Russischer Resolutionsentwurf vor der Uno-Generalversammlung zur Aufhebung der Sanktionen

von Thomas Kaiser

Warum die Corona-Pandemie ein Thema für den Uno-Sicherheitsrat sein soll – wie von verschiedenen Seiten gefordert wurde –, könnte man sich mit Recht fragen, wenn das Virus als Biowaffe aus einem Labor entsprungen wäre. Für Russland und China aber ist die Bekämpfung der Corona-Epidemie primär eine dringende Frage der Lebensrettung durch internationale Solidarität und Kooperation, d. h. eine Aufgabe der Weltgesundheitsorganisation. Dazu ist es auch eine ökonomische Krise, aber keine Bedrohung des Weltfriedens im Sinne des oft missbrauchten Artikels 39 der Uno-Charta.

«Sanktionen töten»

António Guterres, Generalsekretär der Uno, hat in seiner Erklärung vor dem Uno-Sicherheitsrat am 9. April die Einstellung aller Kriegshandlungen in Anbetracht der «grossen Herausforderung» verlangt. Dass Kriegshandlungen sofort eingestellt gehören, ist eine Selbstverständlichkeit, nicht nur wegen des Corona-Virus. Doch es gibt einige Länder auf dieser Erde, die nicht unter einem direkten Krieg leiden müssen, aber dafür schwer betroffen sind von Sanktionen, die insbesondere die USA und ihre Verbündeten unter Verletzung der Uno-Charta verhängt hatten. Dazu hätte sich António Guterres wie z. B. die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, am 24. März, die Sonderberichtserstatterin für das Recht auf Nahrung, Hilal Elver, am 31. März und die Sonderberichterstatterin über unilaterale Zwangsmassnahmen, Alena Douha, am 3. April auch äussern und ein sofortiges Ende der Sanktionen verlangen müssen. Denn sie sind illegal und wie der Völkerrechtler und ehemalige Uno-Mandatsträger, Alfred de Zayas beklagte: «Sanktionen töten.»¹

Die Russische Föderation hat bereits am 1. April einen Resolutionsentwurf vor der Uno-Generalversammlung mit dem Titel «Erklärung für die Solidarität der Vereinten Nationen angesichts der Herausforderungen, die durch die Corona-Krankheit gestellt sind» eingebracht.² Darin unterstützt sie eine engere Kooperation der Staaten, wie sie António Guterres in seiner Erklärung später vor dem Sicherheitsrat formuliert hat. Die Russische Föderation hat bereits 60 Tonnen Hilfsgüter³ in die USA geflogen und damit ihren Willen zur Kooperation deutlich gezeigt. Doch geht die Resolution der Russischen Föderation in ihren Forderungen weiter. Sie verlangt, und das ist zwingend notwendig, dass die einseitigen Zwangsmassnahmen aufgehoben werden müssen, weil sie völkerrechtswidrig sind und die Bemühungen, das Virus zu bekämpfen, behindern. Auch verlangt die Resolution, die von Kuba, Venezuela, der Republik Zentralafrika und Nicaragua unterstützt wurde, «Finanzspekulationen einzustellen, die den Kampf gegen das Virus sowie die Entwicklung von Impfstoffen erschweren.»

Verbrechen gegen die Menschheit

Die Generalversammlung hat jedoch die russische Resolution nicht angenommen. Die USA und die Staaten der Europäischen Union haben den Text zurückgewiesen und einer nichtssagenden «Kooperations-Resolution» zugestimmt.⁴

Im Gegensatz zu António Guterres verlangt Russland also, gestützt auf das Völkerrecht, die Aufhebung der mörderischen Sanktionen. Der Völkerrechtler Alfred de Zayas sagte kürzlich auf Anfrage: «Die US-Sanktionen stellen zweifelsohne ein Verbrechen gegen die Menschheit dar auf der Grundlage von Artikel 7 des Römer Statuts.»

Am 13. Februar 2020 hatte Venezuela offiziell einen Antrag bei der Chef-Anklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Fatou Bensouda, eingereicht. Eine Untersuchung der Klage wird geprüft. Notwendig wäre auch, für die Generalversammlung ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs gemäss Artikel 96 der Uno-Charta zu beantragen.

¹ Alfred de Zayas in: «Zeitgeschehen im Fokus» Nr. 4 vom 25. März 2020
² Draft Resolution by the Russian Federation at the UN-General Assembly, 01.04.2020
³ https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-usa-corona-1.4865703
https://www.rt.com/news/484850-russia-un-resolution-coronavirus-sanctions/

«Einseitige Zwangsmassnahmen sind grundsätzlich illegal und im Widerspruch zur Uno-Charta»

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was bedeutet es für Staaten, während der Corona-Krise einseitigen Zwangsmassnahmen zu unterliegen?

Professor Alfred de Zayas Ganz unabhängig von der Corona-Krise waren und sind einseitige Zwangsmassnahmen grundsätzlich illegal und im Widerspruch zur Uno-Charta. Nicht alle Sanktionsregime führen zu einer humanitären Krise, aber die US-Sanktionen gegen Iran, Syrien, Kuba, Venezuela etc. haben bereits zum Tod von Zehntausenden Menschen geführt. Wenn die Sanktionen offensichtlich für Elend und Tod von vielen verantwortlich sind, werden sie internationale Verbrechen.

Kann man sagen, dass durch die Sanktionen die Todesrate in den so geschwächten Ländern höher sein wird als ohne diese Sanktionen und dass damit eine Verschärfung der Situation eintritt?

Egal, was Mike Pompeo sagt, erwiesen ist, dass die Sanktionen töten, und die Beschaffung von Arzneimitteln und medizinischen Geräten enorm erschwert wird, dass humanitäre Hilfe nicht durchkommt oder nicht schnell genug durchkommt. Es reicht, dass die Lieferung von Insulin oder anti-retroviralen Medikamenten verzögert wird, so sterben die Menschen. Wenn die Todesrate beträchtlich ist, wird es zu einem Verbrechen gegen die Menschheit nach Artikel 7 des Statuts von Rom. Der Internationale Strafgerichtshof hat die Aufgabe, eine Strafuntersuchung zu beginnen und in deren Folge Verantwortliche für das Verhängen oder Nachvollziehen von Sanktionen vor Gericht zu ziehen.

Spielen die Gründe für die Sanktionen eine Rolle?

Sanktionen zum Zwecke des «Regime change» sind ohnehin illegal, eine nicht erlaubte Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten. Solche Sanktionen verletzen fundamentale völkerrechtliche Prinzipien.  Strafrechtlich gesehen, muss man auch die Motivation des Täters in Betracht ziehen.

Könnten Sie das etwas genauer erklären?

Die Stufe der Kriminalität ist höher, wenn es offenkundig ist, dass der Staat, der die Sanktionen verhängt hat, um eine humanitäre Katastrophe bewusst herbeizuführen, diese für den Sturz einer Regierung instrumentalisiert. Es besteht kein Zweifel, dass die Sanktionen, die die USA verhängt haben, ein Verbrechen sind – dazu braucht es kein Gericht, um das festzustellen. Wir sind Zeugen eines bewussten Verbrechens einer Seite, die sich über das Völkerrecht stellt und keine Konsequenzen befürchtet.

Länder wie der Iran oder auch Venezuela, die schon seit Jahren unter diesen Sanktionen leiden, ersuchten um finanzielle Hilfe um die Corona-Krise zu überstehen. Warum bekommen die Länder kein Geld zum Beispiel vom Internationalen Währungsfonds?

