Weihnachts- und Neujahrsgrüsse an den Bundesrat

von Reinhard Koradi

War 2022 ein gutes, ein normales oder gar ein schlechtes Jahr? Die Antwort auf diese Frage wird wohl je nach Standpunkt und persönlichem Befinden unterschiedlich ausfallen. Aus meiner Sicht war es ein durchzogenes Jahr mit einigen, jedoch sehr seltenen Lichtblicken und mehreren Tiefschlägen. Belastet wird der Rückblick vor allem durch das unangemessene Pandemie-Diktat, die Hoheit der Behörden und der Massenmedien über die Meinungsbildung und des Gleichschritt mit den westlichen Kriegsparteien im Ukraine-Konflikt. 

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Die Aufhebung der Corona-Massnahmen, das hervorragende Abschneiden der Schweiz bei der Berufsweltmeisterschaft, – was einmal mehr beweist, dass das duale Berufsbildungssystem mit der Meisterlehre eine hervorragende Institution in unserem Land ist – sowie die im internationalen Vergleich relativ gute Wirtschschafts­entwicklung in unserem Land dürften auf der positiven Seite stehen. Was ausdrücklich unterstreicht, dass wir uns nicht weiter der neoliberalen Agenda anschliessen dürfen, die den Interessen des Grosskapitals allererste Priorität einräumt und daher bisherige Strukturen gleich einer Dampfwalze vernichtet. (Staatliche Grundversorgung, Bürgerrechte, Mittelstand, Bildungswesen usw.) 

Die behördlichen Anordnungen zur Bewältigung der Pandemie haben allerdings Zweifel aufkommen lassen, ob sich Bundesbern wirklich über die wahren Werte und Stärken der Schweiz im Klaren ist. Nicht nur die in der Öffentlichkeit aufgezogene Drohkulisse, sondern auch die völlig missglückte Informations- oder treffender Manipulationspolitik, decken erhebliche Mängel im politischen Selbstverständnis der Behörden auf. Getrübt wird das Urteil über das zu Ende gehende Jahr auch durch den äusserst fahrlässigen Umgang mit der immerwährenden bewaffneten Neutralität der Schweiz. Auf Druck der USA und der EU, begleitet von einer unglaublichen Gehirnwäsche durch die Mainstream-Medien mutierte die Schweiz zur Kriegspartei im Ukraine-Konflikt. Durch den Nachvollzug der Sanktionen gegenüber Russ­land verspielte unsere Regierung, angeführt durch Bundesrat Cassis, unsere einzigartige Rolle, als Vermittlerin in Konflikten dem Frieden in der Welt eine Chance zu geben. 

Kaum nachzuvollziehen ist die Panik rund um die dahergeredete Klima- und Energiekatastrophe. Der Verdacht erhärtet sich, dass dies alles System hat und bewusst Chaos verursacht wird, um die Eidgenossenschaft in neue Bahnen zu lenken. 

Es geht mir nicht darum, anstehende Probleme unter den Tisch zu wischen. Was ich verlange, ist eine Kultur der freien Meinungs­äusserung. Diese hat seit der Coronapandemie erheblichen Schaden erlitten und behindert seither einen offenen Diskurs gesellschaftspolitischer Themen.

Ich bestreite nicht, dass wir Sorge zur Umwelt tragen oder mit den natürlichen Ressourcen sorgfältig umgehen müssen. Aber es ist der Ton, der missfällt. Verbote, Sanktionen und die Einschränkung der Entscheidungsfreiheit verdrängen immer mehr Vernunft, Eigenverantwortung und langfristiges Planen. Der freie Bürger findet sich immer mehr in der Rolle des gelenkten Bürgers. Noch als schleichender Vorgang, droht die Gefahr, dass behördliche Gewalt bald einmal die Herrschaft übernimmt. 

Unheil für Freiheit und Privatsphäre könnte sich auch durch den kürzlichen Entscheid des Bundesrates, die Annahmepflicht des Bargeldes aufzuheben, ausbreiten. Wir stehen vor grossen Aufgaben, die wir gemeinsam lösen können. Voraussetzung ist allerdings, dass wir uns auf unsere Stärken zurückbesinnen, den Konsens suchen und finden, indem wir uns die verlorenen Freiheiten, Rechte und Pflichten sowie die freie Rede wieder zu eigen machen. 

