Editorial

thk. In letzter Zeit verschärft sich der Ton der USA gegenüber China zusehends. China gerät immer mehr ins Visier der USA, die sich in ihrer Weltmachtstellung bedroht fühlen. Schon 2014 veröffentlichte der US-amerikanische Politikwissenschafter John Mearsheimer im Publikationsorgan des Council on Foreign Relations, «Foreign Affairs», einen Artikel, in dem er die Aussenpolitik Obamas kritisierte, weil sie im Zusammenhang mit den Maidan-Unruhen in der Ukraine falsche Prioritäten setze. Nicht Russland sei die Gefahr, sondern China. Das Problem sei, dass die Ukrainepolitik der USA Russland in die Arme der Chinesen treibe. Genau das geschieht heute. Je mehr Russland sanktioniert wird, desto mehr sucht es Anschluss an China. Das läuft den Plänen der «einzigen Weltmacht» zuwider. 

Der Plan der USA scheint jetzt zu sein, den Schulterschluss mit den Europäern gegen Russland zu erreichen, um in der Auseinandersetzung mit China auf diesen zurückgreifen zu können. Was für Auswirkungen die Entwicklung auf Europa haben wird, sei einmal dahingestellt. China ist für die Europäer der wichtigste Handelspartner. Auch hat sich China mit seinem Friedensplan im Ukrainekrieg positiv ins Spiel gebracht.

Interessant ist, dass die USA bei der Lieferung von schwerem militärischem Gerät für die Ukraine sehr zurückhaltend sind, während sie Deutschland genötigt haben, Leopard-Panzer an die Ukraine zu liefern. Abrams-Panzer, die die Ukraine von den USA bekommen soll, müssen erst noch gebaut werden und können frühstens in einem Jahr geliefert werden.

Das Ganze erinnert an ein grosses Schachbrett, auf dem die einzelnen Staaten nach den strategischen Zielen der USA wie Figuren hin und her geschoben werden.

Harald Kujat, ehemaliger höchster General der Bundeswehr, schaut im folgenden Interview über den Ukrainekonflikt hinaus und öffnet die Perspektive, was in Zukunft auf uns zukommen könnte, wenn wir nicht wachsam sind.

Was macht Olaf Scholz in Wa­shington? Holt er sich Direktiven von Biden für den nächsten Konflikt, so wie es geschehen war, bevor Russland die Ukraine angriff und Scholz auf die Zerstörung von Nord-Stream 2 vorbereitet wurde? Welche Rolle spielt Europa auf diesem Schachbrett? Wie hätte man den aktuellen Krieg verhindern können? Welchen Zusammenhang das alles hat und was die Zukunft bringen könnte, ist auch Thema des Interviews. Er hat bereits an mehreren Orten, auch in dieser Zeitung, die Situation im Krieg zwischen Russland und der Ukraine analysiert. Doch der Krieg in der Ukraine hat, wie er erklärt, eine viel grössere und dadurch nicht weniger beunruhigende Dimension. Warum es bei diesem Krieg, wie Experten schon seit Beginn der Auseinandersetzung erklärten, nicht um die Verteidigung «unserer Werte» oder der «Freiheit der Ukraine» geht, sondern im gewissen Sinne die Ukraine nur ein Mittel zum Zweck ist, wird in diesem Interview deutlich.

«Vorausschauende Politik müsste eine neue europäische Friedens- und  Sicherheitsordnung planen»

«Sowohl die Ukraine als auch Russland müssen darin ihren Platz haben»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Es ist wieder Krieg in Europa. Wie in den beiden grossen Kriegen des letzten Jahrhunderts spielen die Vereinigten Staaten eine zentrale Rolle, was die Zukunft unseres Kontinents betrifft. Auch China hat sich mit einem Positionspapier zu Wort gemeldet und ruft zu einem Waffenstillstand auf. Welche geopolitische Dimension hat der Ukrainekrieg?

General a.D. Harald Kujat Das 21. Jahrhundert ist geprägt vom Aufstieg Chinas als wirtschaftliche und militärische Weltmacht und von der Rivalität der grossen Mächte, der Vereinigten Staaten, Russlands und Chinas. Nur China und nicht Russland ist in der Lage, die Vereinigten Staaten als führende Weltmacht abzulösen. 

Deshalb verfolgen die Vereinigten Staaten im Ukrainekrieg das Ziel, Russland, den zweiten geopolitischen Rivalen, politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren können. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein enger Schulterschluss mit Europa erforderlich. Mit der gleichen Geschlossenheit wie gegen Russland sollen die Europäischen Staaten möglichst auch in den Konflikt mit China eingebunden werden – und gemeinsam mit den regionalen Verbündeten Australien, Japan und Südkorea ein indo-pazifisches Netzwerk von Partnern und Alliierten bilden. 

Die Staats- und Regierungschefs der Nordatlantischen Allianz erklären daher im neuen strategischen Konzept vom 29. Juni 2022, China stelle die Interessen, die Sicherheit und die Werte der Mitgliedstaaten in Frage. Sie wollen die «systemischen Herausforderungen» Chinas für die euro-atlantische Sicherheit angehen und die dauerhafte Fähigkeit der Nato sicherstellen, die Verteidigung und Sicherheit der Verbündeten zu gewährleisten. 

Darüber hinaus fördert der Ukrainekrieg die Bildung konkurrierender geopolitischer Blöcke. Während die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und die Nato näher zusammenrücken, ist um China und Russland bereits ein zweiter geopolitischer Block entstanden. Dessen Kern bilden die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sowie die Schanghai Kooperations-Gruppe mit China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russ­land, Tadschikistan und Usbekistan. Die BRICS-Staaten repräsentieren zurzeit 40 Prozent, die westlichen G7-Staaten einschliesslich Japan nur etwa 12,5 Prozent der Weltbevölkerung. Ihr Bruttoinlandprodukt ist grösser als das der G7-Staaten.

Welchen Stellenwert hat Europa in dieser geopolitischen Konstellation?

In der Energieversorgung bisher abhängig von Russland, in der Sicherheit von den Vereinigten Staaten, wirtschaftlich und technologisch – insbesondere in der Digitalisierung – sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von China, durch die Sanktionen gegen Russland wirtschaftlich und machtpolitisch gravierend geschwächt, durch innere Widersprüche und zentrifugale Kräfte mit selbstgemachten Herausforderungen ringend, ist Europa in der Machtarithmetik der Grossmächte immer weiter ins Hintertreffen geraten. 

Als Trump 2019 den für Europas Sicherheit so wichtigen INF-Vertrag über eurostrategische Nuklearwaffen kündigte, hat dies nur Präsident Macron wegen der daraus entstehenden Risiken für Europa kritisiert. Er sagte, Europa müsse sich selbst verteidigen können, wörtlich: «mit Blick auf China, auf Russland und sogar auf die USA.» Macron fügte hinzu, die amerikanische Entscheidung sollte Anlass sein, über eine eigenständige europäische nukleare Abschreckung nachzudenken. Macron interpretiert die Kündigung des INF-Vertrages offensichtlich so, dass die kontinentalamerikanischen Nuklearwaffen für die Sicherheit Europas aufgrund der nuklearen Zweitschlagskapazität Russlands nicht zur Verfügung stehen und Russ­land durch die Vertragskündigung keinen Beschränkungen für den Aufbau einer eurostrategischen Nuklearkomponente mehr unterliegt. Zudem wachsen die Zweifel, ob die Vereinigten Staaten bereit und in der Lage sind, ihre Beistandsverpflichtungen im Falle einer konventionellen Ausweitung des Ukrainekrieges auf Nato-Europa zu erfüllen. Der amerikanische Strategieexperte Harlan Ullman, in den 1990er Jahren Autor der Doktrin von «Shock and Awe», hat deshalb bereits besorgt gefragt: «Haben die USA einen vermeidbaren Fehler begangen, indem sie eine strategische militärische Zwei-Fronten-Konfrontation gegen China und Russland eröffnet haben?» Er bezeichnet die amerikanische Zwei-Fronten-Strategie als «tickende Zeitbombe».

Der Ukrainekrieg hat Europa an eine Wegscheide geführt. In diesem Krieg geht es nicht nur um die Sicherheit und die territoriale Integrität der Ukraine, sondern auch um eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung, in der alle Staaten des europäischen Kontinents einschliesslich Russlands ihren Platz haben. Immer stärker zeichnen sich aber auch die dramatischen weltwirtschaftlichen Konsequenzen dieses Krieges für den Industrie- und Wirtschaftsstandort Europa ab.

Die Europäische Union hat sich den Vereinigten Staaten angeschlossen und im Wirtschaftskrieg mit Russland fortgesetzt umfangreiche Sanktionen erlassen. Obwohl diese mit dem Ziel begonnen wurden, Russland zur Beendigung des Angriffs auf die Ukraine zu zwingen, und von der naiven Voraussetzung ausgingen, dass die Sanktionen sich weder auf die Energiepreise auswirken noch Nachteile für die europäischen Staaten entstehen würden, trat das Gegenteil ein. Zugleich investiert die Europäische Union viele Milliarden Euro in die politische und wirtschaftliche Durchhaltefähigkeit der Ukraine, die durch die Verlängerung des Krieges immer weiter zerstört wird. Schon heute werden die Wiederaufbaukosten auf 750 Milliarden Euro geschätzt. Wieviel es bei Kriegsende sein werden, weiss niemand. 

Deutschland beklagt in besonderem Masse, dass Europa nicht mehr das sei, was es hätte sein sollen. Womit hängt das zusammen?

Dazu muss man wissen, dass Deutschland nach dem Zweiten  Weltkrieg sehr viel in das Entstehen einer sicheren und stabilen Nachkriegsordnung investiert, aber dafür durch die Wiedervereinigung auch viel erhalten hat. Deutschland hat sehr früh die Aussöhnung mit Frankreich und Polen gesucht und mit Willy Brandts Ostpolitik noch während des Kalten Krieges durch die Annäherung an die osteuropäischen Staaten zur Entspannung und zu einer Stabilisierung der internationalen Lage beigetragen. Ein wesentlicher Beitrag war die Bereitschaft, endgültig auf die verlorengegangenen deutschen Gebiete zu verzichten. Diese Politik war auch deshalb erfolgreich, weil sie im Rahmen der Nordatlantischen Allianz und seit 1967 durch das Konzept «Sicherheit und Entspannung», und den Schutz der Vereinigten Staaten abgesichert wurde. 

Wie war die deutsche Politik nach der Wiedervereinigung?

Nach dem Ende des Kalten Krieges blieb die enge Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland erhalten, obwohl die Ziele in der europäischen Sicherheitspolitik nicht immer deckungsgleich waren.

Deutschland führte in gewisser Weise die bisherige Entspannungspolitik gegenüber Russland fort, auch in Anbetracht des russischen Entgegenkommens in der Frage der Wiedervereinigung. Zugleich setzte sich die Bundesregierung wie kein anderes Nato-Mitgliedsland für die Integration der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten in die Nato ein. Das hatte vor allem kulturelle und historische Gründe, aber es war auch das Ziel, eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu schaffen, die Bestand hat. Zugleich wurde die Annäherung Russlands an die Nato in der Überzeugung gefördert, dass Russland in gemeinsam anerkannte Regeln eingebunden sein sollte.

Wurde das von den USA nicht gedeckt?

1989 hatte Präsident Bush sen. in seiner programmatischen Mainzer Rede der Sowjetunion noch die Respektierung ihrer legitimen Sicherheitsinteressen zugesichert. Aber bereits 1997 schrieb Zbigniew Brzeziński in seinem Buch «The Grand Chessboard», die Vereinigten Staaten müssten als «einzige wirkliche Weltmacht» ihre Vorherrschaft auf dem «grossen Schachbrett» Eurasien für eine neue Weltordnung sichern. Deutschland ist auf dem geo- und machtpolitischen Schachbrett der Vereinigten Staaten eine wichtige Figur, sowohl im Hinblick auf Deutschlands Einfluss in Europa als auch auf das deutsche Verhältnis zu Russland. Der Angriff Russ­lands auf die Ukraine hat lange bestehende amerikanische Vorbehalte gegen eine Verbindung von deutschem Kapital und deutschen Technologien mit russischen Rohstoffen und russischem Produktionspotential offengelegt. 

Was heisst das für Deutschland?

Deutschland hat grosse wirtschaftliche Nachteile in Kauf genommen, um die amerikanischen Bedenken gegenüber den deutsch-russischen Beziehungen auszuräumen. Die Bundesregierung hat die Energieversorgung aus Russland gekappt und unterstützt die Ukraine in einem erheblichen Umfang – durch finanzielle Zuwendungen, durch Lieferung von Waffen und militärische Ausrüstung sowie durch Sanktionen gegen Russland. Die grosszügige Aufnahme von Flüchtlingen ist ein Zeichen der Empathie mit dem ukrainischen Volk. Als Folge werden den deutschen Bürgern zunehmend finanzielle und wirtschaftliche Lasten sowie Einschränkungen in vielen Lebensbereichen auferlegt.

Ob das solidarische Verhalten der Bundesregierung amerikanische Befürchtungen in Bezug auf den Ukrainekrieg beseitigt hat, wissen wir nicht – jedenfalls gibt es dafür keine Anzeichen. Auch im Konflikt mit China ist die deutsche Haltung als G7- und Nato-Mitgliedstaat für die Vereinigten Staaten von grosser Bedeutung. Die Vereinigten Staaten verfügen angeblich über «Geheimdienstinformationen», dass China bereit sei, Waffen an Russland zu liefern. Kommt es deshalb zu Sanktionen gegen China, wird die Bundesregierung gezwungen sein, gegen Deutschlands wichtigsten Handelspartner vorzugehen und der deutschen Wirtschaft weiteren Schaden zuzufügen.

Deutschland engagiert sich in besonderer Weise im Ukrainekrieg politisch, finanziell und durch Waffenlieferungen an der Seite der Ukraine. Welche politischen Motive sind der Grund dafür?

