«Die Schweiz muss weder kuschen noch sich verstecken»

Eine Auseinandersetzung mit Oliver Zimmers Publikation «Wer hat Angst vor Tell? – Unzeitgemässes zur Demokratie»¹

von Thomas Kaiser

Auch wenn unsere Medien seit einem Jahr der Berichterstattung über das Corona-Virus erste Priorität einräumen, sind die politischen Herausforderungen, denen unser Land tatsächlich gegenübersteht, viel umfassender, als es die momentane «Krise» scheinen lässt. Dabei geht es ganz zentral um den Fortbestand unserer direkten Demokratie. Es geht, wie der ehemalige Nationalratspräsident, Ruedi Lustenberger, schon vor einigen Jahren gemahnte, um «das höchste Gut einer Nation», nämlich die staatliche Souveränität.² 

Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Echtzeit Verlag Basel, 2020, ISBN 978-3-906807-21-8

Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Echtzeit Verlag Basel, 2020, ISBN 978-3-906807-21-8

 

Diese Grundmaxime wird in Bezug auf das Rahmenabkommen, auch institutionelles Abkommen genannt, direkt tangiert. Dennoch fristete die Diskussion um das Rahmenabkommen bis vor kurzem ein stiefmütterliches Dasein. Es erscheint doch hin und wieder ein Artikel, der aber in der Regel nichts Neues bzw. Kritisches zu sagen weiss, als vom Bundesrat eine Nachbesserung der neuralgischen Punkte zu verlangen. 

Kein EU-Recht vor nationalem Recht

Wie soll das zukünftige Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union aussehen? Das ist doch die zentrale Frage, und diese wird kaum angerührt. Wird sich die Schweiz als gleichberechtigter Partner präsentieren und sich nicht «unter das Joch» zwingen lassen, wie es einst Schiller in seinem Klassiker Wilhelm Tell³ treffend ausdrückte, oder unterwirft sie sich der EU und ihrer Rechtsprechung aus dem überdimensionierten Justizpalast des Europäischen Gerichtshof (EuGH), dessen Name bereits weit über seine tatsächliche territoriale Kompetenz hinausgeht.

Das Interesse der Medien an dem für die Zukunft der Schweiz entscheidenden Thema ist eher dürftig, und man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass unsere Leitmedien auf keinen Fall eine breite Diskussion führen wollen, weil sie in der Tendenz einem Rahmenabkommen positiv gegenüberstehen. 

Peter Grünenfelder, seines Zeichens Direktor der wirtschafts- und EU-freundlichen Denkfabrik «Avenir Suisse», schreibt in einem Gastkommentar in der NZZ⁴, «dass die staatliche Souveränität nur relativ und nicht absolut sein kann.» Damit schwächt er deren Bedeutung zu einem zu vernachlässigenden Gut ab. Den Verlust der Selbstbestimmung rechtfertigt er vornehmlich aus ökonomischen Gründen. Die Argumentation, dass die Schweiz mit den bilateralen Verträgen bereits «einem gewissen Souveränitätstransfer mehrfach zugestimmt» habe, täuscht über die Tatsache hinweg, dass mit dem Rahmenabkommen die Rechtsprechung im Falle von Uneinigkeiten dem EuGH obliegt. Das ist bei den bilateralen Verträgen nicht der Fall. Auch wird sich die Schweiz an die Entscheide des EuGH zu halten haben, denn es wird ausdrücklich von Retorsionsmassnahmen gesprochen, sollte der Vertragspartner die Urteile des EuGH nicht umsetzen. Die Verweigerung der Börsenäquivalenz ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die EU es ernst meint. 

Das Übertragen der richterlichen Gewalt an ein ausländisches Gericht ist ein grosser Souveränitätsverlust und hat mit Demokratie oder direkter Demokratie nichts, aber auch gar nichts zu tun. Der Kommentar – das muss man Grünenfelder zugute halten –  bestätigt zumindest, was Kritiker des Rahmenabkommens immer wieder einwenden. Der EuGH wird die Rechtsprechung dominieren und bei Zwistigkeiten das EU-Recht vor Schweizer Recht durchsetzen.

Kein internationales Abkommen, das die moderne Schweiz in ihrer fast 170jährigen Geschichte jemals abgeschlossen hat, würde so in die Souveränität des Landes eingreifen und damit in die Entscheidungskompetenz des Volkes wie das Institutionelle Abkommen, wenn es denn angenommen würde. Sollte der Bundesrat hier keine Kehrtwende vollziehen und das Abkommen für gescheitert erklären, müssen Parlament und Bevölkerung aktiv werden. Aufgrund dieser Tragweite wäre eine öffentliche Debatte vor allem über den Verlust der staatlichen Souveränität und dessen Bedeutung für unsere direkte Demokratie dringend geboten. 

Auseinandersetzung mit den Grundwerten der Schweiz

Der Schweizer Historiker, Oliver Zimmer, der einen Lehrstuhl an der University of Oxford innehat, leistet mit seiner kürzlich erschienenen Analyse «Wer hat Angst vor Tell? – Unzeitgemässes zur Demokratie» einen vortrefflichen Beitrag zu der bisher sehr einseitig und liederlich geführten Debatte. Wahrscheinlich ist gerade seine Analyse Ursache für vermehrte Artikel, die in letzter Zeit darüber zu lesen sind. 

Bereits der Titel des Buches verspricht eine Auseinandersetzung mit den Grundwerten der Schweiz und damit eine Diskussion um die Ausgestaltung bzw. Erhaltung unserer Demokratie. Auch wenn die Souveränität und die (direkte) Demokratie im Zentrum der Auseinandersetzung stehen, wirft Oliver Zimmer zusätzlich grundlegende Fragen des politisch gesellschaftlichen Zusammenlebens auf. Dabei berührt er eine Vielzahl von Aspekten, die in ihrer Gesamtheit die Dringlichkeit einer ehrlichen Debatte deutlich machen.

Unter anderem beleuchtet Oliver Zimmer den viel gelobten und gern mit Fortschritt und Moderne assoziierten Liberalismus. Er entzaubert ihn mit mehreren Beispielen, was nicht nur für die aktuelle Debatte äusserst erhellend ist: «Als grösste Herausforderung für Liberale erwies sich aber selbst in der republikanischen Schweiz das, was radikale Zeitgenossen mit dem Begriff der Volksherrschaft umschreiben. Dieser Befund mag insofern überraschen, als wir heute dazu neigen, die Begriffe liberal und demokratisch synonym zu verwenden.» (S. 39) Gerade die Liberalen waren aber erbitterte Gegner eines (direkt)-demokratischen Staates. Einer dieser Liberalen war der Eisenbahnpionier Alfred Escher. «Wer im 19. Jahrhundert Eisenbahnen baute, sah dem Ausbau politischer Rechte mit Argwohn entgegen. Die Eisenbahnbarone Alfred Escher und Isambard Kingdom Brunel glaubten ihre Fortschrittsvisionen bedroht vom demokratisch ermächtigten Bürger.» (S. 39f.) 

Die Entwicklung der Schweiz zu einem direktdemokratischen Staat mit seinen fest verankerten Volksrechten war, wie Oliver Zimmer umfassend darlegt, ein Kampf vor allem der bäuerlich ländlichen Gesellschaftsschichten, die dieser Forderung nach mehr politischer Mitsprache positiv gegenüberstanden. «Auch in den 1860er Jahren war es vornehmlich die ländliche Bevölkerung, speziell die bäuerliche Mittel- und Unterschicht, die diese demokratischen Tendenzen unterstützte.» (S. 43) 

Verhältnis von Liberalismus und direkter Demokratie

Widerstand gegen mehr Mitsprache für das «gemeine» Volk fand sich insbesondere in den liberalen Kreisen. Der freisinnige Aargauer Bundesrat, Emil Welti, – der während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 und in diesem Zusammenhang mit dem Übertritt der Bourbaki-Armee in die Schweiz im Januar 1871 als Vorsteher des Militärdepartements eine äusserst unrühmliche Rolle insbesondere gegenüber dem Schweizer General, Hans Herzog, gespielt hatte – war der Prototyp des Liberalen, der wenig für die Mitsprache des «einfachen» Bürgers übrig hatte.⁵ Seine Stellungnahme zum in den 1870er Jahren geforderten Gesetzesreferendum, das heute ermöglicht, Bundesgesetze zur Abstimmung vors Volk zu bringen, ist äusserst entlarvend: «‹Ich habe das Gefühl, dass der Senn mit dem Code de Commerce und der Stallknecht mit dem Zivilprozess in der Hand, um sich für die Ausübung der Souveränitätsrechte vorzubereiten, eine Karikatur sind.›» (S. 44) Der Elitismus, der sich in den Aussagen Emil Weltis widerspiegelt, ist in liberalen Kreisen, wie Oliver Zimmer an verschiedenen Stellen darlegt, weit verbreitet und noch heute zu finden. «Das Problem des neuen Liberalismus mit der demokratischen Mitbestimmung ist historisch gesehen kein Novum. Liberale fühlten sich im 19. Jahrhundert aufgrund von Besitz und Bildung berechtigt, die Gesellschaft materiell wie moralisch nach ihren Interessen und Präferenzen zu gestalten.» (S. 141)  

Trotz allem Widerstand gegen mehr Mitsprache setzten sich 1874 und 1891 die «Volksdemokraten» durch und schufen im vorvorletzten Jahrhundert das demokratischste Land der Welt. Während die Nachbarstaaten Monarchien waren, rangen die Schweizer Kantone um die politische Ausgestaltung eines gemeinsamen direkt-demokratischen Staates. 

Volkssouveränität vor Internationalismus

Als multikultureller Kleinstaat konnte die Schweiz, gestützt auf die Neutralität, ihre Existenz zwischen den europäischen Grossmächten sichern. Sie ist seit ihrem Bestehen den Einflüssen und Begierden der benachbarten Staaten ausgesetzt, die nur allzu gerne die Schweiz in ihren Machtbereich gezogen hätten. Das Land bot ausserordentliche Vorteile – strategische und wirtschaftliche. 

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der darauffolgenden EU- und Nato-Osterweiterung sah sich die Schweiz erneut einem grossen Machtblock gegenüber, der sie am liebsten gleich einkassiert hätte. In der Folge dieser globalen Entwicklungen entzündete sich auch innerhalb der Schweiz seit den letzten drei Jahrzehnten eine Auseinandersetzung über die Frage, welches Verhältnis gegenüber dem zentralistischen, von oben nach unten durchstrukturierten EU-Gebilde einzunehmen sei. Was bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958 für den Bundesrat noch unbestritten war, unterlag in den letzten Jahrzehnten einer ständigen Erosion: «Die EWG zielt auf die Errichtung eines europäischen Überstaates ab. Zu diesem Zweck soll gemäss dem Vertrag von Rom im Laufe der Jahre die Autonomie der einzelnen Mitgliedstaaten auf wichtigen Wirtschaftsgebieten immer mehr durch die Tätigkeit von Organen, die den Einzelstaaten übergeordnet sind, eingeschränkt werden […]. Weiter würde ein Beitritt unser System der direkten Demokratie und teilweise auch die föderalistische Struktur unseres Landes tangieren. 

Jedenfalls wäre es mit der verfassungsmässig festgelegten demokratischen Willensbildung in unserem Lande unvereinbar, wenn die Wahrung der Interessen des Schweizervolkes in Bezug auf die Handels-, Sozial-, Arbeitsmarkt-, Agrar- und Fiskalpolitik an Organe, die ihm nicht verantwortlich sind, übertragen würde […].