Was erwarte ich 2023 vom Bundesrat?

Aus dem vorangegangenen Rückblick leite ich meinen Anforderungskatalog an Bundesbern ab. Vom neu zusammengesetzten Bundesrat erwarte ich vor allem den Schutz der Freiheit der Bürger, den Respekt vor der direkten Demokratie und damit eine klare Absage an Global Governance, die immer mehr zum Global Government mutiert. Die nationalen Interessen, die Einhaltung der Bundesverfassung haben über den Direktiven der Mächtigen, der Konzerne und transnationalen Organisationen zu stehen. Das Wohl der Schweiz hat erste Priorität, denn nur ein starkes Land kann ausserhalb seiner Grenzen einen nachhaltigen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Völker leisten.

Auch fordere ich zum vernünftigen Denken und Handeln auf, Weitsicht statt unnötige Effekthascherei und Selbstdarstellung. Vertrauensbildende Massnahmen nach aussen wie nach innen. Keine Versuche, durch Informationszurückhaltung oder irreführende Kommunikation die Bürger in ihrer Entscheidungsfindung zu manipulieren oder gefügig zu machen. Zusammengefasst geht es darum, den angerichteten Reputationsschaden durch Verlässlichkeit, Verfassungstreue und Ehrlichkeit wieder auszubessern. 

Frohe Festtage wünsche ich Ihnen und zum neuen Jahr alles Gute, Weitblick statt Hektik, Bescheidenheit und Respekt vor den zukünftigen Herausforderungen, ohne die Stärken einer souveränen, demokratischen Schweiz zu unterschätzen. Möge es Ihnen gelingen durch Ihr Wirken einen Beitrag zum Wohle unseres Landes zu leisten. Vielen Dank. 

 

Ein Krieg kann nur durch Verhandlungen beendet werden

Schweiz muss dringend zur Neutralität zurückfinden

von Thomas Kaiser

Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto mehr Ungereimtheiten kommen ans Tageslicht. Deshalb lohnt es sich, wie in dieser Ausgabe von «Zeitgeschehen im Fokus» beabsichtigt, die Hintergründe der Krise erneut zu analysieren und über mögliche Friedensansätze neutral und wertfrei nachzudenken.

Die Stellungnahme der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel ist wohl die gravierendste «Enthüllung», die sie selbst betrieben hat, indem sie in verschiedenen Interviews öffentlich machte, dass sie die Minsker Abkommen nicht ausgehandelt habe, damit sie umgesetzt würden, sondern damit die Ukraine Zeit gewinne, ihre Armee aufzurüsten, um dann – vermutlich nicht ohne Absprache mit der Nato, die in dieser Zeit unter Hochdruck versuchte, die ukrainische Armee auszubilden und kriegsfähig zu machen – Krieg gegen Russland führen zu können. 

Acht Jahre zum Narren gehalten

Dass der ukrainische Oligarch und ehemaliger Präsident des Landes, Pietro Poroschenko, kurz zuvor das Gleiche verlauten liess, mag kaum erstaunen, aber dass Frau Merkel so mit dem Vertrauen der beteiligten Länder gespielt hat, ist eine Ungeheuerlichkeit. Nur schon dieses Kalkül wirft unweigerlich die Frage auf, welche Rolle die Nato und insbesondere welch miese Rolle Deutschland in der Befriedung des Konflikts und damit beim «Retten von Menschenleben», womit Lieferungen tödlicher Waffen begründet werden, gespielt haben. Wenn es schon immer das Ziel war, Russland über einen Krieg mit der Ukraine «zu ruinieren», wie Frau Baerbock grossspurig verkündete, dann liegen die Nachfolger Merkels wie erwähnte Aussenministerin Baerbock oder Bundeskanzler Scholz, und wie sie alle heissen, auf genau derselben Linie. In diesem Sinne zeigt die deutsche Aussen- bzw. Russlandpolitik Kohärenz. Aber wieviel Vertrauen wurde dadurch zerstört?