Der Währungsfonds wird von den USA kontrolliert. Nichts passiert dort, wenn die USA dagegen sind. Venezuela hat ebenfalls Geld ausleihen wollen, aber diese Kredite wurden vom IWF genauso abgelehnt. Mein Bericht an die Uno-Generalversammlung aus dem Jahr 2017 hat die Politisierung des IWF scharf kritisiert. Auch der IWF trägt Verantwortung für den Tod von Zehntausenden.¹

Ist der IWF kein Organ der Uno?

Der IWF hat mit der Uno eine Übereinkunft über die Zusammenarbeit und ist zusätzlich an die Uno-Charta gebunden. Doch weder der Sicherheitsrat noch der Generalsekretär haben den IWF für seine Entscheide je zur Verantwortung gezogen. In meinem Bericht von 2017 habe ich dargelegt, dass die Kreditvergabe des IWF zur Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, die Menschenrechte umzusetzen, im Widerspruch steht. Zusätzlich ist diese Praxis inkompatibel mit dem «Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte» sowie dem «Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte».

Was kann man dagegen tun?

Die Solidarität darf nicht nur zwischenstaatlich verstanden werden, sondern zwischenmenschlich, also zwischen den Völkern, den Menschen. Es gibt ein Recht auf internationale Solidarität mit einer individuellen und gemeinschaftlichen Dimension. Das ist im Artikel 4 der Virginia Dandan’s Declaration über die internationale Solidarität festgehalten. Was wir brauchen, ist eine Solidarität, die auf Treu und Glauben basiert.²

Was könnte die Uno dazu beitragen?

Es gibt vieles, was die Uno-Behörden machen könnten. Das Kinderhilfswerk Unicef kann eine Untersuchung über die Kindersterblichkeit als Folge der Sanktionen durchführen. Die WHO kann auch im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie die sofortige Aufhebung der Sanktionen verlangen und Untersuchungen darüber durchführen, wie die Sanktionen der USA und der EU das Gesundheitssystem des Iran oder auch anderer Staaten, die unter den Sanktionen leiden, geschwächt haben. Es ist für die Menschen im Iran verheerend. Wenn ein Staat diese Krankheit nicht eindämmen kann, so wird sich das Virus auch weltweit noch mehr verbreiten, was wiederum einen negativen Einfluss auf die Strategie der WHO haben wird, dieses Virus unschädlich zu machen. Auch die FAO und das UNHCR könnten aktiv werden und Untersuchungen über die negativen Auswirkungen dieser Sanktionen durchführen. Alle Uno-Organe sollten gemeinsam gegen die Sanktionen wirken und die USA wegen Verbrechen gegen die Menschheit anklagen.

Es gibt also durchaus Möglichkeiten der US-amerikanischen Politik etwas entgegenzusetzen?

Sehr wohl. Auch die Uno-Generalversammlung könnte hier aktiv werden und eine Resolution verabschieden, die die einseitigen Zwangsmassnahmen verurteilt, da sie im Widerspruch zur Uno-Charta und zum Völkerrecht stehen. Und zusätzlich könnte sie noch eine Resolution gemäss Artikel 96 der Charta verabschieden, die den Internationalen Gerichtshof mit vier juristischen Fragen konfrontiert und ein Gutachen verlangt:

- Welche Sanktionen sind mit dem Völkerrecht vereinbar? Wer darf sie verhängen?

- Welche völkerrechtlichen Prinzipien und Verträge werden durch unilaterale Zwangsmassnahmen verletzt?

- Unter welchen Bedingungen können unilaterale Zwangsmassnahmen als Verbrechen gegen die Menschheit gemäss Artikel 7 des Römer Statuts angesehen werden?

- Welche zivilrechtlichen und strafrechtlichen Konsequenzen ziehen Sanktionen nach sich?

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/36/40
² https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Solidarity/DraftDeclarationRightInternationalSolidarity.pdf

«Wir müssen viel mehr im Land für unsere Bevölkerung produzieren»

«Die EU ist kein Garant und kein verlässlicher Partner»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann, SVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Schweiz ist noch im Krisenmodus. Können wir heute schon erkennen, was die Lage in unserem Land zusätzlich erschwert hat?

Nationalrätin Yvette Estermann Wir haben das gleich am Anfang gesehen, als gewisse Güter an der Grenze zurückbehalten wurden, die für die Schweiz bestimmt und die bereits bezahlt worden waren. Da stellt sich natürlich die Frage, warum wir diese einfachen Güter nicht zu Hause in der Schweiz herstellen können. Offenbar war das früher der Fall. Die Selbstversorgung des Landes, das können wir jetzt schon feststellen, ist ungenügend, egal ob es sich dabei um medizinisches Material handelt oder um Medikamente. Wir müssen daraus unsere Schlüsse ziehen und viel mehr im Land für unsere Bevölkerung produzieren.

Welche Güter sollten im eigenen produziert werden?

Wie wir gesehen und gehört haben, handelt es sich nicht nur um medizinisches Material oder medizinische Geräte, sondern vor allem auch um Medikamente oder Impfstoffe, die offensichtlich immer weniger im Land produziert werden. Es wird möglichst alles ausgelagert, denn es geht auch um den Preis. Wir können also heute schon den Entschluss fassen und sagen: Das müssen wir ändern. Da ist eine Lücke, die sich deutlich aufgetan hat und die wir deutlich gespürt haben. Diese müssen wir dringend schliessen.

Die Argumentation ist immer dieselbe, besonders wenn es um unsere Sicherheit geht. Es heisst immer, die Schweiz sei «umzingelt von Freunden». Wo sind jetzt die Freunde?

Das haben wir jetzt gesehen, was es heisst, «von Freunden umzingelt» zu sein: Wenn es zu einer Krise kommt, dann schaut jedes Land zuerst für sich. Nach diesem Motto, das Hemd ist einem näher als die Jacke, handeln alle Länder. Das Zurückhalten von Gütern wurde damit begründet, dass z. B. Deutschland eine Notlage habe und es somit selbstverständlich sei, die Güter zurückzuhalten; jedes Land mache das. Und da sehen wir das Problem. «Unsere Freunde» werden – und hier ist es nur um medizinisches Material gegangen –, wenn es einmal zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen sollte, für das eigene Land und für die eigene Bevölkerung schauen und nicht der Schweiz zu Hilfe eilen.

Welche Lehren ziehen wir daraus?

Die Freunde sind Freunde, solange wir bezahlen und das machen, was sie von uns gerne hätten. Aber wenn es um überlebenswichtige Angelegenheiten geht, dann hat man keine Freunde. Es gibt nur noch die eigenen Interessen. Da müssen wir selbst schauen, wie wir zurechtkommen.

Wie Sie jetzt dargelegt haben, ist die Schweiz bei medizinischen Produkten vom Ausland abhängig. Eine grosse Abhängigkeit besteht doch auch in der Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln.

Selbstverständlich. Die Versorgung mit eigenen Lebensmitteln haben wir auch völlig vernachlässigt und einen grossen Teil unserer inländischen Produktion aus der Hand gegeben. Alle Staaten werden zuerst sich mit Lebensmitteln versorgen. Wenn irgendwo eine Naturkatastrophe geschieht oder die Ernte durch Hagel, Überschwemmungen oder wie in letzter Zeit durch Brände vernichtet wird, werden die Länder, die zu wenig selbst produzieren können, immer das Nachsehen haben. Auch wenn Verträge bestehen, wird kaum ein anderes Land Nahrungsmittel liefern, wenn sie in ihrem Land fehlen.

Was heisst das für unsere Landwirtschaftspolitik?

