon überzeugt, dass es, wenn man die Einmischung von aussen in unsere Angelegenheiten weglässt, nicht schwierig sein wird, eine Einigung unter den Syrern herbeizuführen. Nur die Syrer können über die Zukunft ihres Landes entscheiden, und niemand sollte sich in diese Situation einmischen. Das Problem war immer die äussere Einmischung in unsere Angelegenheiten. In unserer Region, in der wir einen zunehmenden Extremismus erleben, ist und bleibt Syrien ein Ort des friedlichen Zusammenlebens seiner Bürger. Syrer leben seit Jahrhunderten in Harmonie zusammen. 

Es liegt also im Interesse der ganzen Welt, diese Art des Zusammenlebens und der Harmonie in dieser Region zu erhalten. Wir sind bestrebt, dies im Interesse unserer Region und der ganzen Welt zu wahren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Genf

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

70 Jahre Nato – «die Nato ist ein Rezept für einen dauerhaften Krieg»

Interview mit Senator Paul Gavan, irischer Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Senator Paul Gavan (Bild thk)
Senator Paul Gavan (Bild thk)

Seit 70 Jahren besteht die Nato. Das einstige Produkt des Kalten Krieges, gegründet mit dem Ziel, den Mitgliedstaaten militärischen Beistand zu leisten, sollten sie von der Sowjetunion oder einem ihrer Verbündeten angegriffen werden, sucht immer wieder nach einer neuen Legitimation. Tatsächlich hat sich die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts Ende der 80er Jahre grundlegend geändert. Warum die Nato von heute nichts mehr mit der Nato des Kalten Krieges zu tun hat aber immer noch besteht, erklärt der irische Parlamentarier Paul Gavan im nachfolgenden Interview.

Zeitgeschehen im Fokus Die Nato zelebriert ihr 70-jähriges Bestehen. Sie behauptet, dass die Welt ohne sie schlechter wäre. Was halten Sie davon? Ist die Nato in unserer Welt noch notwendig?

Senator Paul Gavan Ich glaube nicht, dass die Nato eine politische Kraft für alle Zeiten ist, und wenn wir darüber nachdenken, worin die Nato in den letzten Jahren verwickelt war, dann sehen wir die Terrorkriege im Nahen Osten, den Krieg im Irak, den Krieg in Afghanistan, in Syrien. Wir sehen die Unterstützung der Nato für den Terrorkrieg gegen den Jemen. Was die «Sinn Fein», meine Partei, angeht, sind wir völlig gegen die Nato. Ich halte die Höhe der Ausgaben für Militär und Verteidigung für obszön in einer Zeit, in der Millionen von Menschen ums Überleben kämpfen, und in der wir vor den Herausforderungen des Klimawandels stehen. Die Nato ist ein Rezept für einen dauerhaften Krieg, wenn man sich ansieht, was insbesondere in den letzten zwanzig Jahren passiert ist. Aus meiner Sicht gibt es also nichts zu feiern. Die Nato ist ein Instrument für grosse industrielle Militärunternehmen, und leider ist sie eine Methode der Repression für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Ohne die Nato wären wir viel besser dran.

Was Sie sagen, widerspricht völlig dem Selbstverständnis der Nato. Sie behauptet, sie sei eine «Friedensorganisation», und Sie haben gerade gesagt, sie sei eine Kriegsorganisation.

Auf jeden Fall. Wenn sie also behauptet, sie sei eine Organisation für den Frieden, dann sage ich, dass sie dies dem afghanischen Volk, dass sie es dem irakischen Volk oder dass sie es dem syrischen Volk sagen soll. Jeder, der eine objektive Sicht auf die Aktionen der Nato hat, kann sehen, dass sie eine Kriegsbefürworterin ist, dass sie Befürworterin aggressiver, imperialistischer Kriege ist. Wie kann das gut für die Menschheit sein? Und noch einmal: Schauen Sie sich die Entscheidungen an, die wir in Bezug auf die Ressourcen treffen könnten, die zur Lösung der grossen Herausforderungen der heutigen Welt beitragen könnten. Aber stattdessen werden sie von den Militärausgaben und den Zerstörungskriegen in Anspruch genommen.

Die Nato existiert auch nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems weiter. Hätte die Nato in diesem Moment abgeschafft werden müssen?

Nun, ich sehe einfach nicht, dass sie zu etwas beiträgt in der Welt. Was wir brauchen, ist mehr Raum für Friedensverhandlungen; was wir brauchen, sind entmilitarisierte Zonen. Leider eskaliert das, was die Nato als Geschäft betreibt. Und wenn Sie sich die heutige Situation in der Welt ansehen, in der Russland – ich bin kein Verteidiger Russlands –, aber Russland ist derzeit von Nato-Waffensystemen umgeben. Wie soll das zu einer besseren Welt beitragen, wie soll das zu einem besseren Verlauf des Friedens beitragen? Genau das Gegenteil ist der Fall.