Eine Nation, die nicht durch die Einheitlichkeit der Sprache, der Kultur und des Volkstums, sondern durch einen staatspolitischen Willensakt zusammengefügt ist, kann sich nicht auf eine allmähliche Aushöhlung ihrer staatlichen Selbstständigkeit einlassen […].»⁶

Diese dezidierte Position, die der staatlichen Souveränität und der direkten Mitsprache der Bevölkerung Rechnung trägt, würde unserem Bundesrat auch heute noch gut anstehen.

Helvetischer Föderalismus schon mit Napoleons Zentralismus nicht kompatibel 

Kein Eisen scheint Oliver Zimmer zu heiss zu sein, um es nicht anzufassen. Er nimmt die Positionen verschiedener Historiker wie z. B. Herbert Lüthys (1918–2002) oder André Holensteins (1959) bezüglich der Beziehung Schweiz-EU unter die Lupe. Selbst den Thesen des Historikers Thomas Maissen und seiner Anhänger stellt er sachlich fundiert eine historisch wissenschaftliche Analyse entgegen. Die Historikerclique um Maissen sieht die Schweiz vor allem als ein von Mythen und Sagen umwobenes Staatsgebilde, dessen Existenz nur auf den Goodwill der umliegenden Grossmächte zurückgeht und dessen historische und staatspolitische Grundlagen aus ihrer Sicht auswechselbar und irrelevant scheinen. «Die Intervention von aussen», so die Behauptung Maissens, «schuf den modernen Schweizer Staat, das Zutun der inneren Kräfte war dagegen vernachlässigbar.» (S. 101) Maissens Verneinung eines «helvetischen Geistes» widerspiegelt sich auch in folgender Behauptung: «Napoleon, den Maissen zum Gradmesser staatlicher Modernisierung nimmt, habe die Schweiz erfunden.» (S. 101) 

Solche Geschichtsverzerrungen, wie sie Oliver Zimmer an mehreren Stellen aufdeckt, verfolgen das Ziel, der Schweiz und ihrer einzigartigen Basisdemokratie eine mangelnde inhärente Legitimation anzudichten. Stattdessen sind gewisse Kreise bestrebt, den Autokraten Napoleon als Urheber der modernen Schweiz zu etablieren. Napoleon wollte aber aus der Schweiz einen Staat kreieren, der sich am Zentralismus Frankreichs orientierte. Die Kantone sollten vereinheitlicht und deren Hoheit abgeschafft werden. Doch bei allen Bemühungen oder – treffender gesagt – trotz starkem Zwang musste Napoleon nach vier Jahren das Handtuch werfen und für die Schweiz eine Verfassung formulieren, die die «Eigenheiten» der Eidgenossen berücksichtigte. Der Staatsrechtler Zacharias Giacometti schreibt dazu: «Mehr denn je trifft heute das Wort Napoleons zu, dass die Demokratie es ist, die die Schweiz vor der Welt auszeichnet und interessant macht und ihr eine eigentümliche Farbe gibt.»⁷  Hatte Napoleon etwas erkannt, was die Verantwortlichen im eigenen Land nicht erkennen (wollen)?

Die Schweiz war der Zeit voraus

Die Thesen, die die Schweiz als ein Zufallsprodukt europäischer Grossmachtpolitik erscheinen lassen, sind Wasser auf die Mühlen all derer, die die Schweiz am liebsten in der EU sähen als ein Anhängsel europäischer Grossmächte. Doch gemäss Oliver Zimmer wird die These vom «Zufallsprodukt» letztlich durch den Verlauf der Geschichte entkräftet: «Dabei liegt die Bedeutung solch innerer Kräfte auf der Hand. Einen indirekten Beweis dafür liefert ausgerechnet Napoleons Mediationsverfassung. […] Napoleon erkannte rasch, dass die kommunale Struktur der Eidgenossenschaft ein politisches Gebilde mit Anreizstrukturen geschaffen hatte, die sich mit dem Prinzip des Einheitsstaats nicht vereinbaren liessen. Durch diesen Widerstand gegen Einheitsbestrebungen wurde eine Weiche in Richtung jenes föderalistischen Nationalstaats gestellt, den der schweizerische Bürgerkrieg von 1847 realisieren sollte.» (S. 101)

Die Modernität der Eidgenossenschaft

Herbert Lüthy sieht den Nationalstaat als verantwortlich für viele Fehlentwicklungen in Europa. «So rebellierte Lüthy einerseits gegen geschichtsphilosophische Determinismen, sah aber im vereinten Europa gleichzeitig das Ziel der europäischen Geschichte. Mit seiner Weigerung, die ordnungsstiftende Funktion des Nationalstaats seit den Revolutionen im 18. Jahrhundert anzuerkennen, liegt Lüthy nahe bei der nicht nur in Brüssel beliebten Kausalitätsdoktrin, in der die Vernichtungsfeldzüge des 20. Jahrhunderts aufs Konto des Nationalstaats gebucht werden.» (S. 88) Diese Argumentation liefert eine Steilvorlage für alle Internationalisten, die die Zukunft der Schweiz in einem Aufgehen im «Grossen und Ganzen» sehen. Das sind genau die Kräfte, die nur allzu gern die Schweiz nivellieren möchten, um ihre Existenzsicherung oder gar -berechtigung an einen Beitritt zur EU zu knüpfen. Diese Kräfte finden sich paradoxerweise im linken wie auch im bürgerlichen politischen Lager. Doch bei aller Fragwürdigkeit hat Lüthy sehr wohl auch die Spezialitäten der Schweiz erkannt, indem er fragt: «Könnte es sein, dass die archaischen eidgenössischen Traditionen und Institutionen mehr Modernität produziert haben als die brillant komponierten Pamphlete der grossen Staatsphilosophen?» (S. 92) Die Lüthys Argumentation innewohnende Ambivalenz widerspiegelt die zwei Seiten, die sich in der Debatte grundsätzlich diametral entgegenstehen.

Geschichte der Schweiz der Theorie angepasst

Auch vor Max Frischs «Wilhelm Tell für die Schule» machen Oliver Zimmers kritische Betrachtungen nicht halt. Er ordnet diese Streitschrift Frischs in die Auseinandersetzung ein, die die Schweiz bereits vor, aber insbesondere nach der Gründung des Bundesstaates in mutierter Form bis heute begleitet. Frisch fühlte sich berufen, die Schweiz zu entmythologisieren und die Geschichte des Landes zu dekonstruieren. Damit hat er in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits eine Polemik gegen die Schweiz geführt, die im Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Beginn der «Globalisierung» eine neuerliche Renaissance erfahren hat. Die Bevölkerung, so das implizite Ziel, muss von ihrem Selbstverständnis entfremdet werden, damit sie im Internationalismus ein neues Heil suchen und finden kann.

Dass sich Friedrich Engels Mitte des 19. Jahrhunderts an der Schweiz störte, ist aus seinem ideologischen Dogmatismus heraus gar nicht anders möglich. Denn die marxistische Theorie von der Geschichte als einer Abfolge von Klassenkämpfen (Historischer Materialismus) liess sich trotz aller Verblendung nicht auf die gesellschaftliche Situation der Schweiz übertragen. So wurde nicht die Theorie einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen, sondern die geschichtlichen Abläufe der Theorie angepasst. Oliver Zimmer folgert: «Beim Krieg zwischen den liberalen Kantonen und dem konservativ, katholisch ­dominierten Sonderbund geht es laut Engels um die Überwindung der vormodernen, kommunal strukturierten Schweiz, durch die protestantischen Kräfte der Modernisierung. Damit war die Schweiz für Engels doch noch theorie- und geschichtsfähig geworden.» (S. 76)

Schwächung des Nationalstaats 

Es ist erstaunlich, dass wir heute 170 Jahre nach Marx und Engels eine zwar anders geartete, aber letztlich auf ähnlichen Argumenten aufbauende Diskussion führen müssen. Einigkeit über die politische oder besser gesagt globalpolitische Zukunft herrscht trotz unterschiedlicher Positionen: Die einen wollen den Nationalstaat schwächen, weil mit der Globalisierung viel Geld zu verdienen ist, die andern, weil sie den Nationalstaat als Begrenzung multikultureller Entwicklungen sehen. «Es verwundert nicht, dass Wirtschaftsführer aufs Tempo pochen, knallharte Interessen einfordern und aus dieser Perspektive heraus das Loblied auf den Internationalismus anstimmen. Bemerkenswerter sind Intellektuelle, die den ­Supranationalismus aus weltanschaulichen Gründen adeln. Die ideologische Brücke zwischen den beiden ist der Nationalstaat, den beide ablehnen […]. Für die Konzerne ist die Nation ein (Un)kostenpunkt, für viele akademisch Gebildete stellt sie eine Bedrohung des sorgfältig kultivierten Selbstbildes dar.» ( S. 118f.) 

Einzigartige Demokratie

Für Oliver Zimmer – er legt es in seinen Ausführungen schlüssig dar – ist offensichtlich, dass bis heute diese Auseinandersetzung um die demokratische Form und Ausgestaltung unseres Staatswesens nicht zu Ende ist. Fakt ist, die Schweiz ist das einzige Land dieser Erde, in dem direktdemokratische Elemente in so grossem Umfang erfolgreich umgesetzt worden sind.

Und gerade diese Volksrechte, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben, und die dem Begriff Demokratie eine höhere Legitimation verleihen als ein von politischen Eliten geführtes zentrales Gebilde, stehen einem wie auch immer gearteten Internationalismus diametral entgegen. Umso mehr wird diese Tatsache von den EU-Sympathisanten kleingeredet oder gar negiert werden.

Dem Schweizer Rechtsprofessor Daniel Thürer gesteht Oliver Zimmer in dieser Frage einen enormen Einfluss auf die politische Praxis zu. «Aufgrund seines Wissens als Völkerrechtler engagierte sich Thürer verschiedentlich auch in der Europafrage, und so überrascht es keineswegs, dass er zu diesem Thema auch als Berater in Erscheinung trat. Am 7. Juli 2011 legte er dem Bundesrat ein längeres Gutachten vor – eine Analyse der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU mit Bezug auf die bilateralen Verträge. Der Bundesrat hat dieses Gutachten Ende 2012 publik gemacht. Alt Bundesrat Christoph Blocher schreibt dazu in einem Artikel: «‹Der Staatsrechtler Daniel Thürer legte dem Bundesrat am 7. Juli (2011) ein Gutachten vor, wie man die Schweiz – ohne Volksabstimmung – in die EU führen könne. […]›» (S. 121) 

Keine Oberhoheit für den Europäischen Gerichtshof!

