«Das Antiterror-Gesetz schafft unberechenbare Risiken und tut nichts für die Sicherheit unseres Landes»

Interview mit dem Schweizer Rechtsprofessor Dr. Nils Melzer*

Professor Dr. Nils Melzer (Bild zvg)
Professor Dr. Nils Melzer (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Im Interview zur Situation von Julian Assange, auf das wir viele positive Reaktionen bekommen haben, erwähnten Sie, dass die Gefahr bestehe, dass Strukturen geschaffen würden, die zum Nachteil einer demokratischen Gesellschaft verwendet werden könnten. Inwieweit treffen Ihre Bedenken dabei auf das neue Schweizer Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, kurz PMT genannt, zu?

Prof. Dr. Nils Melzer Das PMT ist ein gutes Beispiel, denn mit diesem Gesetz geben wir einer Behörde, der Bundespolizei, sehr viel Macht, ohne dass in der Praxis eine genügende Aufsicht besteht. Das ist schlecht, und zwar nicht, weil unsere Polizisten böse sind, sondern weil wir alle nur Menschen sind und unsere Schwächen haben.

Wie meinen Sie das?

Die sozialpsychologische und neurobiologische Forschung zeigt: Wenn Menschen Macht bekommen, und diese nicht überwacht wird, beginnen sie, diese im Sinne der von ihnen verfolgten Partikularinteressen zu missbrauchen. Das geschieht zunächst nur sehr massvoll, eskaliert aber sehr schnell, wenn keine Grenzen gesetzt werden. Wir Menschen tun das nicht, weil wir böse sind, sondern weil unser genetisches Betriebssystem darauf ausgerichtet ist, unser unmittelbares Eigeninteresse – oder das, was wir als solches wahrnehmen – zu sichern. Die sozialschädlichen Konsequenzen unseres Verhaltens werden dabei meist bereits auf der unbewussten Ebene ausgeblendet. In der komplexen Realität des 21. Jahrhunderts kann ein gerechtes und nachhaltiges Zusammenleben aber nur funktionieren, wenn es gewisse Kontrollmechanismen gibt.

Inwieweit werden durch das PMT Menschenrechte verletzt?

Menschenrechte werden auf alle Fälle tangiert. Das grösste Problem in diesem Gesetz ist jedoch seine Definition des Terrorismus. Diese Definition ist extrem expansiv und geht weit über alles hinaus, was in irgendeinem Rechtsstaat auf dieser Erde als Terrorismus gilt. Mit diesem unprofessionellen Terrorismusbegriff schiesst das Gesetz in fahrlässiger Weise am Ziel vorbei, schafft vollkommen unberechenbare Risiken und tut nichts für die Sicherheit unseres Landes.

Wie wird denn Terrorismus grundsätzlich definiert?

Es gibt zwar keine völkerrechtlich geregelte Definition von Terrorismus, und vor allem autokratische Staaten haben immer wieder die Tendenz, jeden politischen Dissens als Terrorismus zu brandmarken. Das ist natürlich missbräuchlich. Aber in demokratischen Rechtsstaaten sowie im Uno-Sicherheitsrat und anderen internationalen Gremien wird Terrorismus immer als die Kombination zweier Kernelemente verstanden: Erstens wird ein Gewaltverbrechen angedroht oder ausgeführt. Und zweitens geschieht dies, um aus politischen Motiven Angst und Schrecken zu verbreiten oder eine Regierung unter Druck zu setzen. Das ist die Essenz des weltweit anerkannten Terrorismusbegriffes.

Inwieweit weicht die Definition im PMT davon ab?

Sie benutzt zwar ähnliche Elemente, weicht jedoch in zweifacher Hinsicht stark davon ab. Erstens ersetzt das PMT den Begriff des «Gewaltverbrechens» mit demjenigen einer «schweren Straftat», was aber eben nicht nur klassische Terrordelikte wie Mord, Körperverletzung und Geiselnahme einschliesst, sondern auch schwere Fälle von Veruntreuung oder Betrug, die rein gar nichts mit einer terroristischen Bedrohung zu tun haben. Das ist natürlich nicht sinnvoll. 

Und zweitens?

Zweitens, und das ist geradezu gefährlich, gelten die Elemente der Terrorismusdefinition gemäss PMT nicht kumulativ, sondern alternativ. Um als Terrorist zu gelten, muss man also nicht mehr durch Androhung oder Ausführung eines Gewaltdeliktes Furcht und Schrecken verbreiten, sondern es reicht, wenn man entweder eine schwere Straftat androht oder ausübt, oder auf andere (nicht strafbare!) Weise Furcht und Schrecken verbreitet. Das heisst, sobald jemand den politischen Diskurs in der Schweiz mit Angstmache beeinflussen will, dann kann er gemäss PMT bereits auf die Terrorliste gesetzt werden, auch wenn keinerlei Gefahr einer Straftat droht.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Wenn jemand z. B das Referendum gegen das PMT ergreift und argumentiert, dass wir übermorgen Tyrannei haben werden, wenn wir das Gesetz nicht verhindern, verbreitet er Furcht und Schrecken. Mit dem Referendum möchte er natürlich die politische Staatsordnung beeinflussen, ist also nach dem Gesetz bereits ein terroristischer Gefährder. Dasselbe gilt, wenn jemand aus politischen Gründen Xenophobie, Pandemiepanik oder Umweltängste provoziert. Von den Befürwortern des PMT werden solche Beispiele als «absurd» zurückgewiesen, weil die Schweizer Behörden das Gesetz in der Praxis sicher nie so auslegen würden.

Steht denn im Gesetz nicht das, was gemeint ist?

Jedes Gesetz, das dem Staat Eingriffe in unsere Grundrechte erlaubt, muss aus Gründen der Rechtssicherheit klar und eindeutig formuliert sein. Unsachgemässe Definitionen müssen unbedingt vermieden werden, denn sonst kommt es irgendwann unvermeidlich zu Missbräuchen. Wie wir überall auf der Welt beobachten können und wie wir historisch sehr schmerzhaft lernen mussten, ist der gesunde Menschenverstand der Behörden leider ein vergängliches Gut, auf das man sich nicht verlassen kann. Sobald wir in der Schweiz einmal drei terroristische Bombenanschläge nacheinander hätten, würde sich die Stimmung nämlich auch bei uns sofort ändern. Darum braucht es ja eben gerade den Rechtsstaat mit seinen klaren, durchsetzbaren Normen und Definitionen.

Was für einen Einfluss hat das Schweizer Gesetz auf andere Länder?

Das ist tatsächlich ein wichtiger Aspekt, denn die Schweizer Rechtsordnung wird von anderen Staaten immer wieder als Modell für deren eigene Gesetze genommen. Wenn nun Staaten wie die Türkei und China sich am PMT orientieren und die neue Schweizer Terrorismusdefinition übernehmen, dann werden sie das natürlich ganz anders auslegen und jeden politischen Dissens als Terrorismus qualifizieren. Sie werden sich dabei aber immer auf den Schweizer Gesetzestext berufen können.

Sehen Sie noch andere Gefahren?

Ja, noch etwas ganz Wichtiges kommt hinzu. Was auch immer uns die Behörden weismachen wollen, in der Praxis bleiben die Listen der sogenannten Gefährder natürlich nicht geheim und unter Verschluss, sondern werden mit internationalen Partnern geteilt. Die Listen der Bundespolizei werden aufgrund von Informationen des Nachrichtendienstes erstellt. Und unser Nachrichtendienst bekommt seine Erkenntnisse über einen nordpakistanischen Prediger, der bei uns wohnt, natürlich nicht aus der NZZ, sondern wiederum von anderen Nachrichtendiensten, die in Nordpakistan präsent sind. Er muss also mit dem pakistanischen Geheimdienst kooperieren, normalerweise via die CIA oder vielleicht auch den deutschen Nachrichtendienst. Und diese Partnerorganisationen möchten als Gegenleistung für ihre Informationen natürlich Zugang zu den Schweizer Listen und zu den Erkenntnissen aus den Überwachungsmassnahmen der Bundespolizei. Über diese Realität sollte man sich keine Illusionen machen.

Was bedeutet die Zusammenarbeit im Hintergrund?