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Bruch, der, wie es heisst, «regelbasierten internationalen Ordnung». Gemeint ist das System aus internationalen Verträgen und Rechtsnormen für das friedliche Zusammenleben der Völker, insbesondere auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen. Nun hat es in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts viele internationale Konflikte und Kriege gegeben, und auch gegenwärtig wird in vielen Teilen der Welt brutal gegen diese Ordnung verstossen. Auch die Vereinigten Staaten haben sich nicht daran gehalten. Hinzu kommt, dass die Versuche gescheitert sind, eine stabile Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa zu schaffen, beispielsweise durch die Charta von Paris. Zudem hat dieser Krieg durch seine politischen, wirtschaftlichen und militärischen Auswirkungen einen besonderen Stellenwert. Denn die Ursachen seines Entstehens werden am Ende des Krieges nicht beseitigt sein – wie er auch immer ausgehen mag und wann er beendet wird. Vorausschauende Politik müsste daher bereits jetzt eine neue europäische Friedens- und Sicherheitsordnung planen, in der sowohl die Ukraine als auch Russ­land ihren Platz haben. Wünschenswert wäre, dass Deutschland, Frankreich und Polen dabei vorangehen.

Sehen Sie schon irgendwelche Anzeichen in diese Richtung?

Nein, leider geschieht das nicht. Wie die Diskussion um die Lieferung moderner Kampfpanzer zeigt, ist die Bundesregierung vielmehr erheblichem amerikanischen Druck ausgesetzt, an dem sich auch einige europäische Verbündete beteiligen. Die erkennbare Zurückhaltung der amerikanischen Regierung nach der deutschen Entscheidung, eigene moderne Kampfpanzer zu liefern, lässt vermuten, dass sich Deutschland durch Waffenlieferungen an die Ukraine in besonderer Weise gegenüber Russland exponieren soll. Deshalb ist das Fehlen einer Strategie für Waffenlieferungen, die auf einer rationalen militärischen Zweck-Mittel-Relation basiert und realistische Ziele im Einklang mit unseren nationalen Sicherheitsinteressen definiert, höchst riskant. Eine rationale Gesamtstrategie müsste Antworten auf folgende Fragen geben: 

Welche militärischen und politischen Ziele der Ukraine ist die Bundesregierung gewillt zu unterstützen?

Erfolgt diese Unterstützung nur, soweit die ukrainischen Ziele mit den deutschen Sicherheitsinteressen vereinbar sind oder auch dann, wenn dadurch Gefahren für Deutschlands Sicherheit ausgelöst werden?

In welchem Ausmass ist die Bundesregierung bereit, durch Sanktionen verursachte langfristige und möglicherweise irreversible Schäden der deutschen Volkswirtschaft zu akzeptieren?

Russland hat die Ausdehnung der Nato nach Osten als Gefährdung seiner Sicherheit bezeichnet und vor dem Krieg von den Vereinigten Staaten und der Nato Sicherheitsgarantien gefordert. Welche Berechtigung haben diese Forderungen?

Die Weichen für neue Mitglieder wurden auf dem Nato-Gipfel 1997 in Madrid gestellt. Es zeigte sich bereits in den ersten Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien und Ungarn, dass Russland aus geostrategischen Gründen Vorbehalte gegen einige Beitrittskandidaten hatte. Andererseits suchte Russland selbst die Nähe zur Nato, ohne allerdings eine Mitgliedschaft anzustreben. Die russische Regierung befürchtete, es könnte zu Spannungen oder sogar Konflikten mit der Nato wegen der zwischen ihnen gelegenen ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes kommen. Um dies zu verhindern, sollten gemeinsame Regelungen und Entscheidungsmechanismen vereinbart werden, die dies verhindern. Deshalb verlangte Russland in den Verhandlungen zum Grundlagenvertrag ein Mitentscheidungsrecht in Fragen, die seine Sicherheitsinteressen berühren. Es wurde eine Formel gefunden, die dies berücksichtigt, ohne ein Mitentscheidungsrecht, wie es nur den Mitgliedstaaten zusteht, einzuräumen. Russland engagierte sich sowohl im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat als auch im Nato-Russland-Rat. Auf dieser Grundlage entstand eine Phase enger sicherheitspolitischer Abstimmung und militärischer Zusammenarbeit. Die grundsätzlichen Bedenken Russlands gegen die Nato-Erweiterung wurden dadurch jedoch nicht ausgeräumt. Das zeigte sich 2008, als der damalige amerikanische Präsident Bush auf dem Nato-Gipfel in Bukarest versuchte, eine Einladung für Georgien und die Ukraine zum Nato-Beitritt durchzusetzen. Als er damit scheiterte, wurde – wie in solchen Fällen üblich – zur Gesichtswahrung eine grundsätzliche Beitrittsperspektive ausgesprochen. Aus russischer Sicht war damit jedoch eine rote Linie überschritten. Der heutige CIA-Direktor, William Burns, damals US-Botschafter in Moskau, hatte die amerikanische Regierung gewarnt: «…man kann die strategischen Konsequenzen nicht hoch genug einschätzen – es wird einen fruchtbaren Boden für eine russische Intervention auf der Krim und im Osten der Ukraine schaffen […]. Es besteht kein Zweifel, dass Putin scharf zurückschlagen wird.» 

Hatte Russland berechtigte Zweifel aufgrund der US-Politik?

Weitere Wendepunkte im Verhältnis der beiden Grossmächte haben sicherlich russische Befürchtungen bestätigt; Entscheidungen der Vereinigten Staaten, die Russ­land als Versuch interpretierte, das strategische Gleichgewicht zu seinen Ungunsten zu verändern. Dazu gehört beispielsweise die Kündigung des ABM-Vertrages, des INF-Vertrages sowie das Ausscheiden aus dem Vertrag über den offenen Himmel. Auch die Dislozierung amerikanischer Systeme im Nato-Ballistic Missile Defence System in Polen und Rumänien hat Besorgnisse ausgelöst, dass von ihnen Marschflugkörper gestartet werden können, die Silos russischer Interkontinentalraketen erreichen und Russlands Zweitschlagsfähigkeit ausschalten. 

Welche Bedeutung hat das Minsk II-Abkommen im ukrainisch-russischen Verhältnis? Haben nicht Merkel und Hollande zugegeben, sie hätten den Vertrag nie umsetzen wollen?

Ein wesentliches Element des Abkommens ist die von der ukrainischen Regierung eingegangene Verpflichtung, bis Ende 2015 der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas durch eine Verfassungsänderung mehr Minderheitenrechte in der Form einer Autonomie einzuräumen. Die Ukraine hat sich nicht daran gehalten, was Russland als einen weiteren Anlass für seinen Angriff nahm. Frau Merkel und der ehemalige französische Präsident Hollande haben öffentlich bestätigt, es sei nie die Absicht gewesen, dass die Ukraine den Vertrag einhalte. Die Ukraine hat dadurch Zeit für ihre militärische Aufrüstung erhalten. Übrigens wurde Minsk II durch eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats völkerrechtlich verbindlich. In einer Zusatzerklärung haben sich die Vertragsstaaten ausdrücklich verpflichtet, die Resolution umzusetzen. Dass dies nicht geschah, ist ein Verstoss gegen die  «regelbasierte internationale Ordnung», der besonders schwer wiegt, weil er sich gegen eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats richtet.

Es gibt auch in den Vereinigten Staaten nicht wenige, die überzeugt sind, der Krieg hätte verhindert werden können, wäre ernsthaft über diese beiden Aspekte gesprochen worden: Keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine und grössere Autonomie für die russischsprachige Bevölkerung innerhalb des ukrainischen Staatsverbandes.

Bei diesem Krieg fühlt man sich an den Ausdruck vom «Nebel des Krieges» erinnert, der verhindert, die Realität zu sehen, insbesondere die mit dem Krieg verbundenen Risiken.

Das ist auch mein Eindruck. Die Staaten, die man allgemein als den Westen bezeichnet, also in erster Linie die Nato-Mitgliedstaaten, stehen weitgehend geschlossen auf der Seite der angegriffenen Ukraine. Und zwar in allen drei Dimensionen des Krieges: In der militärischen Auseinandersetzung durch die Lieferung von Waffen und Ausrüstung sowie die Ausbildung ukrainischer Soldaten, im Wirtschaftskrieg durch Sanktionen gegen Russland und finanzielle Zuwendungen an die Ukraine, im Informationskrieg durch eine überwiegend einseitige Berichterstattung und zum Teil auch durch gezielte Desinformation. Mit zunehmender Dauer des Krieges wird die Abgrenzung zwischen völkerrechtskonformer Unterstützung im Einklang mit Artikel 51 der Uno-Charta, der indirekten Beteiligung an Kriegshandlungen und direkter Beteiligung immer schwieriger. Insbesondere dann, wenn ein Staat Aufklärungs- und Zielinformationen bereitstellt, die unmittelbar operativen Zwecken dienen und entscheidend zur Durchsetzung strategischer Ziele beitragen. Dadurch wächst die Gefahr, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Krieg um die Ukraine wird und die Risiken für den gesamten europäischen Kontinent immer weniger beherrschbar werden.

Wie schätzen Sie die Risiken ein?

Der Ausgangspunkt eines Krieges ist eine bestimmte politische Konstellation, er hat politische Ursachen. Der Krieg führt zu einer neuen politischen Lage, die, wenn sie Bestand haben soll, politisch vereinbart sein muss. Deshalb forderte Clausewitz, dass die Politik in einem Krieg die Oberhand behalten und trotz der Kampfhandlungen fortgesetzt werden muss. Daraus folgt ein dualer Ansatz aus gesicherter Verteidigungsfähigkeit und gleichzeitigem Bemühen um einen Verhandlungsfrieden. Sind Politik und Diplomatie, wie es offensichtlich seit Monaten der Fall ist, suspendiert, dann ist der Krieg, wie es Clausewitz definiert, nur noch «ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum Äussersten führt.» Und genau diese Entwicklung sehen wir jetzt. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Was ist das Äusserste, auf das wir zusteuern?

Das eine ist ein möglicherweise jahrelanger Abnutzungskrieg, der durch anhaltende Waffen- und Munitionslieferungen ohne eine realistische Strategie zur Beendigung des Krieges genährt wird. Ein weiteres Risiko ist die Ausweitung der Kampfhandlungen auf andere Staaten mit der Folge einer direkten Konfrontation zwischen Russ­land und der Nato. Und nicht zuletzt ist auch das Risiko einer nuklearen Eskalation nicht auszuschliessen. 

Halten Sie das Risiko einer nuklearen Eskalation für real?

Risiken, deren Eintrittswahrscheinlichkeit gering, aber die Folgen unkalkulierbar gross und möglicherweise nicht beherrschbar sind, verdienen noch grössere Aufmerksamkeit als Risiken, deren Eintrittswahrscheinlichkeit hoch, aber die Folgen weniger gravierend und beherrschbar sind. Für die Ukraine hat der Krieg eine existenzielle Dimension, für Russland könnte er ähnliche Auswirkungen haben, falls die Ukraine weitreichende Waffensysteme erhält, deren Einsatz eine existenzielle Bedrohung Russlands bedeutet. Das gilt auch für entsprechende Angriffe auf die Krim.

Das Argument, man dürfe sich durch Drohungen Russlands nicht beeindrucken lassen, halte ich ebenso für unverantwortlich wie die Behauptung, der Einsatz «taktischer» oder nuklearer «Gefechtsfeldwaffen» sei beherrschbar. Jeder Ersteinsatz einer Nuklearwaffe verändert die Natur des Krieges fundamental. 

Warum spricht man von taktischen Atomwaffen?

In erster Linie, um das Risiko einer nuklearen Eskalation zu relativieren. Als taktische Waffensysteme werden die Trägermittel entsprechend ihrer Reichweite bezeichnet. Der nukleare Gefechtskopf kann das Zehnfache der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe erreichen. Auch bei einem nuklearen Ersteinsatz wird primär eine politische Wirkung, möglichst verbunden mit einem entscheidenden Schlag gegen das militärische Potential des Gegners angestrebt. Ein auf das Gefechtsfeld und gegen einzelne Verbände des Gegners beschränkter Nukleareinsatz ist wenig wahrscheinlich, weil die Wirkung in keinem Verhältnis zu den Risiken der damit ausgelösten nuklearen Eskalation stehen.

Es wird immer wieder gesagt, die Ukraine muss siegen bzw. den Krieg gewinnen. Ist das eine realistische Option? 

Einen Krieg gewinnt man, wenn man gegenüber dem Gegner die politischen Ziele durchsetzt, deretwegen man den Krieg führt. Diesen Krieg gewinnt niemand, weder Russland noch die Vereinigten Staaten und schon gar nicht die Ukraine. Russland kann seine politischen Kriegsziele trotz seiner bisherigen militärischen Erfolge nicht erreichen. Allein der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands ist ein schwerer Rückschlag. Den Vereinigten Staaten wird es ebenso wenig gelingen, Russland als geopolitischen Rivalen auszuschalten. Man muss sich zudem darüber im Klaren sein, dass die Ukraine der grössten Nuklearmacht keine militärische Niederlage zufügen kann. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die ukrainischen Streitkräfte trotz des anhaltenden Stroms westlicher Waffen und Munition einen militärischen Erfolg Russ­lands nicht verhindern können, zumindest soweit dieser darin bestehen sollte, die bisherigen Eroberungen zu konsolidieren. Nur ein massives militärisches Engagement der gesamten Nato könnte die russischen Streitkräfte an den Rand einer konventionellen Niederlage bringen. In einer derartigen Situation würde sich für die russische Führung die Frage eines nuklearen Ersteinsatzes stellen, um eine existenzielle Krise abzuwenden.

Die Vereinigten Staaten sind sich bewusst, dass China eine derartige Entwicklung nicht zulassen und zur Entlastung Russlands, um einen Nuklearkrieg zu verhindern, und nicht zuletzt zur Durchsetzung eigener Interessen gegenüber Taiwan handeln würde. Aber die Vereinigten Staaten sind sich auch darüber im Klaren, dass sie nicht in der Lage wären, einen Zweifrontenkrieg zu führen. 

Sie haben immer wieder China erwähnt. Wie stark ist China wirklich?

Nuklearstrategisch hat China zu den beiden nuklearen Supermächten USA und Russland aufgeschlossen. Auch die massive Aufrüstung der konventionellen Streitkräfte schreitet voran. China ist heute schon die zweitstärkste Militärmacht. Bis 2035 soll das chinesische Militär vollständig modernisiert und bis 2049 Weltstandard erreichen. Gemeint ist damit, China wird mit den USA gleichziehen und in wichtigen Teilbereichen überlegen sein. Wirtschaftlich hat China den zweiten Platz nach den USA eingenommen und wird in wenigen Jahren die Nr. 1 sein. Deshalb bezeichnet der amerikanische Verteidigungsminister Austin China in der neuen amerikanischen Militärstrategie explizit als «wichtigsten strategischen Konkurrenten für die kommenden Jahrzehnte». Admiral Charles Richard, der ehemalige Befehlshaber des US-Strategic Command, sagte 2022 sogar: «Diese Ukrainekrise, in der wir uns gerade befinden, ist nur das Aufwärmen. Die grosse Krise kommt noch. Wir werden auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben […]. Wenn ich den Grad unserer Abschreckung gegenüber China einschätze, dann sinkt unser Schiff langsam, aber es sinkt.»