Aber die Argumentation ist immer, dass Russland der Aggressor ist und nicht die Nato.

Und dennoch widersprechen dem die Fakten. Die Fakten zeigen das Gegenteil. Und noch einmal verweise ich auf die Kriege im Nahen Osten. Der Grund, warum meine Reaktion auf diese Kriege so heftig ist, liegt darin, dass mein Land, Irland, das angeblich neutral ist, diese Kriege über unseren Zivilflughafen in Shannon unterstützt. Wir wissen also aus erster Hand, wie die Nato tatsächlich funktioniert. 

Was war geschehen?

Vor zwei Wochen wurden zwei US-Friedensveteranen auf dem Flughafen Shannon verhaftet. Einer war 82 Jahre, der andere 77 Jahre alt. Sie wurden verhaftet, weil sie ein Banner hochgehalten hatten. Sie wurden inhaftiert, für zwei Wochen ins Gefängnis gesteckt und dürfen seitdem nicht mehr nach Hause zurückkehren. Wir sehen also aus erster Hand, wie aggressiv und bösartig die Nato und ihre Anhänger sind, auch wenn jemand den Mut hat, aufzustehen und friedlich zu protestieren. Der republikanische Standpunkt, der sozialistische republikanische Standpunkt von Sinn Fein ist also, dass wir weniger Nato und mehr Frieden brauchen.

Können Sie noch ein paar Details zu diesem Vorfall am Flughafen Shannon nennen?

Ja, vor drei Wochen kam eine Delegation von den «US-Veteranen für den Frieden», eine Organisation aus Amerika, zu einem friedlichen Protest am Flughafen Shannon und zwei von ihnen, einer im Alter von 82 Jahren, der andere im Alter von 77 Jahren, wurden verhaftet, weil sie ein Banner am Flughafen hochgehalten hatten; sie wurden ins Gefängnis geworfen, ihnen wurde die Freilassung auf Kaution verweigert. Schliesslich haben wir sie freibekommen, aber sie haben immer noch kein Recht, das Land zu verlassen und nach Amerika zurückzukehren. Was also geschieht, ist, dass diese Menschen als Beispiel für eine Botschaft für andere Menschen dienen, damit sie nicht protestieren, damit sie nicht darauf aufmerksam machen, was auf unserem zivilen Flughafen passiert, der seit vielen Jahren erfolgreich vom US-Militär übernommen worden ist.

Ist das jetzt ein ziviler oder ein Militärflughafen?

Nein, dies ist ein ziviler Flughafen, aber der grösste Kunde seit einigen Jahren ist das US-Militär. Wenn ich von meinem Heimat-Flughafen nach London fliege, bin ich jeden Tag von US-Army-Personal umgeben, das in den gleichen Wartebereichen sitzt und darauf wartet, in Kriegsgebiete zu fliegen. Und für ein Land, das sagt, es sei neutral, ist es absolut beschämend, sich dabei zu engagieren. 

Herr Senator Gavan, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

Das politische System der Schweiz ist mit Abstand das modernste, das weltweit existiert

Das Rahmenabkommen mit der EU könnte die Schweiz in der demokratischen Entwicklung zurückwerfen

von Thomas Kaiser

In einer Diskussion mit Schülerinnen und Schülern betonte eine grosse Mehrheit einhellig, je mehr demokratische Rechte eine Bevölkerung in einem Staatswesen besitze, um so fortschrittlicher, ja moderner sei der Staat.

Wie recht sie haben! Wenn man jedoch unsere Mainstream-Medien liest, hat es immer mehr den Anschein, als ob die direkte Demokratie, wie wir sie in der Schweiz kennen, nicht mehr ganz zeitgemäss sei. Hintergrund dieser Argumentation ist, dass die Mehrheit der Schweizer Medien – aus welchen Gründen auch immer – die Schweiz näher an die EU heranführen möchte. Führend sind hierbei die grossen Medienhäuser, die mit unzähligen Artikeln versuchen, ihren Lesern eine weitere Annäherung an die EU schmackhaft zu machen, ja dies geradezu als einzige Möglichkeit präsentieren. Dabei werden die Besonderheiten unseres Staatswesens und der Verlust der demokratischen Selbstbestimmung kleingeredet, und der materielle Wohlstand, der angeblich durch die Verträge mit der EU entstehen soll, über alles gestellt. Mit Angstmacherei soll der kritischen Öffentlichkeit das Denken ausgetrieben werden, unabhängig davon, ob es sich um das Schengen-, das Rahmen- oder sonst ein Abkommen mit der EU handelt. Es ist immer das gleiche Strickmuster. Wenn wir nicht zustimmen, dann wird uns die EU…

Doch wie hoch ist der Preis, den wir Bürgerinnen und Bürger für die EU-Anlehnungspolitik bezahlen müssen?