Diese Terroristenlisten gelangen natürlich nicht nur in die Hände der CIA oder des BND, sondern auch in die der lokalen Partnerorganisationen, welche die eigentliche Informationsbeschaffung vor Ort machen, also die ägyptischen, pakistanischen oder türkischen Geheimdienste. Wenn jetzt etwa ein Ägypter, der in der Schweiz wohnt und aufgrund der expansiven Terrorismusdefinition von der Bundespolizei vorsorglich als terroristischer Gefährder beobachtet wird, in Ägypten die Ferien verbringt, wird er dort vielleicht plötzlich am Flughafen verhaftet und als verdächtigter Terrorist verhört – was in Ägypten routinemässig unter grausamster Folter geschieht.

Sie sprechen hier sicher aufgrund Ihrer Erfahrung als Uno-Sonderberichterstatter über Folter.

Ja, ich habe täglich solche Fälle auf meinem Bürotisch. Menschen, die auf irgendwelchen ominösen schwarzen Listen stehen, die irgendwo zirkulieren, an irgendeinem Ort auf der Welt plötzlich verhaftet und gefoltert werden. In meinen zwanzig Jahren Erfahrung als Uno-Sonderberichterstatter, als sicherheitspolitischer Berater der Schweizer Regierung und als IKRK-Delegierter in Kriegsgebieten habe ich zu viel gesehen, um in diesem Zusammenhang noch Illusionen zu haben. Doch leider sind sich weder das Schweizer Parlament noch unsere Landesregierung bewusst, wie vernetzt und unkontrolliert der Kampf gegen den Terrorismus von den verschiedenen Geheimdiensten wirklich geführt wird.

Brauchen wir das PMT überhaupt?

Ich habe selbst in Kriegsgebieten gearbeitet, wo terroristische Anschläge eine tägliche Gefahr waren. Ich verstehe daher sehr gut und befürworte auch, dass die Polizei eine rechtliche Grundlage braucht, um präventive Massnahmen ergreifen zu können. Da muss man schon realistisch bleiben. Es ist auch tatsächlich so, dass immer wieder sogar Kinder für solche Angriffe instrumentalisiert werden. Dann muss man natürlich begleitende Massnahmen ergreifen können, um diese Kinder vor solchen Missbräuchen zu schützen. In unserem Strafrecht sind aber Vorbereitungshandlungen zu Gewaltverbrechen bereits heute strafbar. Wenn also jemand ein Gewaltverbrechen plant, hat man bereits heute das gesamte strafrechtliche Instrumentarium zur Verfügung, um diese zu verhindern und zu bestrafen.

Damit wäre die Ausweitung der gesetzlichen Kompetenzen gar nicht nötig.

Es braucht meiner Meinung nach keine zusätzliche Präventivhaft. Denn wenn einer ein Gewaltverbrechen vorbereitet, kann er dafür verhaftet und bestraft werden. Er befindet sich dann im Strafvollzug. Auch präventive Überwachungsmassnahmen können unter gewissen Umständen sinnvoll sein, aber dafür braucht es unbedingt eine richterliche Behörde, die das anordnet und das Ausmass und die Rechtfertigung solcher Ermittlungsmethoden durch die Untersuchungsbehörden laufend überwacht. Das ist schon schwierig genug. Denn woher soll ein Richter wissen, ob die von den Nachrichtendiensten zusammengetragenen Informationen zuverlässig sind oder nicht? Auch muss es eine Möglichkeit geben, solche Massnahmen als Bürger anzufechten, damit nicht alles im Geheimen abläuft. Die rechtsstaatliche Kontrolle der Terrorismusprävention ist also an sich schon eine grosse Herausforderung. Jede gesetzliche Regelung, die den Kompetenzbereich der Behörden unnötig ausweitet und sich auf unscharfe Definitionen und Kriterien stützt, muss daher unbedingt vermieden werden.

Was könnten die Folgen dieser Ausweitung sein?

Wenn wir anfangen, die rechtsstaatlichen Schutzmechanismen abzubauen, wird es über kurz oder lang zu Missbräuchen kommen, das ist immer und überall so. Zum Beispiel im Steuergesetz wird jede Lücke schamlos ausgenutzt, auch im Strassenverkehrsrecht können wir das beobachten. Wir Menschen sind von Natur aus so, wir nutzen den uns gewährten Spielraum immer maximal aus. Wenn man es jetzt den Behörden überlässt, selbst zu entscheiden, wer ein Terrorist ist oder was sie für Massnahmen ergreifen wollen, dann kommt das auf lange Sicht garantiert nicht gut.

Was man beobachten kann, ist doch ein immer grösserer Rückgang an Rechtsstaatlichkeit.

Ja, das ist tatsächlich so. Für die meisten von uns ist die Rechtsstaatlichkeit bereits so selbstverständlich geworden, dass wir ihre Bedeutung für unser alltägliches Wohlergehen gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Es ist wie mit der Luft. Solange man atmen kann, nimmt man ihre Wichtigkeit kaum wahr. Wenn man aber einmal keine Luft mehr kriegt, dann geht es keine Minute, bis man seine Prioritäten anders zu setzen beginnt. Doch leider ist es dann oft schon zu spät. Genauso verhält es sich mit der Rechtsstaatlichkeit. Wenn sie nicht mehr da ist, dann kommt plötzlich das grosse Erwachen. Doch auch hier ist es dann in der Regel bereits zu spät, um die Katastrophe noch verhindern zu können.

Noch ist in Bezug auf das PMT nichts entschieden?

Nein. Ich bin sehr erleichtert und als Schweizer auch ein bisschen stolz, dass es gelungen ist, das Referendum zustande zu bringen. In welchem anderen Staat der Erde hat die Bevölkerung die Möglichkeit, bei einem derart schwerwiegenden Versagen von Parlament und Regierung selber noch die Notbremse zu ziehen? Anderswo wäre das Gesetz nun bereits in Stein gemeisselt. Es ist zu hoffen, dass wir nun endlich eine sachliche und kompetente Diskussion führen können über das, was mit diesem Gesetz überhaupt erreicht werden soll und wie man das bewerkstelligen kann, ohne die mühsam erkämpften Errungenschaften von Rechtsstaat und Menschenrechten über Bord zu werfen.

Herr Professor Melzer, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Nils Melzer, United Nations Special Rapporteur on Torture, Vice-President, International Institute of Humanitarian Law, Sanremo Human Rights Chair, Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights Professor of International Law, University of Glasgow.

 

Volksabstimmung vom 7. März 2021: In Indonesien bestimmen internationale Konzerne

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Am 7. März stimmt das Schweizervolk über das Freihandelsabkommen mit Indonesien ab, für das im Abstimmungsbüchlein wie folgt geworben wird: «Der Handel soll nicht auf Kosten von Mensch und Umwelt gehen», so Bundesrat und Parlament, deshalb «bekennen sich die Schweiz und Indonesien zu den Menschenrechten, zu den Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von besonders schutzbedürftigen Gruppen sowie zum Umweltschutz». Wäre der Handelspartner Österreich oder Schweden, kann man davon ausgehen, dass ein solches «Bekenntnis» nach Unterzeichnung des Vertrages umgesetzt wird. Im Falle von Indonesien muss man jedoch von einem Lippenbekenntnis ausgehen, das von der Realität vom Tisch gewischt werden wird. 

Die indonesische Regierung steht unter dem Druck internationaler geopolitischer Interessen und internationaler Konzerne und ist nach Abschluss des Vertrages nicht in der Lage, den Schutz der Menschenrechte ihrer Völkerschaften und den Schutz der Natur zu garantieren, wie folgende Rückblicke in die Geschichte zeigen. 