Viele sagen, die Landwirtschaft sei zu teuer, weil sie subventioniert wird. Jetzt, im Zusammenhang mit der Krise, sehen doch einige, dass hier ein Problem entstehen könnte, wenn wir die Landwirtschaft noch weiter zurückfahren. Bisher gab es bei Lebensmitteln noch keine Engpässe, aber wenn aufgrund von Missernten oder Krankheiten der Handel nicht mehr funktioniert, dann werden wir schnell merken, wie viele Freunde wir noch haben. Vielleicht müssen wir das erst einmal erleben, damit die Bevölkerung auch weiss, was das heisst. Wer immer nur im Wohlstand und im Überfluss lebt, kann sich gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man um Essen kämpfen muss, wenn nicht klar ist, wann und ob es wieder etwas zu essen gibt.

Es könnte auch ohne weiteres passieren, dass im Zuge der Corona-Krise der internationale Handel eingeschränkt würde, um die Verbreitung des Virus’ zu verhindern.

Das ist für die Lieferung bzw. die Nicht-Lieferung von Gütern aus Übersee ohne weiteres denkbar. Die Corona-Krise hat eigentlich gezeigt, wie verletzlich das System ist. Innert kürzester Zeit ist das normale Leben auf den Kopf gestellt worden. Bis jetzt ist es trotz allem noch einigermassen geordnet abgelaufen. Wenn wir wirklich einmal eine schwere Krise haben mit einer grossen Zahl von Toten, z. B. durch eine aggressive Krankheit und zusätzlich noch Panik und Hysterie entstehen, was geschieht dann? Wir müssen uns auf solche Szenarien besser vorbereiten. Wir sind verwöhnt, wir sind es nicht gewohnt, mit solch einer Situation überlegt umzugehen. Das Positive, wenn man das so sagen will, dieser Krise ist, dass die Menschen erleben, wie schnell sich das Leben ändern kann. Von einem Tag auf den anderen ist die Normalität weg, der Wohlstand ist in Frage gestellt, und wir wissen nicht, wie wir wieder zur Normalität kommen.

Die Krise müsste doch auch im Bereich der Politik zu einer neuen Betrachtungsweise führen.

Das Auslagern von Produktionsstätten oder der Import lebenswichtiger Güter – bedingt durch die Vielzahl von Freihandelsverträgen – verhindert, dass diese Güter im eigenen Land hergestellt werden können. Das müsste grundsätzlich überdacht werden. Es ist eine wichtige Erkenntnis und eine weitere Lehre, die wir aus der aktuellen Situation ziehen müssen. Wir müssen uns in Zukunft mehr überlegen, was das im Fall einer Krise bedeutet, wenn man ein Abkommen trifft, das wichtige Wirtschaftszweige im eigenen Land abbaut, nur weil man die Dinge günstiger im Ausland produzieren kann. Ich bin sicher, das muss politische Konsequenzen haben.

Mir geht in dem Zusammenhang das Rahmenabkommen mit der EU durch den Kopf. Wenn wir das jetzt schon abgeschlossen hätten, was würde das für unser Land heissen?

Das Rahmenabkommen, wäre es schon in Kraft, hätte uns einmal mehr gezeigt, dass wir keine Massnahme mehr selbst treffen könnten. Wir sehen das bei den anderen Ländern, die eigene Massnahmen treffen wollen. Man stellt sie an den Pranger, und sie müssen allenfalls mit Sanktionen rechnen. Es zeigt ganz klar, wie schlecht man in der EU miteinander umgeht. Sie haben beinahe einen Kriegszustand. Mit einem kleinen Land wie der Schweiz, das auch noch einen gewissen Wohlstand besitzt, kann die EU nachher machen, was sie will. Wer nach diesen Vorgängen, die wir seit der Corona-Krise mit dem Zurückhalten von medizinischen Gütern erlebt haben, noch positiv über das Rahmenabkommen spricht, der lebt nicht mehr in der Realität.

Die Schweiz muss eine eigenständige Politik machen. In keinem Land in Europa hat der Staatsbürger so viele Rechte. Unser Staat ist von unten nach oben aufgebaut mit sehr viel Selbstverantwortung einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers. Das ist in obrigkeitslastigen Staaten wie Frankreich oder Deutschland ganz anders. Wie sehen Sie das?

Es stört mich auch, dass wir uns bei der Krise wieder viel zu stark an der EU orientiert haben, anstatt eigene, unserem Land und unserer Bevölkerung entsprechende Lösungen zu suchen, die auf Selbstverantwortung beruhen. Auch die Frage, wie wir nach dem 26. April wieder den Ausstieg finden, hängt davon ab, ob wir Mut haben, eigene Lösungen zu präsentieren und nicht zu wiederholen, was andere schon gemacht haben.

Was hätten wir besser machen können?

Wir können heute sagen, es wäre wahrscheinlich von Vorteil gewesen, die Grenze zu schliessen. Diejenigen, die ins Land zurückkommen oder die dringend in das Land kommen müssen, hätte man in Quarantäne nehmen sollen. Andere Länder, die diesen Weg gegangen sind, haben sehr viel weniger Ansteckungen und fast keine Toten. Das hätten wir besser machen können. Die Grenzen schliessen und kontrollieren, wer ins Land kommt. Wenn es Bürger und Bürgerinnen aus diesem Land sind, dann ist es klar, die anderen nimmt man in Quarantäne. Auch die Frage, ob man Schutzmasken tragen sollte, wurde nie ausdiskutiert. Am Anfang hiess es, es nütze nichts. Aber dahinter stand wohl eher, dass die Regierung nicht genügend Schutzmasken auf Vorrat hatte und somit ein Engpass entstanden wäre.

Nützen die Schutzmasken etwas?

Wenn sie nichts nützen würden, dann muss man sich fragen, warum Chirurgen bei einer Operation Masken tragen. Es sind zwei Barrieren, wenn beide Personen eine Schutzmaske anhaben. Wenn zwei Menschen mit Masken sich treffen, dann müsste das Virus zwei Barrieren überwinden, um den anderen anzustecken. Das hätte sicher eine Wirkung. Das wären die beiden Dinge, die ich jetzt sagen kann: Konsequenter Grenzschutz und das Tragen von Masken, aber diese müssten vorhanden sein. Also auch hier stellt sich die Frage, warum wir sie nicht im eigenen Land produzieren.

Damit haben sie jetzt begonnen…

…ja, zum Beispiel in Flawil, aber das ist alles sehr spät, man hätte viel früher damit beginnen müssen. Es gibt ein Gesetz, dass der Bundesrat für den Schutz der Bevölkerung verantwortlich ist. Natürlich kann man immer argumentieren, dass man das alles nicht gewusst habe usw. Das stimmt. Aber gerade deshalb muss man besser darauf vorbereitet sein. Das sind Lehren, die wir jetzt schon ziehen können.

Etwas geht mir im Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung durch den Kopf. Russland, China und Kuba haben Italien Hilfe angeboten. Wie muss man das beurteilen, wenn eines der Gründungsmitglieder der EU zu wenig Hilfe von der EU bekommt?

Wir haben schon mehrmals gesehen, wie die EU ihre eigenen Mitglieder im Stich lässt. Italien wurde bereits in der Flüchtlingskrise im Stich gelassen und jetzt in der Corona-Krise. Menschen, die noch Verwandte in Italien haben, haben mir berichtet, dass Italien keine Hilfe von der EU bekommen habe, aber dass zum Glück andere Länder Hilfe angeboten hätten. Die EU ist kein Garant, kein verlässlicher Partner, nicht für die Mitgliedsländer und erst recht nicht für ein anderes Land, auch wenn mit diesem Land Verträge abgeschlossen wurden. Wir können jetzt schon sagen: Wir müssen also keine Rücksicht nehmen, denn die EU-Staaten halten sich nicht an die einfachsten Regeln.