Im Kapitel «Geist und Geld» (S. 113ff) arbeitet Oliver Zimmer verschiedene Positionen um die EU-Frage erhellend auf. Beim erwähnten Daniel Thürer kann er keine Aussage finden, in der er sich direkt für einen EU-Beitritt stark gemacht hätte. Dennoch scheint er ein Parteigänger eines EU-Beitritts zu sein. Seinen Aussagen ist zu entnehmen, dass er z. B. die Bedeutung des EU-Gerichts und seiner Rechtsprechung sehr wohl erkannt hat, sie aber für die Schweiz als gegeben akzeptiert: «Die Absicht der EU wird von Thürer klar identifiziert: Die Gemeinschaft demonstriere ihre Entschlossenheit, bestehendes und neues EU-Recht entschieden durchzusetzen. Die Oberhoheit des Europäischen Gerichtshofs, die treibende Kraft der europäischen Integration, solle auch bei den Abkommen mit der Schweiz durchgesetzt werden.» (S. 122) Aufgrund dieser Tatsache verlöre die Schweiz bei der Verabschiedung eines Rahmenabkommens tatsächlich die Möglichkeit der selbstbestimmten Rechtsprechung. Die Idee, ein Schiedsgericht oder den Efta-Gerichtshof mit einer allfälligen Streitschlichtung zu beauftragen, was der damalige Bundesrat und EU-Befürworter, Didier Burkhalter, ins Spiel gebracht hat, sind Nebelpetarden für eine EU-kritische Öffentlichkeit. In Tat und Wahrheit wird der EuGH sich immer als letzte Instanz verstehen und kein anderes Gericht neben sich dulden. Schon Mitte der 90er Jahre versuchte Thürer, den neuen Weg der Schweiz zu skizzieren. Dabei forderte er, wie Oliver Zimmer erklärt, mehr Staatsführung. «Im ersten ging es um eine Reform der Demokratie im Kontext internationaler Herausforderungen. Hier sprach sich Thürer für mehr Leadership aus. In diesem Sinne empfahl er eine Stärkung der Exekutive und des Verfassungsrechts.» (S. 125) Bestrebungen, die wir in verstärktem Masse in der Politik der Schweiz auch beobachten können. Der Bund versucht zunehmend, seinen Einfluss auf die Kantone zu verstärken und deren politischen Spielraum einzuschränken. Thürers Vorschlag, um die direkte Demokratie EU-kompatibel zu frisieren, beschreibt Zimmer wie folgt: «Im kleinen Raum trete dieser [der Staatsbürger, Anm. d. V.] als Aktivbürger auf, während er sich im erweiterten Raum der supranationalen Föderation vornehmlich als Privatmann betätige, weil die partizipatorische Demokratie im europäischen System nicht funktioniere.» (S. 126)

Keine Expertokratie statt direkter Demoktratie

Der Ansatz Thürers ist klar, die Schweiz müsse sich von ihrer direktdemokratischen Staatsform langsam verabschieden und den europäischen Eliten unterwerfen. Es ist unglaublich, dass wir etwa 240 Jahre nach Immanuel Kants Schrift «Was ist Aufklärung?»⁸ wieder in die Zeit des Absolutismus zurückfallen (wollen), damit ein paar wenige, die sich selbst für auserkoren halten, über die Geschicke der Menschen bestimmen. «Expertokratie» oder «postparlamentarische Demokratie» wird diese Staatsform dann heissen, Begriffe, die im Kontext der EU-Krise und im Nachgang der Finanz- und Wirtschaftskrise durch die Medien geisterten. Der Staat legitimiert sich selbst, die Bürgerinnen und Bürger werden zu Untertanen degradiert. Nicht mehr die mündige Bevölkerung bestimmt selbstbewusst und selbstbestimmt über ihre Geschicke, sondern selbsternannte Eliten übernehmen das Denken für sie. Hatte nicht schon 1785 Immanuel Kant so treffend «eine Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» gefordert?⁹

Die internationale Dimension 

Doch die Frage nach dem Rahmenabkommen und die staatspolitischen Folgen haben nicht nur eine nationale Dimension. Mit einer grundsätzlichen Zustimmung zu diesem Vertrag, möglicherweise mit einzelnen kosmetischen Retuschen, geht in der Frage der eigenen Rechtsprechung ein wesentlicher Bereich der staatlichen Souveränität und damit die direkte Demokratie verloren. Die Schweiz bietet ein Staatsmodell, das die Grundlagen der Demokratie durch die direkte Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess optimal umgesetzt hat. Dass ein Staat mit dieser fein austarierten Organisation bestens funktioniert und eine Erfolgsgeschichte darstellt, wird auch von den Bewohnerinnen und Bewohnern anderer Staaten positiv wahrgenommen und motiviert sie, sich für mehr Volksrechte in ihren Ländern einzusetzen. Sollte die Schweizer Politik zur Befriedigung kurzfristiger Interessen die Demokratie zusehends einschränken, gibt es keine Alternative mehr zu bestehenden Staatssystemen. Indem die Politik unter fadenscheinigen Begründungen, die meist von einem Elitedenken geprägt sind, der direkten Demokratie eine Absage erteilt, hält sie die Menschen von der aktiven Gestaltung des politischen Lebens fern. Der Hunger nach Macht ist häufig grösser als der Wunsch nach Gleichwertigkeit, selbst bei Parteien wie z. B. den «Grünen» in Deutschland, die immer Volksentscheide gefordert haben und jetzt, wo ihnen die Beteiligung an der Macht winkt, nichts mehr davon wissen wollen. Für unser Land gilt: Ist die direkte Demokratie erst einmal verschwunden, wird es sehr schwer werden, sie zurückzuholen.

Überzeugende Orientierung 

Oliver Zimmers Analyse ist bestechend, und man wünscht sich noch mehr Historikerkollegen, die eigenständig forschen und sich getrauen, die Fakten beim Namen zu nennen. Für Oliver Zimmer ist unbestritten, dass das Problem nicht bei der Schweiz und ihrer direkten Demokratie und den daraus resultierenden Mehrheitsentscheiden zu suchen ist, denn «sie sind der Ausdruck einer lebendigen politischen Kultur […]» (S. 157) Aber, «mit dem Rahmenabkommen […]» würde die Schweiz «sich verpflichten, bestehendes und neues Unionsrecht dynamisch zu übernehmen. Sollten Parlament und Schweizer Stimmbürger im Einzelfall den Aufstand proben, hätte der EuGH das letzte Wort.» (S. 157) 

Das Studium von Oliver Zimmers Darlegungen ist herausfordernd und überzeugend. Sein kompaktes Werk ist gespickt mit Fakten, hoch konzentrierten Analysen und transparenten Schlussfolgerungen. Es regt den Leser zum Denken, zum vertieften Nachdenken an. Der Inhalt müsste einem breiten Publikum präsentiert werden, denn er bietet eine sachliche Auseinandersetzung um die zentralen Werte unseres Landes, bar jeglicher Polemik. Im Bewusstsein, dass nicht die Schweiz sich anpassen muss, sondern die EU, die auf keinem demokratischen Fundament steht, gibt Oliver Zimmer eine überzeugende Orientierung: «Ein wenig mehr Selbstbewusstsein wäre deshalb angebracht. Die Schweiz muss weder kuschen noch sich verstecken.» (S. 160) 

¹ Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? –
Unzeitgemässes zur Demokratie, Echtzeit Verlag Basel, 2020, ISBN 978-3-906807-21-8
² Zeitgeschehen im Fokus vom 17.09.2018
³ Friedrich Schiller: Wilhelm Tell
⁴ NZZ, 20. März 2021
⁵ Bernhard von Arx:. Konfrontation. Die Wahrheit über die Bourbaki-Legende. Zürich 2012. ISBN 978-3-03823-744-0.
⁶ Stellungnahme des Bundesrates 1960 zur EWG
⁷ Zacharias Giacometti: Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone. S. 552
⁸ Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?
⁹ ebd.

Die Agrarwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Versorgungs- und Umweltpolitik

von Reinhard Koradi

Mit den beiden Initiativen «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung» sowie «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» werden Gräben zwischen einer optimalen Selbstversorgung und dem Anspruch auf eine heile Umwelt aufgerissen, die sich bei einer objektiven Lagebeurteilung eigentlich ohne grosse Grabenkämpfe überwinden liessen. 

Es ist offensichtlich, dass die Initianten wohl nur begrenzte Kenntnisse über die wirkliche Praxis in der Nahrungsmittelproduktion (vom Boden bis zum Teller) haben. Grundsätzlich liegt es im Interesse der gesamten Produktionskette, die natürlichen Grundlagen der Nahrungsmittelproduktion zu schonen und vor Zerstörung zu schützen. Wenn heute im Bereich der Nahrungsmittelproduktion und -distribution Handlungsbedarf besteht, dann erst nach der Produktions- und Verarbeitungsstufe. Die entsprechend vorgelagerten Stufen sind bereits durch Verordnungen, Vorschriften und entsprechende Kontrollen derart geregelt, dass eine zusätzliche Reg­lementierung absolut kontraproduktiv ist. Das heisst, die Inlandproduktion würde abgewürgt. Sollten sich weitere Vorschriften und Reglemente aufdrängen, dann fallen diese weitgehend in die Bereiche Logistik und Konsum. Allerdings braucht es in diesen Tätigkeitsfeldern ebenso keine Regulierung, sondern lediglich Vernunft und Eigenverantwortung.

Gemäss verschiedenen Umfragen bringt die Schweizer Bevölkerung den einheimischen Bauern sehr viel Goodwill entgegen. Warum dann Initiativen starten, die Landwirte in die Ecke von «Umweltvergiftern» drängt (Argumentation der Befürworter)?

Andere Ursachen der Umweltbelastung müssten bereinigt werden

Das Anliegen ist berechtigt, die Natur mit ihren natürlichen Ressourcen zu schützen. Doch es braucht andere Massnahmen, um den notwendigen Schutz aufzubauen. Denken wir nur an die Belastungen durch die Siedlungsdichte, die übersteigerte Mobilität, das Littering und die Verschleisswirtschaft an deren Ende der Konsument steht. Aber auch hier gilt es, den Bogen nicht zu überspannen. Umweltpolitik erfordert ein vernetztes Denken und vor allem auch Vernunft und viel Sachverstand. Fehl am Platz sind in dieser Hinsicht Feindbilder und Sündenböcke. Wo Menschen leben, wird «Natur» verbraucht. Mit Blick auf diese Tatsache, stellt sich die Frage: Um was geht es bei diesen Initiativen wirklich? Vielleicht geht es mehr um die Auflösung einer produzierenden Landwirtschaft. Nicht ganz ausschliessen können wir auch geostrategische Agenden. Ohne fehlende Selbstversorgung werden die Länder in die Abhängigkeit vom Ausland getrieben, da sie ihre Nahrungsmittelversorgung dann über Importe absichern müssten.  Da der ausreichenden Versorgung mit Lebensmitteln eine überlebenswichtige Bedeutung zugemessen werden muss, können solche Abhängigkeiten sehr schnell zu Souveränitätsverlusten führen. Mit Bezug auf die Schweiz ist bei erheblichen Versorgungsengpässen nicht auszuschliessen, dass der Widerstand gegen die Integration der Schweiz in überstaatliche Bündnisse und Vertragswerke gebrochen würde. (EU, transnationale Handelsabkommen usw.) Möglicherweise denken die Befürworter dieser beiden Initiativen gar nicht so weit, doch sie können sich der Verantwortung nicht entziehen, einem trojanischen Pferd  als nützliche Steigbügelhalter aufgesessen zu sein.

Sauberes Trinkwasser 

Selbstverständlich ist nichts gegen sauberes Trinkwasser einzuwenden. Wir alle wollen sauberes Trinkwasser. Die Forderung der Ini­tianten geniesst denn auch sehr viel Sympathie. Trotzdem gilt zu bedenken, dass gerade die Landwirtschaft in den vergangenen Jahren im Rahmen des Gewässerschutzes einen sehr grossen Beitrag für sauberes Trinkwasser leistet. Bei objektiver Betrachtung ist auch erwiesen, dass das Trinkwasser in der Schweiz bezüglich Hygiene und Qualität sehr hohen Ansprüchen gerecht wird. 

Bei einer Annahme der Initiative wird unser Trinkwasser um keinen Deut sauberer. Dagegen werden die Produktionsbedingungen für natürliche Lebensmittel in unserem Land zusätzlich erschwert. Die aktuelle Agrarpolitik erfüllt die ökologischen Anliegen bereits. Müssten die Landwirte weitere Auflagen erfüllen, dann müssten sie erhebliche Ertragseinbussen verkraften und würden ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit infolge höherer Produktionskosten gegenüber den Importprodukten weiter einbüssen. Ob die Schweizer Bevölkerung die höheren Preise für einheimische Produkte akzeptieren würde, um die Konsequenzen der Annahme der Initiative «Für sauberes Trinkwasser» zu kompensieren, ist eher unwahrscheinlich. Kleinere Erträge und erhebliche Einbussen auf den Absatzmärkten wären die Folgen, die die einheimische Landwirtschaft in ihrer Existenz bedrohen. Mit der Forderung, die Direktzahlungen noch mehr an einen ökologischen Leistungsnachweis zu binden, würde bei Annahme der Initiative ein zusätzliches existenzvernichtendes Element in die schweizerische Agrarpolitik einfliessen.

Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide

Durch das Verbot von synthetischen Pestiziden in der Landwirtschaft werden die Bauern in unserem Land gezwungen, ihre Betriebe und Produktionsmethoden entgegen dem über Generationen hinweg entwickelten Fachwissen und berechtigten Berufsstolz umzustellen. Damit wird nicht nur gegen das Gesetz der Gewerbefreiheit, sondern auch gegen den Verfassungsauftrag verstossen, der von der einheimischen Landwirtschaft einen Beitrag zu einem möglichst hohen Selbstversorgungsgrad fordert. Faktisch würde mit der Annahme der Initiative der Zwang zur Bio-Landwirtschaft respektive der Verzicht auf einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad mit einheimischen Produkten heraufbeschworen. Es kann doch nicht Ziel der schweizerischen Agrarpolitik sein, eine Nischenproduktion nur für die Reichen in unserem Land zu fördern und finanzieren!

Schlussfolgerung

Beide Initiativen können einer sachverständigen Analyse nicht standhalten. Sie bedrohen vielmehr einen für die Schweiz existenziellen Wirtschaftszweig, die Landwirtschaft. Und letztlich werden die von den Initianten vermeintlich georteten Probleme einfach ins Ausland ausgelagert, wo die Produktions- und Lebensbedingungen um ein Vielfaches prekärer sind.

Wir können unseren Bauern nicht die Existenzgrundlagen unter den Füssen wegreissen und gleichzeitig gesunde, günstige und qualitativ hochwertige Nahrungsmittel aus einheimischer Produktion fordern. Was die Schweiz braucht, sind Voraussetzungen, die ihre Souveränität stützt und verteidigt. Dazu gehört eine starke produzierende Landwirtschaft! 

 

Ressourcen- und Gewässerschutzprogramm des Bundes: 50 laufende Projekte sollen die Landwirtschaft nachhaltiger machen, ohne die inländische Produktion zu reduzieren

sl. Der Bund hat bereits 200 Mio Fr. eingesetzt, damit die natürlichen Ressourcen nachhaltiger genutzt, der Hilfsstoffeinsatz optimiert und die biologische Vielfalt der Landwirtschaft besser geschützt werden können. Die Projekte des Ressourcen- und Gewässerschutzprogramms verteilen sich über das gesamte Land. Die Projekte werden wissenschaftlich begleitet und involvierte Landwirte stehen mit den zuständigen Beratern ständig im Austausch. Laut Nadine Konz vom Amt für Umweltschutz und Energie BL sind die beteiligten Landwirte nach anfänglicher Skepsis sehr engagiert und machen wertvolle Vorschläge. 

Die Wirkung der Massnahmen wird bezüglich der Kosten für die Umsetzung und ihrer Praxistauglichkeit ausgewertet. 

Nach dem Ende der Projekte könnten die Massnahmen, die als praxis­tauglich eingestuft wurden, im Rahmen anderer agrarpolitischenr Instrumente fortgeführt werden. So war das Ausbringen von Gülle mit dem Schleppschlauch, wodurch weniger Nährstoffe in die Luft, aber besser in den Boden gelangen, eine der Innovationen aus einem solchen Ressourcenprojekt. 

Schweizweit laufen derzeit 7 Projekte des Ressourcenprogramms, die sich speziell auf die effizientere Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in Spezial- und Ackerkulturen fokussieren. Ziel der rund 50 Ressourcenprojekte des Bundes in Zusammenarbeit mit der produzierenden Landwirtschaft ist es, die ökologische Verbesserung nicht durch die Reduktion der inländischen Produktion, sondern durch eine Steigerung der Effizienz beim Ressourceneinsatz zu erreichen. 

Angesichts dieser gemeinsamen Anstrengungen von Bund und produzierender Landwirtschaft zum Schutz der Umwelt und der Schweizer Landwirtschaft fragt man sich schon, wem die beiden Initiativen, die für manchen Schweizer Landwirt das Aus bedeuteten und der Importwirtschaft Tür und Tor öffneten, nützen. 

Quelle: www.blw.admin.ch/blw/de/home/instrumente/ressourcen--und-gewaesserschutzprogramm/ressourcenprogramm.html

 

 

Leserbrief: Diskussion um die Pflanzenschutz-Initiativen

Extremes zieht häufig Extremes nach

Mit extremen Forderungen und einseitigen Schuldzuweisungen lassen Initianten und Unterstützer Respekt, Anstand und Wertschätzung gegenüber den Bauernfamilien vermissen. Diese arbeiten nicht nur tagtäglich für unser Essen. Vielmehr haben sie in den vergangenen dreissig Jahren mit vielfältigen ökologischen Massnahmen unser Landschaftsbild verschönert, Flora und Fauna neue Lebensräume verschafft, den Einsatz von Hilfsstoffen gesenkt und das Tierwohl verbessert. Natürlich gibt es weiteren Handlungsbedarf. Aber: Kein Land dieser Welt schreibt Bauern so viel ökologische Ausgleichsflächen vor wie die Schweiz, und unsere Landwirte sind beim Anteil Auslauf- und Weidetiere weltmeisterlich. Hierzulande verboten – aber weltweit zulässig – sind tagelange Schlachtviehtransporte, Käfigbatterien, Kastenstände, Kastrieren ohne Schmerzausschaltung und dutzende anderer Tierquälereien. 

Bezeichnenderweise protestieren die Initianten nicht gegen die Zubetonierung der Landschaft mit Autobahnen, Trassen, Häusern und Gewerbezonen, obwohl der Natur innert weniger Jahrzehnte über 300 km² entrissen wurden. Auch nicht gegen riesige Mengen an chemischen Rückständen von Hormonen, Haushalts- und Chemiechemikalien oder Arzneimitteln in unseren Flüssen. Den Initianten schwebt ein Bioland vor. Dagegen ist nichts einzuwenden, hätten die Konsumenten da nicht längst beim Einkaufen den negativen Tatbeweis erbracht. Obwohl alle Detaillisten ein vielfältiges Biosortiment führen, werden pro Kopf und Jahr nur mickrige 400 Franken für Bio ausgegeben – bei einem Gesamtbudget von 7600 Franken. Mit Blick auf diese seit Jahren sehr tiefe Nachfrage muss man schon auf einem Auge blind und ein grosser Heuchler sein, um Bio dann per Gesetz durchzwängeln zu wollen. Allerdings, die Initianten und ihre gutmeinenden links-grünen Unterstützer könnten sich bezüglich Anpassungsfähigkeit der Bauern massiv täuschen. Nach Annahme der Initiativen würden nämlich sehr viele Bauern das Handtuch werfen müssen, auch wegen des Zerfalls der Biopreise am Markt. Es ist gut vorstellbar, – denn Extremes zieht häufig Extremes nach – dass diese Lücke dynamische Grossbetriebe besetzen würden, welche bereit wären, ohne Direktzahlungen, aber dafür auch ohne kostentreibende Initiativ- und andere Ökovorschriften zu wirtschaften, in Agrar- und Tierfabriken nach ausländischem Vorbild. 

Hansuli Huber, Biobauer und Tierschützer, Altikon ZH

US-Kampfjets gefährden die Unabhängigkeit der Schweiz

von Niklaus Ramseyer*

Debatten um «Spionagegefahr» durch den Kauf von US-Kampfflugzeugen sind wichtig. Oft gehen sie indes am Wesentlichen vorbei. 

«Das ist absolut ausgeschlossen, man kann nicht von aussen auf das Flugzeug zugreifen.» Das versicherte der Fliegeroberst dem TV-Journalisten der SRF-Sendung «10 vor 10» (25.01.2021) von der Führerkanzel seines F/A-18-Kampfjets herab. Es ging um die Beschaffung neuer Militärflugzeuge, für die der Bundesrat bis im Sommer den Typenentscheid zwischen Offerten von vier Anbietern fällen will. Und die konkrete TV-Frage hatte gelautet: «Was ist, wenn der Hersteller in die Steuerung des Fliegers eingreift – und plötzlich den Flieger aus dem Ausland fernsteuert?»

Der interviewte Fliegeroberst und Militärpilot heisst Peter Merz. Er ist im Departement von Bundesrätin Amherd (VBS) Projektleiter für die Beschaffung des neuen Kampfjets – und auch als neuer Kommandant der Schweizer Luftwaffe vorgemerkt. Er beteuerte, alle Kommunikationssysteme unserer heutigen und künftigen Kampfflugzeuge seien «maximal Cyber-geschützt». Das könne er «garantieren». Denn alle Systeme in den Fliegern seien «verschlüsselt». Die Idee von plötzlich aus dem Ausland ferngesteuerten Kampfjets sei ein «Märchen». Soweit stimmt das alles.

VBS entweder ahnungslos oder unaufrichtig

Danach aber konnte Oberst Merz selber ein wenig Märchen erzählen: «Bei der Weiterentwicklung des Flugzeugs und bei Ersatzteilen brauchen wir den Hersteller» räumte er ein. Da bestehe schon eine «beschränkte technologische Abhängigkeit». Diese sei jedoch bei allen vier Anbietern gleich.

Das stimmt so nicht: Es ist bloss die beschönigende Sprachregelung, die im VBS seit Beginn der Kampfjet-Beschaffung durch alle Beteiligten gebetsmühlenartig vorgetragen wird. Selbst Verteidigungsministerin Viola Amherd, die für den teuersten Rüstungskauf in der Geschichte der Schweizer Armee eigentlich politisch verantwortlich wäre, behauptet: «Die Typenfrage ist ohnehin irrelevant.» Das ist falsch. Richtig ist: Die Typenwahl beim Kampfjetkauf ist die entscheidende politische Frage. Wenn Amherd und ihre Militärs das Gegenteil behaupten, sind sie entweder ahnungslos oder unehrlich. So oder so informieren sie falsch.

USA liefern Rüstung zum Zweck der Einmischung

Fakt nämlich ist: Die beiden US-Kampfjets F/A-18 Super Hornet und F-35 A könnte die Schweiz gar nicht direkt beim «Hersteller» – Boeing oder Lockheed-Martin – kaufen, wie Oberst Merz suggeriert. Denn US-Rüstungsgüter gibt es für den Export ausschliesslich von der US-Regierung in Washington. Dafür zuständig sind das Verteidigungs- und das Aussenministerium der USA mit einem sogenannten Foreign-Military-Sales-Programm (FMS), das über eine staatliche «Defense Security Cooperation Agency (DSCA)» abgewickelt wird. Deren Auftrag ist es, mit Rüstungsexporten (wörtlich) «die nationale Sicherheits- und Aussenpolitik der USA zu unterstützen». Die Amerikaner verfolgen mit Waffenlieferungen also explizit eigene «aussenpolitische Ziele».

Mehr noch: Rüstungsgeschäfte sollen dem US-Militär im Ausland «erlauben, durch und mit lokalen Streitkräften (local military forces) zu operieren». Diese «Partner» wollen sie also für ihre Interessen und Zwecke einspannen.