Abhängig – trotz Unabhängigkeitserklärung 

Der Vielvölkerstaat Indonesien mit unzähligen Inseln und mehr als 200 Sprachen war lange unter holländischer Kolonialherrschaft. Nach schweren, verlustreichen Aufständen der indonesischen Befreiungsbewegung unter Führung von Achmed Sukarno und Mohammad Hatta kam es 1949 mit den Holländern zu Verhandlungen über die indonesische Unabhängigkeit. Wirkliche Unabhängigkeit wurde Indonesien nicht zugestanden. Unter dem Druck der USA musste das Land massive Zugeständnisse machen. Von der Kolonialmacht vergebene Lizenzen, Konzessionen und Rechte musste der junge Staat anerkennen und übernehmen. Ausländische Banken dominierten auch weiterhin die indonesischen Banken. Die Zentralbank, zuständig für nationale Devisenreserven und Geldschöpfung, blieb in holländischem Privatbesitz. Holländische Unternehmen durften weder nationalisiert noch enteignet werden. Auch die Schifffahrt blieb in holländischer Hand. Zudem hatte Indonesien die Schulden der ehemaligen Kolonialmacht von 1,3 Milliarden Dollar zu übernehmen, von denen 30 % als Devisen zu berappen waren.¹

Indonesien unter der unsichtbaren Hand der USA

Nach dem 2. Weltkrieg weiteten die Machtblöcke USA und Sowjet­union im Kalten Krieg ihre Einflusssphären aus. Zeitgleich begannen Länder der 3. Welt – unabhängig von der UdSSR und den USA – im Zuge der Entkolonialisierung, ihren eigenen Weg zu gehen, und gründeten 1955 im indonesischen Bandung die Bewegung der Blockfreien. Präsident Sukarno als einer der führenden Köpfe eröffnete die Konferenz: «Dies ist die erste interkontinentale Konferenz von farbigen Völkern in der Geschichte der Menschheit. (…) In den letzten Jahren haben wir ungeheure Veränderungen gesehen. Nationen, Staaten sind erwacht aus einem jahrhundertelangen Schlaf.»² In der Schlusserklärung einigten sich 29 Länder aus Afrika und Asien auf wirtschaftliche, kulturelle und politische Zusammenarbeit und erklärten ihre «volle Unterstützung der Menschenrechte» und des «Prinzips der Selbstbestimmung der Völker und Nationen». Gefordert wurde die Beendigung des Kolonialismus und des Neoimperialismus, so auch der friedliche Übergang in die Unabhängigkeit für die französischen Kolonien Algerien, Marokko und Tunesien.³

Dieses neue Selbstbewusstsein in den Ländern der 3. Welt stand in diametralem Widerspruch zu den amerikanischen Interessen. Dazu kam, dass die indonesische kommunistische Partei bei Wahlen grössere Erfolge hatte und zu einem wichtigen Teil der Koalitionsregierung unter Präsident Sukarno wurde. 1956 äusserte der stellvertretende Direktor für die Planungen von verdeckten Operationen bei der CIA: «Ich denke, es wird Zeit, dass wir Sukarnos Füsse ins Feuer halten.»⁴ Um Sukarno zu stürzen, wurden in Indonesien mit Geldern, Waffen, Söldnern und Beratern verdeckt Aufstände geschürt, an denen auch die US-Luftwaffe (ohne Kennzeichnung) und ein Teil der Marine beteiligt waren. Als dann aber ein abgeschossener Pilot Dokumente der CIA auf sich trug, konnte die indonesische Regierung vor der Weltöffentlichkeit diese Machenschaften offenlegen, und die USA mussten sich zurückziehen.⁵

Der Plan, Sukarno zu entmachten, blieb bestehen, wie eine Aktennotiz der CIA von 1962 über ein Gespräch zwischen dem US-Präsidenten Kennedy und dem englischen Premierminister Macmillan zeigt: «Sie beschlossen, Präsident Sukarno zu liquidieren, sobald sich die Gelegenheit dazu ergäbe. (Mir [dem CIA-Beamten] ist nicht klar, ob das Wort ‹liquidieren› Mord oder Umsturz bedeutet.)»⁶ Damit sollte auch die Bewegung der Blockfreien und die antiimperialistischen Bestrebungen in der 3. Welt entscheidend geschwächt werden. 

General Suharto öffnet Indonesien für Konzerne

1965 putschte die indonesische Armee. Ein Teil des Generalstabes und der Offiziere war von den USA ausgebildet worden. General Suharto übernahm die Macht und liess die indonesischen Kommunisten gnadenlos massakrieren.⁷ Eine Beteiligung der USA an dieser Machtverschiebung geht aus deklassifizierten Dokumenten hervor.⁸

Unter Suharto wurde die indonesische Wirtschaft von indonesischen Ökonomen, die an der Universität Berkley, Kalifornien, studiert hatten, neoliberal umgestaltet. 1967 wurde ein neues Gesetz über ausländische Investitionen erlassen. Gas- und Ölfelder, Gold-, Kupfer- und Nickelminen, Edelsteine und tropische Hölzer wurden ausländischen Investoren zu günstigen Bedingungen zugehalten und verschafften Weltkonzernen im Bergbau- und Energiebereich riesige Gewinne – bis heute. Als erste erhielt die amerikanische Bergbaugesellschaft Freeport Sulphur Zugang zum Abbau von Gold und Kupfer in West Papua. Die neoliberale Wirtschaftspolitik wurde von den nachfolgenden indonesischen Regierungen bis heute weitergeführt.

Fazit zur Abstimmung vom 7. März

Wie mit den Menschenrechten und mit der Natur umgegangen wird, ­bestimmen auch unter der heutigen indonesischen Regierung internationale Konzerne.⁹ Das ­indonesische Bekenntnis zum Schutz der Menschenrechte und der Natur, wie es im Abstimmungsbüchlein zu lesen ist, ist und bleibt damit nur ein Papiertiger. Die indonesische Realität, wie sie Budi Tjahojono, ein Franziskanerpater, im folgenden Artikel beschreibt, wird auch nach Abschluss des Freihandelsvertrages von den internationalen Konzernen diktiert werden. 

¹ Armin Wertz: Sie sind viele, sie sind eins – Eine Einführung in die Geschichte Indonesiens. Frankfurt am Main 2009, S. 165.
² Opening address given by Sukarno (Bandung, 18. April 1955)
³ Asian-African Conference Bandung, April 18-24, 1955, Finalcommunique
⁴ William Blum: Killing Hope – Zerstörung der Hoffnung – Globale Operationen der CIA seit dem 2. Weltkrieg. Frankfurt am Main 2016. S.189 
⁵ Blum, S. 189–198
⁶ Aktennotiz des CIA vom 18. Juni 1962, Declassified Documents Reference System, Band 1975, Dokument 240A, zitiert in Blum, S. 380
⁷ Die Zahl dieser Opfer wird auf 500 000 bis zu einer Million geschätzt. US-Diplomaten leiteten Listen mit rund 5000 Namen von kommunistischen Funktionären an die Armee weiter. «Für die Armee war dies eine grosse Hilfe. Sie tötete wahrscheinlich viele Menschen, und ich habe wahrscheinlich eine Menge Blut an den Händen, aber das ist nicht weiter schlimm. Es gibt nun einmal Zeiten, da muss man im entscheidenden Moment hart zuschlagen», so ein ehemaliger Mitarbeiter der US-Botschaft in Jakarta. Blum, S. 377f.
⁸ Blum, S. 376 – 385
⁹ Fahmi Panimbang: Im Schatten der Diktatur – Die Regierung Indonesiens folgt den autoritären Pfaden der Vergangenheit, Arbeitsrechte werden beschnitten, der Einfluss des Militärs wächst, 09.11.2020, www.ipg-journal.de/regionen/asien/artikel/indonesien-4773/

Menschenrechte und Ausbeutung natürlicher Ressourcen in Indonesien, insbesondere in West Papua

von Budi Tjahjono, Koordinator des Asien-Pazifik-Programms, Franciscans International

Der rechtliche Status der indigenen Völker in Indonesien wird zur Zeit ständig diskutiert. AMAN (Indigenous Peoples Alliance of the Archipelago) schätzt, dass in Indonesien 50–70 Millionen Mitglieder indigener Völker beheimatet sind. Zwar anerkennt Indonesien die Uno-Deklaration über die Rechte indigener Völker, setzt diese jedoch nicht wirklich um. So wird die indigene Bevölkerung zunehmend durch Gewalt und kriminelles Verhalten bedroht, oft im Zusammenhang mit Investitionen in den indigenen Gebieten.

West Papua, bestehend aus den indonesischen Provinzen Papua und Papua Barat, umfasst die westliche Hälfte der Insel Neuguinea. Die indigenen Papuas werden den Melanesiern zugeordnet.

