Nicht die Schweiz, die EU braucht den Rahmenvertrag 

von Reinhard Koradi

Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die die EU geradezu zwingen, die Schweiz durch einen Rahmenvertrag einzubinden. Doch bevor ich auf diese Gründe näher eingehe, sollen ein paar grundsätzliche Überlegungen rund um das Rahmenabkommen zur Diskussion gestellt werden. Zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz hat sich über die Jahre hinweg ein sehr enges Beziehungsgeflecht entwickelt, das spätestens seit den Verhandlungen über die «Bilateralen I» von einem sprichwörtlich vorauseilenden Gehorsam der Schweiz gegenüber der EU geprägt ist. Dies müsste nicht sein, würden sich beide Vertragsseiten als gleichwertige Partner sehen und sich auch entsprechend verhalten. Die von Brüssel an die Adresse der Schweiz gerichteten Drohgebärden, die sehr leicht als Erpressungsversuche gewertet werden können, mögen zu dem tendenziell wenig herausfordernden Verhalten der Schweiz als Verhandlungspartner gegenüber der EU beitragen, beeinträchtigen jedoch den Aufbau einer Verhandlungsposition, die ermöglicht, die Interessen der Schweiz
mit Nachdruck zu vertreten und durchzusetzen. 

Geradezu fahrlässig ist mit Hinblick auf die Verhandlungsstrategie, wenn ein Verhandlungspartner bereits im Vorfeld der Verhandlungen Signale aussendet, die darauf schliessen lassen, dass er zu weitgehenden Kompromissen bereit ist, um zu verhindern, dass die Gegenseite die Verhandlungen ergebnislos abbricht. Es ist kontraproduktiv1, wenn der Bundesrat, die Mehrheit der Regierungsparteien, Economiesuisse und andere der Wirtschaft nahestehende Organisationen im Hinblick auf das beabsichtigte Rahmenabkommen unüberhörbar ver­künden: Sie wollen die Bilateralen retten respektive den bilateralen Weg weitergehen. Für die EU bedeutet dies, dass die Schweiz ein gefügiger Verhandlungspartner ist und Zugeständnisse machen wird, die den Interessen der EU überaus nützlich sein werden. Diese Ausgangslage verschafft den EU-Vertretern Verhandlungsvorteile. Sie profitieren vom ungeschickten Vorpreschen der Schweiz, indem die Europäische Union ihre Kompromissbereitschaft sehr tief und ihre eigenen Interessen an einem Vertragsabschluss verdeckt halten kann. Die devote Haltung der Schweiz erlaubt auch, die Schraube immer mehr anzuziehen und neue Forderungen wie zum Beispiel die Übernahme der Unionsbürgerschaft auf den Verhandlungstisch zu legen. Eine Übernahme der EU-Bürgerschaft würde EU-Ausländern in der Schweiz einen einfacheren Zugang zu unserem Sozialsystem und das Wahlrecht zumindest auf Gemeindeebene bringen.

Bundesrat will rasche Klärung

Der Bundesrat hat in der letzten Woche den «Reset-Knopf» gedrückt und fordert nun eine rasche Klärung der Beziehungen zur EU. Dass dieser Zeitdruck aus den eigenen Reihen kommt, lässt sich bezweifeln, hat doch der Kommissionspräsident Juncker schon längst zur Eile aufgerufen. Eine rote Linie wurde gezogen. So gelten die flankierenden Massnahmen (bei der Personenfreizügigkeit) als nicht verhandelbar, und die Schweiz ist auch nicht bereit, die EU-Richtlinie zur Unionsbürgerschaft zu übernehmen. 

Ins Verhandlungsdossier aufgenommen wurde dagegen die Einführung eines Schiedsgerichtes, sollte es bei der Interpretation der Regeln über den Zutritt der Schweizer Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt zwischen Bern und Brüssel zu Unstimmigkeiten kommen. Dass jetzt ein Schiedsgericht die Verhandlungsblockade lösen soll, ist mehr als fragwürdig, hat doch die Idee eines Schiedsgerichts das transnationale Freihandelsabkommen TTIP aufgrund heftiger Proteste von links bis rechts zu Fall gebracht. Wo bleiben diese Proteste heute? 

Ebenso verwunderlich ist, dass Bern gegen mögliche Sanktionen bei Fehlverhalten keine Vorbehalte anmeldet oder ein entsprechendes Gegenrecht reklamiert. Knickt da Bern vor dem mächtigen Moloch EU ein? 

Bezüglich der staatlichen Beihilfen2 offeriert die Schweiz, dass diese jeweils in den einzelnen sektoriellen Dossiers geregelt werden könnten. Diese Offerte beinhaltet erheblichen Zündstoff. Würden staatliche Beihilfen untersagt, sägt die Schweiz selbst an einem tragenden Ast jenes Baumes, der die souveräne Gestaltung der Wirtschaftspolitik (Struktur –, Landwirtschaftspolitik und Wirtschaftsförderung) erst möglich macht. Nur zur Erinnerung, die EU betreibt mit ihrer expansiven Geldpolitik eine erheblich umfangreichere Wirtschaftsförderung zum Schaden der Schweizer Wirtschaft und anderen Handelspartnern, als dies durch gezielte Fördermassnahmen einzelner Wirtschaftssektoren der Fall ist. 

Bereits geeinigt haben sich die Parteien offensichtlich über die Übernahme von EU-Recht. Die Schweiz verpflichtet sich zur dynamischen Übernahme, bekommt aber ein Mitspracherecht. Faktisch bedeutet dies, dass die Gesetzgebung in der Schweiz von Brüssel diktiert wird. Dieser Eingriff ist mindestens so entschieden zurückzuweisen wie die Zulassung von fremden Richtern. Geradezu grotesk ist die Begründung des Bundesrates, mit diesem Zugeständnis werde das direktdemokratische Verfahren nicht eingeschränkt! Sagt nämlich das Volk «Nein» zu einer Gesetzesanpassung auf EU-Diktat, kann die EU sogenannte Ausgleichsmassnahmen einleiten. Also doch Abstriche an der direkten Demokratie, denn Drohungen im Vorfeld von Volksabstimmungen sind ganz schlicht als Demokratieabbau zu verurteilen. 

Weiter gilt die Zusage, dass die Schweiz jährlich 130 Millionen Franken während 10 Jahren für den Marktzutritt bezahlen wird. Diese Marktzutrittsgelder müssten grundsätzlich aus wettbewerbsrechtlichen Gründen verboten werden. 

Insgesamt ist das vom Bundesrat «neu» geschnürte Paket ein weitgehendes Einknicken vor Brüssel. Diese Untertänigkeit mit der Aussage zu begründen, «Rechtssicherheit für die Exportindustrie und Stabilität für die Schweizer Wirtschaft und ihre Beziehungen zur EU zu schaffen», ist wenig überzeugend.3 Auch kein besseres Licht auf die Politik unserer Landesregierung gegenüber der EU wirft die Feststellung von Bundesrat Cassis, «es braucht stabile Beziehungen zur EU für ‹Sicherheit und Wohlstand› der Schweiz».4 Was meint unser Aussenminister wohl mit Sicherheit und Wohlstand? Fürchtet er Sanktionsmassnahmen seitens unserer Freunde an der Grenze, oder geht es einfach um Geld und Gewinne? 

Neoliberaler Kurs untergräbt unsere Souveränität

Bundesrat Cassis verfolgt mit dem Abschluss eines Rahmenabkommens nach seinen eigenen Worten «Sicherheit und Wohlstand für die Schweiz». Er definiert die Existenz der Schweiz sehr einseitig über Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum. Dabei ist das geplante Rahmenabkommen mit der EU weder ein wirtschafts- noch ein handelspolitisches, sondern ein staatspolitisches Dossier. Geht es doch um Rechtsübernahme, Rechtsprechung, Strafaktionen und Erweiterung der Bürgerrechte für Ausländer. 

Das angedachte Abkommen geht erheblich über die bis anhin vereinbarten aussenhandelspolitischen Inhalte hinaus. Die staats- und souveränitätspolitische Dimension lastet schwer über dem Rahmenabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft. Es kann daher nicht wirtschaftlich, sondern müsste allein politisch begründet werden. 

Mit einem EU-Unterwerfungsvertrag (Rahmenabkommen) verlässt der Bundesrat den bisherigen erfolgreichen Weg zur Selbstbestimmung durch Eigenleistung und Verantwortung. Diese gehen in einem globalisierten, neoliberalen Konstrukt unter und werden durch die Kräfte des Marktes ersetzt.

In der Vergangenheit bewies die Schweiz, dass Sicherheit und Wohlstand nicht durch Verträge, sondern durch Leistung erarbeitet werden müssen. Es brauchte den Willen und die Fähigkeit der Bevölkerung, durch Eigenverantwortung und -leistung die Grundlagen für Sicherheit und Wohlstand zu schaffen. Sicherheit hat verschiedene Aspekte. Unser Land respektive die Bürger dieses Landes können sich auf die Stützen Souveränität, direkte Demokratie, Föderalismus, Milizsystem, Dezentralisierung, bewaffnete Neutralität und inneren Zusammenhalt (Friedensabkommen) verlassen, wenn es um Sicherheit und Wohlstand geht. Geht es wirklich um den Schutz und das Wohl der Schweiz, dann ist der angedachte Rahmenvertrag mit der EU als Verrat an diesem Vorhaben zu verurteilen!

Brüssel, nicht die Schweiz braucht den Rahmenvertrag

Was könnte passieren, wenn das Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz nicht zustande kommt? Streng genommen nichts. Nicht einmal die Bilateralen sind objektiv gesehen in Gefahr. Alles, was eintreffen könnte, sind weitere Trotzreaktionen oder Erpressungsversuche. So ist nicht auszuschliessen, dass die EU weitere Gespräche mit der Schweiz verweigert und Verhandlungen über neue Dossiers blockiert. Solche Drohungen sind geradezu Peanuts gegenüber dem möglichen Souveränitätsverlust durch das Rahmenabkommen.

Brüssel muss Autonomiebestrebungen im Keime ersticken

Für die Zentrale in Brüssel, genauer die EU-Kommission, allen voran deren Präsident Jean-Claude Juncker, sind Unabhängigkeitsbewegungen ein Angriff auf die beabsichtigte Konzentration der Regierungsgewalt. Gelingt es der Schweiz, sich als souveräner Staat gegenüber den Zentralisten durchzusetzen und ihre Unabhängigkeit gegenüber Brüssel zu verteidigen, könnte der innere Zusammenhalt in der europäischen Union durch Autonomiebestrebungen einiger Mitgliedsländer wanken. Die Schweiz als Vorbild würde zu einem föderalistischen Europa führen. Anstelle von Diktatur, Zentralismus und Nivellierung würden demokratische Mitsprache und Entscheidungen durch die Bürger, weitgehende nationale Autonomie, dezentrale Strukturen mit entsprechender Eigeninitiative und -verantwortung treten. Nicht auszuschliessen ist, dass durch die Absetzungsbestrebungen nationale Währungen erneut eingeführt werden, was insgesamt den Euro in Schwierigkeiten bringen könnte.

Mehr Selbstbestimmung haben allen voran die kleineren EU-Staaten längst angemeldet. Sie werden immer widerspenstiger und wollen sich nicht mehr länger vom Duopol Deutschland/Frankreich bevormunden lassen. Der Besuch des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán in Wien deckte auf jeden Fall unmissverständlich auf, dass sowohl Kurz als auch Orbán sich so viel Nationalstaat wie möglich und so wenig EU wie nötig wünschen und damit vom Kurs von Frau Merkel abweichen und auch Macron hinsichtlich seiner zentralistischen Macht- und Regierungsansprüche den Riegel schieben. Die Forderung nach «Subsidiarität» als Leitlinie für eine zukünftige Europapolitik folgt dem Schweizer Modell nach mehr Dezentralismus und Autonomie für die einzelnen Nationalstaaten. 