Das Referendumsrecht

In langem und zähem Kampf haben Generationen vor uns die demokratischen Elemente, die unser einmaliges Staatswesen ausmachen, erstritten. Zunächst ertrotzte man sich die Volksrechte auf kantonaler Ebene. Hierbei war die Verfassungsreform im Kanton Zürich 1869 nicht ganz unbedeutend, die seinerzeit von Alfred Escher bekämpft wurde, weil er das darin angestrebte Referendumsrecht ablehnte. Was auf kantonaler Ebene erreicht wurde, sollte nun auch gesamtschweizerisch Gültigkeit bekommen. Bei der 1874 durchgeführten Verfassungsreform erlangte die Bevölkerung der Schweiz das ,Referendumsrecht. Damals mussten entsprechend der Bevölkerungszahl beim fakultativen Referendum 30 000 Unterschriften gesammelt werden.

Betrachten wir die Staaten, die die Schweiz damals umgaben, war von Demokratie nicht viel zu sehen. Das 1871 gegründete Deutsche Reich war ein Kaiserreich, analog dazu die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, Italien im Süden wurde von einem König regiert, Frankreich schwankte zwischen Monarchie und Republik. In dieser Situation wurde in der Schweiz das Referendumsrecht in der Bundesverfassung festgeschrieben, das den Bürgern erlaubte, Gesetze, die das Parlament beschlossen hatte, zu Fall zu bringen. Damit setzte sich das bottom-up-Prinzip auch auf Bundesebene durch.

Das Initiativrecht 

Als 1891 dann schliesslich auch das Initiativrecht auf eidgenössischer Ebene eingeführt wurde, existierten bereits damals die bis heute gültigen Volksrechte. Die aussergewöhnliche Möglichkeit, direkt und rechtsverbindlich in die Politik eingreifen zu können, und zwar auf allen drei Ebenen, Gemeinde, Kanton und Bund, konnte bis jetzt bewahrt werden. Auch heute, über hundert Jahre später, hat keiner der die Schweiz umgebenden Staaten nur annährend so viele demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten. Sie nennen sich zwar alle Demokratien, aber das jeweilige Volk ist von der direkten politischen Einflussnahme ausgeschlossen. Die politischen Rechte beschränken sich auf das Wählen der Volksvertreter, die dann für eine Amtsperiode die Politik bestimmen, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger irgendeinen Einfluss auf den Inhalt der Politik haben, ausser sie versuchen wie aktuell in Frankreich über Proteste und Demonstrationen Druck auf die Regierung auszuüben, in vielen Fällen mit mässigem Erfolg.

Angriffe auf Volksrechte abgewehrt

In der Geschichte des Schweizer Bundesstaates gab es immer wieder Versuche, diese Volksrechte einzuschränken, u. a. die Zahl der Unterschriften zu erhöhen oder gar lancierte Initiativen von einem Gremium auf deren Zulässigkeit prüfen zu lassen. Bisher konnten alle Angriffe auf die Volksrechte abgewehrt werden und der Status quo erhalten bleiben. Gerne betonen alle Parteien, wie wichtig ihnen der Erhalt der direkten Demokratie ist, aber wenn es um das Abwägen von direktdemokratischer Mitbestimmung oder Annäherung an die EU geht, relativieren sich diese Aussagen häufig. Die jüngste Geschichte hat uns deutlich vor Augen geführt, was geschieht, wenn das Schweizer Volk etwas anderes will, als die bilateralen Verträge mit der EU vorschreiben. Unsere Politiker biegen die Verfassung so, dass sich die EU mit der Umsetzung der jeweiligen Initiative (z. B. Masseneinwanderungsinitiative) zufrieden zeigt. Anstatt den Willen des Volks umzusetzen, was die ureigene Aufgabe der gewählten Volksvertreter sein müsste, schielt man mit einem Auge nach Brüssel. Wem sind denn unsere Volksvertreter eigentlich verpflichtet?

Das Schweizer Volk ist der Souverän

Leider müssen wir schon heute feststellen, dass die staatliche Souveränität, und in der Schweiz ist das Volk unbestritten der Souverän, durch Verträge mit der EU eingeschränkt wurde, mehr als man dem Volk damals glauben machen wollte. Noch grösser wird der Verlust an Mitbestimmung, wenn die Schweiz das Rahmenabkommen mit der EU annehmen würde. Zum einen werden darin bereits bestehende Abkommen neu einer Gerichtsbarkeit unterstellt, das gilt insbesondere für die Bilateralen I und deren «dynamische» Weiterentwicklung, zum andern sollten alle künftigen Verträge mit der EU der EU-Gerichtsbarkeit untergeordnet werden. Auch wenn ständig von einem Schiedsgericht die Rede ist, letztes Wort hat immer der Europäische Gerichtshof (EuGH). Das bestätigen verschiedene Experten auf dem Gebiet der Juristerei, insbesondere der ehemalige Präsident des Efta-Gerichtshofs, Professor Carl Baudenbacher.