Im Zuge der Entkolonialisierung fand 1969 unter Aufsicht der Uno die «Act of Free Choice» [Abstimmung]  statt, an der nur eine Handvoll Papuas teilnahm. In der Folge wurde West Papua von Indonesien annektiert. Trotz der Zweifel an der Rechtmässigkeit dieses Prozesses, der von verschiedenen Gruppen inner- und ausserhalb West Papuas angefochten wird¹, wird West Papua international als Teil Indonesiens anerkannt.

Die tropischen Wälder West Papuas bedecken eine Fläche von 42 Millionen Hektar. Sie bilden 24 % der bewaldeten Fläche Indonesiens, und beherbergen 54 % der indonesischen Biodiversität. Gemeinsam mit Papua-Neuguinea verfügt West Papua über das drittgrösste Tropenwaldgebiet weltweit, nach dem Amazonas und dem Kongobecken. Auch ist die Region reich an Bodenschätzen. Sie beherbergt die grösste Goldmine und die drittgrösste Kupfermine weltweit. Allerdings haben die Minen den lokalen indigenen Völkern mehr Schaden zugefügt als Nutzen gebracht.²

Menschenrechtsverletzungen aufgrund der Ausbeutung natürlicher Ressourcen

• Palmölplantagen

Land- und Ressourcenkonflikte, die durch die Konzessionen für Ölpalmenplantagen verursacht werden, tragen zu erhöhter Armut bei, da das Land indigener und lokaler Gemeinschaften verloren geht und in grossflächige Palmölplantagen umgewandelt wird.³

In Feldbeobachtungen weist AMAN noch auf andere schädliche Auswirkungen der Palmölplantagen hin wie auf die Verringerung des Lebensraums indigener Völker durch ökologische Degradierung und auf einen Verlust ihrer kulturellen Identität.⁴

Die Pusaka Foundation hat die fortschreitende Zerstörung des tropischen Waldes in Papua zugunsten der Palmölproduktion dokumentiert. Anhand von Satellitenbildkarten und Beobachtungen vor Ort zeigte sich, dass zwischen Januar und Mai 2020 1488 Hektaren Waldfläche verloren gingen, was einer Grösse von 2084 Fussballfeldern entspricht. Zu erwarten ist, dass das Ausmass der Abholzung weiter zunehmen wird.⁵

2020 dokumentierte Amnesty International in Indonesien Verhaftungen, Einschüchterungen und Angriffe auf zumindest 61 Menschenrechtsvertreter einschliess­lich Vertreter indigener Gemeinschaften, die deren Rechte bei Konflikten mit Unternehmen und staatlichen Institutionen verteidigen. Der jüngste Zwischenfall ereignete sich in Langkat, Nordsumatra. Als die indigene Gemeinde Penunggu ihren herkömmlichen Grund und Boden gegen das staatliche Plantagenunternehmen PT Perkebunan Nusantara II (PTPN II) verteidigte, kam es zu Zusammenstössen mit Sicherheitskräften, darunter auch Militärs. Mit dem «Omnibus-Gesetz»⁶, das den Konzernen den roten Teppich ausrollt, um die natürlichen Ressourcen des Landes mit minimaler oder gar ohne Behinderung abzubauen, werden Menschenrechtsverletzungen gegenüber indigenen Gemeinschaften in den kommenden Jahren zunehmen, wenn das neue Gesetz bestehen bleibt.⁷

• Bergbauaktivitäten von Freeport⁸

Die Exporte aus Indonesien in die Schweiz erreichten vom Januar bis September 2020 einen Wert von 2,5 Mrd. USD (ein Anstieg von 187 % im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019). Davon entfallen 1,9 Mrd. USD auf Goldexporte gemäss Angaben der Eidgenössischen Zollverwaltung. Rund 4 % des weltweit geförderten Goldes stammt aus Indonesien, die Hälfte davon kommt aus der Grasberg-Mine, der grössten Goldmine der Welt, die zugleich auch eine Kupfermine ist. (…) Die Mine befindet sich in West Papua und verursacht schwere Umweltschäden. Es gibt keine Umweltvorschriften, Untersuchungsergebnisse werden nicht veröffentlicht, und unabhängige Messungen sind nicht erlaubt.

Unter der Diktatur von Hadji Mohamed Suharto (1967–1998) gewann der Bergbau grosse Bedeutung. Dabei wird die Grasberg-Mine mit der Vertreibung und Ermordung von vielen Tausenden Papuas in Verbindung gebracht. Die Mine ist im Besitz von PT Freeport Indonesia, einem amerikanischen Unternehmen, dem grössten privaten Steuerzahler in Indonesien mit sehr guten Beziehungen zur Politik und zum Militär. Inzwischen konnte der indonesische Staat in einem historischen Deal seinen Anteil an der Grasberg-Mine auf 51,23 % erhöhen.

Das transnationale Bergbauunternehmen Freeport-McMoRan baut in West Papua seit Jahrzehnten Mineralien ab. Sein Tochterunternehmen PT Freeport Indonesia ist auch der grösste Arbeitgeber in der Provinz Papua. In den letzten Jahren wurde dem Unternehmen vorgeworfen, bewaffnete Konflikte im Gebiet von Mimika (Mimika Regency) zu schüren, die zu grossflächigen Umweltschäden und zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Stämmen der Amungme und Kamoro führten. (…) Solche Vorgänge sowie das Versagen der Regierung, die indigenen Gemeinden vor Umweltverschmutzung zu schützen und ihr Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung (FPIC) bezüglich der Nutzung ihres angestammten Landes für nationale Interessen zu gewährleisten, sind sinnbildlich für die anhaltende staatliche Vernachlässigung und Diskriminierung, der die indigenen Papuas in Indonesien ausgesetzt sind.

Die grossflächigen Zerstörungen von Meeres- und Waldgebieten, die PT Freeport Indonesia vorgeworfen werden, wirken sich schwerwiegend aus auf die Lebensgrundlage der indigenen Kamoro und Amungme-Gemeinschaften, den rechtmässigen Eigentümern des Landes ihrer Vorfahren. Die indonesische Regierung toleriert diese Verstösse und ignoriert auch weiterhin die Rechte der indigenen Gemeinschaften auf das Recht der FPIC, indem sie diese von den laufenden Verhandlungen mit PT Freeport Indonesia über die Verlängerung der Bergbaukonzession bis 2041 ausschliesst. 

Quelle: Pressemappe des Referendumskomitees «Stop Palmöl», 11. Januar 2021

¹ «Der indigenen Bevölkerung von West Papua wurde nie die Möglichkeit gegeben, ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuüben, und West Papua wurde Indonesien einverleibt ohne das Einverständnis seiner indigenen Bevölkerung». Thomas D. Musgrave: An analysis of the 1969 Act of Free Choice in West Papua, S. 227, in: Sovereignity, Statehood and State Responsibility, Hrsg. Christine Chinkin, Freya Baetens, www.ipwp.org/wp-content/uploads/2016/04/Musgrave-An-analysis-of-the-1969-Act-of-Free-Choice.pdf
² Siehe https://www.iwgia.org/en/indonesia/3602-iw-2020-indonesia.html
³ www.hrw.org/report/2019/09/23/when-we- lost-forest-we-lost-everything/oil-palm-plantations-and-rights-violations
www.iwgia.org/en/indonesia/3602-iw-2020-indonesia.html
⁵ Am massivsten wurde im Gebiet der Ölpalmen-Plantagenfirma PT. Medcopapua Hijau Selaras im Manokwari Regency abgeholzt mit 372 Hektar; PT. Internusa Jaya Sejahtera in den Bezirken Ulilin und Eligobel, Merauke Regency mit einer Fläche von 372 Hektar; PT. Megakarya Jaya Raya im Bezirk Jair, Boven Digoel mit 222 Hektar; und PT. Subur Karunia Raya in Teluk Bintuni Regency mit 110 Hektar. Vgl. Bericht der Pusaka Foundation, https://pusaka.or.id/en/2020/06/deforestation-during-the-covid19-pandemic-in-papua/.
⁶ Am 05.10.2020 verabschiedete das indonesische Parlament das über 1000 Seiten umfassende «Omnibus-Gesetz», das Arbeits- und Umweltgesetze dereguliert zugunsten von Wirtschaft und von vermehrten Investitionen. https://www.asienhaus.de/nc/aktuelles/detail/indonesisches-omnibusgesetz-solidaritaet-mit-den-protesten-gegen-sozialabbau-und-umweltzerstoerung/
www.newmandala.org/indonesias-omnibus-law-is-a-bust-for-human-rights/
⁸ Sonderbericht der International Coalition for Papua (ICP) https://www.humanrightspapua.org/images/docs/PT_Freeport_Indo_tail_of_violations_in_Papua_Dec 20.pdf