Solche Autonomiebestrebungen müssen schon im Keim erstickt werden, sonst breitet sich ein Flächenbrand aus, und einer dieser Keime ist die Schweiz. Das Modell Schweiz vereinigt nämlich all die erstrebenswerten Komponenten, die den Wunsch nach Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität ermöglichen würden. Ziele, die wohl auch die europakritische Visegrád-Gruppe, bestehend aus Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei, zumindest ansatzweise verfolgen. 

Die Tatsache, dass es in Europa ein Land gibt, das durch das Volk regiert wird (direkte Demokratie), das bewusst dezentrale Strukturen pflegt (Föderalismus) und damit die Eigenverantwortung (Subsidiarität) fördert, steht im Widerspruch zur zentralistischen EU-Diktatur. Aus Sicht der EU-Technokraten muss die Schweiz als relevante Gefahr für das ausufernde Machtkonglomerat in Brüssel namens «Europäische Union» gebändigt werden, ansonsten könnte Brüssel plötzlich mit Absetzungstendenzen innerhalb der EU konfrontiert sein. Mit dem Brexit (Austritt Grossbritanniens aus der EU) und den Wahl­erfolgen EU-kritischer Parteien hat der Prozess bereits Fahrt aufgenommen. 

EU kann sich den Zorn der Bürger nicht leisten

Sollte es zwischen der EU und der Schweiz zu einem Zerwürfnis kommen, hätte die EU ein erhebliches Problem mit dem Nord-Süd-Verkehr. Dabei dürfte der Unmut der Österreicher, Franzosen und Italiener (Brenner und Mont-Blanc-Tunnel) nach einer Einschränkung des Alpentransits (Dosierung oder höhere Transitgebühren) durch die Schweiz über das steigende Verkehrsaufkommen mindestens soviel politischen Zündstoff beinhalten wie die wirtschaftlichen Pro­bleme der gesamten europaweiten Warenlogistik.

Die EU ist auf den Alpentransit angewiesen. Ohne die Schweiz entstünden erhebliche Engpässe, die als beinahe unüberwindbar einzustufen sind. 

Kein einfacher Zutritt mehr zur Hochpreisinsel Schweiz

Die Schweiz ist allein durch die Tatsache, dass auf dem Schweizer-Markt überdurchschnittliche Gewinnmargen generiert werden können, für die EU-Exporteure von grösster Bedeutung. Die Schweiz ist nach den USA und China der wichtigste Handelspartner der EU. Die EU-Mitgliedsländer sind dann auch an einem sicheren Zugang zum Schweizer-Markt sehr interessiert. Im Jahr 2016 betrugen die Einfuhren in die Schweiz aus der EU-285 120 Mrd. Franken. In die umgekehrte Richtung gingen lediglich 113 Mrd. Franken Auch bei rein handelspolitischen Überlegungen gibt es keinen Anlass für die Schweiz, sich gegenüber der EU klein zu machen.

Verlust von Arbeitsplätzen für Franzosen, Italiener und Deutsche

Die Schweizer-Unternehmen sind für die EU-Bürger nach wie vor ein sehr interessanter Arbeitgeber. Gelockt durch ein relativ hohes Lohnniveau, reisen täglich Grenzgänger in die Schweiz ein, um einer Arbeit nachzugehen. Ende 2015 stieg die Zahl auf 304 117 Grenzgänger und erreichte damit erstmals die Marke von über 300 000 Personen.6 Würde diese tägliche Zuwanderung eingedämmt, hätten vor allem Arbeitnehmer aus den an die Kantone Tessin und Genf angrenzenden Regionen erhebliche Beschäftigungs- und Einkommensprobleme. Ein wichtiger Nettozahler würde ausfallen.

Durch die Kohäsionszahlungen in Milliardenhöhe ist die Schweiz für die EU auch ein wichtiger Nettozahler. Bei einem Rückzug der Schweiz müssten diese Gelder anderweitig eingetrieben oder Projekte in den neuen EU-Mitgliedsländern gestrichen werden.

Die geplante EU-Erweiterung konzentriert sich auf Länder mit einem relativ tiefen Wohlstandsniveau. Es werden somit zusätzliche Transferzahlungen von den reichen an die armen Länder fliessen müssen, deren Finanzierung jedoch mit der Zeit bei den Geberländern (hauptsächlich Deutschland) Unmut schürt und an Grenzen stösst. Durch den Brexit verschärft sich dieses Problem zusätzlich, verliert die EU doch einen finanzstarken Nettozahler. Würde die Schweiz auch noch aussteigen, käme ein weiteres Finanzierungsproblem auf die EU zu.

Aus der Sicht der Schweiz ist Gelassenheit angesagt

Wir stehen zwar einer Grossmacht gegenüber, aber die entscheidenden Trümpfe liegen in den Händen der Schweiz. Was wir verlieren könnten, ist der erleichterte Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Doch auch hier gibt es stichhaltige Argumente für die Beanspruchung einer mindestens gleichberechtigten Verhandlungsbasis. Wir sollten uns wirklich auf einen Rollenwechsel einstellen und neu als fordernde Partei auftreten. Nur so gelingt es, auf ein Verhandlungsergebnis hinzuarbeiten, das die Souveränität unseres Landes und seiner Bürger schützt und respektiert.

Die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz sind geschützt

In den Diskussionen geht meist unter, dass der Marktzugang der Schweiz zum europäischen Binnenmarkt bereits durch das Freihandels­abkommens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahre 1972 geregelt ist. Der freie Waren- und Güterverkehr ist durch das Vertragswerk in den Grundzügen gewährleistet. Eigentlich sind durch dieses Vertragswerk die Interessen der Exportwirtschaft weitgehend abgedeckt. 

In diesem Zusammenhang kann die Grundsatzfrage nach dem Wert der WTO-Freihandelsbestimmungen (Welthandelsorganisation) aufgeworfen werden. Eine Diskriminierung aus machtpolitischen Gründen müsste eigentlich von der WTO als administratives Handelshemmnis geahndet werden. Hochinteressant wird unter diesem Aspekt der Ausgang der Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der EU sein. Es wäre bestimmt ein Versuch wert, Handelsvorteile, die die Europäische Union Grossbritannien zugesteht, mit Bezug auf das Meistbegünstigungsprinzip auch für die Schweiz zu beanspruchen. Vielleicht ist dies mit ein Grund, die Schweiz zu einem schnellen Abschluss des Rahmenabkommens zu drängen. Man soll ja bekanntlich die Eisen schmieden, solange sie noch warm sind. Die laufenden Brexit-Verhandlungen könnten das Feuer sein, das die Eisen der Schweiz warmhält. Warum nicht auch auf Zeit spielen und einmal abwarten, was passiert? Gleichzeitig könnte diese Zeit genutzt werden, sich aus der Umklammerung durch die EU zu lösen. Es gibt neue interessante Möglichkeiten. Die sogenannt aufstrebenden Märkte liegen weder in Europa noch in den USA und ihren Verbündeten. Als neutrales Land hat die Schweiz die Pflicht, sich keinem Machtblock anzuschliessen. So bietet es sich geradezu an, die Beziehungen zu Russland, zu afrikanischen und asiatischen Ländern aufzufrischen und weiterzuentwickeln. Nicht allein unter wirtschaftlichen, sondern auch unter politischen und sozialen Aspekten.

1 Es sei denn, es besteht die Absicht, ein möglichst schwaches Verhandlungsergebnis zu erzielen, damit das Schweizervolk schneller einem EU-Beitritt zustimmt.
2 Subventionen für die Landwirtschaft, Staatsgarantie für die Kantonalbanken, Förderung der Wasserkraft usw.
3 NZZ, 6. März 2017
4 ebd.
5 28 EU-Mitgliedsländer
6 Bundesamt für Statistik

Die Kurden zwischen Selbstbestimmung und Bürgerkrieg

Hintergründe zum Einmarsch der Türkei in Afrin (Syrien)

Interview mit Rüstü Demirkaya*

Rüstü Demirkaya (Bild thk)
Rüstü Demirkaya (Bild thk)

Ende Januar hat der türkische Präsident Erdogan einen Feldzug gegen die syrischen Kurdengebiete um Afrin im Norden Syriens begonnen. Welche Strategie dahintersteht und warum Erdogan in ein fremdes Land einfällt und dabei internationales Recht verletzt, legt der kurdisch-türkische Journalist Rüstu Demirkaya in folgendem Interview dar.

 

Zeitgeschehen im Fokus Warum hat die Türkei die Operation gegen Afrin begonnen?

Rüstü Demirkaya Das Vorgehen der Türkei hat verschiedene Gründe. Die Kurden in Syrien haben eine neue politische Struktur gebildet, man kann sagen, ein föderales, demokratisches System. Das ist positiv und besser als die Situation der Kurden in der Türkei. Erdogan möchte verhindern, dass an der Grenze zur Türkei ein System entsteht, das auch ein Modell für die Kurden in der Türkei und auch in der Region sein könnte. Die Türkei hat das Problem mit den Kurden im eigenen Land bis heute nicht gelöst. Ein Ziel ist also, das erfolgreiche System der Kurden in Syrien zu zerstören. Der zweite Grund liegt in der gescheiterten Strategie der Türkei im Nahen Osten.

Was für eine Strategie hat die Türkei im Nahen Osten verfolgt?

Zunächst einmal hat die Türkei ihre Ziele in Syrien nicht erreicht. Wenn wir ein paar Jahre zurückgehen zur Zeit des «arabischen Frühlings», da hatte die Türkei als islamisch-demokratischer Staat im Nahen Osten eine gewisse Vorbildfunktion; die Kombination von Demokratie und Islam, die von den USA und europäischen Ländern unterstützt wurde. Zur gleichen Zeit gab es in der Türkei aber eine andere Diskussion, nämlich über den «osmanischen Traum». 

Woraus bestand dieser Traum?

Die Länder, die den arabischen Frühling erlebten, gehörten früher zum Osmanischen Reich. Hier wieder Einfluss zu gewinnen war in den Köpfen einiger Politiker. Denn als der Krieg in Syrien begann, vertraten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, sein damaliger Aussenminister, Ahmet Davutoglu, und weitere Minister die Auffassung: «In einer Woche werden wir in Damaskus sein.» Sie stellten sich vor, dass Assad in zwei, drei Wochen gestürzt wird, und dann die Türkei die Stadt Damaskus unter ihre Kontrolle nehmen könnte. Von dort aus wollten sie weitere Städte unter ihre Kontrolle bringen bis zum Irak, um so im Nahen Osten wieder eine starke Position zu haben.

Der türkische oder osmanische Traum ist wohl nicht in Erfüllung gegangen?

Ja, die Türkei hat auf dem Schachbrett der Macht zu schlecht gespielt. Sie hatte verschiedene radikale islamische Organisationen unterstützt im Kampf gegen Assad, aber auch gegen die Kurden. Die türkische Regierung begreift die Realität des Nahen Ostens nicht. Ich glaube nicht, dass die Türkei die Beziehungen zwischen den einzelnen Ländern im Nahen Osten versteht. Der narzisstische Charakter und die Kurden-Phobie verhindern eine angemessene Politik. Die türkische Politik gegenüber den Nachbarstaaten im Nahen Osten ist nicht sonderlich professionell. 

Gibt es auch noch innenpolitische Gründe?

Ja, in der Türkei sind nächstes Jahr Wahlen mit dem neuen politischen System. Die Zustimmung für Erdogan ist in der letzten Zeit immer mehr gesunken. Nun hat er mit dem Krieg die nationalistischen Kräfte mobilisiert. Es gibt ein Gesetz, dass alle eine Waffe tragen dürfen, wenn Krieg ist. Und so werden alle bewaffnet. Erdogan hat vor kurzem diesem Gesetz Referenz erwiesen und gesagt: «Jeder solle bereit sein zu kämpfen.» Er ist jetzt für Afrin und morgen, wenn er vielleicht die Wahlen verliert, für einen Bürgerkrieg im Land. Inzwischen hat Erdogan seine eigene paramilitärische Gruppe aufgebaut, namens SADAT. Er wird wahrscheinlich die Wahlen vorziehen. Es herrscht immer noch Ausnahmezustand, das soll, wenn er die Wahlen gewinnt, der Normalzustand werden. Also, mit dem Krieg gegen die Kurden versucht er, seine Popularität zu erhöhen. 