In der Schweiz wären solche «Partner» unsere Fliegertruppen auf der «Airbase» – wie sie jetzt schon (in allen Landessprachen!) angeschrieben ist – in Payerne (VD). Dort gab Oberst Merz der TV-Sendung «10 vor 10» auch sein TV-Interview, in dem er das Märchen vom ferngesteuerten Kampfjet locker dementieren konnte. Aber das ist eben nicht die entscheidende Frage. Denn die Gefahr, die unserer Unabhängigkeit und Neutralität mit dem Kampfjetdeal droht, ist ja nicht eine allfällige elektronische Fernsteuerung eines Flugzeugs über eine gehackte Avionik. Was droht, ist die Einmischung der US-Regierung in unsere Sicherheitspolitik.

Schweizer F/A-18 ohne US-Ersatzteile oft am Boden

Bedenkliche Abhängigkeiten vom US-Militär, das weltweit permanent Kriege führt, haben sich für die neutrale Schweiz schon mit dem derzeitigen F/A-18, der nun ersetzt werden soll, oft gezeigt:

Die ganze Software für die Avionik und die Feuerleitelektronik (Flug- und Luftkampf) sowie die Kommunikation der Schweizer Kampfjets wird durch die US-Navy von deren Stützpunkt Chinalake in Kalifornien aus betreut – und auf unsere Kosten weiterentwickelt. Schweizer Fachleute haben auf die Software der meisten Systeme im F/A-18 keinen eigenen Zugriff.

Wenn die Ersatzteile knapp werden, beliefern die USA prioritär ihre eigenen F/A-18 in ihren weltweiten Kriegseinsätzen. Die Schweizer Abfangjäger «made in USA» müssen dann warten; sie sind darum oft während Tagen und Wochen am Boden geblieben.

Für scharfe Probeschüsse mit den Fliegerabwehr-Raketen (AMRAAM), die sie mit ihren F/A-18 in Kalifornien und Nevada durchführte, hat unsere Luftwaffe schon Dutzende von Millionen Franken ausgegeben. Doch von den Testresultaten zeigten die Amerikaner den Schweizern nicht einmal die Hälfte.

Mit alledem konfrontierte der TV-Reporter den Luftwaffen-Oberst jedoch nicht. Und so wundert es wenig, dass der SRF-Mann auch beim Stichwort «Verschlüsselung» nicht aufhorchte und nicht sofort nachhakte, etwa mit der Frage: «Verschlüsselt? Meinen Sie etwa mit Systemen der Crypto AG aus Zug?»

Diese kryptische und vermeintliche Schweizer Firma gehörte jahrelang klammheimlich dem US-Geheimdienst CIA. Sie lieferte weltweit getürkte Geräte, auf welche US-Spione problemlos Zugriff hatten, sogar auch in der Schweiz. Der Skandal um die Crypto hat gezeigt, dass amerikanische Geheimdienstler und Waffenverkäufer über den «maximalen Schutz durch Verschlüsselung», den Fliegeroberst Merz auch bei US-Kampfjets «garantieren» will, wohl eher mitleidig gelächelt haben.

Schweizer Volk hätte zu US-Kampfjets nie Ja gesagt

All diese gefährlichen Abhängigkeiten, die beim Kauf und Betrieb der US-Flieger drohen, hatten Bundesrätin Viola Amherd und ihre Militärs auch vor der Volksabstimmung am 27. September 2020 verschwiegen und bestritten: Sie behaupteten vielmehr, die Typenwahl sei «irrelevant» – und könne problemlos erst nach der Abstimmung erfolgen.

Klar ist inzwischen: Die Stimmberechtigten sagten damals an der Urne mit 50,1 Prozent nur hauchdünn ja zu einem Kredit von sechs Milliarden Franken für neue Militärjets eines unbestimmten Typs und in unbekannter Zahl. Wenn es darüber informiert worden wäre, hätte das Volk den konkreten Kauf eines US-Kampfjets niemals bewilligt. Denn Einmischungen und Abhängigkeiten, wie sie US-Kriegsgerät mit sich brächte, akzeptieren die Leute im neutralen Land Schweiz nicht.

Die Schweizer Militärpiloten könnten zudem bei der «Ausbildungs-Kooperation» mit Lehrgängen in den USA viel über weltweite Angriffskriege mit US-Bombern oder über Start und Landung auf Flugzeugträgern lernen – wenig jedoch über Luftraumüberwachung und -verteidigung in unserem eigenen Land. Die in der Bundesverfassung verankerte «Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz», zu der auch die Armee beitragen sollte, könnte mit dem Kauf von US-Kampfjets ganz im Gegenteil ernsthaft bedroht und kompromittiert werden.

Griechen kaufen französische Kampfjets günstig direkt vom Hersteller

Die zwei europäischen Flugzeugtypen der vier Modelle im Angebot – der Eurofighter von Airbus aus Deutschland und die Rafale von Dassault aus Frankreich – wären hingegen weit weniger problematisch als die beiden US-amerikanischen. Das gilt vor allem für den französischen Flieger: Frankreich ist zwar auch in der durch die USA kontrollierten Nato. Doch die Franzosen müssen im Unterschied zu den Deutschen keine US-Stützpunkte in ihrem Land dulden. Paris macht traditionell eine eigenständige Verteidigungspolitik – und achtet die Unabhängigkeit anderer Länder eher.

So hat das griechische Verteidigungsministerium soeben mit dem Chef von Dassault Aviation, Eric Trappier, einen Vertrag über die Lieferung von 18 Rafale-Jets samt Bewaffnung (Raketen der Typen Meteor, Exocet und Scalp) und Logistik für insgesamt 2,32 Milliarden Euro unterzeichnet. Dabei bekommen die schlauen Griechen die ersten sechs der modernen Militärflugzeuge dieses Jahr schon vorab aus Beständen der französischen Armée de l’Air geliefert. Ob Bundesrätin Amherd über diese vorteilhafte Möglichkeit durch ihre Generäle und «Fachleute» je informiert worden ist, bleibt unklar.

US-Kampfjets könnten uns 6,62 Milliarden Franken kosten

Klar ist hingegen, dass zumindest die schweren US-Marine-Kampfjets F/A-18 Superhornet die Schweiz mehr als nur jene sechs Milliarden Franken kosten dürfte, die das Volk Ende September ganz knapp bewilligte: Das US-Aussenministerium hat letztes Jahr – gemäss «Defense News» – Rüstungsverkäufe (FMS) in über 60 Länder für insgesamt 83,5 Milliarden Dollars genehmigt. Darunter fällt «provisorisch» auch schon die Lieferung von Kampfjets in die Schweiz. In den FMS-Auftragsbüchern der US-Regierung beträgt der Preis für die – wie erwähnt unbekannte Zahl – der «Schweizer» Superhornets 7,45 Milliarden Dollars (6,62 Milliarden Franken). Das andere US-Modell, der F-35 A, wird dort mit 6,58 Milliarden Dollars (5,88 Milliarden Franken) verbucht.

Der tiefere offizielle FMS-Preis für den Tarnkappenbomber F-35 A dürfte allerdings ein geostrategisch motiviertes Lockvogel-Angebot sein. Denn ihre Einflussnahme mittels FMS-Waffenverkäufen lassen sich die USA mit Rabatt gerne etwas kosten. Im konkreten Fall für verstärkte Präsenz der US-Air Force mit neuen Kampfjets auf einer «Airbase» namens Payerne, in «Switzerland, Central Europe». 

Quelle: www.infosperber.ch vom 11.02.2021

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

* Niklaus Ramseyer ist Journalist in Bern. Er schrieb u. a. für den Tages-Anzeiger, die SonntagsZeitung und die Basler Zeitung. 

 

Sri Lanka – «Man hätte eine perfekte Gelegenheit gehabt, das Selbstbestimmungsrecht der Singhalesen und Tamilen zu sichern»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Im Jahre 2009 war der 26jährige Krieg zwischen den Tamil Tigers und der Armee der singhalesischen Regierung auf Sri Lanka beendet. Seither hoffen die Tamilen auf eine Verbesserung ihrer Lage. 

Zeitgeschehen im Fokus Warum kam es überhaupt zu so einem langen Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen? 

Prof. Dr. Alfred de Zayas Weil die Uno nicht das tat, was sie hätte tun können und sollen. Die Teil-Entkolonialisierung Sri Lankas erfolgte zwar 1948, und die Insel wurde die Republik «Ceylon», die erst 1972 Unabhängigkeit erlangte, als der «Dominion-Status» aufgegeben wurde. Das Land hätte 1948 bereits ein Referendum haben sollen, und die Tamilen hätten sicherlich ihre Unabhängigkeit von den Singhalesen verlangt. Man fragt sich, warum dies nicht geschah, wie z. B. bei der Trennung von Pakistan und Indien. Das Entkolonialisierungsverfahren war mindestens so misslungen wie jenes im Insel-Archipel Mauritius, wo die Engländer die Chagos Inseln abtrennten und Diego Garcia an die USA weiter verpachteten. Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) 2019 hielt fest, dass die Entkolonialisierung Mauritius' das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung der Chagos Inseln verletzte und dass sie an Mauritius zurückgegeben werden müssten.¹ 

Dies ist zwar nicht geschehen, aber der Präzedenzfall für eine Revision des Entkolonialisierungsprozesses ist geschaffen worden, ein Präzedenzfall, der für Sri Lanka nützlich sein könnte.  

Inwiefern?

Ziel und Zweck der Entkolonialisierung war die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Wenn dies misslungen ist, besteht immer die Möglichkeit, sich an den IGH mit einer Bitte um Klärung bzw. Korrektur zu wenden. Die Tamilen haben ihre Selbstbestimmung verfehlt. Dasselbe ist den Bubis von Bioko (Fernando Po) geschehen. Es war ja skandalös, dass kurz vor der Entkolonialisierung Spanien seine zwei Kolonien Äquatorialguinea und Fernando Po zusammenschloss, ohne jemals ein Referendum durchzuführen, obwohl die Bubis eine Ethnie mit einer anderen Sprache als die der Bevölkerung von Äquatorialguinea sind. So wurden die Bubis ihres Selbstbestimmungsrechts beraubt. Anstatt Spanien haben sie heute Äquatorialguinea als Kolonialmacht. Dies muss von der Uno im Sinne der Charta korrigiert werden, vor allem deshalb, weil die Negation des Selbstbestimmungsrechts zu Gewalt und Tod führte. 

Was hätte 1948 in Sri Lanka geschehen können?

Man hätte eine perfekte Gelegenheit gehabt, das Selbstbestimmungsrecht der Singhalesen und Tamilen zu sichern. Man hat diese Gelegenheit verpasst. Ein Referendum hätte gezeigt, dass die Tamilen, die eine andere Kultur und Sprache haben, ein eigenes Land wollten und auch ohne weiteres hätten bilden können.

Inwieweit war die britische Kolonialmacht an dieser Entwicklung beteiligt?

Das ursprüngliche Problem geht auf die britische Kolonialpolitik zurück. Die Briten waren in Sri Lanka erst seit der Zeit der Napoleonischen Kriege, als sie die frühere holländische Kolonie eroberten und den letzten König von Sri Lanka verjagten. Sri Vikrama Rajashinda musste ins Exil nach Indien gehen. Die Briten haben aus administrativen Gründen die Tamilen und Singhalesen untereinander gemischt, ohne auf die Unterschiede Rücksicht zu nehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich die Risse, aber die Briten hielten es nicht für nötig, ein Referendum abzuhalten. Nach der Entkolonialisierung traten die virulenten Nationalismen der singhalesischen Mehrheit und die Sezessions-Bestrebungen der Tamilen deutlich hervor.

Wie ist es zum Bürgerkrieg gekommen, und wer waren die Nutzniesser dieses Bürgerkriegs?