Verteidigung der direktdemokratischen Errungenschaften

Wenn wir uns die Geschichte der direkten Demokratie der Schweiz vor Augen führen und den Gedanken der Schülerinnen und Schüler wieder aufgreifen, dann ist das politische System der Schweiz mit Abstand das modernste, das weltweit existiert. Was in der Schweiz über Jahrhunderte gewachsen ist, gehört als fester Bestandteil zu unserem Staatswesen. Damit müssen wir sorgsam umgehen, sonst können wir eines Tages darüber nur noch in den Geschichtsbüchern nachlesen, wie viel Freiheit die Menschen in der Schweiz besessen haben. Einem Rahmenabkommen, das im Endeffekt unsere politische Freiheit massiv einschränkt und uns in der demokratischen Entwicklung um mehr als 100 Jahre zurückwirft, können wir keine Zustimmung geben, denn auf unsere direktdemokratischen Errungenschaften werden wir nicht verzichten.

 

Aus der Schweizer Bundesverfassung von 1999 (Stand 2018) 

Initiative und Referendum

Art. 138 Volksinitiative auf
Totalrevision der Bundesverfassung

¹ 100 000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Totalrevision der Bundesverfassung vorschlagen.

² Dieses Begehren ist dem Volk zur   Abstimmung zu unterbreiten.

Art. 139 Volksinitiative auf
Teilrevision der Bundesverfassung

¹ 100 000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangen. 

[…]

⁵ Eine Initiative in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs wird Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet. Die Bundesversammlung empfiehlt die Initiative zur Annahme oder zur Ablehnung. Sie kann der Initiative einen Gegenentwurf gegenüberstellen.

Art. 140 Obligatorisches Referendum

¹ Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet:

a. die Änderungen der Bundesverfassung;

b. der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften;

c. die dringlich erklärten Bundesgesetze, die keine Verfassungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt; diese Bundesgesetze müssen innerhalb eines Jahres nach Annahme durch die Bundesversammlung zur Abstimmung unterbreitet werden.

² Dem Volk werden zur Abstimmung unterbreitet:

a. die Volksinitiativen auf Totalrevision der Bundesverfassung;

abis.…

b. die Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung in der Form der allgemeinen Anregung, die von der Bundesversammlung abgelehnt worden sind;

c. die Frage, ob eine Totalrevision der Bundesverfassung durchzuführen ist, bei Uneinigkeit der beiden Räte.

Art. 141 Fakultatives Referendum

¹ Verlangen es 50 000 Stimmberechtigte oder acht Kantone innerhalb von 100 Tagen seit der amtlichen Veröffentlichung des Erlasses, so werden dem Volk zur Abstimmung vorgelegt:

a. Bundesgesetze;

b. dringlich erklärte Bundesgesetze, deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt;

c. Bundesbeschlüsse, soweit Verfassung oder Gesetz dies vorsehen;

d. völkerrechtliche Verträge, die: 

1. unbefristet und unkündbar sind,

2. den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen,

3. wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert.

Warum Bargeld so beliebt ist

von Reinhard Koradi

Vor allem in der Schweiz und in Deutschland ist Bargeld sehr beliebt. Es gibt zahlreiche Gründe, die für das Bezahlen mit Noten und Münzen sprechen. Einerseits bleibt die Anonymität über die Einkaufsgewohnheiten gewahrt, andererseits gibt es wohl keine effektivere Kontrolle über das verfügbare Geld als ein Blick in das Portemonnaie. Ist es leer, dann ist Schluss mit Einkaufen und Konsumieren. Mit anderen Worten, es ist weniger möglich, die verfügbaren finanziellen Mittel durch Überziehen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ganz anders sieht die Sache mit einer Kreditkarte aus. Die ist nämlich kaum einmal «leer», es sei denn, die Kreditobergrenze wurde überzogen. Die Kontrolle über Ein- und Ausgaben kann somit sehr schnell verlorengehen. 

Bargeld gibt Sicherheit. Vor allem wenn die wirtschaftlichen Per­spektiven wenig Gutes erahnen lassen, kann ein Sparguthaben auf einer soliden Bank sehr beruhigend sein. Noch sind die Folgen der Finanz- und Währungskrise aus dem Jahr 2008 nicht überwunden. Vielmehr versuchen die Notenbanken, die Wirtschaft und die Politik, die Krise auszusitzen. Dabei werden jedoch immer noch genau dieselben Fehler wiederholt, die zur Krise geführt haben. Die Geldschwemme soll die Wirtschaft ankurbeln. Weil das Fluten der Märkte jedoch nichts bringt, höchstens die Schieflage der überschuldeten Staaten erheblich verschärft, werden andere Register gezogen. Nicht nur die Staaten auch die Bürger sollen sich verschulden, mit allen Mitteln – auch mit fremden –, um die stotternde Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Der Angriff auf die Sparguthaben hat bereits begonnen. Einerseits wird die Geldentwertung über die Inflation massiv unterstützt. Statistisch werden wohl relativ geringe Teuerungsraten ausgewiesen, aber dies ist mehr das Resultat statistischer Winkelzüge. Relevant sind dafür die Rentenkürzungen für zukünftige Rentner und die Einführung von Negativzinsen. Es ist ein äusserst gefährlicher Kurs, den Notenbanken, Wirtschaft und Politik fahren. Sie haben längst die Kontrolle über die Umschuldung der hoch verschuldeten Staaten verloren, sind machtlos gegenüber der Geldschwemme, die sie nicht mehr in den Griff bekommen, es sei denn, es würde eine massive Geld­entwertung eingeleitet. 