Wo steht hier Europa?

Nicht nur die amerikanische Regierung, auch die Europäer haben offensichtlich die geostrategische Dynamik ihres Ukraine-Engagements unterschätzt. Der Ukrainekrieg ist ein Menetekel für Europa, entschlossen den Weg zu geopolitischer Selbstbehauptung einzuschlagen, politisch, wirtschaftlich, technologisch und nicht zuletzt militärisch.

Präsident Biden sagt, der Krieg wird mit Verhandlungen beendet werden. Gibt es denn eine Strategie, die zu diesen Verhandlungen hinführt? 

Präsident Biden hat schon im Mai letzten Jahres in einem Namensartikel in der «New York Times» erklärt, der Krieg «wird nur endgültig durch die Diplomatie enden». Zu möglichen Gebietsverlusten äusserte er sich diplomatisch: «Ich werde die ukrainische Regierung nicht unter Druck setzen, irgendwelche territorialen Konzessionen zu machen.» Ende Februar wies die «New York Times» noch einmal darauf hin, dass Moskau und Kiew sehr früh nach Kriegsbeginn direkt verhandelt hätten, zuerst in Weissrussland und dann in der Türkei. Dabei ging es um eine Vereinbarung, nach der Russland seine Truppen auf den Stand vor Beginn des Krieges zurückziehen und die Ukraine im Gegenzug auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten würde.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen haben beide Seiten allerdings die Voraussetzungen für einen Neubeginn so hoch gesetzt, dass es schwierig sein wird, Verhandlungen wieder aufzunehmen. Gleichwohl hat Putin jedoch noch Ende Dezember erklärt: «Wir sind zu Verhandlungen mit jedem bereit, über akzeptable Lösungen zu verhandeln, der involviert ist.» Und die Vereinigten Staaten haben Selenskij gedrängt, sich im Hinblick auf Verhandlungen etwas diplomatischer zu äussern.

Was wollen die Vereinigten Staaten wirklich erreichen?

Die Vereinigten Staaten wollen die Ukraine unterstützen so lange dies notwendig ist, mit dem Ziel, ihre Ausgangslage für Friedensverhandlungen zu stärken, aber ohne dafür zeitliche Vorgaben zu machen. Die Bundesregierung vertritt eine ähnliche Position. Die Resolution der Uno-Generalversammlung und das Positionspapier der chinesischen Regierung vom Februar 2023 geben einen Eindruck davon, dass der internationale Druck auf ein Ende des Krieges zunimmt. In beiden Dokumenten werden diplomatische Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden gefordert, wobei allerdings China ausdrücklich die Wiederaufnahme der Verhandlungen anmahnt.

Und welche Rolle könnte Deutschland spielen?

Die Auffassung, man müsse die Entscheidung, ob und wann über ein Ende des Krieges verhandelt wird, der ukrainischen Regierung überlassen, ignoriert die Tatsache, dass dieser Krieg schon heute europäische, zum Teil weltweite Auswirkungen hat und dass ganz Europa vom Risiko seiner Ausweitung zu einem Russland-Nato-Krieg und möglicherweise sogar einer nuklearen Eskalation bedroht ist.

Die Bundesregierung hat bereits am 2. März 2022 eine von der Ukraine verfasste Uno-Resolution unterzeichnet, in der es unter anderem heisst: «Die Generalversammlung fordert nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel.» 

Im Februar wurde eine weitere Resolution von der Uno-Generalversammlung verabschiedet, in der der russische Angriff auf die Ukraine verurteilt und der bedingungslose Rückzug der russischen Streitkräfte gefordert wird. Darin werden die Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen aber auch aufgefordert, «ihre Unterstützung diplomatischer Anstrengungen zu verdoppeln, um einen umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine zu erreichen». 

Deutschland ist durch das Friedensgebot der Verfassung im besonderen Masse verpflichtet, sich für ein Ende der Kampfhandlungen einzusetzen. Nur den Krieg mit politischen Mitteln zu begrenzen und auf kürzestem diplomatischem Wege zu beenden, entspricht einer vernünftigen Aussen- und Sicherheitspolitik und dient den Interessen der Ukraine ebenso wie unseren. Deshalb sollte der Bundeskanzler gemeinsam mit Präsident Macron bei Präsident Biden für eine Strategie zur Beendigung des Krieges werben. Der Bundeskanzler betont seine enge Beziehung zu Präsident Biden, verfügt also über die besten Voraussetzungen. Präsident Macron könnte sich bei seinem Besuch in China für die Unterstützung durch Xi Jinping bei Putin einsetzen.

Es bleibt zu hoffen, dass es bald gelingt, den Krieg einzuhegen und eine Ausweitung auf ganz Europa zu verhindern. Historiker haben sich immer wieder die Frage gestellt, wie es geschehen konnte, dass die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhundert, taumelten. Hoffentlich müssen sich die Historiker in der Zukunft nicht fragen, wie der Ukrainekrieg zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden konnte.

Herr General Kujat, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war u. a.  Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, u.a. aus Malta, Ungarn und der Nato.

 

«Keine Eskalation, keine Waffenlieferung – dafür Verhandlungen»

«Der Druck auf Menschen, die sich kritisch zum Krieg äussern, wird immer grösser»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Ende Februar gab es in Wien ein OSZE-Treffen. Die Medien berichteten sozusagen nichts. Sie waren dort. Was haben Sie beobachtet?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Vom 21. bis 24. Februar fand die OSZE-Wintertagung in Wien statt. Zum ersten Mal seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine kam es zu einem Aufeinandertreffen der russischen und belarussischen Abgeordneten mit Parlamentariern der übrigen OSZE-Länder in der parlamentarischen Versammlung.

Es ist schon auffällig, dass die Medien sich über solch ein bedeutsames Zusammentreffen auf der letzten europäischen Dialogplattform so intensiv ausschweigen. Auch wenn von dieser Konferenz keine Impulse für Friedensverhandlungen zu erwarten waren, so ist doch im Fall von Verhandlungen die OSZE eine wichtige Adresse.

Es gab seit der militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine andere Treffen der Parlamentarischen Versammlung. Warum war dort Russland nicht dabei?

Der Grund war der, dass die Visa in den vorangegangenen Sitzungen in Birmingham und in Warschau von Grossbritannien und Polen statutenwidrig verweigert wurden. Diesmal hat Österreich die Visa für die russischen und belarussischen Parlamentarier erteilt. Einerseits weil Österreich der neutrale Ausrichterstaat war und sich der Sitz der OSZE in Wien befindet, was auch völkerrechtlich zur Einladung aller verpflichtet. Andererseits weil der österreichische Aussenminister gesagt hatte, dass diese Dialogplattform erhalten bleiben muss. Das ist eine Aussage, die ich teile.

Gab es darauf Reaktionen von anderen Staaten?

Die litauische Delegation hat ihre Teilnahme abgesagt. Die ukrainischen Abgeordneten waren zwar in Wien, haben aber das Gebäude der Parlamentarischen Versammlung nicht betreten und multilaterale Gespräche im Hintergrund geführt.

Wie liefen die Diskussionen in der Parlamentarischen Versammlung ab?

Bei der Sitzung selbst war es so, dass die Wortbeiträge der russischen und belarussischen Delegationen an das Ende der Tagung gelegt wurden. Die Hälfte der Anwesenden verliess den Saal, als sie das Wort ergriffen. Von den Verbliebenen stand nochmals etwa die Hälfte auf und hielt Ukrainefahnen in die Höhe. Etliche andere wie auch ich beteiligten sich nicht dran, aber die Fahnen waren das dominierende Bild.

Was wurde während der drei Tage diskutiert?

Ein echter Dialog kam so nicht zustande. Die Debatten waren geprägt von eskalierender Rhetorik. Die britischen Abgeordneten beendeten ihre Beiträge meist mit «Weapons, Weapons, Weapons». Es gab aber auch Stimmen, die eine andere Ausrichtung hatten. Ich wies in meinem Beitrag auf die historische Rolle der OSZE hin, auf die Entstehungsgeschichte während des Kalten Kriegs und dass diese Plattform aufrechterhalten werden muss. Man muss mehr machen, als in immer schärferen Worten den Krieg zu verurteilen. Es gibt auch eine Pflicht, im Sinne einer Friedenslösung zu diskutieren und sich dazu Überlegungen zu machen. Das war der Kern meiner Aussage.

Sie haben erwähnt, dass nicht alle Abgeordneten ins gleiche Horn geblasen haben wie die Briten. Wo gab es denn noch vernünftige Stimmen, die den Dialog und eine Beendigung des Krieges ins Zentrum gestellt haben? 

Das gab es schon, aber es war eine Minderheit, z. B. ein Abgeordneter aus Belgien, eine aus Zypern, tendenziell eher aus Südeuropa. Die Hegemonie in den eskalierenden Reden lag aber ganz klar bei den britischen und US-amerikanischen Abgeordneten.

Waren noch andere Abgeordnete aus Deutschland dabei?

Ja, es waren sehr viele Deutsche dort. Und die Reden, die ich gehört hatte, lagen so in der Mitte. Also nicht auf der Seite des eskalierenden Teils, aber sie gingen auch nicht auf die Verpflichtung zur diplomatischen Lösung ein, so wie z. B. meine Rede.

Wie haben die russischen Abgeordneten darauf reagiert?

Sie fingen an mit einem Geschäftsordnungsantrag, mit dem sie gegen Beleidigungen von Russland protestierten. Ansonsten unterschieden sich die russischen und belarussischen Abgeordneten von der Aussage her nicht gross. Sie vertraten die bekannte Argumentation vom Nazismus in der Ukraine. Darauf bezogen kritisierten sie scharf den Ruf «slava ukraini», der sicher von der Hälfte der Abgeordneten am Ende ihrer jeweiligen Stellungnahme gerufen wurde. Dieser Gruss wurde früher vor allem von Bandera, dem Nazi-Kollaborateur, verwendet. Ihre Beiträge beliefen sich auf die Inhalte, die man von offizieller russischer Seite her schon kannte

Was ist über das Ganze gesehen die Quintessenz? Hat es etwas gebracht?

Man kann sicher sagen, dass man abermals eine Chance verpasst hat, irgendeinen Schritt in Richtung eines Waffenstillstands oder einer Beendigung des Krieges durch Diplomatie voranzukommen. Es war erneut eine sehr ernüchternde Versammlung gewesen. Gleichwohl halte ich es für wichtig, weiterhin das Format in der OSZE aufrechtzuerhalten, weil es kein solches mehr gibt, bei dem Abgeordnete zumindest noch einen Dialog abhalten. So ist leider die Realität.

Gab es gegen die Teilnahme Russ­lands auch ausserhalb der OSZE Reaktionen?

Ja, das gab es. Kleine Versammlungen etwa von Bürgern aus der Friedensbewegung, die aber nicht gegen die Teilnahme Russlands demonstrierten, sondern sich für mehr Diplomatie einsetzten und vor allem den Erhalt der Neutralität Österreichs betonten.

Verlassen wir die OSZE. In Deutschland gab es etwas Bewegung. Es gab zwei Demonstrationen in Berlin. Was hatten diese für einen Hintergrund?

Es gab in Deutschland ein Manifest, initiiert von Sahra Wagenknecht, der populärsten linken Politikerin, und Alice Schwarzer, der bekannten Feministin und Herausgeberin des Magazins «EMMA». Bisher sind die beiden noch nie gemeinsam aufgetreten. Sie haben ein Manifest verfasst, bei dem es 69 Erstunterzeichner gibt. Prominente aus verschiedenen Bereichen, zum Teil aus der Friedensbewegung, Musiker, Künstler, ehemalige Politiker von links bis konservativ, ohne die extreme Rechte. Mitte Februar ist das online gegangen und hat inzwischen 700 000 Mitunterzeichner. Das ist schon gewaltig und trägt seitdem den öffentlichen Diskurs in Deutschland mit.

Was ist denn die Hauptbotschaft des Manifests?

Keine Eskalation, keine Waffenlieferung, dafür Verhandlungen. Die beiden haben dann auch zu einer Kundgebung in Berlin aufgerufen. Diese fand am 25. Februar vor dem Brandenburger Tor statt. Sehr spontan, innerhalb von zwei Wochen organisiert. Nach meiner Einschätzung sind trotz Kälte und Schnee 30- bis 50 000 Menschen gekommen. Das ist schon eine ausserordentliche Anzahl, zumal die Kundgebung massiv im Vorfeld attackiert wurde, und zwar  nicht nur wegen des Inhalts, sondern wegen einer möglichen Unterwanderung durch Rechtsextremisten. Dieses Argument wird immer häufiger verwendet, um solche Veranstaltung von vornherein zu delegitimieren.  

Man kann Rechtsextreme natürlich auch einschleusen. War das der Fall?

Nein, es waren keine organisierten Rechtsextreme auf der Veranstaltung. De facto war der Charakter der Veranstaltung völlig klar. Das war eine Friedenskundgebung. Ob unter den 30 000 bis 50 000 auch Rechtsextreme waren, kann man schwer sagen. Wie will man das auch verhindern? Hinterher will man Einzelne gesichtet haben, die mit Nachdruck zum Verlassen aufgefordert wurden, aber eine Umarmungsstrategie von rechts ist angesichts der klaren Distanzierung durch die Veranstalter nicht versucht worden. Aber das hat in Deutschland schon Tradition, dass man mit einzelnen Personen, die möglicherweise aus dem rechtsextremen Spektrum kommen, die ganze Veranstaltung delegitimieren, und vor allem die Veranstalter desavouieren kann. Aber insgesamt war es eine erfolgreiche Kundgebung, die den öffentlichen Diskurs mitprägt. Es gibt seitdem keine Fernsehdebatte zur Ukraine ohne Erörterung dieser Friedenskundgebung.

Kann man in Deutschland die Dinge ausdiskutieren, wie es für eine Demokratie unerlässlich ist, oder geht man langsam in einer Meinungsdiktatur unter?