 

Drehtüreffekt: Vom Staatsmann zum Profiteur indonesischer Ressourcen

hhg. Wie deklassierte geheime Dokumente der amerikanischen Botschaft in Jakarta zeigen, wurde auch die völkerrechtswidrige Annexion Westpapuas von 1969 durch die indonesischen Militärs – verdeckt – von US-Präsident Nixon und seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger unterstützt.¹ Mit seiner Rückkehr ins Privatleben gründete Kissinger die Firma «Kissinger Associates», und brachte multinationale Konzerne und Regierungen miteinander ins Geschäft. 1989 wurde er Vorstandsmitglied bei Freeport-McMoRan. Ein Jahr später handelte Kissinger für Freeport, die mit den indonesischen Militärs in einem Joint Venture verbunden sind, eine Lizenz für mehr als 30 weitere Jahre aus für den Gold- und Kupferabbau in West-Papua. 

Quelle: Christopher Hitchens: Die Akte Kissinger. Stuttgart/München 2001, S.193–201.

¹ Dokumente 1–11, herausgegeben von Brad Simpson: Indonesia’s 1969 Takeover of West Papua Not by «Free Choice», The National Security Archive.

 

«Es wird nach doppelten Standards gehandelt»

«Der Militäreinsatz der Bundeswehr in Afghanistan geht ins zwanzigste Jahr»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die EU hat neue Sanktionen gegen Russ­land beschlossen, begründet mit der Inhaftierung von Alexej Nawalny. Wie ordnen Sie diesen Schritt ein?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Meines Erachtens herrscht hier eine doppelte Selektivität des Westens vor. Einmal die Selektivität, was kritische Stimmen in Russland angeht. Natürlich ist Russland ein souveräner Staat, der grundsätzlich seine eigene Politik betreibt. Ich verstehe aber auch Menschen, die auf die Strasse gehen und ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. 

Was sind die Gründe für die Demonstrationen?

Es geht um soziale Fragen, aber auch um mehr Freiheit, um demokratische Rechte. Es gibt eine Tendenz zur autoritären Entwicklung in Russland. Dadurch ist eine Unzufriedenheit geweckt, und das schon eine gewisse Zeit. Aber dafür interessiert sich der Westen nur sehr selektiv. 

Wie meinen Sie das?

Ich nehme das Beispiel Pawel Grudinin. Er war Präsidentschaftskandidat, ist parteilos, aber die kommunistische Partei hatte ihn aufgestellt, und er erzielte ein überraschend gutes Ergebnis. Er rangierte an zweiter Stelle hinter Putin. Auch er war gewissen Repressionen ausgesetzt, aber er steht politisch eher links, und dafür interessiert sich der Westen nicht. Er ist zwar sehr populär, aber in der EU und den USA stützt man sich nur auf Nawalny, weil er ein Mann des Westens ist. Das, was man uns hier präsentiert, ist sehr, sehr selektiv. Nawalny ist in Russland bei weitem nicht so populär, wie es in unseren Medien dargestellt wird. Immerhin hat Amnesty International inzwischen auch seine rechtsextreme Vergangenheit anerkannt und betrachtet ihn wegen seiner rassistischen Äusserungen nicht länger als «gewaltlosen politischen Gefangenen».

Sie sprachen von einer doppelten Selektivität. Worauf bezieht sich der zweite Aspekt?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates (EGMR) hat die Freilassung Nawalnys verlangt, und es wäre natürlich gut, Russland würde der Empfehlung folgen. Der Westen stützt sich jetzt natürlich auf das Urteil. Der Gerichtshof hat eine «interim measure» (eine vorläufige Massnahme) beschlossen, die verlangt, dass Nawalny sofort freigelassen werden soll. Diese «interim measure» spielt nun eine grosse Rolle beim Beschluss der EU gegen Russland. Das ist aber speziell, denn es gibt unzählige «interim measures», die nicht umgesetzt werden. Kein Mensch interessiert sich dafür. Und wenn man den Menschenrechtsgerichtshof stärken will, müsste man sich für die Umsetzung aller vorläufigen Massnahmen einsetzen.

Ist es typisch für Russland, dass es diese Massnahme nicht umsetzt?

Nein, die Umsetzungen von Entscheidungen des EGMR sind ein grundsätzliches Problem, kein spezifisch russisches. Auch die Türkei setzt beispielsweise viele Urteile nicht um. Jetzt wird das aber im Fall Nawalny so hochgespielt, und das ist völlig inakzeptabel. Das ist die zweite Selektivität. Man ignoriert all die Urteile – im Jahr 2020 waren es etwa 1000, davon sind nur ein Drittel umgesetzt worden – prangert jetzt aber Russland an. Man nimmt einen Punkt bei Nawalny und bauscht ihn ungeheuer auf, was am Ende zu einem diplomatischen Eklat führt: Die EU ergreift neue Sanktionen, und die Russen drohen mit Abbruch der diplomatischen Beziehungen, und so geht das immer weiter. Das ist völlig falsch. Es wird nach doppelten Standards gehandelt. 

Hat die erneute Zuspitzung der Situation zwischen der EU und Russ­land etwas mit dem Regierungswechsel in den USA zu tun?

Die Auseinandersetzung um Nawalny hatte bereits begonnen, bevor Biden die Wahlen gewann. Ob es jetzt nochmals eine Verstärkung aus den USA gegeben hat, kann ich nicht sagen, aber Positives kann man von Biden in Bezug auf die Russlandpolitik sicher nicht erwarten. 

Biden betont immer wieder die Stärkung der Nato. In den letzten Jahren macht das Militärbündnis Front gegen Russland. Diese Position scheint sich zu verstärken.

Das ist tatsächlich das, was ich und auch andere erwartet haben. In den deutschen Medien war während der Wahl in den USA ständig die Rede davon, dass man jetzt mehr aufrüsten müsse. Mit ­Biden existiert wieder ein guter Partner im transatlantischen Bündnis und als Konsequenz wurde daraus gezogen, dass jetzt in den europäischen Staaten die Verantwortung darin liegt, möglichst viel Geld in die Rüstung zu stecken. In vorauseilendem Gehorsam will man das Zwei-Prozent-Ziel erreichen. Damit versucht man in der Bevölkerung die Akzeptanz für eine weitere Aufrüstung zu erreichen. 

Gab es keinen Druck aus den USA?

Mir schien es, dass es keinen sonderlichen Druck aus den USA gab. Als aber klar wurde, dass Biden der neue Präsident werden würde, wurde die Aufrüstung sehr stark von den politischen Eliten vorangetrieben. Das ist kein gutes Zeichen. 

Wir sprachen gerade über die Bedeutung des EGMR. In dem Zusammenhang interessiert mich, wie Sie das aktuelle Urteil¹ zu dem von Oberst Klein befehligten Kampfeinsatz in Afghanistan deuten, der mehrere unschuldige Zivilisten auf dem Gewissen hat?

Das Urteil ist enttäuschend. Dennoch kann ich zumindest etwas Positives darin sehen, nämlich dass die Klage zugelassen wurde. Es ist wichtig für die Zukunft, dass das Gericht hier keine Unzuständigkeit erklärt hat. Es ging vor allem darum, ob die Aufarbeitung des Vorgangs rechtsstaatlichen Standards entspricht und ob genug zur Aufklärung des Vorfalls getan wurde. Aber wie gesagt, das Ergebnis ist sehr enttäuschend. Das Verrückte ist, dass der damalige Oberst Klein nach diesem Vorfall zum General befördert wurde. Einige Jahre nach diesem Ereignis hat er in der Bundeswehr einen regelrechten Karrieresprung gemacht. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer. 

Können Sie nachvollziehen, warum der EMGR ein solches Urteil gesprochen hat?