Die Sirimavo Regierung in den 1970er Jahren hat Änderungen bei den Zulassungsbestimmungen zu den Universitäten eingeführt, die für die Tamilen diskriminierend waren. Dies führte zu Unruhen. Der Ermordung des Bürgermeisters von Jaffna im Jahre 1975 durch die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) folgten eine brutale Unterdrückung und später Pogrome gegen die Tamilen. Schätzungsweise 150 000 Tamilen mussten in die Diaspora fliehen. Der Bürgerkrieg begann 1983 und dauerte 26 Jahre lang bis zur Ausrottung der LTTE und der Tötung enorm vieler Zivilisten. Es wird geschätzt, dass mindestens 100 000 Tamilen getötet wurden. Sie versuchten, ihr Selbstbestimmungsrecht zu behaupten und wurden vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgerottet. Daran verdient haben natürlich die Waffen-Produzenten und Waffen-Exporteure. 

Kann man im Zusammenhang damit, was den Tamilen widerfahren ist, von einem Genozid sprechen?

Ja. Wenn Srebrenica ein «Genozid» war – gemäss Urteil des IGH und des Internationalen Strafrechtstribunals für das ehemalige Jugoslawien – dann sicherlich. Die Massaker an der Zivilbevölkerung im Norden Sri Lankas waren schlimmer.

Es gibt eine Resolution des Uno-Menschenrechtsrats (HRC), die eine Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen, besonders in der Endphase des Krieges, verlangt hat. 

Das war Resolution HRC 25/1 vom März 2014, in der das Büro des Hochkommissariats für Menschenrechte damit beauftragt wurde.²

Warum wurde diese nicht umgesetzt?

Na ja, Berichte wurden doch verfasst, aber weder die USA noch die EU hatten ein Interesse daran. Die Straflosigkeit der Täter besteht heute noch.  

Was gedenkt der HRC zu tun?

Nichts. Die Tamilen gehören nicht zu jener Kategorie der «politically correct» Opfer. Man ist darüber nicht unglücklich, dass man die Tamilen erfolgreich als «Terroristen» gebrandmarkt hat. Diese semantische Waffe ist sehr nützlich für die stärkeren Staaten, die legitime Selbstbestimmungsbestrebungen unterdrücken wollen. So werden die Kurden, die Jemeniten, die Igbos von Biafra, die Freiheitskämpfer Korsikas als Terroristen abgetan bzw. erledigt.

Während der Regierung Maithripala Sirisenas kam es zu einer Entspannung der Lage in Sri Lanka. Wie sieht aktuell das Leben für die Tamilen aus?

Die Tamilen werden nach wie vor unterdrückt und diskriminiert. Sie brauchen Zeit, um sich vom Genozid zu erholen.

Welche legalen Möglichkeiten haben die Tamilen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen?

Sie sollten einen Staat oder mehrere Staaten finden, die bereit wären, in der Uno-Generalversammlung eine Resolution gemäss Art. 96 der Uno-Charta vorzuschlagen und sich dafür einsetzen – um die Mängel des Entkolonialisierungsverfahrens zu überprüfen.  

Inwiefern hätten die Engländer für das Selbstbestimmungsrecht sowohl der Singhalesen als auch der Tamilen sorgen können?

Ähnlich wie es 2017 mit der Überprüfung der fehlerhaften Entkolonialisierung Mauritius‘ und der Chagos Inseln im Gutachten des IGH erfolgte.

Was geschah damals auf Mauritius?

An der Lancaster Konferenz von 1965 wurde diskutiert, wie Grossbritannien seine Kolonien los werden sollte. So war Mauritius an der Reihe. Aber auch 1965 entschloss sich Grossbritannien, das Chagos Archipel von Mauritius zu trennen, und daraus entstand das sogenannte British Indian Ocean Territory. Im Januar 1968 gab es in Port Louis gewalttätige Demonstrationen mit 25 Toten, und Mauritius hat sich dann als unabhängig erklärt und im März 1968 eine eigene Verfassung angenommen. Allerdings blieb Elizabeth II. quasi doch noch Königin von Mauritius bis 1992. Die Ureinwohner der Chagos Inseln wurden mittlerweile vertrieben und die Engländer haben die Chagos Islands an die USA verpachtet, eben um diese militärische Monster-Basis in Diego García zu bauen. So wie die Tamilen hat das Volk der Chagos Inseln grobe Gewalt und Menschenrechtsverletzungen erlitten. 

Welche völkerrechtlichen Möglichkeit gibt es?

Man kann sich auf die neue Doktrin der «remedial secession» stützen, weil die Tamilen Opfer eines Völkermordes waren – eine grauenhafte Situation, vielfach schlimmer als jene der Kosovaren unter Serbien. Man könnte und sollte sich auch der Petitionskompetenz des Uno-Menschenrechtsausschusses bedienen und individuelle Fälle gegen die Regierung Sri Lankas gemäss des Fakultativprotokolls einreichen. Man kann die Informationen der Uno-Sonderberichterstatterin über aussergerichtliche Tötungen zuschicken. Auch die Arbeitsgruppe über verschwundene Personen (Disappeared persons) hat Kompetenz. Eventuell könnte der neue Sonderberichterstatter, Professor Fabian Salvioli, über das Recht auf Wahrheit, Justiz und Reparation, eine Untersuchung einleiten. Er muss von den Opfern ausführlich informiert werden.

Welche Internationalen Verträge und Abkommen werden durch das Verhalten der singhalesischen Regierung verletzt?

Die Konvention von 1948 gegen den Völkermord, Art. 1 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, Art. 1 des Uno-Paktes über wirtschaftlich, soziale und kulturelle Rechte, die Konvention gegen Rassendiskriminierung.

Was wäre Ihrer Meinung nach zu tun, um das Los der Tamilen zu verbessern?

Eine breit angelegte Informationskampagne. Die Mainstreammedien haben sich nie für das Schicksal der Tamilen interessiert – genauso wenig wie für das Schicksal der Igbos von Biafra, Kurden oder Kashmiris. Man soll an die Uno Hochkommissarin für Menschenrechte schreiben und ein «Follow-up» der Resolution 25/1 von März 2014 verlangen. Der Bericht des OHCHR von 2020 enthält einige nützliche Vorschläge.³

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ www.icj-cij.org/en/case/169
² www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/Pages/OISL.aspx
3 www.ohchr.org/EN/countries/AsiaRegion/Pages/LKIndex.aspx
Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights on Sri Lanka (A/HRC/43/19)

Diego Garcia – Grossbritannien und USA missachten das Selbstbestimmungsrecht der Völker

von Robert Fitzthum*

Mit überwältigender Mehrheit verurteilte am 22. Mai 2019 die Generalversammlung der Vereinten Nationen die fortgesetzte Besetzung der im Indischen Ozean gelegenen Chagos-Inseln durch Grossbritannien – eine demütigende diplomatische Ohrfeige für London, das sich von seinem kolonialen Erbe nicht trennen will. Grossbritannien wurde aufgefordert, die Inseln innerhalb von sechs Monaten an Mauritius zurückzugeben. Ein Jahr nach Ablauf der Frist hat Grossbritannien, das in anderen Fällen wortmächtig von anderen Ländern die Einhaltung internationalen Rechts fordert, noch immer die Wiederherstellung des Rechts verweigert. Die Brisanz des Themas ergibt sich daraus, dass die USA einen ihrer grössten Stützpunkte, Diego Garcia, auf einer der Chagos-Inseln errichtet haben. 

Vertreibung der Bevölkerung

Doch wie kam es dazu? Die Chagos-Inseln sind eine Gruppe von 7 Atollen mit 60 kleinen Inseln im zentralen Indischen Ozean. Diego Garcia ist die grösste der 60 kleinen Inseln des Chagos-Archipels. Die Chagos-Inselgruppe war Teil von Mauritius, einer britischen Kronkolonie vor der Südostküste Afrikas. Früher Teil des französischen Kolonialimperiums wurde die britische Herrschaft auf Mauritius de facto mit der Invasion der Isle de France im November 1810 und de jure durch den nachfolgenden Vertrag von Paris begründet. Die britische Kolonialherrschaft endete am 12. März 1968, als Mauritius unabhängig wurde.

Aber 3 Jahre vor der Unabhängigkeit Mauritius‘ teilte die britische Regierung die Chagos-Inseln von ihrer Kolonie Mauritius unter dem Namen «British Indian Ocean Territory (BIOT)» ab. Es ist heute der letzte Besitz Grossbritanniens östlich von Suez. Der einzige Zweck dieser Abtrennung bestand darin, die Hauptinsel Diego Garcia langfristig an die USA für die Errichtung eines Militärstützpunkts zu vermieten. Die Einwohner wurden von Grossbritannien unter Mithilfe der USA zwischen 1968 und 1971 gewaltsam entfernt und bis heute an der Rückkehr gehindert. Nach internationalem Recht streng verboten, verfrachtete Grossbritannien die lokal ansässige Illois-Bevölkerung (ca. 2000 Personen) in einem Massen-Kidnapping unter grösster Geheimhaltung und unter Anwendung von Gewalt auf Boote und brachte sie ohne weitere Unterstützung in die Slums der mauritischen Hauptstadt Port Louis. Mauritius stimmte unter der Drohung, sonst die Unabhängigkeit nicht zu erhalten, zu. 

Im Oktober 2008 gab Lizette Talatte, ein Mitglied der «Chagos Refugees Group», dem bekannten australischen Enthüllungsjournalisten John Pilger folgenden Eindruck über die Brutalität der Vorgehensweise: «‹Um uns aus unseren Häusern zu holen›, sagte Lizette, ‹verbreiteten sie Gerüchte, dass wir bombardiert werden würden, und brachten dann unsere Hunde ins Spiel. Die amerikanischen Soldaten, die angekommen waren, um die Basis zu bauen, stellten mehrere ihrer grossen Fahrzeuge gegen einen Ziegelschuppen, und Hunderte von Hunden wurden dort zusammengetrieben und eingesperrt, und sie vergasten sie durch einen Schlauch, der mit dem Auspuff der Lastwagen verbunden war. Man konnte sie jaulen hören. Dann verbrannten sie sie auf einem Scheiterhaufen, wobei viele noch lebten.› Diese Brutalität führte zu schweren Traumata bei vielen Kindern und Jugendlichen.»¹ Mit einem unglaublichen Mass an Überheblichkeit, Rassismus und Frauenfeindlichkeit hielt das britische Aussenministerium 1966 in einer internen Note fest, dass «das Ziel der Übung [der Abtrennung von Mauritius, Anm. RF] darin bestand, einige Felsen zu beschaffen, die uns verbleiben werden; es wird keine indigene Bevölkerung geben, ausser Möwen, die noch keinen Ausschuss haben (der Status der Frau deckt nicht die Rechte der Vögel ab).» Es fügte einen scheinbar mitfühlenden Hinweis hinzu und schrieb: «Leider gibt es gemeinsam mit den Vögeln einige wenige Tarzans oder Freitag-Männer mit obskurer Herkunft, die hoffentlich nach Mauritius usw. weitergeleitet werden.»² 

Die britisch-amerikanische Vorgehensweise war ein eklatanter Verstoss gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, vor allem gegen die Artikel 9 und 13. 

Der eigentliche Player im Hintergrund waren natürlich die USA, die sich in jeder Phase des Kampfes mit ihrem britischen Partner verschworen hatten.