Ökonomen gefällt nicht, was die Bürger schätzen 

Bargeldreserven auf einer Bank anzulegen ist in der Regel risikolos, daher auch sehr beliebt und ein weit verbreiteter Weg, für spätere Tage oder unsichere Zeiten Reserven anzusparen. Spare in den guten Zeiten, dann hast du etwas, falls schlechtere kommen sollten.

Aber gerade diese in weiten Kreisen der Bevölkerung noch eingefleischte Sparsamkeit stört die Ökonomen. Eigentlich sehr schwer nachzuvollziehen, denn in einer seriösen Volkswirtschaft gilt prinzipiell der Grundsatz des Gleichgewichts. Ausgaben und Einnahmen sollten im Gleichgewicht sein. Das gilt sowohl für die privaten als auch für die staatlichen Haushalte. Nach verschiedenen Vorstössen zur Ankurbelung der Wirtschaft muss man sich fragen, welche Geister die Volkswirtschaft heute beherrschen. Die Ökonomie ist die Lehre des Haushaltens und nicht der Spielkasinos. Durch den neoliberalen Ansatz wurden sämtliche ordnungspolitischen Grundsätze über Bord geworfen. Mit dem Resultat, dass wir heute vor einem Abgrund stehen, der chaotische Zustände hervorrufen wird, sollte sich die Vernunft nicht doch noch durchsetzen. Eine Vernunft, die gerade dort ansetzt, wo Mainstreamökonomen nicht mitgehen wollen: nämlich auf die Bremse stehen, d. h. Trockenlegen der Geldschwemme, Zinsen für Darlehen anheben und das Sparen wieder attraktiv machen. Doch die Finanzwelt will es anders. Selbst der internationale Währungsfonds (IWF) setzt auf Beschleunigung und Ankurbelung der Wirtschaft. Das ist Öl ins Feuer gegossen und müsste eigentlich hart sanktioniert werden. Doch was empfehlen uns die «Weisen» aus den internationalen Organisationen? Ladenbesitzern wird empfohlen, die Preise für Leute, die mit Bargeld bezahlen, zu erhöhen, und denen, die mit Kreditkarten einkaufen, günstigere Preise anzubieten. Ein absoluter Unsinn, der eigentlich mit schallendem Gelächter zurückgewiesen werden müsste. Aber die Lage ist zu ernst, um sich über diese unseriösen Empfehlungen mit einem Lachen zu empören.

Staatlich organisierter Zugriff auf unsere persönlichen Ersparnisse?

Italien, die drittgrösste Volkswirtschaft der EU, steht vor erheblichen Finanzproblemen. Noch etwa vier Monate, dann ist Italien bankrott. Die Menschen gehen bereits auf die Strasse, weil sie um ihre Ersparnisse fürchten. Die italienischen Banken sitzen auf über 300 Milliarden Euro fauler Kredite. Die älteste Bank der Welt, die italienische Banca Monte dei Paschi di Siena, sitze auf 47 Milliarden Euro fauler Kredite und sei von der Pleite bedroht, heisst es weiter. Probleme haben die Bankkunden sowohl als Sparer als auch als Anleihegläubiger. So halten rund 60 000 Kleinanleger gut zwei Milliarden Euro an Schuldscheinen der Banca Monte dei Paschi di Siena. Diese hatte ihnen ihr Bankberater schon für Beträge ab 1 000 Euro als sichere Anlage em­pfohlen.

Nach den neuen Regeln zur Bankenrettung müssten sie für die zu grosszügige Kreditvergabe ihrer Bank einstehen und auf einen Teil ihres Geldes verzichten.¹ Andere Medien berichten, dass dies alles nur die Spitze eines Eisberges sei. 

Worauf müssen wir uns vorbereiten? 