Man kann sich vorstellen, dass bei so hoch politischen Themen, – und es geht aktuell darum, dass der Afghanistaneinsatz der Deutschen verlängert werden soll – ein gewisser Druck auf das Gericht besteht, nicht in eine breite, von mehreren Staaten angelegte Strategie hineinzufunken. Ich könnte mir so eine Rahmensituation vorstellen, die es schwer macht, anders zu urteilen. 

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan hatte bei einer grossen Mehrheit der Bevölkerung nie eine Akzeptanz. Dennoch hat die Bundesregierung den Einsatz immer wieder verlängert. Wie soll das in Zukunft weitergehen?

Der Krieg in Afghanistan geht ins zwanzigste Jahr. Der erste Bundestagsbeschluss war kurz vor Weihnachten 2001. Das war unter der SPD/Grüne-Regierung. Das war damals ein ungeheuerlicher Vorgang. Schröder wollte eine SPD/Grüne Mehrheit für den Einsatz erreichen, obwohl CDU und FDP so oder so zugestimmt hätten. Schröder hatte damals die Frage des Einsatzes mit der Vertrauensfrage verknüpft. Es entstand ein enormer Druck auf diejenigen, die den Einsatz ablehnen wollten. Das war insbesondere bei den Grünen der Fall, die am Ende ausgelost haben, wer dem Einsatz zustimmen muss und wer Nein sagen darf. Es durfte eine gewisse Zahl der nein-Sagenden nicht überschreiten, sonst wäre die Regierung gefallen. Das wollte man nicht. Das war natürlich eine massive Beugung der Gewissensfreiheit, die im Grundgesetz verankert ist. Schröder hat das damals ohne Not gemacht, denn CDU und FDP hätten auf alle Fälle zugestimmt. 

Warum schickte man Soldaten nach Afghanistan?

Das war eine Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001, an dem wohlgemerkt kein Afghane beteiligt war. Von den offiziell 17 Beschuldigten hatte keiner die afghanische Staatsbürgerschaft. Damals hatte man argumentiert, das Taliban-Regime sei ganz schwach und würde sehr schnell stürzen. Nach wenigen Wochen zeigten die Medien Bilder von Mädchen, die zur Schule gingen, als Beweis für die gewonnene Freiheit. Alles habe sich nach dem kurzen Militäreinsatz gut entwickelt. Tatsache ist, der Einsatz geht jetzt ins zwanzigste Jahr und wird immer weiter verlängert und verlängert, immer mit dem Argument, dass es viel schlimmer wäre, wenn man jetzt abziehen würde. Die Situation wird nicht besser. 

Was wollte man denn mit dem Einsatz erreichen?

Es herrschte die Auffassung vor, dass man über einen Krieg gegen die Taliban die Demokratie und den gesellschaftlichen Fortschritt in Afghanistan herstellen kann. Jedes Jahr wurde der Einsatz verlängert, ohne dass man diesen einmal evaluiert oder darüber nachgedacht hätte, ob es auch andere Möglichkeiten gäbe, den Menschen im Land zu helfen. Etwas, was die Linksfraktion immer wieder verlangt hat. Man müsste das doch überprüfen, was dieser Einsatz gebracht hat und was nicht. Aber die Bundesregierung hat das immer abgelehnt. Das sollte uns eine Warnung sein, dass es so nicht geht. Man will einen kurzen Militäreinsatz machen und dann ist das «Böse» weg. Man kämpft zwar nach 20 Jahren immer noch dort, letztlich ohne Erfolg, aber die Strategie ist immer noch gleich. Hierzu fällt mir ein Zitat ein, das Albert Einstein zugeschrieben wird: «Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.»

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass der Luftangriff der Bundeswehr auf einen Tanklaster im Jahre 2009 in Afghanistan, bei dem schätzungsweise 100 Zivilisten getötet wurden, nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen hat.

Was wäre, wenn?

Für die Bindung der Wirtschaft an eine ethisch-moralische Ordnung

von Reinhard Koradi

Diese Frage sollten wir uns öfter stellen. Was wäre beispielsweise, wenn der Wirtschaft wieder eine Ordnung verpasst würde? Eine Ordnung, die sich an Werten und an Regeln orientiert, die in der Gesellschaft verankert sind. Möglicherweise würden wir uns dann nicht mit unzähligen Krisen und teilweise chaotischen Zuständen herumschlagen. 

Es könnte sehr wohl sein, dass selbst die Corona-Pandemie nie eine derartige Dynamik entwickelt hätte, wenn sich unser Denken, Tun und Lassen noch innerhalb eines von Ethik geprägten Ordnungsrahmens abspielen würde. Ethik hat sehr viel mit Herkunft, Kultur und Werthaltungen zu tun. Mit anderen Worten, die Ethik hat ihren Ursprung in ihren heimatlichen Wurzeln. Europa kann daher unter ethischen Gesichtspunkten niemals mit Nord- oder Südamerika, mit Asien, Afrika respektive anderen Kulturen gleichgeschaltet werden. Es sei denn, man schaltet die Ethik aus. Durch die Globalisierung ist dieser Schalter gedreht worden. Die humanistische Ethik wurde durch ein neoliberales Konzept ausgetauscht. Eine Strategie wurde in die Welt gesetzt, die darauf ausgerichtet ist, die Ordnung durch Unordnung zu ersetzen, um zu einem späteren Zeitpunkt eine Neuordnung zu implementieren. Wie diese Neuordnung sein wird, zeichnet sich bereits heute deutlich ab. Ausschalten der Nationalstaaten, Zentralisierung der Macht, global einheitliche Doktrin, die von oben durchgesetzt wird und primär der Finanzaristokratie und deren Hintermännern immense Vorteile einräumt – auf Kosten unserer ganzen Welt. Der Graben zwischen Arm und Reich hat sich bereits heute weiter vertieft und wird sich ohne eine entsprechende Korrektur noch weiter vertiefen.

Es sind die Menschen, die den Ordnungsrahmen bestimmen

Was wäre, wenn die Menschheit einen Ordnungsrahmen forderte, der die Mächtigen dieser Welt in die Schranken wiese? Es gibt keine stichhaltigen Argumente, die gegen eine Bindung der Wirtschaft an eine ethisch-moralische Ordnung sprechen. Vielmehr gibt es bereits eindrückliche Erfahrungen, die geradezu eine solche Einordnung der Wirtschaft und der sogenannten Eliten fordern. «Das bisher letzte bedeutende Konzept in dieser Perspektive war das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, das nach dem 2. Weltkrieg zumindest in Europa dominant war. Die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft bestand in der Einbettung eines funktionierenden Marktes in ein Geflecht von Ordnungen, welche stark von ethischen und sozialen Wertvorstellungen bestimmt waren. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft wurde dann auch zu einem Erfolgsmodell.»¹ Es ist kaum nachzuvollziehen, warum wir Europäer die soziale Marktwirtschaft gegen eine neoliberale Wirtschaftsdoktrin eingetauscht haben. Mit Vernunft hat dieses «Tauschgeschäft» kaum etwas zu tun, wohl eher mit Macht und Herrschaftsansprüchen, die mit allen Mitteln ausgebaut und verteidigt werden. So stellt sich dann erneut die Frage: Was wäre geschehen, wenn Europa und die souveränen Nationalstaaten, dem Druck nicht nachgegeben hätten?

In den letzten Jahrzehnten konnten wir viele Antworten auf diese Frage finden. Die Macht des Stärkeren bestimmt immer noch den Kampf um die Dollarherrschaft und die Unterdrückung eigenständiger nationaler Entwicklungen durch die (noch) einzige Weltmacht USA. Die Kriege im Nahen Osten, die Drohungen respektive Erpressung gegenüber der Schweiz (schwarze Listen, Zulassungsverbote usw.) oder Sanktionen (Russland), Strafzölle (China), Bussenforderungen in Milliardenhöhe (Dieselskandal, Verurteilung von europäischen Firmen vor allem Banken und grosse Autokonzerne) sprechen in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache. Aufschlussreich ist auch, dass die selbsternannten Ordnungshüter nie bei US-nahen Konzernen zugegriffen haben. Es lässt sich nicht schönreden, wir stehen mitten in einem Wirtschaftskrieg. Bevor dieser angezettelt werden konnte, hatte das «Schlachtfeld» geräumt respektive kriegstauglich gemacht werden müssen. Dazu diente die Infiltration von neoliberalem (Wirtschafts-) Know how, das auch tief in das gesellschaftliche und politische Selbstverständnis vorgedrungen ist. Übrigens ein Vorgang, den wir in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern beobachten können. In Europa haben wir es nicht wahrgenommen, weil die Amerikaner doch unsere Verbündeten sind. So liessen wir es zu, dass unser Erfolgsmodell «soziale Marktwirtschaft» dem Moloch Neoliberalismus zum Frass vorgelegt wurde. Das Resultat dieses Kahlschlages führten dann direkt in die Globalisierung, deren zerstörerische Kraft wir offenbar mit Blick auf den «freien Markt» noch immer nicht wahrhaben wollen.