In der Schweiz findet die Aussage Merkels, die letztlich auch die Bemühungen der Schweizer Diplomatie im Rahmen der OSZE, dessen Vorsitz das Land 2014 hatte, ins Leere laufen liessen, kaum Anstoss. Die «NZZ» erwähnt sie quasi in einem Nebensatz, ohne den Vorgang gebührend zu kommentieren. Zu peinlich wäre es für Cassis und seine Bundesratskolleginnen und -kollegen, die ins gleiche Horn geblasen haben, öffentlich festzustellen, dass sie die letzten acht Jahre von Deutschland im Verbund mit der Nato zum Narren gehalten wurden und dass vieles nicht der Realität entspricht, was im Zusammenhang mit diesem Konflikt behauptet wurde und immer noch behauptet wird. In dieses widerwärtige Spiel gehören auch vom Westen gelieferte Waffen, die in anderen Erdteilen auftauchen. Die Stellungnahme des nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari, der sich darüber empört, dass Waffen aus der Ukraine bei den Rebellen in der Sahelzone landen und die gesamte Region destabilisieren könnten, spricht Bände.

War der Angriff unprovoziert?

Gemäss Merkels Aussage war es also der langfristige Plan, Russland in einen Krieg mit der Ukraine zu verwickeln. Wenn der «ukrainische» Plan, wie Jacques Baud in seinem Artikel festhält, darin bestand, im März 2022 den Süden der Ukraine sowie den Donbas militärisch zu besetzen und die Krim zurückzuerobern, dann ist Russ­land im Verbund mit den Streitkräften der beiden autonomen Republiken Lugansk und Donezk der ukrainischen Armee zuvorgekommen. Damit fällt die ganze Argumentation von einem unerwarteten und unprovozierten Angriff auf die Ukraine in sich zusammen. Und wenn man miteinbezieht, wie unter anderem im Artikel des Völkerrechtlers Alfred de Zayas in dieser Ausgabe erläutert wird, dass die beiden Provinzen trotz Waffenstillstand und Minsker Abkommen tagtäglich mit Artillerie aus dem eigenen Land und von den eigenen Landsleuten, also der ukrainischen Armee, beschossen wurden, dann kommt man zu einer differenzierteren Betrachtung als derjenigen, die uns unsere Mainstream-Medien und die ukrainische Staatspropaganda – wobei man dieser das noch zugestehen kann – weismachen wollen, die aber von vielen Regierungen so auch der Schweizer ungeprüft übernommen wurden. Auf dieser Grundlage wird seit Monaten Stimmung und Politik gemacht.

Neutralität achtlos über Bord geworfen

Was heisst das aber jetzt für unser Land? Welche Position hat die Schweiz in diesem Konflikt eingenommen? Am 24. Februar 2022 begann die russische «Sonderoperation». Im Gefolge der USA verhängte die EU bzw. die Nato sofort Sanktionen. Das Tempo bei der Verhängung der einseitigen Zwangsmassnahmen deutet darauf hin, dass man nach dem massiven Artilleriebeschuss von Lugansk und Donezk durch die ukrainische Armee auf die russische Reaktion vorbereitet war. Bereits vier Tage nach der Intervention folgte die Schweiz den Sanktionen der EU und der USA und warf damit die Neutralität achtlos über Bord. Auch wenn der Bundesrat das alles mit dem Neutralitätsgebot für vereinbar hält, sind es die Staaten um die Schweiz herum, die das Ende der Schweizer Neutralität beklatschen oder in einigen Staaten bedauern und nun entscheiden, ob sie die Schweiz weiterhin als ein neutrales Land betrachten wollen oder nicht. Russland und die USA machen das nicht mehr. Während Russland die Schweiz zum «unfreundlichen Staat» erklärte, zeigte sich Joe Biden begeistert, und mit seinem «even Switzerland» verlieh er seiner Freude besonders Ausdruck. Damit ist die Neutralität fürs erste beerdigt. Den USA war sie schon immer ein Dorn im Auge. Bereits während des Zweiten Weltkriegs kritisierten sie die Schweiz für ihre neutrale Haltung und dass sie sich nicht der Anti-Hitlerkoalition angeschlossen hatte. Am liebsten hätten sie alle Staaten auf ihrer Seite.