Einmal ist die Schweiz gut beraten, wenn sie die Empfehlung des IWF, die Ausgabenbremse zu lösen, um die Wirtschaft anzukurbeln, ganz einfach im Papierkorb verschwinden lässt. Ebenso richtig wäre es, wenn die Schweiz vermehrt wieder ihre eigenen Wege ginge und sich von der Anbindung an internationale Organisationen löste. Und dann steht da noch die Frage im Raum: Welche politischen Mittel haben wir Bürgerinnen und Bürger in der Hand, um einen Zugriff durch den Staat auf unsere Vermögen zu stoppen? In der direkten Demokratie muss es möglich sein, die Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik durch das Volk in die richtigen Bahnen zu lenken. Der Zugriff auf unser Bargeld und die Einschränkung unserer Zahlungsmodalitäten sind inakzeptabel und müssen energisch zurückgewiesen werden. Als Privatanleger ist es bestimmt sinnvoll, keine Klumpenrisiken einzugehen und vorhandenes Vermögen auf möglichst viele Institute zu verteilen. Ich bin überzeugt, dass wir rasch handeln müssen, denn wir haben uns vielleicht doch etwas zu leichtfertig dem blinden Glauben angeschlossen, die Finanz- und Wirtschaftskrise sei überstanden. Dem ist nun wirklich nicht so, wie die Schlagzeilen der letzten Wochen beweisen. 

¹ Spiegel online vom 17.07.2016

Digitale Unterschicht versus analoge Oberschicht?

von Judith Schlenker

Eine Karikatur von Greser/Lenz bringt es auf den Punkt: Zu sehen sind vier sogenannte Emojis, kleine symbolhafte Strichzeichnungen, mit denen eine Botschaft übermittelt werden soll. In diesem Falle sind es vier – ein Smilie mit einem waagrechten Strichmund und langen geflochtenen Zöpfen (erinnert sofort an Bilder der stur vor sich hinstarrenden Greta Thunberg), ein Boxhandschuh, ein nach oben gereckter Daumen und eine Wolke mit Sonne und Regen. Überschrift: «Nachrichten für die digitale Unterschicht» und Bildunterschrift: «Greta Thunberg kämpft für prima Klima.» So weit sind wir also im digitalen Zeitalter schon fortgeschritten, dass wir – wenn auch etwas überzeichnet – von einer «digitalen Unterschicht» sprechen, die sich per Zeichen ihre Botschaften übermittelt. Aber die Zeiten der Zeichensprache hatten wir doch eigentlich überwunden, wir haben Buchstaben und Sprachen und sind in der Lage, einen Gedanken äusserst differenziert darzulegen. Oder soll das in Zukunft nicht mehr der Fall sein? Bleiben Bildung, Wissen und differenziertes Denken der «analogen Oberschicht» vorbehalten?

Fast könnte man es meinen, schaut man sich die aktuellen Entwicklungen in egal welchem Sektor an. Digitalisierung ist das neue Zauberwort, dem alles und jedes untergeordnet wird. Abgesehen davon, dass wir uns völlig abhängig machen von der Elektrizität – ohne Strom kann kein Rechner irgendetwas machen, und die Menschen, die damit arbeiten wollen, sind zur Untätigkeit verdammt – stellt sich oft die Frage, ob die schöne neue digitalisierte Welt tatsächlich dem Menschen dient, oder ob es nicht manchmal so ist, dass sie allein der Profitsteigerung der Konzerne dient. Stellen wir uns nur mal vor, welch gigantischer Profit sich für die Computerindustrie durch die Ausstattung aller Schulen mit Tablets und Computern ergibt. Mit all den Folgekosten, denn mit einer einmaligen Anschaffung ist es ja nicht getan. 

Man lernt nicht «digital»

Natürlich haben all diese Geräte Vorteile, die zu nutzen durchaus legitim ist, aber sie stehen dem Bedürfnis des Menschen im Wege, reale Dinge in den Händen zu halten. Man gebe einem Kleinkind ein Tablet mit einem Film über eine Katze, und es wird immer versuchen, diese Katze zu streicheln. Statt des schönen weichen Fells hat es nur einen kalten Bildschirm zum Anfassen. Welche Enttäuschung für das Kind. Oder der Schüler, der mittels einer Chemie-App die Wirkung von Natriumbikarbonat (Backpulver) und Wasser «entdecken» kann? Welchen Spass hatten wir als Kinder, wenn wir beides in einen Luftballon füllten und eine «Wasserbombe» bastelten. Spätestens dann wussten wir, dass wir beim Kuchenbacken das Backpulver niemals mit der Flüssigkeit zusammenrühren dürfen, weil es sonst seine Wirkung (das Aufgehen des Teiges) nicht mehr entfalten kann. Durch die zunehmende Digitalisierung im Bildungssektor gehen wichtige Fähigkeiten verloren, weil nur noch gelernt wird, was auch vom Computerprogramm abprüfbar ist. Mit echtem Wissen hat das nur wenig zu tun. Natürlich übersetzen Computerprogramme heute ganze Texte recht passabel in verschiedene Sprachen, aber ob das immer alles so richtig ist, kann nur der beurteilen, der die Sprache auch tatsächlich beherrscht. Und um eine Sprache zu beherrschen, bedarf es mehr als nur Zuordnungsübungen machen oder Lückentexte bearbeiten zu können. Dazu braucht es fundiertes Wissen zum Vokabular, über den kulturellen Hintergrund des jeweiligen Landes, über seine Literatur, Musik und Kunst und vor allem über seine Menschen. Oder ist es zielführend, wenn man eine Verabredung zum Dinner mit einer Person hat, deren Sprache man nicht spricht, und man sich mit dem Smartphone behilft, um sich zu «unterhalten»? Romantisch ist es jedenfalls nicht, abgesehen davon, dass möglicherweise solche Kuriositäten herauskommen wie «chicken served with mushroom sauce – Huhn diente mit Pilzsauce» oder «Chocolate Fudge Cake – Schokoladenbrauner Blödsinn Kuchen» beim Übersetzen der Speisekarte.¹