War das Verhältnis zu den Kurden in der letzten Zeit immer so schlecht?

Nein, es gab Verhandlungen zwischen der PKK1 und der türkischen Regierung. Wenn man den Anwalt von Öcalan2 hört oder diejenigen, die mit der PKK verhandelt haben, forderte Erdogan, dass die Kurden mit der nationalen Koalition in Syrien, die gegen Assad kämpft, zusammenarbeiten sollen. Das sind verschiedene Organisationen, die sich dann «Freie Syrische Armee» nannten. Erdogan wollte, dass die Kurden mit diesen Verbänden gegen Assad kämpfen. 

 

Sind die Kurden darauf eingegangen?

Öcalan und die Kurden in Syrien haben eine andere Position. Sie sind dort und kämpfen gegen alle, die das kurdische Territorium angreifen. Die Kurden hatten einen schwierigen Stand unter Assad. Sie besassen keine Identitätskarten, einige waren inhaftiert, aber niemand aus der Türkei hat sich jemals für die Kurden in Syrien eingesetzt. So haben sie den Entschluss gefasst, sie kämpfen gegen alle, die ihre Existenz bedrohen. Die militanten Gruppierungen, die von den Kurden Unterstützung wollten, gaben ihnen keine Garantie für ihr Territorium sowie für ein demokratisches Programm für ganz Syrien, wenn sie erfolgreich gewesen wären. Sie wollten die Klärung darüber auf die Zeit nach dem Bürgerkrieg verschieben. Das haben die Kurden nicht mitgemacht. Sie wollten einen Vertrag, aber die Anti-Assad Koalition verweigerte das. 

War das der alleinige Entscheid der Koalition? 

Nein, Erdogan und die Türkei haben der Koalition geraten, das auf keinen Fall zu tun. Die Türkei hat diese Gruppen unter Druck gesetzt, denn sie hat diese vom ersten Tag des Bürgerkriegs gegen Assad unterstützt. Sie hat ihnen Waffen geliefert. Die Kämpfer der Al Nusra oder anderer radikaler islamischer Organisationen sind zuerst in der Türkei gewesen und von dort aus in Syrien eingefallen. Die Türkei hat die Augen geschlossen, und die Dschihadisten konnten problemlos von der Türkei nach Syrien gehen. Der türkische Geheimdienst hat zusätzlich Unmengen von Waffen nach Syrien verschoben. Der Journalist, der das aufgedeckt hat, wurde in der Türkei verhaftet. 

 

 

Wie ist diese Entwicklung für die Kurden in der Türkei?

Die Regierung hat grossen Druck auf sie ausgeübt. Vor allem wollten sie die PKK bzw. die Kurden dazu bringen, mit diesen radikalen Gruppierungen zusammenzuarbeiten. Öcalan hat das verweigert. Er wollte Garantien für eine gewisse Autonomie der Kurden und ein föderalistisches System in Syrien und im Nahen Osten, aber Erdogan war strikt dagegen und drohte den Autonomiebestrebungen mit Krieg. Die Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK wurden aus diesem Grund abgebrochen. 

Das Ziel war also, dass die Türkei über Öcalan die syrischen Kurden dazu bringt, mit der Anti-Assad-Koalition zusammenzuarbeiten.

Ja, mit den verschiedenen dschihadistischen Gruppierungen in Syrien. Aber die kurdische Position ist neutral. Sie haben manchmal direkt gegen Assad gekämpft. Aber die Kurden sagen immer: «Wir kämpfen gegen jeden, der die Rechte der Kurden nicht akzeptiert. Wir schützen uns. Wir können uns auf einer gemeinsamen Plattform mit denjenigen treffen, die uns akzeptieren.» Da die Kurden hier ihren eigenständigen Weg gehen, hat die Türkei gegen die Kurden in der Türkei und in Syrien einen neuen Krieg begonnen. 

Was soll dann mit den Kurden geschehen? Will sie Erdogan dort vertreiben?

Zunächst will er in Dscharabulus eine Mauer bauen, um die Regionen der Kurden zu trennen. Wir haben im Nordwesten Afrin und weiter östlich Dscharabulus. Das Gebiet dazwischen kontrollieren Dschihadisten, verbunden mit der türkischen Armee. Weiter im Süden liegt Idlib, das von Al Nusra und andern Dschihadisten gehalten wird und gute Verbindungen zur Türkei hat. Dazwischen hat es einen schmalen Korridor, der von der Regierung Assad kontrolliert wird. Sie wollen jetzt das Gebiet um Afrin besetzen, und sie wissen, dass sie nicht lange dort bleiben können, aber sie wollen das demokratische Experiment zerstören. 

Was soll dann mit dieser Region geschehen?

In der Türkei gibt es sehr viele Flüchtlinge aus Syrien und auch sehr viele Dschihadisten. Die Türkei will diese in das Gebiet um Afrin schicken, um die junge Demokratie dort zu zerstören. In Afrin sind 80 Prozent der Bevölkerung Kurden, dann gibt es noch Armenier, Turkmenen, Assyrer und Araber. Aber das sind Minderheiten. Die Demokratie dort muss zerstört werden. Die Kurden können sich anpassen, auswandern oder sterben. Eine andere Möglichkeit bekommen sie nicht. Sie will damit die Demographie im Norden Syriens ändern. Dazu kommt noch, wenn sie einen Korridor von Afrin nach Idlib errichten kann, dann könnte sie dort die Dschihadisten gegen Assad besser unterstützen. 

Wer kontrolliert heute Idlib?

Die Stadt ist unter der Kontrolle von Tahrir al-Scham, ehemals Al Nusra. Dazu gibt es verschiedene Gruppierungen als Abspaltungen von ISIS. Die Mehrheit hat Al Nusra. Mit dem Korridor will sie diese Kräfte unterstützen. Auch will sie einen Korridor bis nach Aleppo errichten, denn sie will Aleppo kontrollieren. Assad kann in Damaskus bleiben, aber die wichtigen wirtschaftlichen Metropolen sind im Raum Aleppo. Eine andere wirtschaftliche Region ist von den Kurden kontrolliert. Dazu gehören Städte wie Rakka, Deir ez-Zor und andere. Sie haben sehr grosse Öl- und Gasvorkommen. Etwa 70 Prozent des syrischen Öls kommen aus dieser Region. Wenn die Dschihadisten diese Region wieder kontrollieren, bleibt dem Staat Syrien kaum noch etwas von seinen Bodenschätzen. 

 

Wie kam es dazu, dass die Kurden dieses Gebiet erobern konnten?

Die grossen Spieler auf dem Schachbrett waren abwesend. ISIS hat das Gebiet zuerst kontrolliert gehabt, und man hat sie gewähren lassen. Die Kurden hatten es daher einfacher, das Gebiet zu erobern. Dschihadisten kämpfen in Idlib oder Ghouta. ISIS ist zerschlagen, sie gibt es in dem Sinn nicht mehr. Jetzt stehen sich quasi die beiden Spielführer gegenüber. Für die Russen ist es einfacher, sie sind legal in Syrien, da Assad sie gerufen hat. Aber jetzt besteht ein hohes Risiko. Was geschieht jetzt?

Was wäre ein mögliches Szenario?

Wir haben die türkische gegen die syrische Armee wegen der Situation in Afrin. Es könnte ein weiteres Risiko entstehen, wenn die türkische Armee bis nach Manbidsch vorrücken will, das ist eine Region zwischen Kobane und Dscharabulus. Dort sind US-Soldaten stationiert. Wenn die Türkei dort hin will, besteht die Gefahr eines Krieges zwischen zwei Nato-Staaten. 

Erdogan unterstützt die Kurden im Irak, arbeitet aber gegen die Kurden in Syrien. Wie ist das zu erklären?

Die Türkei wollte auch auf keinen Fall eine Autonomie für die Kurden im Irak. Erdogan war dagegen. Aber sie mussten ihre Strategie wechseln. Dort in der kurdischen Region gibt es viel Öl. Dazu kommen die Schwierigkeiten zwischen der PKK und dem Kurdenführer im Irak, Barzani. Sie haben unterschiedliche politische Vorstellungen. Erdogan hat sich ausgerechnet, wenn er Barzani unterstützt, dann kommt er an das Öl, und er kann Barzani und seine Verbündeten gegen die PKK mobilisieren. 

Ist die Rechnung aufgegangen?

Ja, bis heute hat es funktioniert. Es gab mehrmals Kämpfe zwischen der PKK und den Peschmerga3. Normalerweise mag die türkische Regierung die Kurden im Irak auch nicht, aber wegen der eigenen Interessen unterstützt sie die Kurden gegen die PKK. Die PKK ist für die Türkei eine «gefährliche» Organisation, weil sie im Land sehr viel Unterstützung geniesst.

Assad hat den Kurden in Afrin Hilfe angeboten. 

Ja, sie werden von der syrischen Armee unterstützt. Auch eine kleine Gruppe ist jetzt in Afrin, die vom Iran unterstützt wird. Denn der Iran hat ebenfalls Interessen in Syrien. Er will nicht, dass die Türkei dort erfolgreich ist. Für die Russen ist es vielleicht zu vernachlässigen, wenn gewisse Gebiete nicht mehr von der Regierung kontrolliert werden. Wenn die Kurden in Afrin verlieren und Dschihadisten dort die Oberhand gewinnen, dann wird es schwierig für den Iran. Denn der Einfluss in Syrien ist dann verloren. 

Wie ist dabei die Strategie der USA?

Die USA äussern sich kaum zu Afrin. Es scheint sie nicht zu interessieren. Der Osten Syriens ist für sie wichtiger. Die USA unterstützen die Kurden in Afrin nicht, aber die Kurden im östlichen Teil Syriens schon, wie auch vereinzelte radikale Gruppen es tun. Hier sind die Bodenschätze und in Manbidsch haben die USA eine Luftwaffenbasis, aber auch noch weiter östlich. Wenn es der Türkei gelingt, eine Verbindung von Afrin nach Aleppo zu den dschihadistischen Gruppen zu schaffen, dann ist das eine Schwächung von Assad, und deshalb lassen die USA sie gewähren und sagen deswegen nichts. 

Wie ist das für Russland?

Da die Kurden im Osten mit den USA zusammengearbeitet haben, will Russland sie dafür bestrafen, denn die Kurden in Afrin und die Kurden im Osten arbeiten zum Teil zusammen. Russland sagt auch nicht viel dazu, denn sie haben ein Interesse daran, dass sich die Kurden mit den USA in die Haare bekommen. Die Türkei ist ein Nato-Staat. Die USA ist Nato-Staat. Zusammen haben sie gegen die ISIS gekämpft. Jetzt kämpfen die Türken mit Nato-Waffen gegen die Kurden, die gegen die ISIS gekämpft haben. Die Kurden wollen nicht mehr gegen die ISIS kämpfen, sondern ihren Brüdern in Afrin helfen. Die Türkei will auch bis zu den östlichen kurdischen Gebieten vorstossen, denn dort gibt es ihrer Meinung nach auch Kämpfer der YPG4. Damit werden sie auf die USA stossen. Das macht die Situation äusserst gefährlich.

Wie muss man verstehen, dass Syrien jetzt den Kurden in Afrin hilft?