Frau Nationalrätin Estermann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Hausgemachter Buttermangel

3000 Tonnen ausländische Butter sollen importiert werden – warum?

von Susanne Lienhard

Am 1. April teilte der Bundesrat folgendes mit: «In diesem Jahr zeichnet sich erstmals seit Jahren eine ungenügende Versorgung des Marktes mit inländischer Butter ab. Der Bundesrat hat deshalb die Kompetenz zur Erhöhung der Teilzollkontingente an das Bundesamt für Landwirtschaft delegiert.»

Es handelt sich um keinen Aprilscherz. Die Vereinigung der Schweizerischen Milchindustrie (VMI) hat beim Bundesrat den Import von 3000 Tonnen ausländischer Butter beantragt. Die Schweizer Milchproduzenten (SMP) sind alarmiert. Sie befürchten durch die weitere Lockerung des Grenzschutzes zunehmenden Preisdruck auf den inländischen Milchmarkt und haben aktiv andere Lösungen angeboten. Sie fordern u. a. eine Erhöhung des Milchfettpreises, um die Butterproduktion attraktiver zu machen.

Der Mangel an inländischer Butter ist offensichtlich hausgemacht. Der ausserordentlich tiefe Milchpreis hat viele Schweizer Landwirte in den letzten Jahren dazu gezwungen, die Milchproduktion aufzugeben, d.h. ihren Betrieb ganz aufzugeben oder falls möglich auf einen anderen Produktionszweig umzusteigen. Diejenigen, die weiterhin Milchkühe halten, liefern die Milch vorzugsweise für die Export-Käseproduktion, da der Bund dafür eine Verkäs­ungszulage bezahlt. Seit 2009 hat der Milchverbrauch für Käseproduktion um 5,8 % im Jahr 2019 zugenommen. Die Milchmenge für Butter hat hingegen seit 2009 um 8,4 % abgenommen. Der Bund hat die finanziellen Anreize zu Gunsten des Käse-Exports und auf Kosten der Versorgung mit inländischen Milchprodukten gesetzt. Mit dem Import von 3000 Tonnen ausländischer Butter würde diese Entwicklung weiter vorangetrieben.

Der Präsident des Zürcher Bauernverbandes Martin Haab sagt in der «BauernZeitung» vom 9. April: «Seit über 10 Jahren wurde der Milchpreis gedrückt, dass sich die Balken biegen. Das beste Argument dazu war der vorhandene Butterberg. Dass bei jährlich sinkenden Milchmengen früher oder später Lücken in der Butterversorgung entstehen werden, ist für jedermann vorhersehbar. Wenn der Bundesrat jetzt die Möglichkeit schafft, um zusätzlich Butterimporte zu tätigen, bevor eine markante Anhebung des Produzentenpreises in der Schweiz stattfindet, so ist dies kein Aprilscherz sondern ein Schelmenstück.»

Auch Hanspeter Kern, Präsident der Schweizer Milchproduzenten, mahnt zu Recht: «Zentral ist für uns, dass Milch und Milchprodukte in der Corona-Krise das Vertrauen der Konsumentinnen und der Konsumenten geniessen dürfen. Deshalb hat sich die SMP früh dafür eingesetzt, dass die Belieferung des Schweizer Detailhandels Priorität hat. Die Botschaft zur Agrarpolitik 22+ mit der Senkung des Selbstversorgungsgrads von 56 % auf 52 % ist vor Eintritt der Corona-Krise erarbeitet worden. Es zeigt sich nun deutlich, dass das Parlament diesen Punkt in der Beratung noch gründlich korrigieren muss.» 

«Wir müssen Vorschläge machen, damit die zum Teil massiven Einschränkungen zurückgeführt werden können»

«Unsere demokratischen Rechte müssen voll und ganz wiederhergestellt werden»

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bruno S. Frey (geführt am 4. April 2020)

Professor Dr. Dr. h.c. mult. Bruno S. Frey (Bild: zvg)
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Bruno S. Frey (Bild: zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Bezug auf das Corona-Virus ein?

Professor Bruno S. Frey Leider wird die Situation von den Medien als zu gefährlich dargestellt. Jedes Mal wird im Fernsehen die exponentielle Kurve der Menschen, die sich angesteckt haben, gezeigt, während die Zahl der Menschen, die das Corona-Virus hatten und wieder gesund sind, nicht dargestellt wird. Auch wird nicht gesagt, dass die Zahl der Todesfälle verhältnismässig niedrig ist.

Wer sind die Hauptbetroffenen?

Das sind meistens Personen, die mehrere Krankheiten haben wie z. B. Bluthochdruck oder Diabetes sowie andere Krankheiten. Man stirbt also kaum am Corona-Virus allein, sondern an mehreren Ursachen. Im allgemeinen sind das alte Leute. Im Kanton Zürich, und ich beziehe mich darauf, weil sie sehr genaue Statistiken führen, sind bis zum letzten Freitag (28.3.) 11 Todesfälle bestätigt worden. Das Durchschnittsalter betrug über 84 Jahre. Der Älteste, der gestorben war, war 97 Jahre alt, der Zweitälteste war 96 und dann waren noch zwei Personen mit 93. Der «Jüngste» war 65. 

Was kann man daraus für Schlüsse ziehen?

Es betrifft vor allem Menschen, die aufgrund ihrer Vorerkrankungen, man muss es leider sagen, keine lange Lebenserwartung mehr haben und durch das Virus nun zwei oder drei Monate früher sterben. Das ist natürlich im Einzelfall sehr bedauerlich, aber nicht eine Katastrophe für die Gesellschaft als Ganzes. Junge Leute stecken sich nicht so leicht an, und so viel ich weiss, gibt es bei ihnen kaum tödliche Erkrankungen, ausser es bestehen bereits schwerwiegende Vorerkrankungen.

Sie haben die tödlichen Verläufe dieser Krankheit angesprochen. Wie hoch ist die Todesrate im Verhältnis zur saisonalen Grippe?

Das ist wirklich sehr erstaunlich. Während der letzten Grippewelle in Italien – auch wenn man jetzt immer von den vielen Corona-Toten spricht und uns immer wieder Särge zeigt – sind dort 25 000 Menschen gestorben. Das sind sehr viel mehr Menschen als jetzt. In Deutschland sind es 24 000 gewesen. Das wird in den Medien und in der Politik nicht aufgenommen, genauso wenig, dass gemäss dem Bundesamt für Statistik im Frühjahr 2015 ca. 2500 Personen in der Schweiz aufgrund der Grippe gestorben sind. Aber das ganz neue Schockerlebnis dieses Corona-Virus wird auch in den Medien hochgepuscht, und das führt zu einer falschen Einschätzung durch die breite Bevölkerung und leider auch zu einer gewissen Hysterie. 

Wie ist denn das Verhältnis zwischen Ansteckung und Mortalität?

Das Verhältnis derjenigen, die infiziert sind, und derjenigen, die ins Krankenhaus kommen und daran sterben, liegt bei 0,5 bis 1 Prozent. Das sind grundsätzlich wenige. Ich möchte nochmals betonen, dass das sehr bedauerlich ist, aber man muss es vergleichen mit anderen Ereignissen, bei denen die Menschen auch sterben. 

Woran denken Sie?

Zum Beispiel an übermässigen Alkoholkonsum, übermässiges Rauchen, Sportunfälle und Verkehrsunfälle. Dabei sterben sehr, sehr viele Leute, aber das wird praktisch nicht miteinander verglichen.

Sie haben vorhin von der Gefahr einer Hysterie gesprochen. Wie kann man diese verhindern?