Einseitige Zwangsmassnahmen verletzen das Völkerrecht

Das kleine Serbien, das von der EU massiv unter Druck gesetzt wird, übernimmt die Sanktionen nicht. Die Schweiz hätte auch so reagieren können. Mal ganz abgesehen davon, dass die Sanktionen völkerrechtswidrig sind und die Schweiz mit der Übernahme der Sanktionen das Völkerrecht verletzt – das tut sie übrigens auch bei den Sanktionen gegen den Iran. Denn einseitige Zwangsmassnahmen, sogenannte coercive meassures, sind ein Verstoss gegen die Uno-Charta. Weder die USA noch die Nato, noch die EU sind befugt, völkerrechtliche Bestimmungen ohne die Uno festzusetzen. Anstatt all diese Gegebenheiten zu überprüfen, huldigte Bundesrat Cassis lieber dem Komiker im militärgrünen «Liibli», Präsident Selenskij, auf dem Bundesplatz in Bern und beschwor die gemeinsamen Werte der Ukraine und der Schweiz. Das ist des Amts des Bundesrats nicht nur unwürdig, sondern es ist auch absolut unzutreffend. Wenn die Diskriminierung von anderen Volksgruppen zum politischen Programm gehört, wie es Jacques Baud in seinem Artikel minutiös beschreibt, dann fragt man sich schon, wovon Cassis eigentlich gesprochen und wer ihm diesen Unsinn eingeflüstert hat.

Nach der Stellungnahme von Frau Merkel müsste sich der Bundesrat erklären, warum er sich, ohne zu zögern, so offensichtlich auf die Seite der ukrainischen Kriegspartei stellte, ohne die Fakten genau zu kennen. Vielleicht wusste man das alles am Anfang des Krieges noch nicht so genau, aber gerade deshalb wäre mehr Zurückhaltung und Vorsicht das erste Gebot. Die Neutralität der Schweiz gebietet gerade diese Attitüde – doch weit gefehlt. Man will anscheinend auch dazugehören – auch zu den kriegführenden Mächten – und sich vermehrt an die Nato anlehnen.

Schweiz wird von Deutschland unter Druck gesetzt

Dass man die Schweiz wegen der 6500 Schuss Munition für den Gepard-Panzer erneut von Deutschland aus kritisiert, zeigt, dass die Schweiz den letzten Rest an Neutralität aufgeben soll. Ist erst einmal der Damm gebrochen und die Nato-Länder erkennen die Schwäche der Schweizer Regierung, werden weitere Forderungen gestellt. Tatsächlich sind die 6500 Schuss, wie der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko im Interview erklärt «nicht die Welt» und sind schnell verschossen. Es geht also weniger um die Munition bzw. um die Ukraine als darum, dass die Schweiz ihre Neutralität endgültig begraben soll.

Damit wäre eine politische und geistige Haltung endgültig über Bord geworfen worden, die seit Jahrhunderten von der Schweiz vertreten wird und unter anderem in der Gründung des Roten Kreuzes seinen tiefen Ausdruck findet. «In kaum einem anderen Land [gemeint ist die Schweiz], in kaum einer anderen Stadt hätte diese Initiative entstehen können […] die entscheidende Neuerung der Bewegung war ihre Internationalität.», schreibt der deutsche Historiker Stefan Schomann in seinem Standardwerk «Im Zeichen der Menschlichkeit» über die Gründnung des Roten Kreuzes.1

Schweiz muss die Neutralität zurückholen

Der Erfolg der grössten Hilfsorganisation der Welt liegt im Prinzip der strikten Neutralität. Was mit Henri Dunants Motto «tutti fratelli» in der Kirche von Castiglione nach der fürchterlichen Schlacht von Solferino seinen Ursprung nahm, findet in der tagtäglichen Arbeit der Mitarbeiter des IKRK ihre Umsetzung. Nicht selten waren für Menschen, die Hilfe erfuhren, das IKRK und die Schweiz identisch. Die Neutralität der Schweiz, ohne eine «Hidden Agenda», wie es der ehemalige Chef der DEZA, Martin Dahinden, immer wieder betonte, erlaubte es, in vielen Konfliktgebieten vermittelnd tätig zu sein, so wie es das IKRK dank der Schweizer Haltung, weltweit ebenfalls zum Segen der Betroffenen tun kann.