Es will verhindern, dass die Türkei oder die Dschihadisten den Platz einnehmen. Aber es will auch wieder die Kontrolle über das Gebiet erlangen. Das heisst, es hilft gegen die Türken, aber der Preis ist, dass die Kurden ihre Autonomie aufgeben. Die Kurden haben diese Bedingungen nicht akzeptiert. Sie argumentieren so, dass sie keinen eigenen Staat wollen, sondern sie wollen in Syrien eine Föderation bilden. Sie würden akzeptieren, dass sie zu Syrien gehören und kämpfen gegen die Terroristen für das Land. Es gibt noch weitere Gruppen, die mit den Kurden gegen die Dschihadisten kämpfen. Sie haben Verbindungen zum Iran. Die Kurden wurden von diesen Kämpfern unterstützt. Die syrische Regierung hat das nicht gerne gesehen und wollte nicht, dass sie mitkämpfen. Seit kurzer Zeit hat die Regierung das aber zugelassen. 

Die Gefahr einer grösseren Eskalation ist gegeben.

Ja, wir wissen nicht, was passieren wird, wenn die Türken die Kurden und ihre Verbündeten bombardieren. Wie wird der syrische Staat reagieren, was macht Russ­land? Im Osten ist ein Teil Syriens von den Kurden kontrolliert und ein Teil von Assad. Die russische Armee befand sich in der Region Deir ez-Zor, aber die USA haben hier die russische Armee bombardiert. Es gab ungefähr 100 Tote. Dieser Ort ist strategisch sehr wichtig. Die USA wollen das ganze Gebiet kontrollieren und im Kurdengebiet bleiben. Damit können sie die Verbindung zwischen Syrien und Iran verhindern, die Hizbollah isolieren und Syrien zerstören. 

Was wird der Iran tun?

Wenn die USA weiter in dem Kurdengebiet bleiben, dann wird es schwierig, die Hizbollah im Libanon zu unterstützen. Das iranische Einflussgebiet in der Region wird reduziert. Es wird isoliert werden. Deshalb will der Iran verhindern, dass sich die Türkei weiter in Syrien und im Nahen Osten ausbreitet und unterstützt die Kurden. Aber auf der anderen Seite will der Iran auch nicht, dass die Kurden eine zu starke Position bekommen, da es im Iran auch Probleme mit den Kurden gibt. Um den Einfluss sunnitischer Dschihadisten und der Türkei zu verhindern, unterstützen sie die Kurden in Afrin. 

Sehen Sie irgendeine Lösung in dieser verworrenen Situation?

Jetzt ist Krieg, aber wir haben die völlige Manipulation in der Presse. Ja, natürlich, es sterben Zivilisten, das ist die traurige Realität. Aber auf der anderen Seite sind Dschihadisten, die töten auch Zivilisten, aber darüber spricht niemand. Es sterben die Familien von Dschihadisten, das sind auch Zivilisten. Mit den Berichten in den Medien wollen sie die Russen stoppen. Jeder Krieg ist eine Katastrophe. Auf beiden Seiten sterben Zivilisten. Die Menschen leiden, der Krieg muss beendet werden. Dann wird es lange und intensive Verhandlungen über die Organisation des syrischen Staates brauchen. Für die Lösung in der Region ist es notwendig, extremistische radikale Gruppen dort nicht zu unterstützen, sondern demokratische Strukturen aufzubauen und zu stärken. Wir brauchen demokratische Lösungen, die alles abdecken, keine militärischen.

Herr Demirkaya, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser, Genf

1 Kurdische Arbeiterpartei
2 In der Türkei inhaftierte Führer der PKK
3 Bewaffnete Kurden im Irak, vom Westen mit Waffen versorgt u.a. von Deutschland.
4 Kurdische Milizen in Syrien

* Rüstü Demirkaya ist Kurde aus der Türkei. Er ist 34 Jahre alt und lebt seit 2009 in der Schweiz. Ab 2002 hat er für die Nachrichtenagentur DIHA bei der Tageszeitung «Ozgür Gündem» als Reporter und Editor mit Schwerpunkt Menschenrechte gearbeitet. Wegen seiner Berichterstattungen wurden gegen ihn mehrere Gerichtsverfahren eröffnet. Er wurde inhaftiert und nach 7 Monaten dank der Unterstützung internationaler Reporter- und Menschenrechtsorganisationen wieder freigelassen. Später wollte man ihn erneut verhaften und zu 10 Jahre verurteilen. Darauf flüchtete er im Dezember 2009 in die Schweiz. Er berichtet und schreibt weiter für die oben genannte Nachrichtenagentur und Zeitung.

 

«Krieg bedeutet immer das Scheitern des Friedens, er ist immer eine Niederlage für die Menschheit»

Einseitige Berichterstattung über den Syrienkrieg

von Thomas Kaiser

Jeden Tag ist es in den Nachrichten zu hören oder in den Zeitungen zu lesen, ob elektronisch oder auf Papier: Russland im Verbund mit den syrischen Truppen führt einen brutalen Krieg gegen unschuldige Zivilisten in Syrien. Russ­land, insbesondere der Präsident Wladimir Putin wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit dämonisiert, als eiskalter gefühlloser Machtmensch dargestellt, der im Unterschied zu allen anderen am Syrienkonflikt Beteiligten, ausser seinem Verbündeten Assad, nur die eigenen Interessen verfolgt, obwohl er dort aus Sicht der USA und seiner Verbündeten gar keine Interessen zu verfolgen hat. 

Wenn einem Staat militärisches Eingreifen irgendwo auf der Welt, besonders im Nahen Osten, zugestanden wird, dann bisher allein den USA. Der US-amerikanische Präsident Franklin Roosevelt legte am Ende seiner Amtszeit (1945) die Verteilung der Einflusssphären im Nahen Osten gegenüber dem britischen Botschafter Lord Halifax wie folgt fest: «Das persische Öl gehört Ihnen. Das Öl im Irak und Kuweit teilen wir uns. Und was das saudische Öl betrifft, das gehört uns.»1 Von Selbstbestimmungsrecht der Völker weit und breit keine Spur. Fast dreissig Jahre später bestätigte Friedensnobelpreisträger und ehemaliger US-Aussenminister Henry Kissinger diese Einstellung, die wohl bis heute immer noch Gültigkeit hat mit folgendem denkwürdigen Satz: «Die Ressource Öl ist zu wichtig, als dass wir sie den Arabern überlassen sollten.»2 Dass der ehemalige US-Präsident George W. Bush mehrheitlich Öl und Gas produzierende Länder zur Achse des Bösen (Libyen, Irak, Syrien, Iran) erklärt hat, scheint eine Folge genau dieser amerikanischen Strategie und Denkweise zu sein.3

Griff in die Propagandakiste

Mit was wir in den traditionellen Medien mehrheitlich konfrontiert werden, sind Griffe in die Propa­gandakiste, die immer wieder getan werden, wenn es darum geht, die Interessen des einen Staates zu heiligen und die des Gegners zu verteufeln.4 Höhepunkt dieser Dämonisierung sind meistens Vergleiche mit Hitler oder Stalin, die wahrlich grausame Diktatoren waren.5

Man ist schon erstaunt, dass bei grundsätzlicher Pressefreiheit, also dem Fernsein von staatlicher Zensur, Berichte mit offensichtlicher Einseitigkeit in unseren grossen Medien eine Plattform finden. Dabei werden die Zusammenhänge, die Ursachen und Entwicklungen z. B. des Konflikts in Syrien völlig unter den Tisch gekehrt. Um so erhellender ist es, wenn die «NZZ am Sonntag» einen Artikel veröffentlicht, der die völkerrechtswidrige Einmischung der USA in andere Länder zum Thema macht.6 Von den Beispielen aus betrachtet, die dort erwähnt wurden, fällt es leichter, Parallelen zum heutigen Kriegsgeschehen in Syrien zu ziehen. 

Andere Konflikte wie jener in Jemen werden mehr oder weniger totgeschwiegen, denn hier macht sich ein enger Verbündeter der USA, nämlich Saudi-Arabien, schwerster Kriegsverbrechen mit Unterstützung seines westlichen Alliierten schuldig. Man vernimmt zwar ab und zu etwas von einer «Humanitären Katastrophe», wofür aber irgendwelche schiitischen Rebellen verantwortlich seien, aber auf Dauer lassen sich diese Märchen nicht aufrechterhalten. 

Im Syrienkrieg hingegen sind nach Auffassung der westlichen Medien nicht die radikalen Islamisten, Al-Kaida Ableger, IS-Splittergruppen, Al Nusra und wie sie alle heissen, für das Desaster verantwortlich, sondern der durchschnittliche Leser bekommt den Eindruck, dass Assad im Verbund mit Russland aus Machtgier gegen seine eigene Bevölkerung Krieg führt: Eine wildgewordene Soldateska, bestehend aus syrischen Truppen und von Iran unterstützten Milizen im Verbund mit der russischen Luftwaffe, tobt sich an unschuldigen Zivilisten aus. 

Dass Krieg das Grausamste ist, was Menschen sich ausgedacht haben, soll damit keinesfalls in Abrede gestellte werden. Papst Franziskus formulierte 2013 auf dem Petersplatz in Rom folgende Worte: «Möge das Waffenrasseln aufhören! Krieg bedeutet immer das Scheitern des Friedens, er ist immer eine Niederlage für die Menschheit.»7

Krieg gegen Libyen als Blaupause

Vermutlich wird man den syrischen Truppen Kriegsverbrechen vorwerfen können, nicht anders wie den mit den USA verbündeten Dschihadisten und den USA selbst, deren militärische Anwesenheit in Syrien schon eine Verletzung der Uno-Charta und somit einen schweren Völkerrechtsbruch darstellt. Aber dies ist in unseren US-hörigen Medien kein Thema. 

Nach nahezu sieben Jahren Krieg in Syrien haben wir so vieles verdrängt oder gar nie richtig erfahren, dass wir uns nur schwerlich ein Bild von der Situation machen können. Oder wer weiss schon, dass von Assad mit Aufständischen während des Jahres 2016 «mehr als 1000 lokale Waffenstillstände (…) geschlossen worden waren.»?8 

Offensichtlich ist, dass der Krieg in Syrien auch einen vom Westen und seinen Verbündeten befeuerten Konflikt darstellt, der ohne deren Einmischung wahrscheinlich nie und nimmer diese Ausmasse angenommen hätte. 

Als Blaupause für Syrien galt der «Aufstand» 2011 in Libyen, der zu einer Nato-Intervention geführt hatte. Mit über 20 000 Luftschlägen und – nach moderaten Schätzung – 90 000 Toten und Vermissten,9 davon mehrheitlich zivile Opfer, hatte die Nato, gestützt auf eine Uno-Sicherheitsratsresolution, die zwar das Errichten einer Flugverbotszone sanktioniert, aber keinen flächendeckenden Bombenkrieg gegen Libyen rechtfertigte, das Land in Schutt und Asche gelegt und erreicht, dass der Präsident des Landes, Muammar al Gaddafi, von Islamisten auf grausige Art massakriert wurde. Seither ist das Land in einem erbärmlichen Zustand. Aus dem einst wirtschaftlich aufstrebenden Land mit einer funktionierenden sozialen Infrastruktur ist ein klassischer «Failed State» geworden, in dem ausser Korruption und inneren Machtkämpfen nichts, aber auch gar nichts mehr funktioniert.10 Der Staat ist zerrüttet, verschiedene Clans bekämpfen sich gegenseitig, das Land droht vollständig auseinanderzufallen, und eine friedliche Einigung scheint in weiter Ferne. 