Aufbau des US-Stützpunktes Diego Garcia

US-Militärangehörige kamen im März 1971 auf dem Hauptatoll von Diego Garcia an und brachten Bagger, Baumaterialien und Arbeiter mit, um eine Militärbasis zu errichten, die heute zu den weltweit wichtigsten gehört. Im Jahr 1966 unterzeichneten Grossbritannien und die USA ein Abkommen, das als «Verfügbarkeit bestimmter Inseln im Indischen Ozean für Verteidigungszwecke» bekannt ist und in dem die Art der auf den Inseln durchgeführten Aktivitäten nicht festgelegt ist. Es wurde jedoch bald klar, worum es bei der Vereinbarung ging. Diego Garcia umgibt eine Lagune, die 24 Kilometer lang, 6,4 Kilometer breit und fast 10 Meter tief ist. Mit etwas Ausbaggern wurde ein Tiefseehafen gebaut. Als nächstes wurden auf dem Atoll moderne Häuser errichtet, die durch asphaltierte Strassen verbunden wurden, ebenso wie eine Landebahn, die lang genug war, damit die grössten US-Militärflugzeuge landen konnten. Diego Garcia begann schnell anderen ausländischen US-Militärbasen zu ähneln, allerdings ohne eine möglicherweise aufsässige lokale Bevölkerung in der Nähe. Später wurde enthüllt, dass Grossbritannien 1966 einem Mietvertrag für 50 Jahre zugestimmt hatte, der 2016 auslief. 2016 verlängerten die Vertragsparteien um weitere 20 Jahre. Es sind dauernd 3000 bis 5000 Soldaten und ziviles Militärpersonal auf der Insel stationiert. Diego Garcia wurde eine der wichtigsten und geheimsten Basen der USA. Es war von zentraler Bedeutung für die Invasionen in Irak und Afghanistan, Aufklärungs- und Routineflüge über Asien, inklusive dem Südchinesischen Meer. Luftangriffe gegen Syrien und Jemen wurden von Diego Garcia aus durchgeführt oder geleitet. Die CIA verbrachte auch Gefangene aus diversen Kriegen nach Diego Garcia, wo sie, von Grossbritannien toleriert, verhört und gefoltert wurden.

Mauritius fordert seit Jahren die Rückgabe der Inseln und betrachtet Grossbritannien als «illegal colonial occupier». Die mauritischen Politiker haben auch begonnen zu enthüllen, wie ihre Vorgänger gezwungen worden waren, den Chagos-Archipel aufzugeben, dass nämlich Grossbritannien politische Erpressung einsetzte, um die Kontrolle über die Inseln zu erlangen. Den lokalen Führern war gesagt worden, dass ihnen keine Unabhängigkeit gewährt würde, wenn sie nicht zustimmten, den Chagos-Archipel abzutreten.

Die ehemaligen Bewohner und ihre Nachkommen (inzwischen ca. 6000 Personen) versuchten viele Jahre, durch das britische Rechtssystem das Recht auf Entschädigung und Rückkehr zugesprochen zu erhalten. Obwohl einige Rechtsinstanzen ihre Ansprüche bejahten, wurden ihnen schlussendlich im House of Lords als letzter Instanz mit der Begründung der nationalen Sicherheit («royal prerogative»!) das Rückkehrrecht abgesprochen. 

Einmal, im Jahr 2009, befürchteten die USA, dass die Law Lords den Inselbewohnern erlauben könnten, auf einige der Inseln zurückzukehren. Die Obama-Regierung und ihre britischen Unterstützer haben eine Lösung gefunden: die Erklärung einer Umwelt-«Seeschutzzone», die jeglichen zivilen Zugang verbietet. Ein schmutziger Trick.

Dokumente von WikiLeaks lieferten eine Reihe von Nachrichten, in denen das Ziel britischer Beamter dargelegt wurde, die Chagos-Inseln in einen Meerespark oder ein Naturschutzgebiet (nur dem Namen nach) umzuwandeln. In einer Diskussion des US-Politikberaters Richard Mills im Auswärtigen Amt wurde festgestellt, dass es [für die Chagossianer] schwierig, wenn nicht unmöglich gemacht würde, ihren Anspruch auf Neuansiedlung auf den Inseln des gesamten Archipels zu verfolgen, wenn der Archipel ein Meeresschutzgebiet wird. Dies würde den «strategischen Wert» des Territoriums erhalten.³

Im März 2015 entschied das Ständige Schiedsgericht für das Seerechtsabkommen einstimmig, dass das Meeresschutzgebiet, das das Vereinigte Königreich im April 2010 um den Chagos-Archipel herum deklariert hat, gegen das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen verstösst, und Grossbritannien die Rechte von Mauritius nicht berücksichtigt – Trick zwar misslungen, aber Grossbritannien ignoriert den verbindlichen Schiedsspruch.

Die Bewohner und Mauritius suchen Unterstützung internationaler Organisationen 

Die Chagossianer suchten verstärkt rechtliche Unterstützung auf internationaler Ebene.

Mauritius und seine Alliierten, unter anderem die Afrikanische Union und einige südamerikanische Staaten brachten vor der Uno-Generalversammlung im Juni 2017 eine Resolution ein, die das Thema zur rechtlichen Beurteilung an den Internationalen Gerichtshof verweisen sollte. Die Resolution wurde mit grosser Mehrheit angenommen, ein deutliches Zeichen des Festhaltens der Staaten der Vereinten Nationen an der Dekolonisierung.

Der Artikel 96 der Charta der Vereinten Nationen sieht vor, dass die Generalversammlung und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vom Internationalen Gerichtshof (IGH) beratende Stellungnahmen zu «jeder Rechtsfrage» einholen können. Der IGH hat entschieden, dass «der Zweck der Beratungsfunktion nicht darin besteht, Streitigkeiten zwischen Staaten – zumindest direkt – beizulegen, sondern den Organen und Institutionen, die die Stellungnahme anfordern, Rechtsberatung anzubieten». Gutachten sind nicht rechtsverbindlich, haben aber ein hohes rechtliches, moralisches und politisches Gewicht.

Am 25. Februar 2019 veröffentlichte der IGH sein Rechtsgutachten. Darin wird festgestellt: Der IGH «ist der Ansicht, dass im Hinblick auf das Völkerrecht der Prozess der Entkolonialisierung von Mauritius nicht rechtmässig abgeschlossen wurde, als dieses Land 1968 nach der Abtrennung des Chagos-Archipels in die Unabhängigkeit eintrat». Weiter ist der IGH «der Ansicht, dass das Vereinigte Königreich verpflichtet ist, die Verwaltung des Chagos-Archipels so schnell wie möglich zu beenden.» Weiter: «der Ansicht, dass alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind, mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten, um die Entkolonialisierung von Mauritius abzuschliessen.» Damit war auch klar, dass die Vertreibung der Bevölkerung und die Errichtung der US-Basis auf Diego Garcia in Verletzung des internationalen Rechts geschahen.

Der Spruch war eine Ohrfeige für die britische Regierung, die britische Diplomatie und stellte auch die Existenz der grössten US-Basis im Indischen Ozean auf legalen Treibsand. 

Die Stellungnahme des damaligen britischen Aussenministers Alan Duncan: «The defense facilities on the British Indian Ocean Territory help to keep people here in Britain and the world safe and we will continue to seek a bilateral solution to what is a bilateral dispute with Mauritius.» Während sich die konservative britische Regierung also nicht bewegte, gab es ein Umdenken bei Labour, das in der Vergangenheit die illegale britische Politik gedeckt hatte. Der damalige Labour-Chef Jeremy Corbyn schrieb einen Brief an die damalige Premierministerin Theresa May und verurteilte ihre Entscheidung, sich der Meinung des Uno-Hauptgerichts zu widersetzen. Und einige Monate später hielt Labour in einem Manifest zur internationalen Politik fest, dass es beabsichtigt, «den Menschen auf den Chagos-Inseln und ihren Nachkommen das Recht zu gewähren, in die Länder zurückzukehren, aus denen sie niemals hätten entfernt werden dürfen».

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen, die um die beratende Meinung des IGH ersucht hatte, stimmte am 22. Mai 2019 mit überwältigender Mehrheit dafür, die fortgesetzte Besetzung der Chagos-Inseln durch Grossbritannien zu verurteilen – eine weitere demütigende Niederlage für London im Festhalten am kolonialen Erbe. Mit 116 Pro-Stimmen, 6 Nein-Stimmen und 56 Enthaltungen⁴ wird in der unverbindlichen Resolution festgehalten, dass die Abtrennung der Chagos-Inseln illegal sei, und Grossbritannien wird aufgefordert, die Inseln innerhalb von sechs Monaten an Mauritius zurückzugeben. Da die Entkolonialisierung von Mauritius nicht im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht durchgeführt wurde, bekräftigte die Versammlung, dass die fortgesetzte Verwaltung des Archipels eine rechtswidrige Handlung darstellt. Es forderte Grossbritannien nachdrücklich auf, mit Mauritius zusammenzuarbeiten, um die Neuansiedlung mauritischer Staatsangehöriger, einschliesslich jener chagossischer Herkunft, im Chagos-Archipel zu erleichtern und solche Bemühungen nicht zu behindern.

Um den Weg zur Rückgabe zu erleichtern, hat Mauritius den USA einen langfristigen Mietvertrag für die Militärbasis angeboten. Die USA und Grossbritannien haben das Angebot aber abgelehnt und argumentiert, dass dies ein mauritisches Veto gegen künftige Militäreinsätze und die Verpachtung von Aussenatollen an andere Mächte nicht ausschliesse.

Konsequenterweise haben die Vereinten Nationen eine Weltkarte veröffentlicht, die die Chagos-Inseln nicht mehr als britisches Gebiet zeigt.⁵ Die USA betrachten sie weiter als britisch.⁶

London reagiert nicht, die EU ist auf Tauchstation 

Aber London liess die 6-Monate-Frist einfach verstreichen. In grosser Empörung äusserte sich der mauritische Premierminister Pravind Jugnauth mit der Einschätzung, Grossbritannien sei nun ein «illegaler kolonialer Besatzer». 

Inzwischen hat Grossbritannien die Deadline 1 Jahr verstreichen lassen und macht keine Anstalten, die Inselgruppe zu dekolonisieren und die Vertriebenen und deren Nachkommen in ihre Heimat zurückkehren zu lassen. 

Es wird Zeit, dass die EU diese Vorgangsweise verurteilt und Druck auf Grossbritannien und die USA ausübt, ihre völkerrechtswidrige Vorgangsweise zu beenden. Das deshalb, um einen völkerrechtlich korrekten Zustand herzustellen und den Verdacht zu zerstreuen, dass die EU, die ihre Werte gerne wie eine Monstranz vor sich herträgt, in internationalen Fragen mit «double standards» misst. 

Quelle: Der Artikel wurde zuerst in International – Zeitschrift für internationale Politik, V, 2020 veröffentlicht; wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

¹ John Pilger: Plight of the unpeople. New Statesman, 27. November 2008, www.newstatesman.com/human-rights/2008/11/pilger-british-chagos-law 
² Elliot Murphy: Labour’s New Internationalism: Chagos and Western Sahara, www.counterpunch.org/2019/11/28/labours-new-internationalism-chagos-and-western-sahara/
³ HMG FLOATS PROPOSAL FOR MARINE RESERVE COVERING THE CHAGOS ARCHIPELAGO, 15 May 2009, wikileaks.org
⁴ Nur die USA, Australien, Israel, die Malediven und Ungarn stimmten für Grossbritannien, die meisten EU-Staaten enthielten sich.

www.un.org/Depts/Cartographic/map/profile/world.pdf
www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/io.html

Weg von Gewalt und Armut

von Luca Beti

Seit 2013 unterstützt die Schweiz in Honduras das Berufsbildungsprojekt Projoven. Es hilft benachteiligten Jugendlichen beim Eintritt in die Arbeitswelt. Trotz Covid-19 entwickelt sich das Projekt weiter und überrascht durch seine Anpassungsfähigkeit.