Das Diktat von oben durchbrechen

Die Manipulation einer kleinen homogenen Gruppe ist um ein Vielfaches einfacher als die Einbindung souveräner Nationalstaaten mit unterschiedlichsten Gesellschaftsformen und Sitten. Das Diktat von oben hat seine tiefen Wurzeln in den durch internationale Organisationen erzwungenen transnationalen Abkommen. Gleich einem Spinnengewebe werden wir durch transnationale oder bilaterale Verträge und Abkommen umgarnt und in unserer Souveränität eingeschränkt. Unabhängig davon, ob diese Einschränkungen und Einmischungen in innere Angelegenheiten von der Uno und ihr nahestehenden Organisationen (IWF, Weltbank, WHO, WTO) oder durch die Nato und Staatenbündnisse initiiert werden, führen sie immer zu Einschränkung und Bevormundung der in die Vertragswerke eingebundenen Staaten. Dabei dürfen wir nie ausser Acht lassen, dass all diese Bündnisse und Abkommen massgeblich durch die USA, einschlägige Think Tanks und der Finanzaristokratie nahe stehenden Lobbyisten beeinflusst werden. Konsequenterweise müssen sich somit Staaten, die ihre Souveränität hochhalten und ihre ­Wirtschaftsordnung nach den nationalen Rahmenbedingungen ausrichten wollen, von solchen Bündnissen und Verträgen loslösen. Die internationale Arbeitsteilung und die Tatsache, dass gewisse Güter (Rohstoffe) nur aus dem Ausland importiert werden können, fordert zwar zwischenstaatliche Vereinbarungen. Diese haben jedoch nur eine Berechtigung, wenn der Souveränitätsverlust durch einen zumindest gleichwertigen Beitrag an das Gemeinwohl der gesamten Bevölkerung aufgewogen wird.

Ohne «Unité de doctrine» gibt es keine Kampfgemeinschaft

Der Diktatur durch Zentralisierung der Macht auf einer globalen Ebene können die Völker durch den Anspruch und die Verteidigung der nationalen Souveränität Einhalt gebieten. Dazu braucht es allerdings den Willen und die Bereitschaft, auf nationaler Ebene diesen Kampf zu führen.

Der innere Zusammenhalt ist eine Voraussetzung, um die Souveränität zu schützen. Solange ein Graben zwischen Wirtschaft und Gesellschaft besteht, sind die Erfolgsaussichten bescheiden, die Unabhängigkeit zu bewahren. Daher ist es für jeden Nationalstaat und damit auch für die Schweiz zwingend, den inneren Zusammenhalt zu fördern. Die Schweiz könnte in diesem Zusammenhang auf die Geschichte des Friedensabkommens» zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zurückgreifen – ein Erfolgsmodell, das in unserem Land Wohlstand und Gemeinwohl massgeblich förderte. Auch unser politisches Modell, die direkte Demokratie, kann als entscheidender Erfolgsfaktor den Kampf um unsere Souveränität begünstigen. Die Fähigkeit zum Dialog und offenen Meinungsaustausch führte letztlich immer zu breit abgestützten Kompromissen. Was hindert uns, die Bereitschaft zu ausgewogenen Kompromissen wieder anstelle der Grabenkämpfe und der Diskreditierung von abweichenden Meinungen zu bevorzugen? 

Was wäre, wenn wir einen gemeinsamen Nenner fänden?

Vorausgesetzt, wir haben unsere Bereitschaft zur freien Meinungs­äusserung und -bildung noch nicht ganz verloren, müsste es eigentlich gelingen, einen grösstmöglichen gemeinsamen Nenner zur Hochhaltung unserer Souveränität zu finden. 

Die unterschiedlichsten Nenner wie Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Verantwortung für das Gemeinwohl, Solidarität und Vermeidung von Leid und Schaden müssten wir doch in einem allgemein verbindlichen Gesellschaftsvertrag unterbringen. Mit unserer Bundesverfassung wurden die massgeblichen Grundlagen bereits gelegt. Sollten noch Lücken vorhanden sein, dann verfügen wir über die notwendigen politischen Instrumente, um entsprechende Ergänzungen einzuführen. (Initiative, Referendum usw.). Eng verbunden mit der Bundesverfassung ist selbstverständlich das Gebot, dass sich alle Anspruchsgruppen (Politik, Bürger, Wirtschaft usw.) an die Verfassung halten und ihre Verpflichtungen auf sämtlichen Ebenen verantwortungsvoll wahrnehmen. Gelingt dies, dann gäbe es wohl keine Hindernisse, die Wirtschaft wieder in einen Ordnungsrahmen einzubinden, der sich am Gemeinwohl und der Wohlfahrt der Bevölkerung orientiert. 

¹ Ruh, Hans: Ordnung von unten – Die Demokratie neu erfinden. ISBN 978-3-03909-198-0, S. 16

Was Smartphones und soziale Netzwerke mit uns machen (Buchbesprechung)

von Judith Schlenker, Donaueschingen (D)

Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln tun es. Die Mutter mit Kinderwagen tut es. Die gesamte Familie im Fast Food Restaurant tut es. Und sogar der Mönch in Tibet tut es. Sie alle starren auf ihre Smartphones, wischen oder tippen in Windeseile eine Nachricht und tun allerdings eines nicht: sie sind nicht in Kontakt mit ihrer Umwelt. Was aber macht der zuweilen exzessive Gebrauch dieser Geräte mit unserem Gehirn? Welche Orientierung können uns die Wissenschaften beim Umgang mit den Smartphones geben? Gibt es so etwas wie eine Smartphone-Sucht? Diesen und anderen Fragen ist der Ulmer Professor für Molekulare Psychologie, Christian Montag, in seinem Buch «Homo Digitalis – Smartphones, soziale Netzwerke und das Gehirn», erschienen in der Reihe Springer essentials, nachgegangen¹. 

Er kommt nach ausführlichem Studium der vorhandenen Studien zu dem Schluss, dass «exzessive Nutzung der Geräte suchtähnliche Züge annehmen kann» und dass «ein Zuviel an Digital […] mit negativer Emotionalität, Stress und weniger Wohlbefinden assoziiert» ist. (Montag, S. 51) Dabei ist ihm wichtig, dass es nicht darum geht, die digitalen Neuerungen per se als schlecht zu betrachten, da sie in verschiedenen Situationen durchaus nützlich sein können. Er fordert nicht den generellen Verzicht, sondern einen «smarten Umgang mit dem Smartphone und verwandten Technologien.» (S. XIII)

Like-Button – Missbrauch der sozialen Natur des Menschen

Mit dem Smartphone ist es möglich, überall auf der Welt Bilder und Videos einzufangen und sie mit anderen zu teilen. Dabei geht oft der emotionale Inhalt eines Moments verloren, weil es wichtiger ist, das beste Photo oder das beste Video zu «posten». Facebook (und der dazugehörige Messenger-Dienst WhatsApp) hat zur Kommentierung solcher Posts den Like-Button erfunden, ursprünglich nur, um dem Gegenüber zu zeigen, dass man das, was er gerade online gestellt hat, gut findet. Heute bedauern die Erfinder dies, weil es automatisch dazu führt, dass die Nutzer von digitalen Profilen perfekte Welten vorgaukeln, die es so nicht gibt und ein Wettbewerb um die meisten Likes entsteht, um die meisten Freunde, um die meisten Follower. Das eigene Leben erscheint dann oft langweilig oder öde. So kann, wenn der soziale Vergleich der entscheidende Faktor ist, die Facebook Nutzung zu depressiven Symptomen führen. Besonders Menschen, die eher schüchtern und einsam sind, wenden sich Facebook zu, um ihren Mangel an sozialen Fähigkeiten oder ihre Angst vor einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht zu kompensieren. (Montag, S. 7) Dabei machen sich die sozialen Netzwerke eine ureigenste menschliche Eigenschaft zunutze, nämlich die, dass der Mensch ein soziales Lebewesen und auf den Kontakt zum Mitmenschen angewiesen ist. Natürlich ist es möglich, mittels der sozialen Netzwerke mit Menschen in Kontakt zu bleiben, die man sonst vernachlässigen würde. Es wird aber zum Problem, wenn durch exzessive Nutzung von Facebook u. a. die sozialen Interaktionen ausserhalb der Plattformen vernachlässigt werden. 