Wir sollten nicht kritisieren, was die Regierungen gemacht haben. Sie haben sich wirklich bemüht. In der Schweiz hat sie rasch reagiert und im grossen und ganzen vernünftig gehandelt. Wir müssen in die Zukunft schauen und Vorschläge machen, damit die zum Teil massiven Einschränkungen in der Wirtschaft und im gesellschaftlichen Leben zurückgeführt werden können. Diese Anstrengungen müssen jetzt schon beginnen.

Welche Schritte wären jetzt sinnvoll?

Ein Beispiel wären Blumenläden, die man sofort öffnen könnte, natürlich unter der Auflage, dass der 2-Meter-Abstand aufrechterhalten werden muss. Auch könnte man Masken tragen. Also etwas ganz Ähnliches, wie wir es bei Lebensmittelläden haben oder auch bei Weinläden, die weiterhin zugelassen sind. Im weiteren müssen so viele Leute in der Wohnung sitzen und würden gerne etwas reparieren, wofür sie früher keine Zeit hatten. Jetzt hätten sie Zeit, können aber nichts einkaufen, weil die Baumärkte auch geschlossen sind. Da müssen wir etwas kreativ denken und überlegen, was man unmittelbar freigeben könnte.

Sie plädieren für eine langsame Lockerung dieser Einschränkungen?

Ja, ich denke, wir müssten auch nicht bis zum 19. April warten. Es gibt also Schritte, die man jetzt machen könnte. In der Schweiz ist man ziemlich pragmatisch. Ich denke, wenn wir, die wir an demokratischen Verhältnissen besonders interessiert sind, in diese Richtung argumentieren, würde das vermutlich von der Regierung aufgenommen.

Was für Überlegungen leiten Ihre Vorschläge?

Kein Mensch hätte noch vor zwei Monaten gedacht, dass man als Schweizer nicht nach Deutschland reisen darf oder als Deutscher nicht in die Schweiz oder nach Österreich etc. Das wäre undenkbar gewesen, und jetzt haben wir das. Der Umstand ist natürlich, dass ein Virus sich sicher nicht an die Landesgrenzen hält. Mein Vorschlag ist, dass man sich an zwei Dinge hält. Es gibt Orte, die vom Corona-Virus besonders betroffen sind, die sollte man isolieren, damit das Virus nicht weiter gestreut wird. Der zweite Punkt ist, dass man junge Menschen und solche, die die Krankheit überwunden und Antikörper gebildet haben, weil sie dem Virus bereits ausgesetzt waren, unbedingt wieder in die Arbeit entlassen und auffordern sollte, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Dazu gehören auch das kulturelle und gesellschaftliche Leben insgesamt. Ich bin auch ein bisschen Glücksforscher und dabei kommt ganz klar heraus, dass das Materielle wichtig ist, aber persönliche Kontakte innerhalb der Familie, mit Freunden sind für die Lebenszufriedenheit der Menschen enorm wichtig. Die müssen wir möglichst rasch wieder erlauben.

Durch die ausserordentliche Situation hat der Bundesrat sehr viel Macht bekommen. Sehen Sie da in Zukunft ein Problem?

Leider zeigt die Erfahrung, und das ist meine Stellungnahme als politischer Ökonom, Regierungen haben gerne Macht. Es ist auch schön, wenn man entscheiden kann und einem nicht immer alle hereinreden. Das hat die Exekutive nicht so gern. Das gilt auch in der Schweiz. Wir haben ein Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Schweizer Bundesrat regierte mit Notrecht und konnte praktisch damit entscheiden und durchführen, was er wollte. Nach dem Krieg 1945 hätte er das sofort aufgeben müssen. Das war aber nicht der Fall. Es geschah erst dann, als eine Volksinitiative den Bundesrat dazu zwang. Das zeigt, dass Politiker gerne Macht haben und sie behalten möchten. Politiker sind keine schlechten Menschen, aber sie befinden sich gern in einer angenehmen Position.

Was heisst das für uns Staatsbürger?

Wir als Demokraten müssen uns jetzt wirklich anstrengen, dass die Regierung den enormen Machtzuwachs, den sie jetzt geniesst, wieder zurückgibt. Wir sehen, in einigen Ländern könnte das nicht der Fall sein. Dabei denke ich an die USA, an Brasilien oder auch an Ungarn. Es gibt also Länder, bei denen die Rückgabe der politischen Rechte an die Bürgerinnen und Bürger wahrscheinlich kaum klappen wird. Wir in Zentraleuropa müssen uns wirklich dafür einsetzen, dass unsere demokratischen Rechte voll und ganz wiedergestellt werden.

Herr Professor Frey, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Eine Politik à la Supermarkt

von Reinhard Koradi

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Politik und Supermärkten? Auf den ersten Blick wohl kaum. Doch im Zeitalter der Manipulation von Meinungen und Abstimmungsergebnissen macht eben die «Lockvogelpolitik» selbst im politischen Geschehen Schule. Eine sehr unwürdige Entwicklung, die der direkten Demokratie grossen Schaden zufügt. Sie zeugt auch von einer wachsenden Respektlosigkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern und deren Entscheidungen.

Die Regeln der Verkaufsförderung im Supermarkt auf die politische Ebene zu übertragen geht mit der Missachtung des Volkswillens einher.¹

Einführung einer Überbrückungsrente

In der Frühjahrssession 2020 verabschiedeten die eidgenössischen Räte die Einführung einer existenzsichernden Überbrückungsrente per 2021 für ausgesteuerte Personen über 60 Jahren bis zur ordentlichen Pensionierung. Dies in erster Linie mit Blick auf die Begrenzungsinitiative der SVP, die am 17. Mai 2020 hätte zur Abstimmung kommen sollen, aber wegen der Corona-Krise verschoben werden musste. Mit diesem Schachzug wollen Bundesrat und Parlament – vor allem Sozialdemokraten – und Gewerkschaften wie auch die ältere Bevölkerung für ein klares Nein zur Initiative der SVP gewinnen. Analysen zeigten nämlich, dass die Angst der älteren Bevölkerung vor dem Verlust des Arbeitsplatzes infolge Zuwanderung jüngerer und billigerer Arbeitskräfte aus der EU die Annahme der hängigen Initiative begünstigt. Mit sogenannten flankierenden Massnahmen will Bundesbern erneut die Zustimmung der Stimmberechtigten für die Personenfreizügigkeit gewinnen. Dies nicht, weil die Behörden und Parlamentarier sich um das Wohl der arbeitenden Bevölkerung kümmern, sondern aus Angst vor den Reaktionen aus Brüssel. Eine Begrenzung der Personenfreizügigkeit aus den EU-Ländern könnte in der EU-Zentrale nämlich zu einer nachtragenden Verstimmung führen und damit die Anschlusspläne von Bundesbern an die EU erheblich durchkreuzen. Solange Angst vor dem Volksentscheid die Politik beherrscht, gibt es keinen redlichen und offenen Dialog über politische Sachfragen. Es braucht Tricks und «Zückerli» um den Sachverhalt zu verschleiern und das Volk zu Zusagen zu animieren, die gar nicht dem wirklichen Volkswillen entsprechen.