Widerstand von Chinesen und Russen

Ein ähnliches Szenario war auch für Syrien vorgesehen, man wollte den Staat in verschiedene Teile auseinandertreiben.11 Doch die Rechnung ging nicht auf. Obwohl die Aufständischen in Syrien breite Unterstützung aus dem Ausland erhielten (siehe Interview zur Politik der Türkei), dazu gehören vor allem die USA, Saudi-Arabien, Türkei, Katar und mehrere europäische Staaten, gelang es nicht, Assad aus dem Land zu jagen oder ihn von Dschihadisten massakrieren zu lassen. Zwar verlor er immer mehr an Territorium, besonders an den IS, aber die syrische Armee konnte Teile des Landes halten und verteidigen. Der Versuch, mit einer Uno-Resolution von aussen wie damals in Libyen zu intervenieren, ist im Gegensatz zur Libyenresolution am Widerstand der Chinesen und Russen gescheitert. Als die Lage für das Land und die offizielle Regierung immer verheerender wurde, der IS sich immer mehr ausbreitete und die syrische Armee, gebunden an verschiedenen Orten, unterzugehen drohte, bat Assad seinen jahrzehntelangen Verbündeten, Russland, um Hilfe. Ab diesem Zeitpunkt begann die Rückeroberung des syrischen Territoriums. Damit hatten die Gegner Assads wohl nicht gerechnet. 

Bereits in der Anfangsphase dieses Krieges, als Verhandlungen vielleicht Schlimmeres hätten verhindern können, haben Vertreter de «westlichen Kriegsallianz», die sich bis nach Katar auszudehnen schien, uni sono erklärt, mit «Assad wird nicht verhandelt». Das hiess nichts anderes, als Krieg bis zum Letzten. Immer wieder liess sich dieser Satz selbst am Uno-Menschenrechtsrat in Genf vernehmen: «Mit Assad gibt es keine Zukunft in Syrien, Assad muss weg.» Dass Assad nicht freiwillig gehen würde, war allen klar, auf Verhandlungen wollte man nicht setzen, damit war entschieden, Krieg zu führen mit tausenden von Opfern auf beiden Seiten. Aber diese Haltung wurde in unseren Medien selten problematisiert. Thema waren meist nur Assad und die Russen und in letzter Zeit immer wieder der Iran. Von Beginn des Krieges an drang aber hin und wieder durch, dass die Dschihadisten die schiitische, alawitische oder christliche syrische Bevölkerung grausam niedermetzelten.12 Wenn man mit geflohenen christlichen Syrern sprach, wünschten sie sich nichts sehnlicher als ein Leben in Frieden unter Assad. 

Doppelstandards bei Kriegsverbrechen

Als 2015 mit dem Eintritt Russlands der Krieg eine Wende nahm, fokussierten sich die Medien nur noch auf die Kriegsführung Russlands und der syrischen Armee. Brutalste Dschihadisten wurden zu Rebellen oder gar zu «gemässigten Kräften». Alles Euphemismen, um die wahre Rolle der Assad-Gegner zu vertuschen. Während Assad im Verbund mit den Russen Aleppo aus den Händen verschiedenster Organisationen befreite, gingen fürchterliche Bilder um die Welt von massiven Zerstörungen und völlig entkräfteten Menschen. Zeitgleich legte die US-Luftwaffe zusammen mit der irakischen Armee Mosul, die IS-Hochburg im Irak, in Schutt und Asche, so dass von der historischen Altstadt nichts übrigblieb ausser einer Trümmerwüste.13 Tausende von Zivilisten, die von den Dschihadisten festgehalten wurden, fielen dem Bombardement zum Opfer. Wer hat dieses Vorgehen als Kriegsverbrechen gebrandmarkt, als dabei Schulen, Spitäler und andere zivile Einrichtungen zusammengebombt wurden? Es ging doch um die Vertreibung von Terroristen. Das hatte damals schon George W. Bush beim Krieg gegen den Terror seinerzeit verlangt, dass für diese Menschen das humanitäre Völkerrecht nicht gelten kann, und damit Foltermethoden und das Lager in Guantanamo gerechtfertigt. 

Niemand auf dieser Welt hat es verdient, unter solchen Bedingungen leben zu müssen. Niemand hat es verdient, Opfer eines Krieges zu werden, bei dem es um die Interessen von Mächtigen geht, und Menschenleben achtlos geopfert werden. Aber genauso unrecht ist es, die einen für ihre Taten zu verurteilen und die anderen für die gleichen Untaten freizusprechen. 

Rechtzeitig auf Verhandlungen setzen

Der Kampf um Ost-Ghouta wäre zu verhindern gewesen, wenn man rechtzeitig, konsequent und ohne Vorbedingungen auf Verhandlungen gesetzt hätte. In dieser Region lebten 3 Millionen Menschen, von denen noch ungefähr 12 Prozent übriggeblieben sind. Der Rest ist im Lauf der Besetzung durch die sogenannten Rebellen geflohen.14 Das Märchen von «gemässigten, demokratischen Kräften», die jetzt brutal von Assad und seinen Truppen in die Zange genommen werden, wird selbst von denjenigen in Frage gestellt, die jahrelang versucht haben, ein anderes Bild des syrischen Krieges zu zeichnen: «Vom gemässigten Widerstand gegen Assad ist in den Vororten von Damaskus wenig geblieben, stattdessen ­kontrollieren vier islamistisch bis dschihadistisch orientierte Milizen das Gebiet, darunter in erster Linie die salafistische von Saudi-Arabien unterstützte Islam-Armee, aber auch das ‹Komitee zur Befreiung der Levante›, ein Ableger der Kaida. Die ‹Guten› – auch das gehört zum vollständigen Bild – gibt es in diesem Krieg nicht, oder nicht mehr.» 15

Wenn der Krieg einmal zu Ende ist, werden wir nach und nach vieles erfahren, was heute der Öffentlichkeit noch verborgen ist. Die unschuldigen Opfer werden dadurch nicht wieder lebendig. ν

1 «Der Fluch des Öls». In: Der Spiegel 3/2011, S. 89
2 ebenda S. 90
3 State of the Union Address, 31.1.2002
4 Anne Morelli: Prinzipien der Kriegspropaganda. 2014
5 «Bomben für den Frieden». SRF Dok vom März 2008 
6 «Amerika manipuliert Wahlen». In: NZZ am Sonntag vom 4.3.2018
7 «Krieg ist immer eine Niederlage für die Menschheit». In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 9. 2013
8 Karin Leukefeld: Flächenbrand – Syrien, Irak, die arabische Welt und der Islamische Staat. 2017, S. 69
9 ARD 17.02.2012
10 «Wahlen im scheiternden Land». In: NZZ vom 5.3.2018
 11 Karin Leukefeld: Flächenbrand – Syrien, Irak, die arabische Welt und der Islamische Staat; 2017. S. 90
12 «Das Massaker von Hula ist ein Wendepunkt im syrischen Konflikt». In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.6.2012
13 «Die Hölle auf Erden». In: Die Tageszeitung vom 2.4.2017
14 Karin Leukefeld: Kriegsschauplätze in Syrien – Was wir über die östliche Ghouta, Afrin und das Euphrat-Tal wissen sollten. In: Nachdenkseiten vom 2. 3. 2018
15 «Der syrische Alptraum». In: NZZ vom 2. 3. 2018

Fehlende gesetzliche Grundlage für Militäraktion im Jemen

Drei Senatoren fordern Ende der unerlaubten militärischen Beteiligung der USA im Jemen

Washington, 28. Februar 2018

Senator Chris Murphy (Demokraten, Connecticut), ein Mitglied des Senatskomitees für auswärtige Beziehungen, schloss sich den Senatoren Bernie Sanders (unabhängig, Vermont) und Mike Lee (Republikaner, Utah) an, um eine gemeinsame Zweiparteien-Resolution im Senat einzubringen, die – gemäss der Kriegsrechts-Resolution – verlangt, dass bewaffnete US-Truppen von den Feindseligkeiten zwischen der von Saudi-Arabien angeführten Koalition und den Huthis in Jemen abgezogen werden. 

Die Vorlage wird die allererste Abstimmung im Senat erzwingen, die verlangt, bewaffnete US-Streitkräfte aus einem unerlaubten Krieg zurückzuziehen.

«Tausende und Abertausende unschuldiger Zivilisten sterben heute im Jemen, und die USA sind mitschuldig», sagte Murphy. «Dieser Horror ist teilweise durch unsere Entscheidung verursacht, eine Bombardierungskampagne zu erleichtern, die Kinder ermordet, und eine saudische Strategie innerhalb Jemens zu unterstützen, die absichtlich Krankheit, Verhungern und Rückzug humanitärer Hilfe als Kriegstaktik einsetzt. Es gibt keine gesetzliche Grundlage für die Beteiligung der USA an einem Krieg innerhalb Jemens, und der Kongress kann nicht weiterhin schweigen.»

«Wir glauben, da der Kongress weder Krieg erklärt noch ein bewilligtes militärisches Eingreifen in diesen Konflikt genehmigt hat, dass die Beteiligung der USA im Jemen verfassungswidrig und nicht erlaubt ist, und dass die US-amerikanische Unterstützung für die Saudi-geführte Koalition aufhören muss», sagte Sanders. «Deshalb bringen wir heute gemäss der Kriegsrechts-Resolution von 1973 eine gemeinsame Resolution ein, die ein Ende der US-amerikanischen Unterstützung für den Krieg der Saudis in Jemen fordert.»

«Mit dieser Resolution kann der Kongress seine Macht über die Entscheidungsfindung in der Aussenpolitik zurückgewinnen,» sagte Lee. «Sie kann militärisches Engagement genehmigen oder eine Genehmigung verweigern und nationale Interessen der USA definieren.»

Als Resultat des von den Saudis geführten Kriegs stirbt im Jemen alle 10 Minuten ein Kind unter 5 Jahren an vermeidbaren Ursachen. Mehr als 10 000 Zivilisten sind gestorben und über 40 000 sind in diesem Krieg verletzt worden. 15 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser oder zu sanitären Anlagen. Geschätzte 15 Millionen Menschen – 60 Prozent der Gesamtbevölkerung – haben keinen zuverlässigen Zugang zu Nahrung und sind vom Hungertod bedroht.

Im Jahr 2015 hat die Obama-Administration, ohne den Kongress einzubeziehen, schnell US-amerikanische Streitkräfte bereitgestellt, um «logistische und geheimdienstliche Unterstützung» für die Koalition unter Saudi-Arabien zu leisten. Die US-amerikanische militärische Unterstützung für diese Intervention hält bis auf den heutigen Tag an. US-Streitkräfte koordinieren, tanken auf und liefern Informationen über Ziele und Geheimdiensttätigkeiten an die Saudi-geführte Koalition, wie kürzlich Verteidigungsminister James Mattis bestätigte.

Artikel 1 Abschnitt 8 der Verfassung hält fest, dass «der Kongress die Macht haben soll, … Krieg zu erklären.» Die Beteiligung der USA jedoch an den Feindseligkeiten der Saudis und der Emirate gegen die Huthis in Jemen wurde nie vom Kongress ausdrücklich ermächtigt, wie es das Gesetz verlangt. 

Murphy war eine kritische Stimme gegen die US-Unterstützung für militärische Eingriffe im Jemen, die zu verheerenden humanitären Folgen und einem Sicherheitsvakuum, das terroristische Gruppierungen gestärkt hat, geführt haben. Murphy lancierte die Zwei-Parteien-Resolution, um die US-Unterstützung für die saudische Militäroperation im Jemen einzuschränken, und verlangte von der saudischen Regierung, Schritte zu unternehmen, die humanitäre Krise im Jemen anzugehen.

Die gemeinsame Resolution von Sanders, Lee und Murphy führt sicher zu einer Abstimmung im Senat in Übereinstimmung mit den Verfahrensweisen, die in der Internationalen Sicherheits- und Waffenexportkontrollakte von 1976 niedergelegt sind.

Sie wird an das Komitee für auswärtige Angelegenheiten überwiesen, und wenn sie nicht innerhalb von 10 Kalendertagen behandelt wurde, wird sie Gegenstand einer zu verabschiedenden Motion.

Wenn sie vom Komitee behandelt oder verabschiedet worden ist, kann die Motion vorrangig zur Richtlinie gemacht werden.

Die gemeinsame Resolution ist 10 Stunden lang im Senat verhandelbar.