Mirna Mendez ist mit Motoren, Benzingeruch und öligen Händen aufgewachsen – und verliebte sich so in Autos. Täglich arbeitet sie in ihrem ölverschmierten Overall in der Werkstatt. Francesco Chinchilla wiederum war bis zu seinem 9. Lebensjahr ein Strassenkind. Es gelang ihm jedoch, sich dem Schicksal vieler honduranischer Jugendlicher zu entziehen, nämlich in einer kriminellen Jugendbande – einer «Mara» – zu enden. Heute verkauft er als Kleinunternehmer belegte Brötchen, Nachos und Empanadas. Genau wie Mirna und Francesco haben sich Tausende anderer Jungen und Mädchen selbst eine Chance gegeben, indem sie am Projekt Projoven teilgenommen haben, welches von der NGO Swisscontact realisiert und von der DEZA finanziert wird.

Luz Nassar schloss ihre Ausbildung als diplomierte Motorrad-Mechanikerin an der Berufsschule ab.
(Bild: © ProJoven)

 

In Honduras leben 64,5 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, 5,7 Prozent sind arbeitslos, und die Hälfte der Menschen ist unterbeschäftigt. Betroffen sind vor allem Jugendliche. Das entfremdet sie von der Gesellschaft und treibt sie in die Arme der Organisierten Kriminalität. «Mit Projoven wollen wir Jugendlichen helfen, aus dem Teufelskreis von Gewalt und Armut auszubrechen», erläutert Olga Tinoco, Projektverantwortliche bei Swisscontact. 

Gewonnenes Vertrauen des Privatsektors

Das Projekt befindet sich bereits in der zweiten Phase, die Ende 2021 endet. Von 2013 bis 2017 wurde bislang rund 12 000 jungen Leuten zwischen 18 und 30 eine Ausbildung ermöglicht, 4 500 haben sich selbstständig gemacht oder haben eine Beschäftigung in personalintensiven Branchen wie der Gastronomie, im Dienstleistungsbereich, dem Tourismus oder dem Bauwesen gefunden. «Das Programm will zusammen mit staat-lichen und privaten Akteuren sowohl die Qualität als auch die Quantität der Berufsbildungsangebote in Honduras verbessern. Nur so können wir auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ange-messen reagieren», sagt Angie Murillo Gough. Sie arbeitet als Programmbeauftragte im Kooperationsbüro der DEZA in Honduras und ist für das Projekt zuständig.

Der Erfolg von Projoven ist der Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnern zu verdanken. Darunter finden sich NGOs, Stiftungen, kirchliche Institutionen, Handelskammern, das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung und dasjenige für Arbeit und soziale Sicherheit sowie das nationale Institut für berufliche Ausbildung. «Indem wir das Vertrauen des Privatsektors gewonnen haben, gelang es uns, Beschäftigungsmöglichkeiten für die Jungen zu schaffen», sagt Tinoco. Eine Zusammenarbeit, die unter anderem dazu beitrug, das duale Berufsbildungssystem der Schweiz in das Ausbildungszentrum des Hotels Escuela Madrid in Tegucigalpa zu integrieren.

Pandemie erfordert neue Lehrmethoden

In der laufenden 2. Phase wollte man ursprünglich 6 000 Junge aus dem Zentraldistrikt und den ­Regionen Golf von Fonseca, La Mosquitia und Atlántida beruflich integrieren. Wegen der Covid-19-Pandemie ist dieses Ziel infrage gestellt. Man befürchtet den Verlust von etwa 350 000 Arbeitsplätzen, und es droht ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit um 9,5 Prozent. «Wegen des behördlich angeordneten Lockdowns vergangenen März mussten wir neue Lehrmethoden entwickeln, um die Jungen, die sich für die Kurse eingeschrieben hatten, weiter ausbilden zu können», erläutert Olga Tinoco von Swisscontact. 

In kurzer Zeit mussten die Projektverantwortlichen Onlineplattformen und Möglichkeiten zum Fernunterricht bereitstellen, was angesichts der mangelnden Internetabdeckung und fehlender elektronischer Geräte bei den Kurs­teilnehmern nicht einfach war. Diese waren zudem verunsichert, isoliert und litten unter der Rezession. «Wir merkten, dass wir die Kursteilnehmer auch auf psychosozialer Ebene begleiten mussten, und haben dann einen telefonischen Beratungsdienst eingerichtet», erklärt Tinoco.

Für die jungen Kursteilnehmerinnen war die Covid-Krise jedoch auch eine Möglichkeit, neue Kompetenzen zu entwickeln. Projoven hatte einige Initiativen zur Unterstützung der Bevölkerung lanciert. So stellten sie beispielsweise in Zusammenarbeit mit einem Privatbetrieb mittels eines 3D-Druckers Ersatzteile für Beatmungsgeräte sowie Schutzmasken und -brillen her. 

Wichtiger Praxisbezug: Der 23-jährige Enixon Daney Bonilla Arias während seiner Kellner-Ausbildung.
(Bild: © ProJoven)

 

Eine andere Idee richtete sich an die Kursteilnehmer im Bereich Gastronomie. «Sie bereiteten Mahlzeiten in Ausbildungszentren vor und verteilten sie in den Gesundheitseinrichtungen, an das Personal in den Spitälern und an Bedürftige aus der Bevölkerung», berichtet Tinoco. «Diese Erfahrung wiederum hat viele motiviert, zu Hause Mahlzeiten zuzubereiten und sie dann frei Haus zu liefern und damit ein Einkommen für ihre Familien zu ermöglichen».

Präventiv und motivierend

In vier Jahren wird die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika beendet. Was bleibt von dem Projekt? «Projoven hat nachhaltig zu einer Modernisierung und Stärkung der Berufsausbildung beigetragen. Zudem hat es in Zusammenarbeit mit dem Privatsektor Arbeitsplätze für Junge geschaffen», antwortet Angie Murillo Gough. «Wir haben vielen Jungen ermöglicht, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Und es war auch ein Projekt zur Gewaltprävention», so Olga Tonoco. Das weiss auch Francesco Chinchilla – statt eines jugendlichen Delinquenten wurde er so zu einem ehrbaren Unternehmer und einem Vorbild für seine Tochter. 

Quelle: EINE WELT 01/2021

Wir danken der Deza für die Abdruckgenehmigung.

Gewaltgeplagt

Die Zahl der Morde in Honduras ist eine der höchsten der Welt. 2019 gab es über 4 000 Morde – mehr als 10 pro Tag –, 71,5 Prozent davon mit Schusswaffen. Zum Vergleich: Die Schweiz verzeichnete im selben Zeitraum 207 Delikte. In Honduras sind die Opfer vor allem Männer zwischen 15 und 44 Jahren. Hauptmotiv ist die Abrechnung durch Auftragskiller. In Zentralamerika ist die hohe Zahl von Tötungsdelikten vorab auf die Organisierte  Kriminalität und rivalisierende Banden zurückzuführen, die sich gegenseitig das Territorium streitig machen, in welchem sie den Kokainschmuggel Richtung USA kontrollieren. In Honduras zwingen Gewalt und unsichere Lebensbedingungen tausende Menschen dazu, ihr Zuhause zu verlassen. Man schätzt, dass es über 250 000 intern Vertriebene gibt.

Mit friedlichen Grüssen – eine Leserzuschrift

Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spiesse zu Sicheln machen. Micha 4,3

Frieden und Selbstbestimmung – keine westliche Arroganz

Mit grosser Sorge beobachte ich, wie sich Deutschland, die EU und die USA immer weiter von den Grundsätzen des friedlichen Zusammenlebens der Völker entfernen: Am westlichen Wesen soll die Welt genesen. Diese Rechthaberei ohne Verständnis für andere Kulturen, andere Denkmuster führt zu einem missionarischen Eifer bis hin zur gewaltsamen Bekehrung. Prof. Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, verkündete kürzlich: «Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewandel in Russland.»¹ Wir? Wieso wir? Was haben wir dort zu wollen? Was für eine Arroganz – 80 Jahre nachdem Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfallen hat. Wir geraten in eine «permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus schlägt.»² wie es Frank Schirrmacher im März 2014 in der FAZ kurz vor seinem Tod beschrieb. Seine Gegenstimme fehlt; man singt heute im Chor: Gemeinsam mit ehemaligen Pazifisten blasen die einstigen «Sturmgeschütze der Demokratie» zur Treibjagd auf «Putin-Versteher», sobald jemand aus der Phalanx der Falken ausbricht.

Wenn wir einen wie Nawalny unterstützen, der für Migranten die Pistole bereithält, «wie für Mücken die Fliegenklatsche und für Kakerlaken den Pantoffel»,3,4 ist das Teil des Problems. Unsere Überheblichkeit macht uns blind. «Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der Kulturen»⁵ sagt Stéphane Hessel. Friedlich, selbstbestimmt und gemeinsam: Nur so werden wir überleben.

Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. 
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 26.

 

Morden ist modern

Je weiter der letzte Krieg aus dem Bewusstsein rückt, desto dreister der militärisch-industrielle Komplex immer neue, teurere, schnellere Waffen, Flugzeuge, Drohnen und todbringende Intelligenz fordert, desto grösser wird auch die Gefahr eines grossen Krieges. Nato-Militärausgaben, die kaufkraftbereinigt 6x (nominal 15x) so gross sind wie die Russlands, ständige Nato-Manöver an den russischen Grenzen, ob in der Arktis, im Baltikum oder im Schwarzen Meer, schaffen ein vergiftetes Klima des Misstrauens. Am 26. September 1983 um 0:15 lagen aufgrund eines falschen Raketenalarms zwischen der atomaren Vernichtung und dem Überleben hunderter Millionen von Menschen exakt 17 Minuten – und die Entscheidung einer einzigen Person, Oberst Stanislaw Petrow.⁶ Das kann wieder passieren. Ohne Respekt, ohne gegenseitiges Vertrauen wird eine unglückliche Verkettung technischer Fehler zur finalen Katastrophe führen. Morden ist modern – bis unsere Leiber modern. Wir hätten Besseres zu tun.

Jeder von uns kann ein Zeichen setzen

Wir dürfen unsere Geschichte nicht vergessen, nicht unsere Schuld, nicht das unermessliche Leid, den mit Blut getränkten Boden Europas. «Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt» sagt der Prophet Jesaja (9,4). Unsere Eltern und Grosseltern haben das in jungen Jahren selbst erlebt. Ihnen war klar: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Deshalb: Denkt nach! Diskutiert! Empört Euch!⁵ Engagiert Euch! Aus kleinem Samen wächst der Baum. Gebt die Botschaft weiter! Jeder kann ein Zeichen setzen. Meine Bitte: Alle, die mitmachen, unterschreiben in Zukunft jeden Brief, jede E-Mail nicht mit freundlichen, sondern mit friedlichen Grüssen zum Zeichen des Friedens und der Verständigung.

Mit friedlichen Grüssen 28.2.2021 Eine Initiative von Dr. Stefan Nold, Tulpenweg 9, 64291 Darmstadt

¹ Felbermayr, D. (11.02.2021) im Gespräch mit K. Peetz. www.deutschlandfunk.de
² Schirrmacher, F. (28.03.2014): Echtzeitjournalismus - Dr. Seltsam ist heute online. www.faz.net
³ Heyden, U (09.08.2019): Mit der Fliegenklatsche. www.freitag.de/autoren/ulrich-heyden/mit-der-fliegenklatsche
⁴ Nawalny, A. (19.09.2007): www.youtube.com/watch?v=oVNJiO10SWw. Übers: Thoughtcrime 24.08.2020 www.heise.net 
⁵ Hessel, S. (2011): Empört Euch! (Übers.: M. Kogon) Ullstein: Berlin. Frz. Original (2010) Indignez-vous! Indig. ed.: Montpellier. 
⁶ Petrow, S. (18.02.2013): «Der rote Knopf hat nie funktioniert.» Offizier Petrow im Gespräch mit Stefan Locke. www.faz.net

 

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