Dagegen stehen analoge Dinge wie eine Zeitung oder ein Buch aus Papier, das raschelt, wenn man die Seiten umblättert, in das man etwas hineinschreiben kann, das man verleihen oder selber ausleihen kann, mit dem man sich auf einen bequemen Sessel setzen und in das man sich vertiefen kann. Oder eine Schallplatte, die wir bewusst auf den Plattenteller legen und uns ganz der Musik zuwenden, weil der Plattenspieler immer noch das Abspielgerät ist, das die hohen und die sehr tiefen Töne eines Musikstücks konkurrenzlos klar wiedergibt. Und das auch noch nach vielen Jahren, wenn die CD längst gealtert ist. Und diejenigen, die noch wissen, wie man diese analogen Dinge produziert, haben den jungen Menschen etwas voraus. Schön, dass es immer wieder junge Menschen gibt, die aus Neugierde alte Fabriken aufkaufen und in mühevoller Kleinarbeit wieder zum Laufen bringen. So geschehen mit der Polaroid Sofortbildkamera, zum Zeitpunkt ihrer Erfindung eine Sensation, im Zeitalter der digitalen Fotografie fast ausgestorben, erlebt die Polaroid Instant Fotografie heute eine Renaissance.

Milliardenschwerer Markt der Bildungstechnologie

Einer, der sich schon länger mit der Kontroverse Digital – Analog befasst, ist der kanadische Reporter David Sax. Er schrieb ein Buch, das einen Titel wie ein Science Fiction Film hat: «Die Rache des Analogen».² Das klingt ein bisschen wie die Rückkehr der Jedi-Ritter. Neben vielen Beispielen aus der analogen realen Welt, wie sie oben bereits beschrieben wurden, setzt er sich auch mit Beispielen von analogen Ideen auseinander. Ein Kapitel, das sich besonders lohnt, genau zu lesen, ist das Kapitel über die «Rache der Schule», weil es darin nicht um Konsumprodukte, sondern um einen ideellen Wert an sich geht – die Bildung. Sax beschreibt zu Beginn des Kapitels, welche enormen Anstrengungen die moderne Kommunikationsindustrie macht, um sich der Schulen zu bemächtigen, handelt es sich doch dabei um einen lukrativen, beständigen Markt, auch in der Zukunft. Hinter all den Forderungen nach Digitalisierung der Schule steht der Glaube, die Schule würde und könne sich verändern wie dies Firmen, die Medien und die Kommunikation getan haben. Was dabei herausspringt, ist ein milliardenschwerer Markt der Bildungstechnologie. Allerdings haben die in den letzten dreissig Jahren gemachten Versuche mit digitalisierter Bildung gezeigt, dass Schüler nach wie vor Probleme beim Lernen haben und über mittelmässige Leistungen nicht hinauskommen. Dagegen haben sogenannt «analoge» Schulen gezeigt, dass sie nicht nur besser sind im Unterrichten von Kindern, sondern auch innovativere Lösungen für die Zukunft der Bildung anbieten können. Um dies zu verstehen bedarf es eines kurzen Exkurses in den Vorgang des frühkindlichen Lernens.

Computerschulen sind gescheitert

Frühkindliches Lernen geschieht vor allem über die Sinne: berühren, riechen, schmecken, in den Mund stecken usw. Das ist die simple Grundlage fürs Lernen, für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes. Und das geschieht in kleinen, aufeinander aufbauenden Schritten. Mit digitalen Medien bringt man das Kind um einen guten Teil dieser Erlebnisse. Man stelle sich nur einmal das echte Malen mit Fingerfarben vor – das Gefühl der Farbe an den Händen, Farbe, die herunter tropft, mit der man etwas bedrucken kann – versus eine Fingermal-App auf einem kalten, sich immer gleich anfühlenden Bildschirm. David Sax beschreibt dies so anschaulich wie alle anderen Phänomene in seinem Buch. Das beste Spielzeug für ein Kind ist das Zeug zum Spielen wie Farben, Pappe, Sand oder Holz. Der Rest ist kindliche Fantasie. Lernen ist also ein lebenslanger Prozess, der mit ganz einfachen Grundfertigkeiten beginnt und sich Jahr für Jahr in seiner Komplexität und dem Abstraktionsvermögen weiter entwickelt. Die Frage ist berechtigt, so Sax, ob wir mittels der digitalen Medien den Kindern tatsächlich etwas beibringen, oder ob wir sie nur unterhalten. Klar kann man den Computer nutzen, um etwas nachzuschauen, einen Text zu schreiben, Daten zu evaluieren, zu korrigieren und seine Lernumgebung zu organisieren, aber Studien haben gezeigt, dass Computer nicht in der Lage sind, die Gräben zu überwinden, wenn es um mangelnde Lesefähigkeit oder mathematische Kenntnisse geht. Dies hat sogar die OECD in ihren PISA-Studien ernüchtert festgestellt. «Wo Computer im Klassenzimmer genutzt werden, sind ihre Auswirkungen auf die Leistung von Schülern bestenfalls gemischt», stellt der OECD Bildungsbericht fest. Mit ihren Programm OLPC (Ein Laptop pro Kind) ist sie gar krachend gescheitert. «Schüler, die häufig Computer in der Schule verwenden schneiden in den meisten Fällen sehr viel schlechter ab», stellte ein Bericht der OECD ernüchtert fest und beendete 2014 sang- und klanglos das Programm.