Eine ähnliche Resolution, vorgelegt von den Mitgliedern des Repräsentantenhauses Ro Khanna (Demokrat, Californien) und Mark Pocan (Demokrat, Wisconsin), Thomas Massie (Republikaner, Kentucky) und Walter Jones (Republikaner, Nord-Carolina) hat 50 Mitunterzeichner im Repräsentantenhaus. ν

Quelle: https://www.murphy.senate.gov/newsroom/press-releases/murphy-sanders-lee-introduce-war-powers-resolution-to-end-unauthorized-us-military-involvement-in-yemen

Link zur Resolution: https://www.sanders.senate.gov/download/yemen-resolution?inline=file

Übersetzung «Zeitgeschehen im Fokus»

«Es muss stets eine friedliche Lösung angestrebt werden»

Resümee nach 6 Jahren Tätigkeit als Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung an der UNO

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Genf

Alfred de Zayas (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)

Mit der Resolution des Uno-Menschenrechtsrat 18/6 wurde 2011 das Mandat eines «Unabhängigen Experten für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung» geschaffen. Im März 2012 übertrug der Menschenrechtsrat dem ehemaligen hohen Uno-Beamten und Völkerrechts­professor, Alfred de Zayas, dieses Amt. Seine grosse Leistung lag zunächst darin, aus einer offen formulierten Resolution den Umfang und die inhaltliche Ausrichtung des Mandats zu definieren. Eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, die dem kritischen Denker und fachlich ausgezeichneten Völkerrechtler auf den Leib geschnitten war. Seine Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit brachten ihm sowohl bei den Staaten als auch bei den NGOs grossen ­Respekt ein. In mehreren Berichten zuhanden des Uno-Menschenrechtsrat und der Uno-Generalversammlung legte Alfred de ­Zayas den Fokus auf Entwicklungen, die im Widerspruch zu der Uno-Charta und zu den Menschenrechten stehen, und benannte diese in aller Deutlichkeit. Damit habe er, wie er selbst sagt, sich nicht nur Freunde geschaffen. Wie er die letzten sechs Jahre beurteilt und welche Empfehlungen er seinem Nachfolger im Amt mit auf den Weg gibt, erklärt Alfred De Zayas in nachfolgendem Interview.  

Zeitgeschehen im Fokus Herr Professor de Zayas, welche Aufgaben waren mit Ihrem Mandat verbunden?

Professor de Zayas Die Resolution 18/6 des Menschenrechtsrates (MRR) besteht aus 6 Seiten und definiert alle möglichen Ziele des Mandats. Zunächst ging es um die Frage, welches sind die Prinzipien, deren im Rahmen des Mandats gedient werden soll. Dies sind vor allem der Frieden und die gerechte Verteilung der Ressourcen dieser Welt. Dazu gehört auch eine Vorstellung, wie eine demokratische und gerechte internationale Ordnung geschaffen werden kann. Wichtig war, die Prioritäten zu erkennen, und das Mandat nicht durch Nebensächlichkeiten und opportunistische Erklärungen zu bagatellisieren.

Sie haben über Ihre Aktivitäten jeweils Rechenschaft ablegen müssen?

Ja, in den jährlichen Berichten, insgesamt sechs Berichte an die Generalversammlung und sechs an den Menschenrechtsrat, und als «Bonus» einen siebten Schlussbericht (A/HRC/37/63). In meinem ersten Bericht an den MRR habe ich erst einmal definiert, was Demokratie heisst. Alle Menschen nehmen das Wort schnell einmal in den Mund, aber was bedeutet eigentlich Demokratie? Das bedeutet eine Korrelation zwischen den Wünschen einer Bevölkerungsmehrheit und der Politik, die diese als vom Volk gewählte Regierung umzusetzen hat. 

Konkret bedeutet das doch …

…, dass es keine Elite sein kann, die die Politik bestimmen darf. Es können weder die transnationalen Unternehmen noch die international vernetzten Finanzinstitute sein, sondern es müssen die Bürgerinnen und Bürger konsultiert werden. Es muss eine zuverlässige Weise geben, den Willen der Bevölkerung zu erfassen.

Dazu müssen die Menschen freien Zugang zu Informationen haben, damit sie sich eine Meinung und somit einen eigenen Standpunkt bilden können.

Ja, das braucht es unbedingt, und hier liegt auch vieles im Argen. Die Menschen haben ein Menschenrecht auf zuverlässige Information und sollen alles relevante Wissen über eine Sachfrage zur Verfügung haben, damit sie sich eine eigene Meinung bilden können. Diese Informationen müssten leicht zugänglich sein. Das ist heute aber nicht der Fall.  

Warum ist das so?

Die Medien sind heute meist Konglomerate. Sie produzieren häufig Nachrichten, die tendenziös sind und mit dem Begriff Fake News eine traurige Berühmtheit erlangt haben. Wir leben in einer Welt von «Fake News», «Fake History», «Fake Law» etc. Falsche Nachrichten, falsche Geschichtsschreibung, falsche Gesetze bzw. falsche Gesetzesauslegungen sind in ihren Auswirkungen verheerend. Gerade im Bereich des Rechts gibt es Absurdes. Menschen, die keine Juristen sind, sprechen so, als ob das, was sie vertreten, juristisch gesichert sei, was oft nicht der Fall ist. Um legitim zu sein, muss ein Landesgesetz durch demokratische Konsultierung und durch parlamentarische Gesetzgebung entstehen. Völkerrecht entsteht vor allem durch Verträge, die nicht nur unterschrieben, sondern auch ratifiziert werden müssen.  

Was muss man sich darunter konkret vorstellen?

Zu den «falschen Gesetzesauslegungen» gehört zum Beispiel der Begriff der sogenannten «humanitären Intervention». Es gibt nichts dergleichen im internationalen Recht. Auch die Schutzverantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern, auf englisch «responsibility to protect» (R2P), ist keine Rechtsnorm und auch kein Vertrag. Das geht auf eine sehr allgemeine Deklaration aus dem Jahre 2005 zurück, die absolut unverbindlich ist. Unter keinen Umständen könnte durch «responsibility to protect» das Gewaltverbot gemäss der Uno-Charta Art. 2 Abs. 2/4 ausser Kraft gesetzt werden. Aber diese unverbindliche Deklaration wird oft behandelt, als ob sie bereits ins Völkerrecht eingegangen sei. 

Wird damit nicht auch Tür und Tor für die Destabilisierung von unliebsamen oder unabhängigen Staaten geöffnet?

Ja, wir sehen das in Venezuela, der Staat wird regelrecht gemobbt. Wir sehen das auch im Falle von Syrien. Man hat immer wieder verbreitet, dass die syrische Regierung nicht in der Lage sei, die Rechte ­ihrer eigenen Bürger zu schützen. Nach der «responsibility to protect»-Theorie sollte die so viel beschworene Weltgemeinschaft hier ­intervenieren und mit einem ­Regime-Change (Sturz der Regierung) das Problem beseitigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass grundsätzlich jede Anwendung von Gewalt verboten ist, ausser es würde unter Kapitel 7 der Uno-Charta im Uno-Sicherheitsrat eine Resolution angenommen. Das ist weder in Venezuela noch in Syrien der Fall. 

Inwieweit wird diese völkerrechtliche Grundlage eingehalten?

Wir können in der Geschichte, aber auch aktuell feststellen, dass vor allem die mächtigen Staaten gegen diese Grundnorm verstossen. Im Falle Syriens haben die USA auf verbrecherische Weise in gewissen Regionen eine Flugverbotszone errichtet. Das ist völkerrechtswidrig. Praktisch ist das eine Kriegserklärung. Es ist eine inakzeptable Einmischung in die Souveränität Syriens. Ausserdem haben die USA Flughäfen und Regierungstruppen bombardiert. Das sind Kriegsverbrechen. Die USA tun das, denn sie wissen, dass Russland die direkte Konfrontation mit ihnen nicht suchen wird. Aber es ist den USA auch klar, Russ­land würde es nicht zulassen, wenn die USA Bashar al Assad aus dem Land jagen oder ihn gefangen nehmen würden.  

Was ist das Ziel der USA?

Sie wollen wie im Kosovo eine dauerhafte Militärbasis installieren. Weil sie damals in Ex-Jugoslawien keine Basis bekommen hatten, brachen sie dann mit Gewalt einen Krieg gegen Serbien vom Zaun, und am Schluss errichteten sie im Kosovo eine riesige Militärbasis namens Camp Bondsteel. Natürlich mit der Genehmigung der Marionetten-Regierung im Kosovo, nämlich einer Regierung, die tut, was Brüssel und Washington befehlen. Das Land ist weder unabhängig noch souverän. Die Einmischung unter dem Gesichtspunkt der «Schutzverantwortung» ist sowohl völkerrechtlich als auch unter dem Aspekt der Demokratie höchst problematisch. 

Sie haben die einzelnen Themen, die Sie in Angriff genommen haben, selbst bestimmen können?

Ja. Es gab nie einen Beeinflussungsversuch aus dem Menschenrechtsrat. So habe ich die Arbeit der Lobbys thematisiert, vor allem die Aktivitäten des militärisch-industriellen Komplexes und der transnationalen Konzerne wie Exxon oder Apple. Das war notwendig, denn man kann keine unabhängige Politik führen, wenn eine Lobby solchen Einfluss sogar auf den Menschenrechtsrat und auf das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte ausübt. Zudem muss man wissen, wieviel von den Lobbys manipuliert wird. 

Trump will die Rüstung, vor allem die Nuklearrüstung verstärken. Gibt es Zahlen, wie viel Geld der Staat für die atomare Rüstung ausgibt?

Was wir als Rüstungsetat (Pentagon, Militärbasen, Flugzeuge, Kriegsschiffe, Soldaten, militärische Pensionen und Versorgung) kennen, betrug 40% des Haushaltes unter Obama. Aber die militärische und zivile Nuklear-Industrie wird nicht als «normale» Militärausgaben ausgewiesen, sondern sie sind im Budget des Energieministeriums versteckt. Damit ist der vom Pentagon ausgewiesene schon sehr hohe Rüstungsetat niedriger als die realen Militärausgaben. Da werden Unsummen für die Zerstörung ausgegeben … 

… die an anderen Orten viel sinnvoller eingesetzt werden könnten. 

Ja, natürlich. Wenn wir mit den Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen haben, auf dessen Ursprung ich gar nicht eingehen möchte, wird uns das -zig Milliarden kosten. Das Beenden der Rüstung könnte riesige Summen dafür freiwerden lassen. Auch wären mehr Gelder für soziale Projekte vorhanden, die in den Entwicklungsländern so nötig wären, wenn die transnationalen Industrien ihre Steuern anständig bezahlen würden.

Das ist auch ein Aspekt Ihres Mandats? Wie kommen wir zu einer gerechteren Welt?

Ich habe in mehreren Berichten die Verantwortung der transnationalen Firmen für Menschenrechtsverletzungen oder die Existenz von Steuerparadiesen angesprochen. Es gibt auf unserer Welt Hunderte von Steuerparadiesen. Wir haben bis heute nur die Spitze des Eisbergs gesehen. Tatsache ist, dass Zehntausende von superreichen Individuen keine Steuern bezahlen und ihr Geld irgendwo off shore halten. Die grossen transnationalen Unternehmen kreieren eine fiktive Niederlassung in einem Steuerparadies, so werden alle Einnahmen dorthin überwiesen und somit keine oder nur geringe Steuern bezahlt. Das ist bewusster Betrug und Schädigung des Volkes sowie des Staates. Aber weil so viele Politiker mit schuld daran sind, werden diese Fragen nicht diskutiert und die Gerichte nicht eingeschaltet, um die Steuersünder zur Kasse zu bitten. 

Wenn wir bei diesem Thema Wirtschaft und Finanzen sind: Inwieweit spielen die internationalen Organisationen wie Weltbank und Weltwährungsfonds eine Rolle, wenn es um die Frage der Menschenrechte geht?