Was man sagen muss, ist, dass der Druck auf Menschen, die sich kritisch zum Krieg äussern, immer grösser wird. Es werden reihenweise Veranstaltungen abgesagt. Es gibt Menschen, die wegen ihrer Meinung ihre Stelle verlieren. Es gab mehrere Absagen, die z. B. Veranstaltungen von Daniele Ganser, einem Friedensforscher aus der Schweiz, betrafen. Absagen von angekündigten Konzerten wie eines mit Roger Waters in Frankfurt, der vor wenigen Wochen vor dem Uno-Sicherheitsrat gesprochen hat und dort zwar die Invasion Russ­lands in die Ukraine verurteilte, aber auch an die Vorgeschichte erinnerte. Auch eine Professorin an der Uni Bonn, Ulrike Guerot, wurde entlassen aufgrund eines angeblichen Plagiats. Der Grund ist aber, dass sie sich kritisch zum Krieg äusserte. Die Verengung des Meinungskorridors auf eine «pro-westliche», also eher militaristische Haltung und die Schwächung kritischer Stimmen nimmt hier richtig Fahrt auf. Das ist sehr beängstigend, auch mit welcher Geschwindigkeit das vor sich geht. Das ganze beruht oft nur auf angedeuteten Unterstellungen. Einen ähnlichen Vorgang hatten wir bereits während der Debatte um die Corona-Massnahmen.

Das ist doch gegen die Meinungs­äusserungsfreiheit…

Ja, gegen den Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes, der das garantiert, «Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äussern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.» kommt zusehends unter die Räder. 

Wir brauchen keine staatliche Zensur mehr. Unsere Mainstream-Medien übernehmen das freiwillig und das Gros der Bevölkerung glaubt ihnen.

Bemerkenswert ist der Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25. Februar, in der der Korrespondent schon im Titel eine Kritik an der eingeschränkten Meinungsfreiheit kundtut: «Kritiker von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer vergreifen sich im Ton.»

Der Artikel endet mit dem Satz: «Der Reifegrad einer Demokratie zeigt sich am Umgang mit Andersdenkenden.» Demnach bekommt die deutsche Demokratie im Moment keine Unbedenklichkeits-Bescheinigung. Und angesichts der zunehmenden Regierungs-Propaganda, Krieg als das entscheidende Mittel zum Siegfrieden zu erklären, wird dieser Trend wohl absehbar kaum abflauen.

Kann man in Deutschland z.B. bei der Bundesregierung eine gewisse Veränderung in der Haltung zum Ukrainekrieg feststellen oder ist man unverändert auf Kriegskurs?

Mit ist nicht aufgefallen, dass sich irgendetwas verändert hätte. Aber es scheint so, als ob sich der öffentliche Diskurs etwas verschoben hätte, seit der Demonstration vom 25. Februar. Diese Demonstration war z. B. viel grösser als die Demonstrationen derjenigen, die für die Fortsetzung von Waffenlieferung und des Krieges auf die Strasse gingen. Ob die Empfehlung der das Pentagon beratenden RAND-Corporation, dass eine langfristige Fortsetzung des Krieges den USA schadet, nun zu einem Umdenken führt, wird man sehen müssen. Letzte Woche berichtete das «Wall Street Journal» über erste Initiativen von Nato-Ländern, der Ukraine mögliche Friedensgespräche nahezulegen. Ein Anwachsen der Friedensbewegung in den Europäischen Ländern wird sicher die Bemühungen um Waffenstillstand und Friedensverhandlungen beschleunigen.

Was man in den Nachrichten hört, ist die Aktivität Deutschlands in der Person von Olaf Scholz und Annalena Baerbock, Allianzen zu schmieden und Länder, die bis jetzt neutral sind, auf die Seite der Nato zu ziehen.

Ja, das ist eine zentrale Strategie der Bundesregierung und auch der EU. Man versucht internationale Schlüsselländer zu identifizieren. Eine Mehrheit der Länder verurteilen den Einmarsch Russlands in die Ukraine, aber tatsächlich beteiligen sich nur 35 Länder an dem Wirtschaftskrieg und den Waffenlieferungen. Da versucht man nun noch Länder dazuzugewinnen, damit sie ins westliche Lager umschwenken. Fünf Länder haben EU und Nato identifiziert, nämlich Ägypten, Brasilien, Indien, Kasachstan und Nigeria. Indien und Brasilien wurden bereits besucht, doch an beiden Staaten hatten sie sich die Zähne ausgebissen. Inácio Lula da Silva möchte neutral bleiben, um bei einer friedlichen Lösung mitzuarbeiten. Auch Narendra Modi, Indiens Premier, blieb ebenfalls standhaft. Dabei ging es in den Gesprächen um Waffen- und Munitionslieferungen. Wie es aussieht, bieten die Belt & Road Initiative, der BRICS+ Prozess, eine eigene Entwicklungsbank des Globalen Südens u.v.m. heute diesen attraktivere Perspektiven an, als der Verbund der alten Kolonialmächte mit den als imperialistisch angesehenen USA.

Sie haben von 35 Ländern gesprochen, die die Sanktionen mittragen Das ist kaum mehr wie ein Fünftel der Staaten auf dieser Welt, und wenn man die Bevölkerungsanzahl vergleicht, dann ist das höchstens ein Achtel der Weltbevölkerung. Sind das nicht vorwiegend Europäische Länder, die die Kriegsstimmung anheizen?

Wenn man verfolgt, wie positiv hingegen die aktuelle chinesische Friedensinitiative im grössten Teil der Länder begrüsst wird, fällt auf: das sind die Nato- oder EU-Länder und engere Verbündete. Dazu muss man schon etwas differenzieren. Es sind nicht alle Nato- oder EU-Länder. Die Türkei z. B. macht nicht mit, Ungarn als Nato und EU-Land beteiligt sich ebenfalls nicht. Auch der kroatische Präsident ist gegen Waffenlieferungen und steht damit im Gegensatz zu seinem Ministerpräsidenten. Es gibt auch immer wieder kritische Stimmen aus Italien und Österreich. Es gab auch Initiativen, aber nichts Koordiniertes. Der politische Druck aus den Bevölkerungen steigt aber. Am Wochenende gab es etwa in Italien mehrere Demonstrationen. Die Hafenarbeiter in Genua streikten und weigerten sich, Waffen zu verladen. Doch auch in anderen Städten Europas wurde gegen den Krieg und die Waffenlieferungen protestiert. Das gibt ein bisschen Hoffnung.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Uneinsichtig oder gar verlogen?

von Reinhard Koradi

In der Schweiz lassen sie die Kirchenglocken läuten, um auf den Krieg in der Ukraine aufmerksam zu machen. Der Bundesrat entscheidet, weitere 140 Millionen Franken an die Ukraine auszuzahlen. Selbstverständlich geblendet von einem klaren Feindbild. Auf der einen Seite stehen die Aggressoren aus Russland und auf der anderen Seite, die sich selbstlos und tapfer wehrenden Ukrainer. Wer garantiert, dass das Geld zweckbestimmt verwendet wird? Gehört die Ukraine nicht zu den korruptesten Ländern auf unserem Kontinent?  Und wie war es denn bei anderen Kriegen, im Irak, in Jemen, Syrien oder Jugoslawien? Haben da die Glocken ebenfalls geläutet?

Und warum startete niemand am Jahrestag der Ukrainekrise in der Schweiz eine ernsthafte Friedensinitiative? Wir könnten uns doch der südamerikanischen Allianz gegen den Krieg  anschliessen. Es würde doch dem christlichen Gedanken entsprechen, mit lauter Stimme Frieden zu fordern. In Deutschland sind über 500 000 Unterschriften für eine Friedensinitiative zusammengekommen. Und die Schweiz? Im Parlament wird nach Möglichkeiten gesucht, um Waffenlieferungen durch die Schweiz an die Ukraine doch noch möglich zu machen. Wir werden zu Gesetzesbrechern und damit zu einem unberechenbaren Partner innerhalb der Weltgemeinschaft. Mit anderen Worten, wir verscherbeln unsere Werte und unserer Reputation, um den Mächtigen zuzudienen, damit diese ihre Kriege auch mit Schweizer Unterstützung führen können. 

«Aggressionen des Westens wiegen schwerer und sind mörderischer als die russische Invasion in die Ukraine»

«Die USA haben alles getan, um die Fertigstellung der Nordstream-Pipeline zu verhindern»

von Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas*, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Die Enthüllungen von Seymour Hersh und die Analyse seiner Beweise, die auf die Urheberschaft der USA an der Sprengung der Nordstream-Pipelines¹ hindeuten, klingen überzeugend. Unter normalen Verhältnissen würden solche Ergebnisse nicht nur eine Regierungskrise nach sich ziehen, sondern vielmehr:

die Verurteilung des Terroranschlags durch den US-Kongress

die Forderung einer internen Untersuchung illegaler Aktivitäten von CIA und des Pentagons

eine internationale Untersuchung unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen

eine umsichtige Deklaration des Uno-Generalsekretärs

einen Protest durch das Amt für das Umweltprogramm der Vereinten Nationen

einen allgemeinen Medienaufruhr

sogar Rücktritt der US-Administration Biden, angesichts des Ausmasses der  groben Verletzung der Uno-Charta und internationaler Verträge.

Es ist verblüffend: Der Staat, der von sich behauptet, das Völkerrecht zu wahren, lässt sich auf eine dreiste Terroroperation ein, ausgeführt im Namen des amerikanischen Volkes, welches jedoch die Beteiligung der US-Regierung an Operationen unter falscher Flagge samt offensichtlichen Staatsterrorismus ganz bestimmt nur ablehnen würde.

Selbstverständlich begannen das Weisse Haus und das Pentagon sofort, jede Verantwortung von sich zu weisen und Seymour Hersh zu verleumden. Ist das etwas Neues? Sogar die alten Römer sagten schon: «Hast Du’s getan, so leugne es! – Si fecisti, nega!» 

Hersh, ein ehemaliger Reporter der Associated Press und «New York Times» sowie langjähriger Mitarbeiter des «New Yorker», kommentierte Aussagen, wonach das «falsch und frei erfunden» wäre, wie durch die Sprecherin des Weissen Hauses, Adrienne Watson oder Verlautbarungen von Tammy Thorp für die CIA, wonach solche «Behauptungen komplett und völlig falsch» seien, mit den Worten: «Es erinnert mich an meine Kindheit und an das Urteil meines Lehrers, welches sich mir einprägte und besagt, dass ein Verhalten nach dem Spruch: ‹Wirf den Stein, doch versteck Deine Hand! – tira la piedra y esconde la mano›, unethisch sei.»

Schon lange vor den Enthüllungen durch Hersh deuteten viele Indizien auf die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten hin. Schliesslich hatten die USA alles getan, um die Fertigstellung der Nordstream-Pipeline zu verhindern, illegale Sanktionen zu verhängen gegen Unternehmen, die am Bau der Pipeline beteiligt und Bedrohungen, Erpressungsversuchen und Schikanen der USA ausgesetzt waren. Im Übrigen war der Angriff angekündigt. Am 7. Februar 2022, vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, hatte Biden erklärt: «Wenn Russland einmarschiert […] wird es keine Nord-Stream 2 mehr geben […]. Wir werden ihr ein Ende setzen.» All dies hätte sich bestätigen lassen, wenn die schwedische Untersuchung transparent verlaufen wäre² und die deutschen und russischen Eigentümer von Nordstream die Beweise hätten einsehen dürfen. Aber auch Schweden blockte.

Edward Snowden, der CIA-Analyst und Whistleblower, der das amerikanische Volk und die Welt auf die verfassungswidrigen Praktiken des Nationalen Sicherheitsamts (NSA) aufmerksam machte, verriss die US-Dementis.³ Am 8. Februar tweetete er: «Fällt Ihnen ein Beispiel aus der Geschichte für eine geheime Operation ein, für die das Weisse Haus sich verantwortlich zeigte, hingegen alles nur vehement bestritt – abgesehen vom kleinen Mischmasch im Zuge der Massenüberwachung?»

Er teilte auch einen Zeitungsartikel vom April des Jahres 1961, in dem US-Aussenminister Dean Rusk die Rolle der USA bei der Invasion in der Schweinebucht leugnete und dem amerikanischen Volk versicherte, dass die Invasion nicht «von amerikanischem Boden aus inszeniert» worden sei. Rusk behauptete, dass «kubanische Angelegenheiten von den Kubanern selbst geregelt» würden, und beharrte darauf, dass die Invasion von Kubanern ohne jegliche US-Unterstützung abgelaufen sei.

Aus der Warte moralischer Überlegenheit

Es klingt surreal, dass der Westen behauptet, er wolle eine «auf Regeln basierte internationale Ordnung» und es im Krieg in der Ukraine darum ginge, eine solche Ordnung wiederherzustellen. Die USA und die Nato tun so, als ob sie Russland aus der Warte moralischer Überlegenheit bekämpften. Die Mainstream-Medien tendieren dazu, solch unhaltbare Narrative nur weiter zu stützen.

Objektiv betrachtet, nimmt der Westen gegenüber Russland keine moralisch überlegenere Position ein: Die Bilanz westlichen Imperialismus und Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert sowie jüngste Aggressionen des Westens gegen die Völker Indochinas, Jugoslawiens, Afghanistans und des Irak wiegen schwerer und sind mörderischer als die russische Invasion in die Ukraine. Die Aktionen des Westens hatten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zur Folge, die völlig ungestraft blieben, wodurch «Präzedenzfälle für Zulässigkeit» geschaffen wurden, denen nun Russland und andere zu folgen scheinen.

Die Gehirnwäsche im Westen ist phänomenal gelaufen

Das Problem ist, dass die meisten in den Vereinigten Staaten, wie Briten im Vereinigten Königreich oder auch Deutsche letzten Endes unserer eigenen Propaganda aufsitzen. Das ist keine Frage der Heuchelei, sondern eine Frage der Naivität. Seit Kindertagen werden wir in dem Glauben indoktriniert, dass wir per Definition die Guten seien und die Aufgabe hätten, dem Rest der Welt Demokratie und Menschenrechte beizubringen. Für einen Chinesen, Inder oder Afrikaner mag dies bizarr klingen, doch die Gehirnwäsche an den amerikanischen und europäischen Bevölkerung ist phänomenal erfolgreich verlaufen.

Aus diesem Grund werden die Enthüllungen von Seymour Hersh in der amerikanischen Öffentlichkeit voraussichtlich keine grosse Wirkung zeigen. Sie prallen einfach ab. Die Menschen glauben, was sie glauben wollen, wie Julius Caesar in «Über den Bürgerkrieg» [De bello civili] einst schrieb: «Was wir wollen, glauben wir gerne – quae volumus, ea credimus libenter.» Oder noch schlimmer, wie der heilige Augustinus festhielt: «Die Welt will getäuscht werden – mundus vult decipi.» So werden Amerikaner weiterhin am Anspruch ihres «Exzeptionalismus» und religiösen Eifers mit dem Recht, allen anderen Unrecht zufügen zu können, festhalten. Ich selbst habe das geglaubt und Jahrzehnte gebraucht, um mich von diesem Bann zu lösen.