Internet-Pioniere warnen

Dieses Problem und der massive Versuch, menschliches Verhalten durch perfide Algorithmen zu manipulieren, haben Internet-Pioniere und Silicon-Valley-Insider der ersten Stunde wie Jaron Lanier längst erkannt, und nicht von ungefähr zählt er in seinem gleichnamigen Buch «Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst»² auf. Er erklärt in deutlicher Sprache, warum Hassreden und Verschwörungsmythen im Internet fröhliche Urstände feiern und die Netzwerke der sozialen Medien eine fundamentale Bedrohung unserer Gesellschaft darstellen.

Ständige Smartphonenutzung führt zu kognitiven Defiziten

Wie aber kommt das? Es ist hinlänglich bekannt, dass das System von Likes und Dislikes ins Belohnungssystem unseres Gehirns, das Dopaminsystem eingreift. In Erwartung eines positiven Feedbacks, also von Likes, kehren die Menschen immer wieder zu Facebook zurück. Christian Montag meint dazu, dass (zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches) die Auswirkungen ständiger Smartphone-Nutzung auf unser Gehirn noch nicht ausreichend erforscht seien und greift auf Studienergebnisse der Neuroplastizitätsforschung zurück. Demnach ist unser Gehirn wie ein Muskel, den man trainieren kann und bei dem ein Zuwachs an Volumen in Hirnregionen festgestellt werden kann, je nachdem was besonders trainiert wird. Studien zeigen, dass die tägliche Nutzung von Smartphones zu erhöhter Aktivität im Frontalhirn führt (wie bei anderen Süchten auch), allerdings folgen daraus auch Defizite in einer Reihe kognitiver Fähigkeiten wie zum Beispiel Entscheidungsfähigkeit, emotionale Regulierung, ausführende Tätigkeiten, Arbeitsgedächtnis, Impulsivität und Verhaltenshemmung. Ebenso wurde in einer weiteren Studie bei gesunden Probanden mit exzessiver Smartphone Nutzung ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom)-ähnliche Symptome beobachtet. «Es lässt sich also zusammenfassen, dass die dauernde Smartphone Nutzung das menschliche Gehirn und dann auch unsere Psyche verändert.» (Montag, S. 24) Es ist allerdings tröstlich zu wissen, dass eine Auszeit von Facebook von nur einer Woche «das emotionale Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit erhöht.» (S. 28) Einer von Jaron Laniers zehn Gründen, warum man seinen Social Media Account sofort löschen sollte.³ 

Eltern als Vorbilder

Welche Bedeutung hat nun die Nutzung der digitalen Medien für Kinder und in der Familie? Bereits in den 1960er Jahren beschrieb Albert Bandura die Bedeutung des «Lernens am Modell». Kinder sind auf die Vorbilder der Erwachsenen angewiesen und übernehmen schnell Verhaltensweisen der Eltern. Daraus ergibt sich ganz klar, dass Smartphones am Esstisch nichts verloren haben, weil sie das Gespräch zwischen den Familienmitgliedern verhindern. Wenn in einer Familie viel Zeit für den Medienkonsum verwendet wird, bleibt wenig Zeit zum echten, gemeinsamen Spiel oder Vorlesen. Gerade aber das echte Spielen ist von entscheidender Bedeutung für die Hirnreifung des Kindes und für das Training seiner sozialen Kompetenzen. Mit Spielen ist nicht das Tippen auf dem Smartphone gemeint, sondern das echte Rough and Tumble Play, d. h. das Raufen und Kämpfen im Spiel. Neurowissenschaftler gehen auch davon aus, dass «ausreichendes (körperliches) Spiel möglicherweise ADHS in der Jugend und im Erwachsenenalter vorbeugen könnte.» (S. 32) Montag rät daher, dass «je jünger die Kinder sind, desto eher sollte der (möglichst komplette) Verzicht des Medienkonsums im Vordergrund stehen. Stattdessen sollten Eltern darauf achten, dass ausreichend soziale Interaktionen zwischen Eltern und ihren Kindern oder zwischen Kindern untereinander mit zahlreichen Spielgelegenheiten geschaffen werden.» (S. 33) Um Kinder, denen es aufgrund ihrer Hirnreifung schwerer fällt Versuchungen zu widerstehen als Erwachsenen, vom Smartphone abzuhalten, muss das Konkurrenzprogramm allerdings attraktiver sein als das Smartphone. 

«Brain Drain» reduzieren

Doch auch die Erwachsenen täten gut daran, den Brain Drain, das heisst die zunehmende Abnahme intelligenter Leistungen durch das Smartphone, zu reduzieren. Die ständige Unterbrechung der Arbeit durch E-Mails und WhatsApp Nachrichten erzeugen Stress, verringern die Konzentrationsfähigkeit und die Arbeitsleistung und führen bei vielen Menschen zu geringerem Wohlbefinden. Montag rät daher zu einer festen Tagesstruktur mit klaren Regeln zur zeitlichen Eingrenzung für das Lesen und Beantworten von E-mails. Darüber hinaus sollte das Schlafzimmer «eine digitale Freizone bleiben, da ansonsten auch Schlafstörungen und erhöhter Stress die Folge […] sein können.» (S. 42)Man muss sich nicht vom Handy wecken lassen, dazu gibt es Wecker. Auch bei Bus- und Bahnfahrten empfiehlt er, ab und zu das Smartphone ruhen zu lassen, da das einfache Gedankenschweifen oder der Blick aus dem Fenster zu kreativen Momenten führen kann.

Christian Montag gelingt es, in klaren verständlichen Worten einen komplexen Sachverhalt zu beschreiben und diesen mit anschaulichen Beispielen zu unterlegen. Im Nachtrag zu seinen Erkenntnissen beschreibt er ein Ereignis aus dem Nachtzoo von Singapur, einem besonderen Erlebnis, bei dem (aus sicherer Entfernung) die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung bei Nacht beobachtet werden können. Ein fünfjähriges Mädchen läuft dabei einen Weg entlang und starrt gebannt auf ihr Smartphone. Sie «nimmt nichts um sich herum wahr. Nicht die Nacht mit ihren Gerüchen und Geräuschen. Die Tiere sowieso nicht. Sie ist im Nachtzoo von Singapur und doch nicht da.» (S. 43) 

¹ Christian Montag: Homo Digitalis – Smartphones, soziale Netzwerke und das Gehirn. Springer essentials. Wiesbaden 2018. ISBN 9783658200251
² Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hoffmann und Campe 2018. ISBN 9783455006810
³ Einen hervorragenden Einblick in das, was die sozialen Medien mit uns machen, wer und was dahintersteckt und wie perfide die Methoden sind, gibt der Netflix-Beitrag «Das Dilemma mit den sozialen Medien» aus dem Jahr 2020, ein Dokumentarfilm von Jeff Orlowski, der sich in zahlreichen Interviews mit Insidern, unter anderem auch Jaron Lanier, kritisch mit den Folgen von sozialen Medien für die Gesellschaft beschäftigt. Der fiktive Teil erzählt die Geschichte eines Teenagers, der eine Sucht nach sozialen Medien entwickelt, unterbrochen wird die Story durch Interviews mit verschiedenen US-amerikanischen Persönlichkeiten aus dem Umfeld der grossen Social-Media-Firmen. Behandelt werden unter anderem Themen wie Data Mining, wie das Produktdesign das Suchtpotential erhöhen will, die Auswirkungen von sozialen Medien auf die psychische Gesundheit, auch mit besonderem Blick auf die steigenden Selbstmordraten bei Teenagern sowie die Rolle von sozialen Medien bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien

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