«Einheit der Materie» wird verletzt

Altersvorsorge und die Zuwanderung von Arbeitnehmern aus dem Ausland sind zwei Sachverhalte, die auf der politischen Ebene gar nichts Gemeinsames haben. Das eine gehört in die Sozialpolitik und das andere in die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Nur wenn diese Themen ihrer Zugehörigkeit entsprechend bearbeitet und Lösungen zugeführt werden, gibt es sachgerechte und vertretbare Entscheidungen. Eine Vermischung von Altersvorsorge und Arbeitsmarktpolitik verletzt die Einheit der Materie in unverantwortlicher Weise. Schon bei der Vorlage zur Revision der Besteuerung der Unternehmen griff der Bundesrat zur Lockvogelpolitik. Indem Steuerpolitik und die Finanzierung der Altersvorsorge in einen Topf geworfen wurden. Die Annahme einer erheblichen Reduktion der Steuerbelastung für Unternehmen wurde mit dem Versprechen erschlichen, dass der Bund jährlich 2 Milliarden Franken in den AHV-Fond einzahlen werde. Woher das «Milliardengeschenk» kommt, blieb völlig offen.

Bezeichnend für die beiden Beispiele ist die Tatsache, dass der Ursprung des bundesrätlichen Begehrens immer im Ausland (EU) und nicht in der Schweiz selbst liegt. Über diese Fremdbestimmung sollten wir wirklich ernsthaft nachdenken. Die Unterwanderung und Verletzung der direkten Demokratie hat sehr viel mit dem wachsenden Druck aus dem Ausland zu tun. Eine weitere Ausdehnung der Lockvogelpolitik und Verkaufsförderung à la Supermarkt im politischen Alltag könnte das Ende der direkten Demokratie beschleunigen und in der Sackgasse «Brot und Spiele» enden.

¹ vgl. «Zeitgeschehen im Fokus», Nr. 3/2020: «Wo ist das Prinzip von Treu' und Glauben geblieben?»

Trotz Corona-Krise frisches Obst und Gemüse aus der Region

von Susanne Lienhard

Da momentan die Schweizer Bauern vielerorts ihre Produkte nicht mehr auf Wochenmärkten verkaufen können, suchen Produzenten und Konsumenten mit vereinten Kräften nach alternativen Möglichkeiten und finden erstaunlich schnell innovative Lösungen.

In Schaffhausen haben zum Beispiel drei junge Leute, Patrick Stauffacher, Phillip Schmanau und Lisa Simons, innerhalb von zwei Tagen einen non-Profit Heimlieferdienst aufgebaut. «Wir freuen uns, in der aktuellen Situation helfen zu können», sagt Patrick Stauffacher. Die «Schaffhauser Ess-Box» dient dem Zweck, die Einwohner von Schaffhausen und ca. 10 km Umgebung mit frischem Obst und Gemüse von Produzenten aus der Region zu versorgen und zugleich lokalen Produzenten, die nicht mehr auf den Markt können, zu helfen, ihre Produkte verkaufen zu können. Phillip Schmanau ergänzt: «Wir wollen damit keinen Gewinn machen, sondern es geht uns wirklich darum, dass man jetzt nicht rausgeht, dass man nicht in die Lebensmittelläden geht und dass die Waren von den Produzenten, die momentan nicht verkaufen können, zu den Leuten kommen und die Bevölkerung so nach wie vor mit frischen Lebensmitteln versorgt werden kann.»

Die Ess-Box gibt es in zwei Variationen, die einfache und die erweiterte. Die einfache Variante beinhaltet Obst und Gemüse, die erweiterte Version enthält zusätzliche Produkte, wie Eier, Mehl etc. Die Box gibt es in drei verschiedenen Grössen und man kann sie über den Online-Shop¹ oder für Leute, die keinen Internetanschluss haben, auch telefonisch über die Hotline bestellen. Die Boxen werden zweimal wöchentlich am Dienstag und am Freitag zu den Kunden nach Hause geliefert.

Die drei Initianten sind sehr erfreut über das grosse Interesse. Der Onlineshop und die Hotline wurden am 20. März aufgeschaltet und bereits in den ersten Tagen haben sich rund 40 Produzenten gemeldet und in der ersten Woche sind  mehrere hundert Bestellungen eingegangen.

Dass es möglich war, den Hauslieferdienst in nur zwei Tagen auf die Beine zu stellen, ist nicht zuletzt dem beruflichen Hintergrund er drei jungen Initianten zu verdanken: Phillip Schmanau hat eine selbständige Web-Entwicklungsagentur, Patrick Stauffacher ist in der Eventbranche tätig und hat ein eigenes Food-Start-up im Spirituosen-Bereich. Lisa Simons kommt aus der Gastronomie und kann auf ihre Erfahrung bei der Produktezusammenstellung zurückgreifen.

Da viele Bauern ihre Produkte momentan weder auf Wochenmärkten noch an Restaurants verkaufen können, entstehen im ganzen Land verschiedene solcher Initiativen. Diverse Produzenten bieten ihre Produkte im Direktverkauf auf dem Hof an oder liefern neu Lebensmittel, Setzlinge und andere Produkte auch nach Hause. Es ist das Verdienst der «Schweizer BauernZeitung», die Angebote zuhanden der Konsumenten auf einer Übersicht mit Karte zusammenzufassen und laufend zu ergänzen.²

¹ www.ess-box.ch
² www.bauernzeitung.ch/hauslieferung

La Chaux-de-Fonds macht es vor und öffnet unter Restriktionen den Bauernmarkt ab dem 8. April 2020

Pressemitteilung

Wir sind eine Gruppe von Bürger*innen, Bäuer*innen und Lebensmittelhändler*innen, die auf verschiedenen Märkten in der West- und Deutschschweiz tätig sind. Wir fordern, dass die Direktvermarktung via die Lebensmittelmärkte wieder aufgenommen wird. Die Diskriminierung und Ungleichbehandlung mit den Grossverteilern begann mit der vom Bund verordneten Schliessung der Märkte am 17. März 2020. 

Bereits am 21. März 2020 hat der Bundesrat auf der Homepage des BAG drei erläuternde Berichte zur Verordnung 2 Covid-19 veröffentlicht, in denen klar definiert ist, dass Lebensmittelstände auf dem Markt als Lebensmittelgeschäfte gelten und somit vom Verkaufsverbot ausgenommen sind, solange die Vorschriften von Social Distancing eingehalten werden. Sie dürfen daher gleichberechtigt wie alle Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte geöffnet bleiben. Der dritte dieser Berichte untermauert diese Richtlinie des Bundesrates weiter, indem er den Unterschied zwischen (regulären) Marktständen für Lebensmittel, die nicht mit Lebensmittelmärkten (z. B. Messen für lokale Produkte) zu verwechseln sind, präzisiert. Gemäss dem Epidemiengesetz (Art. 75) müssen die Kantone die Weisungen des Bundesrates unter Androhung von Sanktionen (Art. 83) umsetzen. 

Auf der Grundlage dieser Informationen wurden gleich nach der Veröffentlichung des ersten Berichts vom 21. März 2020 verschiedene Kontakte mit dem Gemeinderat von La Chaux-de-Fonds aufgenommen. Letzterer erörterte an der Sitzung vom 2. April 2020 die Lösungen, die zur Wiedereinführung der Lebensmittelstände auf dem Markt eingeführt werden sollen. Demnach können die Märkte in La Chaux-de-Fonds ab dem 8. April 2020 wieder geöffnet werden, verteilt auf verschiedene Strassen und auf insgesamt 10 Stände beschränkt. 

Wir ermutigen die Bauern- und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Einzelhändler*innen, sich unserem Netzwerk anzuschliessen und die Kantone aufzufordern, die Weisungen des Bundesrates rasch umzusetzen, damit die lokalen Bauern und Bäuerinnen die Bevölkerung mit gesunden, regionalen Produkten versorgen können. Wir fordern die Gemeinden und Kantone auf, die Markthändler*innen und die Öffentlichkeit über die Umsetzungsmodalitäten für die bevorstehende Wiedereröffnung der Lebensmittelstand-Märkte zu informieren. 