Es gibt einige, die hoffen, dass der Bericht von Seymour Hersh die Leute zu einer Neubewertung des Ukraine-Krieges führen und einige seiner Teilnehmer aus der westlichen Allianz dazu bewegen könnte, eine andere Position einzunehmen, um zu erkennen, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist. Es sei denn, wir wollten den Konflikt immer weiter eskalieren und in einer nuklearen Konfrontation enden.

Vermittlung scheint der einzige Ausweg: Doch leider scheinen wir in unserem eigenen Netz politisch opportuner Lügen und kognitiver Dissonanz gefangen. Selbstverständlich gibt es Politiker und Akademiker, die erkennen, wie inkohärent das System ist und wie dysfunktional EU und Nato sich präsentieren. Aber die Mainstream-Medien haben uns erfolgreich darauf konditioniert, dass «Gleichschritt» unter den westlichen Staaten notwendig wäre. Aus diesem Grund wird ein Abweichler wie der ungarische Präsident Victor Orban⁴ von Nato-Regierungen und Mainstream-Medien so massiv attackiert.

Der Würgegriff der Medien scheint überstark

Inzwischen hat auch der kroatische Präsident Zoran Milanović⁵ seine Ablehnung gegenüber der EU- und US-Führung zum Ausdruck gebracht und Friedensgespräche zum Ukrainekonflikt angemahnt. Milanovic bezweifelt, dass die Krim⁶ jemals an die Ukraine zurückkehren werde, da sie von vornherein nicht zur Ukraine hätte gehören dürfen, weil die grosse Mehrheit der Krimbewohner keine Ukrainer werden wollen. In Deutschland sind es Sarah Wagenknecht⁷ von der Linkspartei und Oskar Lafontaine, die sich gegen den Krieg in der Ukraine stellen. In den Vereinigten Staaten ist es der republikanische Kongressabgeordnete Matt Gaetz aus Pensacola, Florida, der keine weitere Militärhilfen an die Ukraine zulassen möchte. Die Professoren John Mearsheimer, Richard Falk, Jeffrey Sachs und andere sind sich einig, dass der Krieg in der Ukraine nicht zu gewinnen sei und ein tragfähiger Kompromiss, ein quid pro quo [mit Gegenleistungen], gefunden werden müsste, um die Kämpfe zu beenden, bevor sie zu einer atomaren Konfrontation eskalieren. Dennoch scheinen wir schlafwandelnd auf eine Apokalypse zuzugehen.

Es ist merkwürdig, dass die US-Regierung einen solchen Krieg ohne Kriegserklärung führen und hundert Milliarden Dollar verschleudern darf, ohne das amerikanische Volk demokratisch befragt zu haben, ob es das wirklich so will. Ungeachtet der Bedeutung der Enthüllungen von Seymour Hersh und ihrer Auswirkungen auf Institutionen der Regierung wird sich wahrscheinlich wenig ändern: Der Würgegriff der Mainstream-Medien scheint so stark, dass die Erkenntnisse eines seriösen Enthüllungsjournalisten einfach beiseitegeschoben werden können, wenn immer diese der gewünschten politischen Linie entgegen stehen. In unserer dysfunktionalen Demokratie bleiben viele Fakten, bleiben viele Berichte, bleiben viele Bücher ohne Konsequenzen: Der Zug fährt zu schnell und die Dynamik des Geschehens scheint zu verhindern, ihn noch stoppen zu können.

Den Krieg verlängern, solange es geht

Der 2014 begonnene Ukraine-Konflikt hat sich zu einem Krieg ausgeweitet, der nun schon ein Jahr dauert, an die 200 000 Soldaten und Zivilisten getötet und Milliarden Dollar und Euro verschlungen hat. Kann es unbegrenzte Zeit einfach so weitergehen?

Ich vermag nicht, in eine Kristallkugel zu blicken. Es gab mehrere ernstzunehmende Vermittlungsversuche des türkischen Präsidenten Erdogan⁸ und des israelischen Premierministers Bennett – beide wurden von Washington torpediert⁹. Es gab Vermittlungsaufrufe des Papstes Franziskus, vom mexikanischen Präsidenten Lopez Obrador und brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula. Doch die Fakten deuten in die Richtung, dass Washington den Krieg verlängern und noch den letzten Ukrainer gegen Russland verheizen möchte.

Solange der Proxy-Krieg die Einnahmen sprudeln lässt, wird es weitergehen: Der militärisch-industrielle Komplex hat bereits Milliarden verdient, so wie auch die Gewinne der Ölindustrie für 2022 astronomisch erscheinen.

Selbst wenn Putin in der Ukraine bedeutende militärische Erfolge erreichen sollte, wird der Krieg nicht enden, weil die USA es nie zuliessen, dass Selinskij einer Friedenslösung nachginge. Der Krieg wird weiter eskalieren, bis alle erschöpft sind oder eine menschliche Fehlkalkulation bzw. Computerpanne zum Atomkrieg führt.

Ich würde mir eine Koalition der Präsidenten für den Frieden wünschen, die im Uno-Sicherheitsrat und in der Generalversammlung darauf bestünden, dass der Krieg sofort beendet werden muss, weil die Gefahr der nuklearen Vernichtung zu gross erscheint. Für den Rest der Welt ist es irrelevant, ob die Krim zur Ukraine oder zu Russ­land gehört. Die meisten Lateinamerikaner, Afrikaner und Asiaten wissen gar nicht, wo die Krim liegt. Wir im Westen haben kein Recht, den Planeten wegen unserer rein amerikanisch/Europäisch/russischen Querelen in den Abgrund zu stürzen.

Welches Land hat genug Einfluss, um sich einzuschalten und zu versuchen, tragfähige Friedensvorschläge zu präsentieren? Vielleicht sollten China und Indien eine internationale Friedenskonferenz einberufen, die alle Parteien auffordert, die Kämpfe einzustellen und das Überleben des ganzen Planeten nicht länger aufs Spiel zu setzen. Die Konferenz sollte nicht nur die russische Invasion in der Ukraine verurteilen, sondern auch die Provokationen der Vereinigten Staaten und der Nato, die als legitimes Verteidigungsbündnis begann, doch sich über die letzten 30 Jahren zu einer kriminellen Organisation im Sinne der Artikel 9 und 10 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg aus dem Jahr 1945 entwickelte.

* Alfred de Zayas ist Professor für Recht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und diente von 2012 – 2018 als unabhängiger Uno-Experte für eine demokratische internationale Ordnung. Er ist der Autor von zahlreichen Büchern, darunter seine letzte Neuerscheinung «Building a Just World Order» (Clarity Press, 2021).

 

Übersetzung aus dem Englischen: «Unser MittelEuropa»
www.counterpunch.org/2023/02/15/hersh-the-us-and-the-sabotage-of-the-nordstream-pipelines/

¹ www.ibtimes.sg/us-bombed-russias-nord-stream-gas-pipeline-after-months-long-planning-by-white-house-seymour-68965
nypost.com/2023/02/08/seymour-hersh-claims-us-navy-behind-nord-stream-2-pipeline-explosion/

www.commondreams.org/news/seymour-hersh-nord-stream
townhall.com/tipsheet/leahbarkoukis/2023/02/09/nord-stream-report-n2619370
² www.reuters.com/world/Europe/sweden-shuns-formal-joint-investigation-nord-stream-leak-citing-national-2022–10-14/

www.politico.eu/article/sweden-denmark-germany-nord-stream-investigation-tests-eu-intelligence-sharing-around-the-baltic/
³ www.ibtimes.sg/edward-snowden-rubbishes-us-denial-role-nord-stream-gas-line-bombing-cites-bay-pigs-invasion-68971
www.politico.eu/article/hungary-viktor-orban-is-telling-ukraine-to-quit-russia-war/
www.pbs.org/newshour/world/croatian-president-zoran-milanovic-criticizes-tank-deliveries-to-ukraine
www.reuters.com/world/Europe/crimea-will-never-again-be-part-ukraine-croatian-president-2023–01-30/
philosophia-perennis.com/2023/02/10/alice-schwarzer-und-sahra-wagenknecht-manifest-fuer-frieden/
www.emma.de/artikel/manifest-fuer-frieden-340057
english.almayadeen.net/news/politics/erdogan-to-reiterate-mediation-offer-to-end-ukraine-war:-sou
www.theguardian.com/world/2022/feb/03/turkish-president-erdogan-mediate-ukraine-russia

https://www.haaretz.com/israel-news/2022–03-13/ty-article/.premium/ukraine-u-s-signal-to-israel-mediation-attempts-arent-enough/00000180–5ba7-def0-a3c3-5fff6b2d0000
https://thegrayzone.com/2023/02/06/israeli-bennett-us-russia-ukraine-peace/

Die Ukraine wurde von den Vertragsstaaten nie dazu angehalten, das Minsk II - Abkommen umzusetzen

Die militärische Auseinandersetzung in der Ukraine und ihre Vorgeschichte

von Stefan Hofer*

Der Krieg in der Ukraine ist wie jeder Krieg schrecklich und sollte möglichst bald beendet werden. Man kann aber diesen Krieg und die politische Verantwortung dafür nicht beurteilen, ohne auch dessen Vorgeschichte zu kennen und in Betracht zu ziehen. Wie ist es zu diesem Krieg gekommen?

Bis 1991 gehörte die Ukraine als Sowjetrepublik zur Sowjetunion. Erst nach Auflösung der Sowjet-union wurde aus der Sowjetrepublik Ukraine ein selbständiger Staat. Vor der russischen Revolution von 1917 hatte es nie einen ukrainischen Staat gegeben. Ein grosser Teil der heutigen Ukraine gehörte zum zaristischen Russ­land, die im Westen gelegenen Gebiete zur habsburgischen Donaumonarchie. In den östlichen und südlichen Bezirken und auf der Krim, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg der ukrainischen Sowjetrepublik zugeteilt wurde, lebten und leben bis heute mehrheitlich Menschen mit russischer Muttersprache. 

Die Einkreisung Russlands

Nach der Auflösung der Sowjet-union dehnte sich die russ­landfeindliche Nato immer weiter nach Osten bis an die Grenze Russ­lands aus, obwohl 1990 Gorbatschow versichert worden war, die Nato werde sich nach Auflösung des Warschauer Pakts und nach dem Rückzug der sowjetischen Armee aus Deutschland und aus den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas nicht weiter nach Osten ausbreiten. Nachdem Polen, die ehemaligen Sowjetrepubliken Litauen, Lettland und Estland, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien in die Nato eingegliedert worden waren, fehlten nur noch die Ukraine, Weissruss­land und Georgien, um die Einkreisung der westlichen Gebiete Russlands durch die Nato zu vollenden. 

Da Russland unter Putin nicht bereit war, sich als untergeordneter Verbündeter in das von den USA dominierte westliche Staatensystem einzuordnen, wird seitens des US-geführten Westens versucht, Russland als undemokratische autoritäre Macht zu ächten, zu schwächen und zu destabilisieren. Dazu gehört auch die Einschüchterung und Bedrohung durch militärische Einkreisung. Bei diesen Bemühungen hat die Ukraine, deren östliche Bezirke bis auf wenige 100 Kilometer an die russische Hauptstadt Moskau heranreichen, eine entscheidende Bedeutung. Es mussten somit alle Register gezogen werden, um die Ukraine auf einen prowestlich-antirussischen Kurs zu bringen. 

Nachdem es der gewählte Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, abgelehnt hatte, ein von der EU vorgelegtes Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, weil damit eine Abwendung von Russ­land und eine Übernahme der russ­landfeindlichen Politik der EU verbunden gewesen wäre, wurde er durch einen vom Westen organisierten, orchestrierten und finanzierten Putsch – bekannt unter der Bezeichnung Maidan – gestürzt und eine prowestliche russ­landfeindliche Gruppe an die Macht gebracht. 

Diese Ereignisse hatten zur Folge, dass sich die fast ausschliesslich von Russen bewohnte Krim von der Ukraine abspaltete und per Volksentscheid der Russischen Föderation beitrat. Nach dem Maidan-Putsch wurde die von der Mehrheit der Bevölkerung der östlichen und südlichen Bezirke des ukrainischen Staats als Muttersprache gesprochene russische Sprache als Regionalsprache verboten, ebenso auch die russischen Schulen. Im Rahmen einer militant antirussischen Politik wurden Gesetze erlassen, die das Ziel hatten, die russische Sprache – die Muttersprache von über 50 Prozent der Bevölkerung der Ukraine – aus der Ukraine zu verdrängen. In den mehrheitlich von Russen bevölkerten Donbas-Bezirken wurden von Kiew russlandfeindliche Gouverneure eingesetzt. 

All das hatte zur Folge, dass in den Bezirken Lugansk und Donezk die mehrheitlich russische Bevölkerung revoltierte und die von Kiew unabhängigen Volksrepubliken Lugansk und Donezk ausgerufen und gegründet wurden. 

In der Folge versuchte die ukrainische Armee, militärisch die Kontrolle der Kiewer Zentrale über die abtrünnigen Gebiete im Donbas wiederherzustellen. Es fanden Kämpfe statt mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Mit Vermittlung der OSZE bemühte man sich dann darum, den Konflikt mit dem Donbas unter Berücksichtigung und Wahrung auch der legitimen Interessen der grossmehrheitlich russischen Bevölkerung dieser Region beizulegen. Diese Bemühungen führten zu den sogenannten Minsker Abkommen, die von der OSZE, der Ukraine und von Russ­land sowie von den Vertretern der Volksrepubliken Lugansk und Donezk unterzeichnet wurden und denen in einer separaten Erklärung von Minsk nebst Russland auch Frankreich (Präsident Hollande) und Deutschland (Kanzlerin Merkel) zustimmten. Inhalt dieser Abkommen war die Einstellung der Kampfhandlungen und der Rückzug schwerer Waffen sowie die Schaffung eines in der ukrainischen Verfassung verankerten Autonomie-Statuts für die Bezirke Lugansk und Donezk. Das sollte diesen Bezirken im Rahmen des ukrainischen Staates ermöglichen, ihre Behörden selbst zu wählen und das Zusammenleben der Menschen in diesen Bezirken einschliesslich der russischen Sprache und Kultur selbständig zu regeln und zu organisieren. 