Man kann feststellen, dass von Weltbank und IWF oft mehr Einfluss ausgeht als von der Uno-Generalversammlung oder den Erklärungen des Uno-Generalsekretärs. Unter uns gesagt: Weltbank und IWF sind der verlängerte Arm des US-Finanzministeriums. Dadurch wird die Weltpolitik bestimmt. Die Weltbank finanziert Projekte – oft menschenrechts- und umweltfeindliche Projekte – während der IWF Geld an Staaten vergibt, wenn sie ihre finanzielle Souveränität aufgeben. So z. B. in Griechenland, wo das Land zu einer quasi-Kolonie degradiert worden ist, und eine Privatisierungskampagne die Schutzaufgaben des Staates unterminiert und zu Armut und Arbeitslosigkeit geführt hat. 

Wie ist in Zukunft damit zu verfahren?

IWF und Weltbank müssten auf eine sinnvolle Weise in die Uno integriert werden, damit sie im Sinne der Interessen der Menschen in der Weltgemeinschaft arbeiten und nicht nur in Abhängigkeit von den USA für die Superreichen, letztlich für die neoliberale Vision der USA. 

Wie waren die Reaktionen auf Ihre Berichte, in denen Sie immer wieder heisse Eisen anpackten?

Das Interessante ist, dass mir niemand einen Fehler nachweisen konnte. Die Medien berichten, wenn überhaupt, meist nur oberflächlich über die konkreten Feststellungen und Vorschläge in den Berichten. Wir Berichterstatter sind wie lauter Kassandren. Niemand will unsere Berichte hören. Häufig werden sie archiviert und geraten bald in Vergessenheit. Meine Hoffnung liegt auf den NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) bei der Verbreitung meiner Berichte. Bisher kann ich nur schwerlich eine direkte Konsequenz meines Einsatzes erkennen mit einer einzigen Ausnahme. Mein Bericht von 2014 an die Generalversammlung (A/69/272) handelte vom Selbstbestimmungsrecht. Er wird regelmässig von den Kurden, den Korsen, den Katalanen, den Italienern aus dem Veneto, den Tamilen in Sri Lanka, den Sahraouis, den Slowenen aus Triest u.a. zitiert. 

Was ist der wichtigste Punkt im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht?

Ich habe in dem Zusammenhang auch in meinen Berichten immer wieder klar gemacht, dass das Selbstbestimmungsrecht jus cogens, also verbindliches Völkerrecht darstellt, das aber nicht selbstredend in Erfüllung geht, sondern es braucht die Unterstützung durch die Vereinten Nationen. Es gibt Fälle von Selbstbestimmung, die von der Uno unterstützt wurden. Wir haben auch die entgegengesetzte Entwicklung wie z. B. bei den Igbos in Biafra, den Tamilen auf Sri Lanka oder auch den Sahraouis in Marokko. Sie haben versucht, ihr Recht mit Gewalt durchzusetzen und sind gescheitert. Dabei gab es Unmengen von Toten. 

Was könnte die Uno hier tun? 

Wenn die Mitglieder des Uno-Sicherheitsrat anständig wären und im Sinne der Uno-Charta ihre Verantwortung wahrnähmen, müssten sie frühzeitig zum Dialog auffordern und auf eine Mediation hinarbeiten. Es muss stets eine friedliche Lösung angestrebt werden. In Osttimor, im Süd-Sudan, in Äthiopien-Eritrea gab es Referenden. Sie wurden von der Uno lanciert, aber viel zu spät. Es gab bereits tausende von Toten, bis man sich auf eine Abspaltung der Gebiete geeinigt hatte. Hier hätte die Uno präventiv wirken und sich einmischen sollen, um einen Waffenstillstand zu erreichen, und damit Verhandlungen geführt werden. 

Was ist das Entscheidende, was die Uno hier leisten kann?

Es geht um einen friedlichen Dialog. Dieser müsste vom Uno-Generalsekretär proaktiv gefordert werden. Ich hätte gerne einen Generalsekretär, der rechtzeitig, wenn es einen Konflikt zwischen der Mehr- und Minderheit eines Staates oder auch zwischen verschiedenen Völkern gibt, seine guten Dienste anbietet, um Schlimmeres zu verhindern. Aber diese Initiative ergreift er bis heute nicht. Ban Ki Moon hat das sicher nicht getan, aber Antonio Guterres tut es bisher auch nicht, was mich sehr enttäuscht.

Welche Funktion hätte in einer Konfliktsituation der Internationale Gerichtshof?

Er könnte bei solchen Zwistigkeiten angerufen werden, damit er ein Rechtsgutachten erstellen kann. Dann wüsste man zumindest, wie es völkerrechtlich zu beurteilen ist. Es gibt die Normen und dazu die Konsequenzen, die aus diesen Normen folgen. In meinen Augen hat der Internationale Gerichtshof in vielen wichtigen Situationen versagt. 

Welche Reaktionen haben Sie auf ihre Themen, die Sie in Ihren Berichten aufgegriffen haben?

Sowohl die Generalversammlung als auch die Staaten haben bisher meine Vorschläge und Kritikpunkte weitgehend ignoriert. Viele Staaten sind natürlich unglücklich, dass ich immer wieder den Finger auf Völkerrechtsbrüche lege, die sie lieber verstecken möchten. Die betroffenen Staaten wollen sich nicht in die Debatte hineinziehen lassen. Das Beste aus ihrer Sicht ist, mich totzuschweigen. Als grosse Hoffnung bleiben die bürgerliche Gesellschaft und die Nichtregierungsorganisationen, die meine Berichte entdecken. Sie könnten etwas unternehmen. Natürlich konnte ich nicht alle Fragen anpacken, die es zu bearbeiten galt. Aber ich habe in meinem letzten Bericht einige Punkte erwähnt, die ich nicht aufgreifen konnte, aber meinem Nachfolger als Empfehlung vorschlage. 

Was sind das für Aspekte?

Die Konsequenzen von Privatorganisationen wie die G7, G20, das Council on Foreign Relations, die Bilderberger, die Trilaterale Kommission, das WEF usw. auf die Demokratie. Hier haben sich private Gruppierungen etabliert, die sich anmassen, auf höchst undemokratische Weise die Geschicke der Welt zu bestimmen. Es müsste sehr viel mehr Licht in diese Organisationen gebracht werden. Sie üben grossen Einfluss aus, haben eine gehörige Macht und werden von niemandem kontrolliert. Auch nicht von den Vereinten Nationen. Das ist ein riesiges Problem für die Demokratie. Auch die Banken und die sogenannnten «credit rating» Organisationen (Ratingagenturen) wie Moody’s und Standard and Poor’s, die sogenannnten Auditing Firms wie Deloitte und Price Waterhouse Cooper, beeinflussen Wirtschaft und Politik auf sehr ungesunde Weise. Auch müssten Aspekte, die ich in meinen Beiträgen aufgeworfen habe, weitergeführt und ausgebaut werden wie z. B. die Debatte über die bilateralen Investmentverträge sowie über internationale Verträge wie TTIP, TiSA u. a., die ein ungeheures Problem für die Demokratie darstellen. 

Ist schon bekannt, wer Ihre Nachfolge antreten wird?

Nein, aber ich kenne die Liste der Kandidaten. Ich hege die Sorge, dass man das Mandat denaturiert und es am Schluss völlig irrelevant wird. Es werden nicht mehr die wichtigen Fragen angepackt werden, sondern es wird ein «modisches» Mandat. Die Liste der Themen, die ich meinem Nachfolger vorlege, ist lang genug, dass man die nächsten sechs Jahre damit arbeiten könnte. Aber es kommt darauf an, wer der Nachfolger wird. In dessen Händen liegt das weitere Schicksal des Mandats.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser, Genf

Die Iraner – ein gastfreundliches und lebensfrohes Volk 

Reiseeindrücke aus Isfahan, Februar 2018

von Andreas Kaiser

«Des Lebens Karawane zieht so schnell dahin, und jeder Tag ohne Freud‘ ist ewiger Verlust.»
Omar Khayyam

Grossstadtverkehr

Am Strassenrand stehen zwei Verkehrspolizisten und betrachten den exorbitanten Verkehr. Sie tragen Atemschutzmasken. Da ertönt schrill die Trillerpfeife des einen – der Grund ist nicht ersichtlich, und die Folgen seines Pfiffs sind es ebensowenig.

Autofahren heisst, sich in ein Chaos zu begeben. Es ist, wie wenn sich alle Spieler zweier Fussballmannschaften auf den Ball stürzten, d. h., wenn er kann, fährt jeder einmal los und sieht, wie weit er kommt – meistens nicht sehr weit. Die Strasse ist offiziell vierspurig, je zwei Spuren in jeder Richtung, aber die Autokolonnen bewegen sich mindestens vierspurig pro Richtung. Zwischendrin, das heisst von links oder von rechts, taucht ab und zu ein Motorrad auf, das sich waghalsig zwischen den Autos einen Weg sucht. Es wird gehupt, was das Zeug hält, aber das ist nicht etwa ein Zeichen von Wut, Ärger oder Empörung, sondern dient dazu, auf sich aufmerksam zu machen. Hat man eine Lücke entdeckt, versucht man, vor dem nächsten Fahrzeug hineinzukommen. Manchmal gelingt's, manchmal ist der andere schneller. Hupen – und weiter geht's. Um als Fahrer in diesem Chaos überleben zu können, muss man voll konzentriert ständig alle vier Himmelsrichtungen im Auge behalten. Ich bin Taxigast und komme aus dem Staunen nicht heraus. Willkommen in Isfahan.

Auf dem Meydan-e Naqsh-e Jahan in Isfahan ist immer etwas los (Bild ak)

Auf dem Meydan-e Naqsh-e Jahan in Isfahan ist immer etwas los (Bild ak)

 

Nach mehreren Gruppenreisen in den Iran sah ich die Zeit reif, mit rudimentären Farsi-Sprachkenntnissen ausgestattet alleine Isfahan zu erkunden. Ich folgte der privaten Einladung einer Familie, die ich auf einer meiner Reisen kennengelernt hatte. Ich ahnte nicht, welch einmalige Erfahrung dieser Besuch bereithalten würde. Die Gastfreundschaft und die Höflichkeit der Iraner sind sprichwörtlich, und wenn man Einblick ins Private bekommt, scheinen sich diese Eigenschaften zu potenzieren. 

Der Taxifahrer steuert mit stoischer Ruhe (er hupt nie!) und mit einigem Vergnügen sein Gefährt durch diesen Blechdschungel. Schnell gewöhne ich mich daran und entwickle eine gewisse Sympathie dafür. 

Das Handy liegt stets griffbereit auf dem Armaturenbrett und kommt selbstverständlich auch zum Einsatz, im Radio läuft Iran-Pop in gut hörbarer Lautstärke, und er erklärt mir Strassen- und Brückennamen, Gebäude und anderes mehr. Wir sprechen über dieses und jenes und natürlich auch über die Geschichte des Iran. Als ich den früheren Ministerpräsidenten Mossadegh erwähne, beginnen seine Augen zu leuchten. «Ja, der war ein aufrechter Politiker, der das Beste für das iranische Volk wollte; er ist heute noch ein Vorbild», meint er. Mossadegh war 1951 Premierminister geworden und forderte u.a. die Verstaatlichung des iranischen Öls. Vor allem aus Grossbritannien(!), das bisher unglaubliche Profite aus der ungerechten Verteilung der Erdöleinnahmen eingestrichen hatte, kam erbitterter Widerstand gegen diese Politik. Die US-Regierung unter ihrem neuen Präsidenten Eisenhower schloss sich den Briten an, und in einer heute gut dokumentierten Geheimdienstaktion wurde die Regierung Mossadegh am 19. August 1953 gestürzt. Diese Ereignisse haben die Iraner bis heute nicht vergessen! 

Als wir etwas ausserhalb der Stadt vor meinem neuen Domizil anhalten, empfängt mich fast die ganze Familie mit einem herzlichen «Xoš āmadid!» (Herzlich willkommen).