Lausanne, 3. April 2020

Netzwerk für die Wiedereröffnung der Märkte, unterstützt durch: Uniterre, Slow Food und Semaine du Goût, Grassrooted, Mouvement pour une agriculture paysanne et citoyenne (MAPC), Agriculture du futur (Romandie),
Les Artisans de la Transition, Chrétiens au travail 

«Lernen ist ein zutiefst zwischenmenschliches Geschehen»

«Online-Schule ist langweilig, und allein vor dem Bildschirm ist doof»

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschaftler

Schon vieles ist über die angeblichen Vorteile des digitalen Lernens in den Schulen geschrieben worden. Nicht wenige erhoffen sich nun, dass nach der Corona-Zeit die Schulen nun endlich ins digitale Zeitalter hinüberschwenken werden. Die Zeitungen sind denn auch voll guter Erfahrungsberichte von Lehrern und Eltern mit dem durch das Virus erzwungenen digitalen Lernen. Was in den Medien steht, ist das eine, was aber Kinder und Eltern mit dem digitalen Lernen erleben, ist etwas anderes.

Nach anfänglicher Begeisterung verlangen die meisten die «reale Schule» zurück, weil sie finden, «online Schule ist langweilig und allein vor dem Bildschirm ist doof». Viele beklagen den Mangel an Kontakt mit den Gleichaltrigen, Eltern und auch Lehrerinnen und Lehrer bemängeln die mangelnde Effizienz beim Lernen. Bei diesen Kritiken sollte man meines Erachtens auch ansetzen, wenn es um die Beurteilung von Lernen mit elektronischen Medien geht. Die Befürworter des digitalen Lernens betonen immer wieder, wie wichtig der soziale Kontakt ist, was an sich ein Widerspruch ist. Kinder, die in den sogenannten Lernlandschaften stundenlang in ihrem Verschlag vor dem Bildschirm sitzen, sind logischerweise kaum in direktem Kontakt mit ihren Mitschülern und mit dem Lehrer. Aus der Forschung weiss man heute ganz genau, dass ein Bildschirm den lebendigen Menschen als Gegenüber nicht ersetzen kann. 

Gemeinsames Lernen – ein soziales Ereignis

Lernen ist ein zwischenmenschlicher Vorgang vom ersten Atemzug des Lebens an. Alles Lernen des kleinen Kindes ist ausgerichtet auf die Eltern und weitet sich später auf andere Beziehungspersonen aus. Ohne den zwischenmenschlichen Bezug findet vor allem bei kleinen Kindern gar kein Lernen statt. So entwickelt sich die Sprache, eine der gewaltigsten Lernleistungen eines Kindes, nur im Miteinander mit anderen Menschen. Kinder, die wenig oder falsche Zuwendung und Anleitung erfahren haben, haben darum oft sprachliche Schwierigkeiten. Je älter ein Kind wird, desto unabhängiger wird es von Lehrerinnen und Lehrern, und es kann selbständiger lernen. Dass Lernen aber das ganze Leben hindurch ein zutiefst zwischenmenschliches Geschehen ist, zeigt sich auch bei Erwachsenen. So lernen Studenten lieber und besser, wenn sie in Beziehung mit einer Professorin oder einem Professor oder mit anderen Studierenden sind. Spätestens jetzt stellt sich die Frage, warum eigentlich digitales Lernen oder E-Learning so gut und erstrebenswert sein soll. Ist doch gemeinsames Lernen vom Kindergarten bis in die Hochschule und darüber hinaus vor allem auch ein soziales, gesellschaftliches Ereignis! Es macht doch Freude und gibt Genugtuung, wenn man andere trifft, sich mit ihnen austauscht und zusammen etwas erarbeitet. Die gemeinsame Bewältigung von Lernstoff, von Forschungsaufgaben und von Arbeiten macht doch einen wichtigen Teil des Sinns des Lebens aus. Im Extremfall müssten viele zu Hause alleine hinter dem Computer sitzen und im Homeoffice arbeiten. Dabei weiss man es heute aus Studien ganz genau: Jede Stunde hinter dem Bildschirm entfernt einen ein ganz wenig von den anderen Menschen und macht einen innerlich ein wenig einsamer.¹ 

Lehrer durch Computer ersetzen – wozu?

Warum sollen jetzt Lehrerinnen und Lehrer und Professoren durch den Computer ersetzt werden? Allein wegen finanzieller Gründe? Und da machen nun plötzlich viele begeistert mit und wollen das digitale Lernen? Die Handhabung des Computers, der Vorgang des Recherchierens, die Anwendung von Programmen usw. lernt ein gebildeter Mensch doch im Handumdrehen. Wer sich heute darin auskennt, hat es auch nicht in der Schule gelernt, sondern später. Warum dürfen unsere Kinder nun die realen sozialen Erfahrungen beim gemeinsamen Lernen nicht mehr machen? Warum soll jeder individualisiert hinter seinem Bildschirm sitzen, statt sich direkt mit Kolleginnen und Kollegen auseinanderzusetzen?

Andreas Schleicher, Physiker und Bildungsforscher bei der OECD, hat vor Jahren noch vor der Einführung von Computern in den Schulen gewarnt. Heute verkündet er, wie positiv sich die Digitalisierung auf die Schulen und die Schüler auswirken würde, sie würden selbständiger. Selbständig und unabhängig wird der Mensch aber vor allem, wenn er Erwachsene hat, an denen er sich reiben und reifen und eine eigene Meinung entwickeln kann. Am Computer wird er mit vorgegebenen, starren Programmen durch das Lernen geführt, die ihn stromlinienförmig und langweilig machen. Es gibt denn auch keinen autoritäreren Lehrer als den Computer. Cui bono? 

¹ vgl. Manfred Spitzer: Einsamkeit. München 2018

Henri Dunants Leistung muss weiterhin gewürdigt werden

Die Humanität des Roten Kreuzes einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen

von Thomas Kaiser

Am 29. Februar eröffnete Dietrich Holle in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), Ortsverein Lich, in Ober-Bessingen (Hessen) im sogenannten Torbogen ein Rotkreuzmuseum und erfüllte sich damit einen langgehegten Wunsch. Seit mehreren Jahrzehnten sammelt er Sujets, die zum Roten Kreuz und seiner Geschichte gehören. Er selbst bezeichnet sich als «Verehrer Henri Dunants».

Am ersten Abend eines Erste-Hilfe-Kurses des DRK hörte Dietrich Holle zum ersten Mal etwas vom Schweizer Henri Dunant und erfuhr, dass er der Gründer des Roten Kreuzes war. Sein Wirken und die Gründung der grössten internationalen Hilfsorganisation mit heute 192 Mitgliedsstaaten haben ihn von Anfang an fasziniert. Besonders berührt hat ihn der Satz, den Henri Dunant im grössten Chaos der fürchterlichen Schlacht von Solferino mit dem überall sichtbaren menschlichen Elend formulierte und der zur Leitlinie der Rotkreuz-Bewegung wurde: «Siamo tutti fratelli» (alle sind Brüder). 