Das Abkommen Minsk II wurde jedoch von der ukrainischen Seite nicht umgesetzt. Die Beschiessung des Donbas wurde fortgesetzt, wofür man die faschistischen Asow-Brigaden einsetzte. Bis zum Beginn des russischen Angriffs im Februar 2022 wurden über 14 000 Bürger der Volksrepubliken in Lugansk und Donezk – grösstenteils Zivilisten – durch die illegalen gegen das Minsker Abkommen verstossenden Angriffe getötet.

Die Verfassungsreform, mit der das für den Donbas vereinbarte Autonomie-Statut hätte realisiert werden müssen, hat nicht stattgefunden. Frankreich und Deutschland, die an der Aushandlung des Minsker Abkommens beteiligt waren, – sie haben diesem Abkommen mit der Erklärung von Minsk ausdrücklich zugestimmt und sich zur Unterstützung bei der Umsetzung verpflichtet – haben Kiew nie dazu angehalten, dieses Abkommen einzuhalten und die vereinbarten Verfassungsänderungen vorzunehmen, und schon gar nicht Druck ausgeübt in dieser Richtung. Letzthin gestand die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel in einem Interview freimütig ein, dass seitens der Ukraine und der westlichen Signatar-Staaten das Minsker-Abkommen nur unterschrieben wurde, um Zeit zu gewinnen für eine Aufrüstung der ukrainischen Armee. Dazu kommt, dass in der ukrainischen Verfassung als politisches Ziel der Beitritt zur Nato festgelegt wurde. 

In diesem Zusammenhang ist auch auf vom deutschen Konfliktforscher Leo Ensel zutreffend relevierte Fakten hinzuweisen:

«Vollkommen unbekannt ist schliesslich die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij am 24. März 2021 – also genau elf Monate vor dem russischen Überfall – das Dekret Nr. 117 unterzeichnete, das die ‹Strategie zur De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol› des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März in Kraft setzte. Das Dekret sah vor, Massnahmen vorzubereiten, um ‹die vorübergehende Besetzung› der Krim und des Donbas zu beenden. Die ukrainische Regierung erhielt den Auftrag, einen entsprechenden ‹Aktionsplan› zu entwickeln. Am 30. August 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine dann einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit und am 10. November 2021 einen Vertrag über ‹Strategische Partnerschaft›. Hier hiess es u. a. wörtlich: ‹Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, die Bemühungen der Ukraine zur Bekämpfung der bewaffneten Aggression Russlands zu unterstützen, unter anderem durch die Aufrechterhaltung von Sanktionen und die Anwendung anderer relevanter Massnahmen bis zur Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen.› Russland konnte das so verstehen, Kiew wolle mit Unterstützung der USA die annektierte und russlandfreundliche Krim mit dem strategisch ­wichtigen Militärhafen Sewastopol sowie den von Russland unterstützten Donbas militärisch zurückerobern.»

Der Krieg hätte vermieden werden können

Die Entwicklung seit der Unterzeichnung der Minsker-Abkommen hat dazu geführt, dass Russ­land sich gezwungen sah, für die eigene Sicherheit und für die Sicherheit und die Rechte der mehrheitlich russischen Bevölkerung im Donbas an die Regierung in Kiew ultimativ die folgenden Forderungen zu stellen: 

Verzicht der Ukraine auf den Nato-Beitritt

keine Stützpunkte der Nato oder anderer fremder Armeen auf dem Territorium der Ukraine

keine Stationierung von Nato-Waffen auf dem Territorium der Ukraine

Entnazifizierung der Ukraine (Entwaffnung der faschistischen Asow-Brigaden)

Wahrung der Rechte der russischen Bevölkerung im Donbas durch unverzügliche vollständige Umsetzung der Vereinbarungen im Minsker-Abkommen.

Diese berechtigten Forderungen hat die Kiewer Regierung, unterstützt von den USA, der EU und der Nato, abgelehnt. Mit Annahme dieser berechtigten Forderungen wäre es nicht zum Krieg gekommen. 

Die Meinungen dazu, ob es legitim war, diese Forderungen mit militärischer Gewalt durchzusetzen, die Tod und Verwüstung bringt und Leid und Hass erzeugt, sind geteilt. Ebenso gehen die Meinungen auseinander, ob damit das Völkerrecht ohne Rechtfertigungsgrund verletzt worden ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) mit Bezug auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien mit massivem Einsatz von militärischer Gewalt (Bombardierung serbischer Städte) in einem Rechtsgutachten zum Schluss gekommen ist, das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung des Kosovos sei höher zu gewichten als die territoriale Unversehrtheit und die Respektierung der Grenzen Serbiens. 

Der derzeit tobende Krieg in der Ukraine kann und muss gesehen und beurteilt werden im Zusammenhang der globalen Auseinandersetzung zwischen dem von den USA dominierten Westen und den Kräften, die eine neue multipolare Weltordnung anstreben, was die massive Intervention der USA, der Nato und der EU (Waffenlieferungen, Ausbildung und Anleitung von Angehörigen der ukrainischen Armee, Entsendung von Söldnern und Gefechtsfeldaufklärung) erklärt. In dieser Auseinandersetzung versucht der Westen, teils mit Erfolg, teils erfolglos, zur Verteidigung der US-dominierten Weltordnung auch mit militärischer Gewalt ohne Rücksicht auf das Völkerrecht in zahlreichen Staaten Regime-Changes herbeizuführen (Serbien, Irak, Syrien, Libyen u. a.). Niemand hat deswegen gegen die USA und die beteiligten Nato-Staaten Sanktionen verhängt. 

Der Krieg in der Ukraine kann und muss durch Verhandlungen beendet werden. Im März 2022 wurden in Istanbul Verhandlungen geführt, die ein unterschriftsreifes Abkommen ergaben, worauf der britische Premierminister Boris Johnson nach Absprache mit Präsident Biden eiligst nach Kiew reiste, um die Unterzeichnung des Abkommens, mit dem der Krieg beendet worden wäre, zu verhindern. 

Der von der Selenskij-Regierung seither eingenommene Standpunkt, dass über eine Beendigung des Krieges erst verhandelt werden kann, wenn der letzte russische Soldat aus dem Staatsgebiet der Ukraine (einschliesslich der Krim) verjagt oder abgezogen ist, ist für Russland nach der Erfahrung mit den Minsker-Abkommen nicht akzeptabel und in Anbetracht der militärischen Kräfteverhältnisse auch nicht realistisch.

Mit weiteren Waffenlieferungen an die ukrainische Armee wird es nicht gelingen, die russische Armee aus den derzeit von ihr kontrollierten Gebieten zu vertreiben. Weitere Waffenlieferungen, verbunden mit der Weigerung, Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges aufzunehmen, führen nur zu einer Verlängerung des Krieges, zu noch mehr Toten und Verwundeten, zu noch mehr Verwüstung und zu weiteren Belastungen der Bevölkerung in WestEuropa und in den USA, die diese Waffen bezahlen muss. 

Durch Verhandlungen Frieden schaffen 

Ein durch Verhandlungen zu erreichender Frieden wäre etwa so vorstellbar:

Sofortiger Waffenstillstand, beidseitiger Rückzug der schweren Waffen von der Frontlinie.

In der ukrainischen Verfassung wird immerwährende Neutralität der Ukraine, das Verbot, der Nato beizutreten und ausländische Armeen und Waffensysteme in der Ukraine zu stationieren, festgeschrieben.

Die Ukraine, die USA und die EU anerkennen, dass die Krim zur russischen Föderation gehört. 

In den Bezirken Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson wird unter internationaler Aufsicht eine Abstimmung darüber durchgeführt, ob diese Bezirke der Russischen Föderation beitreten oder bei der Ukraine bleiben wollen, wobei alle Personen, die vor dem Krieg in diesen Bezirken wohnhaft waren, stimmberechtigt sind. Für den Beitritt zur Russischen Föderation kann ein qualifiziertes Mehr von mindestens 55 Prozent vorgeschrieben werden. Die Ukraine und Russ­land verpflichten sich, das Ergebnis dieser Abstimmungen anzuerkennen. 

Die Ukraine und Russland anerkennen gegenseitig die Staatsgrenzen, die sich aus diesen Abstimmungen ergeben, und erklären gegenseitigen Gewaltverzicht. 

Die Ukraine und Russland erklären die Absicht der beiden Staaten, in guter Nachbarschaft miteinander zu leben. 

Die von der EU verhängten und von der Schweiz neutralitätswidrig übernommenen Sanktionen gegen Russland, die unserer Bevölkerung mindestens so viel schaden wie der Bevölkerung Russlands, sollten aufgehoben werden. Diese Sanktionen schaden der Wirtschaft unseres Landes und tragen nichts zu einer möglichst baldigen Beendigung des Krieges bei. 

* Stefan Hofer, Jahrgang 1948, ist Schweizer Staatsangehöriger und wohnt in Basel. Er hat dort während 40 Jahren als Rechtsanwalt gearbeitet. Seit einigen Jahren ist er im Ruhestand.

 

Zuerst erschienen am 16. Januar 2023 auf: www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-international/zum-krieg-in-der-ukraine.html

Initiative des Arbeitskreises Gemeinsames Haus Europa vom 12. Februar 2023

Zur Einhegung und Überwindung des Krieges in der Ukraine und um die Ukraine

Damit – und: Wenn wir noch einmal davon kommen…

Prolog

«Krieg», mit Carl Friedrich von Weizsäcker gesprochen, «ist wenigstens so alt wie die Hochkultur. Die ältesten Berichte der Völker sind Heldenlieder und Siegesdokumente, die alten Mythen schildern Götterkämpfe. Die Leiden des Kriegs sind uralt. Wie eine utopische Hoffnung klingt die Ankündigung des alttestamentlichen Propheten, in der Sprache des dichterischen Gleichnisses formuliert: Der Löwe wird neben dem Lamm liegen, und die Schwerter werden in Pflugscharen umgeschmiedet werden.» 

Heute ist die Situation eine andere. Und folgen wir von Weizsäcker, so ist sie «grundlegend anders als alle früheren». Heute nötigt sie dazu, die Botschaft des Gleichnisses als diesseitige und dauernde Aufgabe wahrzunehmen. Der Grund liegt in der modernen Technik, «die den Krieg in eine totale Katastrophe verwandeln kann». «Früher haben nicht immer die Völker, aber hat doch die Menschheit die grössten, damals technisch möglichen Kriege überlebt. Der Krieg war eine schreckliche, aber eine mögliche Institution. Möglich ist er noch heute, aber für sie (die Menschheit) nicht permanent überlebbar; es ist notwendig, ihn als Institution zu überwinden.» 

Einzigartig die Wahl der Worte, mit denen sich nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder wandten: «Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.» Worte, die von einem tiefen, wissenden Verstehen Zeugnis ablegen: gegenseitige Schuldzuweisungen – selbst da, wo sie zutreffen oder zutreffen sollten – eignen sich weder zur Versöhnung, noch taugen sie zur Einhegung von Kriegen und schon gar nicht für jenen Weg von tausend Meilen, die Institution Krieg als anerkanntes Mittel der Konfliktlösung zu überwinden: «Wer da ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.»

Die Zeit drängt

Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt, mit dem Krieg um die Ukraine zum zweiten Male nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesen Krieg sind, mit anderen, aber eben doch in dominierender Weise, die beiden Grossmächte involviert, die über ca. 90 % aller nuklearen Waffensysteme dieser Welt verfügen. 

In der Kuba-Krise 1962 sind wir noch soeben davon gekommen, nicht ganz zufällig. John F. Kennedy, zu der Zeit Präsident der USA, wusste: «Vor allem müssen Atommächte, während sie ihre eigenen lebenswichtigen Interessen verteidigen, jene Konfrontation abwenden, die einen Gegner vor die Wahl zwischen einem demütigenden Rückzug oder einem Atomkrieg stellen. Ein solcher Kurs im Atomzeitalter wäre nur der Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt.» 

 Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es ein ausgeprägtes Bewusstsein der permanenten Gefahr eines nuklear geführten Krieges. Heute scheint dieses Bewusstsein weitgehend verblasst, überlagert und überformt von globalen Spannungs- und Krisenfeldern wie der Energie- und Welternährungskrise, dem demographischen Wandel und der Übernutzung natürlicher Ressourcen, des Klimawandels, des Terrorismus, der Migration. 

Doch ist die Gefahr eines nuklear geführten Krieges deswegen nicht geringer geworden. Im Gegenteil, sie hat sich durch die ständige Weiterentwicklung moderner Technik in gravierender Weise verschärft: durch die Weiterentwicklung nuklearer Waffensysteme selbst, durch die Artifical Intelligence und die Algorithmisierung von Entscheidungsprozessen, die Entwicklung chemischer wie biologischer Kampfmittel. Schliesslich auch durch jene Abwehrsysteme, durch die das «Gleichgewicht des Schreckens» seine Funktionalität zu verlieren droht. Mit dem neuen Ost-West-Konflikt, in dessen Zentrum die Rivalität zwischen den USA und China um die Position der «einzigen Weltmacht» steht (Zbigniew Brzeziński), verbindet sich zudem auch eine neue Qualität der Gefahr eines nuklear geführten Krieges. Mit Konflikten im Hintergrund in und um Indien (Kaschmir), mit weiteren Konfliktherden wie den des Nahen Ostens, Taiwans, des südchinesischen Meeres und – nicht zuletzt – der ebenfalls ungelösten Kosovo-Frage in Europa.

Das ganze Bild 

Dazu gehört, dass die gesicherte nukleare Zweitschlagskapazität vermutlich essentiell dazu beigetragen hat, einen weiteren «Grossen Krieg» zu vermeiden – bisher. Dieses «Gleichgewicht des Schreckens» aber ist hochgradig instabil. Nicht allein durch die jederzeit mögliche Eskalation lokaler Konflikte und die ständige Weiterentwicklung nuklearer Waffensysteme und Technologien. Sondern ebenso durch deren Proliferation und durch Militärdoktrinen, die einen Ersteinsatz nicht wirklich ausschliessen. Schliesslich durch den menschlichen Irrtum und den menschlichen Wahn. 