Amir, Arzt und Vater zweier Jugendlicher, öffnet die Wohnungstür, und wir treten in ein sehr geräumiges Wohnzimmer. Grosse Wohnzimmer traf ich immer wieder an. Sie sind typisch für die iranische Mittelschicht. «Das ist jetzt deine Wohnung», sagt Amir.

Iran heute

Vor 10 Jahren hatte ich zum ersten Mal die Islamische Republik Iran besucht, seitdem faszinieren mich dieses Land und seine Bewohner mit einer Geschichte, die über 5000 Jahre zurückreicht. Vom Kriegsverbrecher George W. Bush auf die «Achse des Bösen» gesetzt, von Trump als «Schurkenstaat» beschimpft und bis heute trotz unterzeichnetem Atomabkommen mit umfassenden Sanktionen geplagt – von der übrigen antiislamischen und antiiranischen Propaganda ganz zu schweigen – hat es der Iran schwer, als das wahrgenommen zu werden, was er ist. Ein moderner, dynamischer Vielvölkerstaat, ungefähr 40 Mal so gross wie die Schweiz und über vier Mal so gross wie Deutschland mit rund 80 Millionen Einwohnern, die – wie wir alle auch – versuchen, ihr Leben zu meistern, mit allen Freuden und Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt. 60 Prozent der Akademiker sind Frauen. 50 Prozent der Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt. Mindestens 10 verschiedene Sprachen werden gesprochen. Die Landschaften sind zum Teil atemberaubend und die unzählbaren Kulturschätze nicht weniger. Und der Iran ist im ständigen Wandel begriffen, «er ist pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös als der Iran der ersten Revolutionsjahre. Die Ansicht, ein neuer Iran würde erst durch die Öffnung des Landes für westliche Unternehmen entstehen, verrät nicht nur Unkenntnis, sondern ist auch verächtlich gegenüber den Menschen im Iran. Es war die stille Macht ihrer alltäglichen Ansprüche, vor allem denen der Frauen, die entscheidend zum Wandel beigetragen haben.»1 

Kolonialgeschichte

Die neuzeitliche Geschichte des Landes ist geprägt von wiederholten Übergriffen fremder Mächte aus dem Westen, angefangen bei den Portugiesen und Holländern im 16. Jahrhundert, bis sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Engländer festsetzten und seit dem 19. Jahrhundert mit dem Zarenreich Russland um die machtpolitische Vorherrschaft rangen («Great Game»). 

Sogar die Resultate der Verfassungsrevolution im Jahr 1906 – im Oktober war in Teheran das erste Parlament im Nahen Osten zusammengetreten, es hatte den Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten – wurde von den Imperialisten dem Eigeninteresse geopfert. Grossbritannien und Russland teilten sich den Iran in Einflusszonen auf.

Auf die Entdeckung des Erdöls 1908 folgte die lange Geschichte kolonialer Ausbeutung, wobei das Land allerdings nie ganz von fremden Mächten besetzt war. 

In beiden Weltkriegen wurde der Wunsch der iranischen Regierung, neutral zu bleiben, von England und der Sowjetunion aus machtpolitischen Überlegungen ignoriert. 1941 fielen beide Mächte wieder mit Truppen ins Land ein, um einen Korridor für Kriegsmateriallieferungen in die Sowjet­union zur Verfügung zu haben. Sie zwangen Schah Reza Pahlevi, der gegen die fremden Mächte auf Unterstützung durch Hitler-Deutschland hoffte, zur Abdankung.

Auch während des Kalten Krieges wurde auf die nationalen Interessen Irans keinerlei Rücksicht genommen. Der von US-amerikanischen und Grossbritanniens Geheimdiensten inszenierte Sturz des gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh im Jahr 1953 ist das deutlichste Beispiel dafür. Von US-Gnaden wurde nun ein brutaler Autokrat hofiert, der fremde Interessen vertrat und sein Land in den Ruin trieb. Die Quittung präsentierte Khomeini mit der Revolution von 1979. 

Das grösste Trauma für die Iraner aber bleibt Saddam Husseins Überfall auf ihr Land (1. Golfkrieg, 1980 – 1988) im Auftrag und mit umfassenden Waffen- und Giftgaslieferungen des Westens. Wer hat damals dem Iran beigestanden? Wo war die Uno? Wo war die Friedensbewegung?

Nach alldem: Welchen Anlass sollte der Iran haben, dem Westen in irgendeiner Weise zu trauen? Der Westen hat im Nahen und Mittleren Osten jeglichen Kredit verspielt. Er hat das Gebiet in ein unvorstellbares Chaos gestürzt und hört nicht auf damit. Wer auf Krieg setzt und das als Kampf für Menschenrechte zurechtlügt, hat kein Recht, fremden souveränen Staaten vorzuschreiben, wie sie zu handeln hätten.

Inzwischen wurde nach langen Verhandlungen 2015 der Nuklearvertrag mit den 5 ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats plus Deutschland (P5+1) unterzeichnet. Viele Sanktionen blieben aber in Kraft. So ist der Iran weiterhin vom internationalen Geldsystem ausgeschlossen. Für die Wirtschaft bedeutet das eine grosse Einschränkung. Man muss als Reisender ausreichend Bargeld mitnehmen, da man mit europäischen Bankkarten kein Geld bekommen kann.

Ausflug in die Stadt

Mit Amir fuhr ich in die Stadt zurück. Er musste in einem Krankenhaus der Stadt seine Schicht antreten. Nachdem ich noch mit seiner Hilfe 200 Euro in Rial getauscht hatte, war ich schlagartig mehrfacher Millionär. Um nicht ständig so grosse Zahlen nennen zu müssen, sagen die Iraner 500, wenn sie 500 000 meinen – für einen Unkundigen am Anfang etwas verwirrend!

Anschliessend liess mich Amir beim Meydan-e Naqsh-e Jahan («Abbild-der-Welt-Platz»), dem zweitgrössten Stadtplatz der Welt, aussteigen. Angelegt wurde er vom Safawidenschah Abbas I. zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Heute ist er Unesco-Weltkulturerbe und einer der schönsten Plätze der Welt mit historischen Moscheen und Gebäuden und dem Eingang zum riesigen Basar. Von hier aus sollte ich selbständig den Weg zurück zur Si-o-se-pol (33-Bogen-Brücke) finden, um von dort aus mit einem Taxi nach Hause zu gelangen. Ich lief ungefähr 45 Minuten durch die Stadt, die ihr Alltagsgesicht zeigte. Die Menschen gingen ihren üblichen Tätigkeiten nach, Familien waren am Einkaufen, Handwerker sassen in ihren kleinen Läden und warteten auf Kundschaft, Bäcker buken das köstliche Fladenbrot und verkauften es über die Strasse, Schulkinder kamen aus der Schule und rannten lachend nach Hause, und vor der Synagoge standen einige jüdische Iraner und diskutierten miteinander. Vor knapp einem Monat hatten unsere Medien sehr prominent über Unruhen und Ausschreitungen im Iran berichtet, hier in Isfahan war nichts (mehr) davon zu spüren. Keine vermehrte Polizeipräsenz war auszumachen, kein Militär zeigte sich. Die einzigen Polizisten, denen ich begegnete, waren mit falsch parkierten Autos beschäftigt. «Es gibt im Iran ständig irgendwelche Demonstrationen», sagte mir ein Student, den ich von anderen Reisen her kenne, «aber bei Euch wird vermutlich darüber nicht viel berichtet.»

Gemeinschaftsleben ist zentral

Ich fand den Weg zurück, und Sima, Amirs Frau und ebenfalls Ärztin, tischte ein köstliches typisch iranisches Mittagessen auf. Aus der Nachbarschaft hatte sie dazu noch ein paar Freundinnen eingeladen, mit denen ich sofort ins Gespräch kam. Sie fragten, woher ich komme, was ich hier mache, warum ich ausgerechnet Farsi lerne und einiges mehr. Sehr interessiert zeigten sie sich an der Schweiz, ihrem politischen System und ihrem Schulsystem – es waren einige Lehrerinnen dabei. Und zwei Einladungen zum Abendessen in ihre Familien bekam ich auch. Dort erlebte ich ähnliches: eine fröhliche Runde – ohne einen Tropfen Alkohol, denn der ist im Iran bekanntlich verboten – , die über die eigentliche Familie hinausging, weil immer noch Bekannte dazu eingeladen waren. Wir schnitten ernste Themen wie Krieg und Frieden an, und andererseits wurde viel gelacht, wenn jemand einen Witz erzählte oder über eine lustige Begebenheit berichtete. «Ist das hier Ausdruck des finsteren, Frauen unterdrückenden ‹Gottesstaats› Iran?», ging es mir plötzlich durch den Kopf. Als ich meinen Zweifel laut äusserte, erntete ich fröhliche Zustimmung: «Ja, erzähle es nur in deinem Land, wie gut wir es hier haben!» Überall wurde ich von der ersten Minute an wie ein langjähriger Freund aufgenommen. 

Eines Abends «entführten» mich meine Gastgeber zu einer öffentlichen Vorlesung über den Dichter Saadi. Beim anschliessenden Abendessen in einem traditionellen Restaurant wurde über das Gehörte diskutiert. «Ich möchte die Menschen besser verstehen», sagte eine der Anwesenden zu mir, «die Literatur hilft dabei sehr gut.» Ein Freundin schloss sich an: Sie lese regelmässig die Dichtungen von Mulana, bei uns besser bekannt als Rumi, von Saadi, Hafez, Nizami, Ferdowsi usw. Diese Werke seien zum Teil über tausend Jahre alt, aber die Sprache ist für heutige Iraner verständlich. In solchen Veranstaltungen bekomme man die notwendigen Erklärungen. 

Der Iran soll sich selbstbestimmt entwickeln können

Die zwei Wochen gingen wie im Flug vorbei. Sie waren angefüllt mit Sprach- und Kulturunterricht, Literaturseminaren, Kino- und Konzertbesuchen, Essenseinladungen mit Diskussionen über Gott und die Welt und vor allem mit privaten zwischenmenschlichen Begegnungen, die man als gruppenreisender Tourist so niemals erleben kann. Auf diese Weise kommt einem ein fremdes Land, eine fremde Kultur sehr nahe, und man beginnt über vieles, das man bisher für selbstverständlich gehalten hat, vertieft nachzudenken. Die Forderung an den Iran nach «Öffnung» zum Beispiel. Was soll denn eigentlich geöffnet werden, und wozu? Und was soll dann durch die Öffnung ins Land hineinströmen? Der unglaubliche Schwachsinn, den das Internet (auch) bereithält? Sämtliche Perversionen, an die wir uns – politisch korrekt und abgestumpft – bereits gewöhnt haben? Gewaltfilme und -spiele? Viele Iraner sind sich bewusst, dass damit ihre Kultur und ihre Traditionen einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt sind. Wir sollten sie darin bestärken, sich gegen diese Tendenzen zu verwahren.

Werfen wir einen Blick auf die Umgebung des Iran. Afghanistan, Irak, Syrien und etwas weiter entfernt Libyen, Jemen: nichts als Not, Elend und Zerstörung, angezettelt oder geschürt vom «freien und demokratischen» Westen – gegen jedes Völkerrecht! Der Iran ist ein Stabilitätsanker in einer chaotischen Region. Für ihn ist dieses «Angebot» aus dem Westen kaum attraktiv.

Lassen wir den Iran endlich in Ruhe, lassen wir das Land sich frei und selbstbestimmt entwickeln! Die Veränderungen finden statt, tagtäglich, langsam und nicht immer sofort wahrnehmbar, aber unaufhaltsam: Wie ein unbeleuchtetes Auto, das durch die Nacht rollt.2

1 Charlotte Wiedemann: Der neue Iran – Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten. München 2017, S. 12f.
2 Mit dieser Metapher beschreiben die Iraner gerne die langsamen, aber stetigen Veränderungen in ihrem Land.

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