Dietrich Holle präsentiert seine Ausstellung. (Bild thk)

Dietrich Holle präsentiert seine Ausstellung. (Bild thk)

 

 

Ausdruck gelebter Schweizer Neutralität

Das Prinzip der Gleichheit, das hier von Henri Dunant in einer aussergewöhnlichen Situation praktiziert wurde, hat Dietrich Holle sehr angesprochen: «Es wird jedem geholfen, unabhängig von seiner Herkunft, Nationalität und Hautfarbe.» Diese innere Haltung Dunants – letztlich Ausdruck gelebter Schweizer Neutralität –, die er in diesem von Tod und Elend geprägten Kriegsereignis vorlebte, spricht bis auf den heutigen Tag Generationen von Menschen an, die darin echte Humanität erkennen und selbst einen Beitrag zur Linderung von Not und Elend leisten wollen. Dass es Henri Dunant damals gelungen ist, junge und alte Menschen, sogar Kinder, aus der Umgebung von Solferino für diese spontane Hilfsaktion zu gewinnen, berührt Jugendliche, die sich im Rahmen des Geschichtsunterrichts mit der Schlacht von Solferino und dem Wirken Henri Dunants auseinandersetzen.

Über die Geschichte Henri Dunants kann man Dietrich Holle nichts vormachen. Er kennt die historischen Details genau und erklärt, dass es Dunant nach der Schlacht auch gelungen sei, die verfeindeten Seiten zu überzeugen, die jeweils gefangengenommenen Ärzte freizulassen, damit sie bei der Versorgung der Verwundeten mithelfen konnten.

Von Briefmarken bis zu Rotkreuz-Uniformen

Im Mai 1967 trat Dietrich Holle dem Roten Kreuz bei und wirkt dort bis heute als freiwilliger Helfer. Seinen Beruf als Krankenpfleger übte er 37 Jahre aus, nachdem er eine dreijährige Ausbildung bei der Alice-Schwesternschaft des Roten Kreuzes absolviert hatte. Seine Begeisterung für das Hilfswerk führte zu seiner aussergewöhnlichen Sammelleidenschaft: «Seit über 45 Jahren sammele ich alles, was mit dem Roten Kreuz zu tun hat.» Bei einer Altkleidersammlung, organisiert vom Roten Kreuz, hat er bei einer Jugendlichen die Nadel vom Jugendrotkreuz gesehen und sich auch so eine besorgt. Das war der Anfang seiner Sammelleidenschaft. Auf die Frage, wie viele Sujets er besitzt, spricht er von ca. 1000 verschiedenen Ausstellungsstücken, darunter befinden sich auch einige Unikate aus aller Welt. Stücke aus über 100 Ländern gehören zu seinem stolzen Besitz. Dass die Zahl 1000 eher Ausdruck seiner Bescheidenheit ist denn die tatsächliche Anzahl der Gegenstände, versteht man, wenn man in den Genuss kommt, diese Ausstellung zu sehen. Der Betrachter ist überwältigt von der Vielzahl der Stücke, die Holle aus aller Herren Länder zusammengesammelt hat: von der Briefmarke bis zu Rotkreuz-Uniformen. Bereits 1976 hat er seine erste Ausstellung organisiert. Ungefähr dreimal im Jahr zeigt er an verschiedenen Orten seine Exponate. Auch im Ausland war er damit schon. So stellte er 1990 seine Sammlerstücke z. B. in Friaul, Italien, aus.

Im Museum (Bild zvg)

Im Museum (Bild zvg)

 

 

Vertreter aus der Schweiz bei Einweihung anwesend

Um an möglichst viele Sammelstücke zu kommen, trat er mit Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften brieflich in Kontakt. So kam er in den Besitz eines Briefes vom Roten Löwen, der Rotkreuzorganisation des Irans vor der schiitischen Revolution von Ayatollah Khomeini. Wie Dietrich Holle erklärt, verschwand der Rote Löwe, der, ausgestattet mit einem Schwert, wenig mit Humanität zu tun habe. Auf Antrag des Iran wurde er 1981 mit dem Roten Halbmond ersetzt.

Vor zehn Jahren begann der Gedanke, ein eigenes Museum zu führen, zu reifen, nachdem im Haus, in dem Holle mit seiner Frau lebt, nahezu jeder Raum mit Ausstellungstücken belegt war. Unterstützung bekam er bei dieser Idee auch vom Hessischen Roten Kreuz. Am 29. Februar war es dann so weit. In einer kleinen Gemeinde in der Nähe seines Wohnorts konnte er sein Museum eröffnen. Selbst der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier war anwesend und verlieh der Eröffnung einen offiziellen Charakter. 

Das Museum besteht aus einem kleineren und einem grösseren Zimmer. Im ersteren befindet sich die Geschichte des Roten Kreuzes als Dauerausstellung, im grösseren werden wechselnde Ausstellungen gezeigt. Trotz dieser beiden Zimmer kann Dietrich Holle nicht alles ausstellen, der Platz ist tatsächlich zu klein. Besonders gefreut hat sich Dietrich Holle, dass zur Eröffnung seines Museums aus der Schweiz ein Mitarbeiter des Henri-Dunant-Museums in Heiden anwesend war.

Bild thk

Bild thk

 

Erste Genfer Konvention auf Initiative Henri Dunants

Neben vielen kleinen und grossen Ausstellungsstücken spielt die Persönlichkeit Henri Dunants in dem Museum eine zentrale Rolle. Dunants Erlebnis in Solferino hat damals sein Leben, aber auch die Welt verändert. Durch sein Handeln und seine innere Einstellung hat er für die Menschheit etwas Grundlegendes geleistet, was seinen Ausdruck im Wirken des Roten Kreuzes und des roten Halbmondes sowie in den vier Genfer Konventionen findet. Die Ausarbeitung der Ersten Genfer Konvention, die den Schutz von Verwundeten auf dem Schlachtfeld verlangt, geschah auf Initiative Henri Dunants.

Dunant selbst war ein Gegner des Krieges, aber damals der Meinung, es sei, wie er in seinen «Erinnerungen an Solferino» schreibt, ein schwerlich zu verbannendes Übel: «Ist es in einer Epoche, wo man soviel von Fortschritt und Zivilisation spricht, nicht dringend nötig, da nun einmal unglücklicherweise Kriege nicht immer verhindert werden können, darauf zu bestehen, dass man im Sinne wahrer Menschlichkeit und Zivilisation einen Weg sucht, um wenigstens seine Schrecken etwas zu mildern?»

Wir sind in der Pflicht

Diese Sätze schrieb Henri Dunant vor mehr als 160 Jahren. Inzwischen hat die Menschheit Kriege erlebt, deren Auswirkungen verheerend waren. Internationale Organisationen wie der Völkerbund und die Uno wurden gegründet, um Kriege zu verhindern. Unzählige Mechanismen, die geschaffen wurden, könnten dafür sorgen, dass Kriege der Vergangenheit angehören. Wollen wir tatsächlich 160 Jahre nach Henri Dunant zugeben müssen, dass wir noch nicht weiter sind? Auch wenn es, bedingt durch die aktuelle Situation, keine Ostermärsche für den Frieden geben wird, so muss der Frieden das zentrale Thema bleiben. Das Streben der Menschheit muss dahin gehen, dass unsere Enkel einmal sagen können, «unsere Vorfahren haben es geschafft, den Krieg zu verbannen.»

Das Museum und das Anliegen Dietrich Holles, die Humanität des Roten Kreuzes einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist ein Beitrag, mehr Menschlichkeit in die Welt zu bringen und an die Humanität Henri Dunants und des Roten Kreuzes zu erinnern, einer Humanität, die unsere Welt so dringend braucht. Lassen wir Dunant zum Schluss selbst zu Wort kommen: «Das Werk ist gegründet, ich war nur ein Werkzeug in Gottes Hand, jetzt ist es an andern, es weiterzuführen.»

 

Die 7 Grundsätze des Roten Kreuzes

• Menschlichkeit
• Unparteilichkeit
• Neutralität
• Unabhängigkeit
• Freiwilligkeit
• Einheit
• Universalität

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