Dazu gehört, dass die Ukraine bei allen eigenständigen Zielen de facto letztlich auch für die geostrategischen Interessen der Vereinigten Staaten in der Rivalität mit den beiden anderen Grossmächten Russland und China kämpft. Die Ukraine wird überlegen müssen, inwieweit das ihre eigenen lebenswichtigen Interessen in Frage stellt oder stellen kann. – Europa dagegen wird überlegen müssen, ob es dafür den Einsatz nuklearer Waffen auf seinem Gebiet riskieren will. Nie zuvor war der Mensch einem Armageddon so nahe wie heute, war der Faden des nuklearen Damoklesschwertes über unseren Häuptern so dünn wie heute, das Bewusstsein der Gefahr so wenig präsent wie heute. Und die Kuba-Krise lehrt: ein Fehler genügt!

Dazu gehört, der Krieg darf «den politischen Verkehr» nicht ersetzen (Carl v. Clausewitz). Das verlangt heute: unter der Bedingung moderner Technik dürfen Kriege nicht mehr geführt werden. Und wenn sie doch geführt werden, sie so zu ihrem Ende zu bringen, dass dieses Ende nicht ein weiteres Versailles hervorbringt, nicht zum Geburtshelfer von Anschlusskriegen wird. Ein Versagen der Politik in dieser, ihrer ersten Aufgabe würde jegliches Bemühen um Humanität, um «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» und um die Bewahrung der Schöpfung noch im Nachhinein zur Bedeutungslosigkeit verurteilen.

Zum ganzen Bild gehört, Russ­land nicht «vor die Wahl eines demütigenden Rückzugs oder eines Atomkriegs zu stellen». Im Gegensatz zu einem starken Strom veröffentlichter Meinungen braucht das Gemeinsame Haus Europa nicht allein die Ukraine, sondern ebenso Russland. Anders wird Europa, mit Hubert Seipel gesprochen, «da stehen bleiben, wo wir schon nach dem Ersten Weltkrieg standen – in den Schützengräben». Unter dem nuklearen Damoklesschwert gehört zum ganzen Bild zwingend, einem Verständigungsfrieden den Weg zu ebnen, der den Krieg um die Ukraine in der Perspektive der Sicherheitsinteressen der Ukraine und Russ­lands einhegt, den Krieg im Rahmen des Völkerrechts schliesslich in einem Versöhnungsfrieden überwindet und – in einer umfassenden gesamtEuropäischen Sicherheitsarchitektur – auch die Frage von «Schuld und Sühne» aufhebt.

Wege in der Gefahr

2015 bereits mahnt Michail Gorbatschow eindringlich: «Wir stehen an einer Wegscheide der Beziehung zwischen Amerika und Russland. Das Vertrauen, das wir so mühevoll aufgebaut haben, steht auf dem Spiel.» Heute ist dieses Vertrauen verspielt, weitgehend, mit der Konsequenz eines «Kultursystems, wo es kein Richtig und Falsch mehr für den Menschen und die Geschichte gibt» (Maurice Merleau-Ponty). Und da stehen wir heute eben auch, im Kreuzfeuer von traditionellen und neuen sozialen Medien, von Information und Desinformation, in der Beugehaft instrumentalisierter Geschichte schliesslich. 

Damit wir noch einmal davon kommen, wirbt der Arbeitskreis für eine Initiative,

die zuerst und zunächst, kurzfristig, vertrauenbildende Massnahmen zu ihrem Anliegen macht, um das führende Element gemeinsam angewandter Vernunft wiederzubeleben – jenes gegenseitige Vertrauen, das in seinen Tiefenbindungen, im Unterschied zum intellektuellen Fürwahrhalten, Voraussetzung und Basis ist für einen tragfähigen Erfolg jeglicher Verhandlungen und Übereinkommen – sei es in Form eines nicht schriftlich fixierten Einverständnisses, sei es in Form explizit formulierter Verträge, in Übereinkommen wie die KSZE-Schlussakte Helsinki 1975 oder auch des Nato-Russland-Grundakte zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Nato-Staaten und Russland – deren Tragfähigkeit wiederum die Tiefenbindungen gegenseitigen Vertrauens entwickelt und mitgestaltet.

die mittelfristig, in Anlehnung an Henry Kissinger, Sorge dafür trägt, das «Westfälische System» zu modernisieren und an die «neuen Realitäten» anzupassen. Jenes System, das das «bahnbrechende Ereignis» des Westfälischen Friedens als ein neues Konzept der internationalen Ordnung auf der ganzen Welt verbreitete. «Die Genialität» des Westfälischen Systems beruhte mit Kissinger darauf, «dass seine Bestimmungen auf Verfahrensweisen und nicht auf inhaltliche Fragen gerichtet waren». So konnte jeder als «Völkerrechtssubjekt» anerkannte Staat – der Idee nach zumindest – seine jeweils eigene Kultur, Politik, Religion und inneren Strukturen bewahren und durch das ­System gegen Einmischung von aussen geschützt sein.
Die Anpassung an neue Realitäten – wie die der modernen Technik, der Rückkehr des Kampfes um territoriale Einfluss­zonen, schliesslich in der Mission universell empfundener Werte – nötigt heute, in einer Zeit, die so grundlegend anders ist als alle früheren, zu einem Spagat: weder die Genialität des Westfälischen Systems zu verlieren, noch, andererseits und im Unterschied zu universell empfundenen Werten, den Kompass allgemeingültiger Werte. Was Europa angeht, so zeichnet hier jene Politik gleichsam ein Muster vor, die die Charta von Paris mit der Chance zu einer «Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok» hervorbrachte und zur Wiedervereinigung Deutschlands führte. 

die langfristig der Mahnung folgt, die Institution Krieg zu eliminieren. Das verlangt nach einer «Weltinnenpolitik», die jedoch keineswegs und schon gar nicht zwangsläufig in «das Goldene Zeitalter» führt, wie von Weizsäcker immer wieder hervorhebt: «Nicht die Elimination der Konflikte, die Elimination einer bestimmten Art ihres Austrags ist der unvermeidliche Friede der technischen Welt» – nicht frei von der Furcht, ein derartiger «Weltfriede könnte», in «Gestalt einer unentrinnbaren Diktatur» beispielsweise, «sehr wohl eine der düstersten Epochen der Menschheitsgeschichte werden».

Epilog 

Der Krieg – in den zwei Atommächte involviert sind – ist nach Europa zurückgekehrt und damit die Gefahr, dass die moderne Technik den Krieg um die Ukraine in eine totale Katastrophe verwandelt. Nach wie vor gilt: «Keine Sicherheit ohne Amerika», aber eben auch: «Keine Sicherheit ohne Russland.» Und wenn wir noch einmal davon kommen, dann wird ebenso gelten: auch «Keine Sicherheit ohne China.»

Keiner der strukturellen Gründe, die zu Kriegen führen, ist wirklich überwunden. Nach Hiroshima und Nagasaki wurde Carl Friedrich von Weizsäcker ein Forscherleben nicht müde, uns immer wieder daran zu erinnern: «Nicht die Elimination der Konflikte, die Elimination einer bestimmten Art ihres Austrags ist der unvermeidliche Friede der technischen Welt.» 

Heute ist es an Henry Kissinger, uns auch daran zu erinnern: «Das Westfälische System wurde von rund zweihundert Delegierten entworfen, von denen keiner als herausragende Gestalt in die Annalen der Geschichte einging… Sie überwanden Hindernisse, weil sie die verheerenden Erfahrungen des Dreissigjährigen Krieges und die Entschlossenheit einte, die Wiederholung einer solchen Katastrophe zu verhindern. In unserer Zeit, der eine noch unheilvollere Zukunft droht, müssen wir das Notwendige tun, bevor wir von den Ereignissen überrollt werden.» Und das «zu einem Zeitpunkt, zu dem ein möglicher Ausgang noch nicht abzusehen ist». 

Justus Frantz  

General a.D. Harald Kujat 

Dr. Bruno Redeker

Professor Dr. Horst Teltschik

¹ «Diese Ukraine-Krise, in der wir uns gerade befinden, ist nur das Aufwärmen», so Admiral Charles Richard auf dem jährlichen Symposium der Submarine League 2022, damals Befehlshaber des US-Strategic Command. «Die grosse Krise kommt noch. Wir werden auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben. […] Wenn ich den Grad unserer Abschreckung gegenüber China einschätze, dann sinkt unser Schiff, langsam, aber es sinkt.»

 

Stellungnahme: Kein Verkauf von Schweizer Kampfpanzern an Deutschland

Deutschland sowie weitere EU- und Nato-Staaten wollen die Schweiz zwingen, Waffen und Munition direkt und indirekt in das Kriegsgebiet der Ukraine zu liefern. Sie ignorieren unter Verletzung der Souveränität, der Bundesverfassung und Gesetze der Eidgenossenschaft die immerwährende, bewaffnete und umfassende Neutralität der Schweiz. Die Liste der kreativen Ideen wird immer länger. Nun soll der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall die stillgelegten Kampfpanzer Leopard II der Schweizer Armee quasi zurückkaufen. Die Absicht sei, die durch die Lieferung von deutschen Panzern an die Ukraine entstanden Lücken zu füllen. Pro Schweiz lehnt dieses Vorhaben strikt ab. Einerseits kommt dieser Verkauf einer indirekten Waffenlieferung sehr nah und es besteht keine Garantie, dass die Schweizer Panzer schliesslich nicht im Kriegsgebiet zum Einsatz gelangen. Andererseits wäre es völlig verantwortungslos, jetzt die Kampffahrzeuge der Armee zu entziehen. Nach wie vor kann die Schweizer Armee ihre Kampfverbände nicht genügend ausrüsten. Die stillgelegte Leo-Flotte muss für die Sicherheit der Schweiz bereitgestellt werden. Das heisst konkret, die Fahrzeuge müssen rasch auf ihre Inbetriebnahme vorbereitet werden.

Der Präsident von Pro Schweiz, Dr. Stephan Rietiker fordert mit Nachdruck: «Jetzt die Schweizer Landesverteidigung und unsere Neutralität zu schwächen, indem neutralitätswidrig Reservematerial verhökert werden soll, ist fahrlässig, ja verantwortungslos. Solchen Taschenspielertricks und Mauscheleien ist mit Entschiedenheit entgegenzutreten. Der Bundesrat muss dem Ausland endlich klipp und klar erklären, dass weder direkt noch indirekt Schweizer Rüstungsgüter für Kriegsparteien zur Verfügung gestellt werden.» 

Quelle: pro Schweiz, 3. März 2023

https://proschweiz.ch/schweizer-armee-staerken-statt-waffen-verscherbeln/

Die Waffen nieder!

Leserzuschrift

Kriegsbegriffe beherrschen unseren Alltag: Der schrille Ruf nach weiteren Waffen, Flugzeugen, Panzern, Drohnen und Kriegsmaterialausfuhr ist unüberhörbar. Ein Denken in Kategorien des Krieges, das den Friedenswillen lähmen und Ohnmacht auslösen soll. Mit Stimmungsmache werden Friedensinitiativen, von wem sie auch stammen, desavouiert oder gänzlich verschwiegen. Menschen, die für den Frieden einstehen, werden lächerlich gemacht – traurigerweise sogar in unseren staatlichen Medien. Wem soll das dienen? – «Lassen wir uns nicht verhärten!», sang einst Wolf Biermann. Denn Krieg entspricht nicht der Natur des Menschen. Die Menschenwürde verlangt Frieden und soziale Verbundenheit.

«Krieg ist Wahnsinn, ist absurd», ruft Papst Franziskus auf, «lassen wir uns den Mut nicht rauben!» Setzen wir uns mit aller Kraft gegen den Krieg ein! Nehmen wir uns bekannte Friedensstifter zum Vorbild: Bertha von Suttner, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Uno-Generalsekretär Dag Hammarskjöld und viele mehr, die intellektuell und emotional gebildet mit Entschlossenheit, Friedensliebe und Zuversicht für eine humanere Welt wirkten.

Ulrich Meister, Menziken

Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen (Teil I) 

von Verena Tobler Linder*

In Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat Herr Cassis, zusammen mit den drei Frauen im Bundesrat, die tradierte schweizerische Neutralität versenkt. Diese war allerdings seit längerem bedroht, und zwar aus vielschichtigen Gründen – hier nur einige davon:

Kritik an der Neutralität gab es seit dem Zweiten Weltkrieg: Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Achsenmächten brachten den Verdacht auf, die Schweiz sei eine Kriegsgewinnlerin.

Seit 1945 hat die Schweiz sich stark verändert: Das grenzenlose Weltwirtschaften hat unserem Land neue Abhängigkeiten und ein Übermass an Komplexität gebracht. Ein Tohuwabohu, das nicht nur die Parteien und die Stimmbürgerschaft, sondern manchmal auch den Staat überfordert.

Die Bevölkerung hat sich durch die Einwanderung nahezu verdoppelt: Multikulturalisiert und globalisiert nimmt der Anteil an Neuschweizerinnen in der Stimmbürgerschaft rasch zu. Viele sind heute – direkt oder indirekt – mit dem Ausland verbunden und haben inzwischen zwei oder sogar noch mehr Pässe.

Die Parteien sind zersplittert. Alt- und Neulinke verstehen sich nicht: Erstere sind systemkritisch, letztere, je nach dem, an individuenzentrierter Sensibilität oder Empfindlichkeit orientiert. Grüne und Grünliberale stehen in Konkurrenz, wollen aber genauso weiterwachsen wie die SVP, die Alt- und Neoliberalen – erstere nationalterritorial verortet, letztere an der Hyperglobalisierung interessiert.

Zu unguter Letzt: Früher waren politische Ämter an Strukturen und damit verantwortungs-ethisch an- und eingebunden, heute werden sie oft als persönliche Rolle interpretiert – und dann entsprechend gesinnungsethisch eingefärbt oder publikumswirksam zelebriert.

Was tun?

Was tun in solch vertrackter Situation? Zuerst, was wir ganz und gar nicht brauchen können, ist «Groupthink».  Gruppendenken hat sich bereits in der Corona-Krise angekündigt: Es kommt auf, wenn Menschen Angst haben oder verunsichert sind. Dann nehmen Schwarz-Weiss-Malerei und Lagerdenken überhand, die Eigengruppe wird idealisiert, Andersdenkende und Fremde werden dämonisiert; es gilt nur noch das Entweder -oder. Das sind Erlebens- und Verhaltensmuster, die mit Realitätsverzerrungen verbunden sind und die zu gravierenden Fehlentscheidungen führen.

Was wir stattdessen dringend brauchen, ist ein Grundkonsens – ein Grundkonsens über die zentralen staatspolitischen Institutionen – und dazu gehören in der Schweiz beide: die Neutralität und die direkte Demokratie. Die direkte Demokratie gibt den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern die Möglichkeit, über wichtige Gesetze und Sachgeschäfte direkt und eigenständig zu entscheiden. Beides setzt Sachkenntnisse und Sachverstand voraus, aber auch ein besonderes Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat und zu ihren Mitbürgern. Denn lebendig bleibt die direkte Demokratie nur auf der Basis von «Politischer Fairness». 