Warum werden dann trotz aller Eingeständnisse des Scheiterns solche Programme woanders unter anderem Namen weiter eingeführt? Sax meint, das geschehe einmal aus politischen Gründen, weil die Tatsache, dass jedes Kind ein iPad bekommt, glauben macht, man würde in Bildung investieren. Aus finanzpolitischer Sicht wird argumentiert, man würde sparen. Je besser die Programme sind, desto weniger hochbezahlte Lehrer braucht es. Dabei werden oft die Kosten zur Unterhaltung, Reparatur, Ersatz und Update der Geräte verschwiegen. Leider kann das Geld, das man für digitale Geräte in der Schule ausgibt, nicht für mehr Lehrer, die Unterhaltung der Schulgebäude oder Schulbücher ausgegeben werden. Und wenn die Apologeten der digitalen Bildung behaupten, die Technik sei nur ein Zusatzinstrument, dann verschleiern sie die wahren Hintergründe.

Keine digitale Technologie kann zwischenmenschliche Beziehung ersetzen

Fragt man Schüler nach der Bedeutung der digitalen Medien, dann sind sie einhellig der Meinung, dass das Lernen aus Büchern besser sei. In einem Buch kann man etwas markieren, eine Notiz dazuschreiben, es kostet weniger und ist auf jeden Fall vielseitiger einsetzbar (man kann es ausleihen oder kaufen, benutzen, weitergeben usw.). Heutzutage kennen Kinder sich bestens in der Unterhaltungstechnologie aus, ihnen fehlen aber Strategien des Lernens. Wenn es das Ziel ist, aus Schülern kritische Denker und kreative Problemlöser zu machen, dann geschieht das in der Arbeit ohne Computer, denn dazu brauchen die Schüler ihre eigenen Annahmen und Ideen. Es sind dabei die Lehrer, die in der persönlichen Beziehung zum Schüler die reine Information in Wissen und Bildung umwandeln. Wer von uns erinnert sich nicht an einen Lehrer, der uns motivierte, unser Interesse weckte und vorantrieb. Dies kann kein noch so gutes Computerprogramm leisten. Es ist die menschliche Beziehung, die keine digitale Technologie ersetzen kann, und ein guter Lehrer ist immer ein innovativeres Modell für die Zukunft als jede noch so gute Gerätschaft, Software oder Plattform.

Das Kapitel über die Schule lässt David Sax mit einem Zitat von Benjamin Peebles, Forscher im Bereich digitaler Lerntechnologien an der Universität von Toronto, schliessen: «Eine Sache, die ich dabei gelernt habe, ist die folgende: Egal welche Form man verwendet, der Erfolg oder Misserfolg liegt in der Interaktion zwischen dem Schüler und dem Lehrer und daran, wie der Lehrer diese Beziehung handhabt. Wie der Lehrer Fragen stellt. Wie er das Klassenzimmer einrichtet. Wie er zwischen verschiedenen Lehrmethoden wechselt. Wenn es darum geht, Kids von A nach B zu bringen, schafft das keine digitale Technologie. […] Das ist nach wie vor die Aufgabe eines Lehrers.»³

Das Buch von David Sax sei allen empfohlen, die ein gewisses Unbehagen verspüren bei der Masse an digitaler Technologie, die uns heute umgibt und die unser Leben viel stressiger macht als es sein müsste. Lassen wir uns nicht zum Sklaven der Technik machen, sondern sie dort nutzen, wo sie sinnvoll ist. Und besinnen wir uns darauf, was der menschlichen Natur hilft und was ihr schadet. Getreu dem Motto des schweizerischen Dichters Gottfried Keller: «Lasst uns am Alten/so es gut ist halten./Doch auf altem Grund/Neues schaffen zu jeder Stund.»

¹ https://twitter.com/HarryHunger/status/294150517934919680

² David Sax: Die Rache des Analogen - Warum wir uns nach realen Dingen sehnen. Residenz Verlag, 2017, ISBN 978-3701734078

³ ebd., S. 248f

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