Diese schliesst ein:

die Pflicht zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung,

den Mut, parteienübergreifend und kontrovers miteinander zu debattieren

den Respekt, der allen zukommt – auch dem politischen Gegner.

Das ist der Boden, auf dem die direkte Demokratie auch künftig funktionieren und unser Land in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen langfristig bestehen kann.

In diesem Sinn will ich im folgenden über die schweizerische Neutralität nachdenken. Nicht ihre staatspolitischen Regeln und Implikationen werde ich fokussieren, sondern jenen Aspekt der Neutralität ins Zentrum stellen, der unserem Land Besonnenheit bringt.

Die Neutralitäts-Initiative 

«Neutralität» – eine unparteiische Haltung in internationalen Konflikten – beinhaltet das Verhältnis der Schweiz zu sich selbst und zur übrigen Welt: nicht nur zu Europa und zum Westen, sondern zu jener weit grösseren «Restwelt», deren Bedeutung und numerisches Gewicht rasch zunimmt. 

Weil derzeit die tradierte Neutralität der Schweiz von innen und von aussen bedroht ist, hat alt Bundesrat Blocher eine Initiative angestossen. Konzipiert aber wurde die Neutralitäts-Initiative von einer  parteien-übergreifenden Gruppe, und zwar so, dass Herr Blocher weit – sogar sehr weit! –über seinen eigenen Schatten springen musste. Zu diesem Wagnis sei ihm herzlich gratuliert.

Nur ganz kurz zu dem, was von der tradierten Neutralität erwahrt werden soll. Wie bisher hat die Schweiz eine bewaffnete Neutralität mit einer Armee zur Selbstverteidigung. Sie beteiligt sich weder an Kriegen noch an nicht-militärischen Zwangsmassnahmen und sie tritt auch keinen Militärbündnissen bei. Aber ganz und gar Uno-konform trägt sie jene Sanktionen mit, welche die Uno verhängt.

Doch jetzt zum Neuen an der Initiative. Sie beinhaltet eine zukunftsweisende Chance für unser Land. Da heisst es nämlich: «Die Schweiz nutzt ihre Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.» Dieser Passus ist ein Segen – so wichtig, dass er Verfassungsrang braucht! Und zwar aus zwei Gründen: 

Zum einen kann auf dieser Basis das IKRK weiterhin seine Arbeit machen: 

auf beiden Seiten eines Kriegsgeschehens die Opfer unterstützen, 

das Los der Flüchtlinge erleichtern, 

Menschen in aller Welt vor staatlicher Willkür schützen. 

Zum andern aber geht dieser Passus weit darüber hinaus: Die offizielle Schweiz wird dazu verpflichtet, sich aktiv für den Frieden zu engagieren. Denn die integrale Neutralität, die dem IKRK seine Arbeit ermöglicht, vermag das nicht. Deshalb soll unser Land künftig konfliktlösende und friedenstiftende Institutionen schaffen und anbieten, während seine «Staatsträgerinnen» an ein Amt gebunden sind, das sie verfassungsgemäss und auf verantwortungsethischer Basis zu erfüllen haben. Damit wird – hoffentlich! –  auch in der Schweizer Bevölkerung wieder jene Besonnenheit ermöglicht, die für das gelingende Zusammenleben unverzichtbar ist.

Gestützt auf dieses neue Neutralitätsverständnis wird die Schweiz zu einem weltoffenen Land, zu einem Staat, in dem der Bundesrat, die Behörden und die Bürgerinnen und Bürger künftig lernen können, was nicht nur sie, sondern auch was andere brauchen, damit auf unserem Planeten ein gemeinsames und friedliches Überleben möglich wird. Denn dazu reicht die individualistische Optik, wie sie die liberale Ideologie vorgibt, nicht aus. Stattdessen sind – realitätsadäquat – sowohl die vorhandenen Ressourcen und der energetisch-technologische und juristische Machtapparat mitzudenken als auch die sozial konstruierte Wirklichkeit: die Institutionen und die verbindlichen Rollen, auf alle Gesellschaften seit eh und je und überall basieren. Auch wenn die konkrete Ausformung dieser gesellschaftlichen Parameter zeit- und kontextspezifisch unterschiedlich und in der ungleichen Weltwirtschaft sogar konfliktiv sind – in ihnen steckt der Schlüssel zum Überleben.

«Die Neutralität der Besonnenen»

Diesen neuen Spross habe ich «die Neutralität der Besonnenen» getauft. Besonnenheit braucht unser kleines Land, brauchen der Bundesrat, die Bundesbehörden und die Stimmbürger, wenn in der Schweiz sowohl die direkte Demokratie als auch der interne Frieden erhalten bleiben sollen. Besonnenheit braucht aber auch die grosse Welt – und zwar in Ost und West sowie in Süd und Nord – soll die Menschheit künftig auf sozial und ökologisch nachhaltiger Basis überleben. Was aber meint Besonnenheit? Laut Wikipedia, jene überlegte Gelassenheit, die sich in schwierigen Situationen ausreichend Verstand erwahren kann, so dass es zu keinen vorschnellen und unüberlegten Entscheidungen und Taten kommt. Während Besonnenheit auf den rationalen Aspekt verweist, fokussiert Gelassenheit den emotionalen: eine innere Ruhe – trotz Tohuwabohu und Ambivalenzen!

In meiner eigenen Diktion setzt Besonnenheit «Ambiguitätstoleranz» voraus: die Bereitschaft, Licht und Schatten zusammenzudenken. Das gilt für den eigenen Lebensstil, aber auch für die Moral.  Denn Moral ist zwar nötig, aber leider auch schrötig. Und schrötig bleibt sie, so lange sie ihren eigenen Schatten ausblendet.

Gleichzeitig ist mit dem neuen Neutralitäts-Passus die Gefahr gebannt, dass die Schweiz – vor lauter Besonnenheit – gar nicht handelt. Im Gegenteil: Die Schweiz handelt! Aber nicht kriegerisch, sondern am Ausgleich orientiert und auf Dienste verpflichtet, die Konflikte verhindern und lösen helfen.

Im folgenden will ich die Behauptung, dass beide – die grosse Welt und die kleine Schweiz – auf Besonnenheit angewiesen sind, mit einem Blick nach aussen und mit einen nach innen in die Schweiz unterlegen. 

Blick über die Zäune
unseres Nationalstaats hinaus

Weshalb ist die grosse Welt – mehr denn je – auf Besonnenheit angewiesen? «Earth4all» , die Folgeschrift auf «Die Grenzen des Wachstums», die Meadows vor 50 Jahren verfasst hat, listet fünf  Probleme auf, für deren Lösung es eine ausserordentliche Kehrtwende braucht. Ich greife hier nur die zwei dringlichsten auf: zum einen die klimatische und ökologische Bedrohung in Form der Klimaerwärmung und sinkenden Biodiversität; zum andern die soziale Bedrohung: die gewaltigen Ungleichgewichte zwischen Arm und Reich. Die beiden Probleme sind dramatisch miteinander verknüpft und Earth4all prognostiziert:

«Wenn wir unseren derzeitigen ökonomischen und politischen Kurs beibehalten, steuern wir auf eine weiter wachsende Ungleichheit zu.» Das löst soziale Spannungen aus, gesellschaftliche Zusammenbrüche und Kriege. «Diese Faktoren tragen […] zu inadäquaten Antworten auf den klimatischen und ökologischen Notstand bei.» 

Kurz: Wir stecken in einem Teufelskreis, den wir uns nicht länger leisten können! In einem Teufelskreis, den ich seit langem  – oft verzweifelt, bislang aber vergeblich – anmahne. Vielleicht greife ich ja nach einem Strohhalm? Doch nur keine unnötige Sorge! Auch mir ist klar, dass die kleine Schweiz die Welt nicht retten kann. Was unser Land aber kann: zum gelingen-den Gang der Dinge beitragen. 

Fakt ist: Kriege innerhalb und zwischen Staaten verunmöglichen, dass an der ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit gearbeitet werden kann. Kriege bewirken zumindest kurz- und mittelfristig das pure Gegenteil davon. Der Ukrainekrieg ist dafür nur eines von vielen Beispielen. Konflikte zu verhindern und zu lösen, wird deshalb dringender denn je. Und genau das schreibt die Neutralitätsinitiative der Schweiz in ihre Verfassung.

Kurz: Die Welt ist auf mehr Besonnenheit angewiesen, und die Schweiz kann dazu beitragen! 

Besonnenheit bedeutet: kein Nato-Beitritt

Weshalb aber gebietet Besonnenheit der Schweiz, nicht der Nato  beizutreten? Eine weltoffene Schweiz schlägt sich nicht auf die Seite der westlichen Grossmächte. Wer ausreichend nüchtern ist, um genau hinzusehen, weiss, dass die USA und andere Nato-Staaten seit Dekaden Kriege führen. Allein die USA haben seit 1991 251mal militärisch  interveniert, und zwar oft völkerrechtswidrig und stets mit gravierenden Schäden für die dortigen Menschen und deren Umwelt. Und – horribile dictu – es sind Kriege, die zunehmend im Namen der Menschenrechte bzw. der westlichen Werte und der Moral geführt werden.

Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass es sich nicht um Moral handelt, sondern um system- und strukturblindes Moralisieren. Denn soll unser Urteil über eine Moral – präziser: über eine spezifische gesellschaftliche Moralität – ethischen Kriterien genügen, so haben wir den Zugriff auf die Ressourcen in Rechnung zu stellen, mit dem die beurteilte Gesellschaft ihren Mitgliedern das Überleben sichern kann. Und dieser Zugriff fällt systematisch aus dem westlichen Wahrnehmungsraster hinaus – aus dem liberalen und dem neoliberalen. 

Wenn die USA für ihren Lebens- und Rechtsstandard aber derzeit sechs Planeten, die Schweiz immerhin noch drei vernutzen, dann stellen sich viele Fragen: Wozu misst der Westen die restliche Welt an seinem eigenen Lebensstandard, obwohl der mit massivem Überkonsum verbunden ist? Und warum massen sich ausgerechnet jene, die viel zu viel beanspruchen und die viel zu viel verbrauchen, an, den andern zu sagen, was rechtens ist und wo’s künftig lang gehen soll? Wird damit nicht zweierlei ausgeblendet: erstens die Verbindung, die zwischen wirtschaftlichen Strukturen einerseits, rechtlichen und sozialen Leistungen andererseits be-steht? Zweitens, dass der Westen seinen Lebensstandard und Überkonsum nur halten kann, so lange er über mehr Kapital, den besseren energetisch-technologischen Machtapparat, das überlegene juristische Instrumentarium verfügt? Wagen wir einen Blick ins Auge des Zyklons. Denn so ausgerüstet, kommen wir derzeit in der Schweiz alle – Reich und Arm, wenn auch zu ungleichen Teilen – in den Genuss eines grenzenlosen Zugriffs auf die globalen Ressourcen. Ein Zugriff, den sich vermutlich die Mehrheit der Menschen wünscht, ein Zugriff, der aber zwangsläufig anderswo und oft weit entfernt mit unökologischer Bewirtschaftung und schwindenden Ressourcen zusammengeht. 

Besonnene Alt- und Neuschweizerinnen wissen: Das system- und strukturblinde Moralisieren, das derzeit im Schwange ist, verdeckt die geostrategisch entscheidenden Interessen – das, wozu der Kapitalismus laufend gezwungen ist:

neue Märkte zu erobern;

neue Investitionsmöglichkeiten zu ergattern oder zu erstreiten;

den Zugang zu Rohstoffen, seltenen Erden zu erschliessen oder zu kontrollieren.

Eine Dynamik, die wie die Ungleichgewichte direkt mit der grenzenlosen Wachstumswirtschaft verbunden ist. Zugegeben – die Sache ist ambivalent: Der Westen hat mit seinem Wirtschaftssystem die Industrialisierung, die Wissenschaft, die weltweite Mobilität, das weltweite Netz ermöglicht und vielen Menschen ein besseres und längeres Leben gebracht. Ein Wirtschaftsmodell, das inzwischen von den meisten nicht-westlichen Staaten übernommen wurde: Sie hatten die Wahl, entweder erfolgreich mitzumachen oder aber unterzugehen.

Doch der Westen hat bereits vor 500 Jahren damit begonnen, sich die Restwelt zu seinem Vorteil zuzurichten und zu unterwerfen: Eroberung, Kolonialisierung, Sklaverei, Ausbeutung, Fremdherrschaft kamen zum Zug. Der Westen hat bereits zwei Weltkriege angezettelt, und er scheint nicht zu zögern, einen dritten zu entfachen. Und der Westen ist, obwohl hauptverantwortlich für die Klimaerwärmung, die sinkende Biodiversität, die rasch wachsende Polarisie-rung zwischen Armen und Reichen, wild entschlossen, sich «seine» unipolare Welt zu erhalten und weiterzufahren mit seinem Titanic-Kurs. Liz Truss, die einstige britische Premierministerin, hat das im April 2022 bislang am klarsten formuliert: «Wir brauchen eine Wirtschafts-Nato, die unseren Lebensstandard verteidigt.» 

Kurz: Das westliche Grossmachtstreben verschärft die Probleme statt sie zu lösen! So kann es nicht weitergehen: Es reicht! Auf der Basis der Neutralitäts-Initiative mit ihrem Besonnenheitspassus haben die offiziellen Vertreterinnen und Vertreter der Schweiz mit Blick auf die grosse Welt künftig einen verfassungsmässigen Auftrag zu erfüllen. Sie haben dafür zu sorgen, dass Konflikte verstanden, verhindert, vermittelt werden können. Sie haben über- oder all-parteilich zu intervenieren – eine grosse und wunderbare Herausforderung!

Die Schweiz und ihre offiziellen Vertreter und Vertreterinnen nehmen künftig Partei für den Frieden und für den Ausgleich.

Der zweite Teil des Artikels folgt in einer der nächsten Ausgaben.

* Verena Tobler Linder ist Ethnologin und Soziologin. Über lange Zeit war sie in der Entwicklungszusammenarbeit und in Flüchtlingslagern in Asien und in Afrika tätig (unter anderen für UNHCR, OXFAM, SRK, World Food Programm, DHE, heute Deza). In der Schweiz arbeitete sie mit Flüchtlingen und Asylsuchenden.

 

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