Nicht durch Waffen, nur durch Verhandlungen werden Menschenleben gerettet

Nachdem der Bundesrat die Sanktionspolitik mitgetragen hat und damit zur Kriegspartei wurde, ist das Prinzip der Neutralität massiv erschüttert und wird die schwierigen Aufgaben des IKRK kaum erleichtern. Will unser Land wieder die Rolle einnehmen, die es in der Geschichte bis zum 24. Februar eingenommen hat, bräuchte es ein deutliches Signal nach aussen, das von den übrigen Staaten auch so wahrgenommen wird. Dass es möglich ist, sich auch im Ukraine-Konflikt neutral zu verhalten, zeigt sich an Ländern auf anderen Kontinenten. Sie stehen zwar dem russischen Vorgehen kritisch gegenüber, aber sie schliessen sich nicht der einen oder anderen Seite an. Was jetzt verlangt werden muss, wie die Schweizer Nationalrätin Yvette Estermann im Interview in dieser Ausgabe fordert, sind Friedensverhandlungen zu führen und sicher keine Waffen und Munition zu liefern. Die Schweiz könnte sich mit dieser Forderung unabhängig und konstruktiv wieder ins Spiel bringen. Wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie von Mitmenschlichkeit und Zuversicht geleitet werden, zeigt das Beispiel aus Afrika am Ende dieser Ausgabe.

Für das kommende Jahr stehen wir vor anspruchsvollen Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, mit Augenmass und Vernunft diese anzunehmen und dafür zu sorgen, dass die Konfliktparteien in Dialog treten, um eine für beide Seiten akzeptierbare Lösung zu finden. Ein Krieg kann nur durch Verhandlungen beendet werden und je schneller diese Aufgenommen werden, desto mehr Menschenleben werden gerettet.

1 Stefan Schomann: Im Zeichen der Menschlichkeit, München 2013, S. 13

«Nur wenn wir zur konsequenten Neutralität zurückkehren, können wir vermittelnd in den Konflikt eingreifen und tatsächlich Menschenleben retten»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann

Yvette Estermann, SVP (Bild thk)
Yvette Estermann, SVP (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was braucht es, damit der Frieden in der Ukraine eine Chance bekommt? 

Nationalrätin Yvette Estermann Man muss den Frieden als ein zartes Pflänzchen betrachten, das gehegt und gepflegt werden muss. So wie wir dies im Moment erkennen, kann man dieses Pflänzchen nicht mit Panzern, Raketen und Munition zum Gedeihen bringen. Es macht den Eindruck, als ob man in Europa an einem Frieden nicht interessiert sei. Man spricht von «Vernichtungsschlägen». Der Feind ist Russland. Die Ukraine liegt und steht dazwischen und wird benutzt für die westlichen Mächte, «um Russland», wie die deutsche Aussenministerin Baerbock verlauten liess, «zu ruinieren». Diese Haltung bereitet keinen Boden, auf dem man Friedensgespräche beginnen könnte.

Was wären die ersten Schritte?

Das einzig Richtige wäre, alle Waffenlieferungen einzustellen, die Kriegstreiberei zu stoppen und alle an einen Tisch zu laden, um miteinander zu sprechen: Was ist mit der neutralen Zone, die immer wieder verlangt wurde und absolut sinnvoll wäre? Wie könnte man diese realisieren zum Wohle aller Beteiligten? Die Bevölkerung will keinen Krieg. Die überwiegende Mehrheit der Menschen wünscht sich Frieden. Es braucht Politiker, die sich an den Wünschen der Bevölkerung orientieren, dabei eine klare Position einnehmen und dem Kriegstreiben ein Ende bereiten. Es darf nicht sein, dass durch die Waffenlieferungen andere Länder in Mitleidenschaft gezogen werden und Waffen, die angeblich für die Ukraine bestimmt waren, bei irgendwelchen Rebellen in Afrika oder Asien auftauchen und in völlig unbeteiligten Staaten Leid und Schrecken verbreiten. Der (illegale) Waffenhandel blüht. Milliarden werden dafür ausgegeben. Für ungefähr 19 Milliarden Dollar hat die USA Waffen für den Krieg in der Ukraine geliefert. Dazu kommen die Lieferungen aus anderen Nato-Staaten. Es ist ein Irrsinn. Wieviel sinnvoller könnte man das Geld einsetzen, um bedürftigen Ländern zu helfen und für die Jugend in die Bildung zu investieren, damit sie wieder auf die Beine kommen; Ländern, denen es gelungen ist, ihre Konflikte beizulegen, unter die Arme zu greifen. 

Warum ist die Stimmung gegen Russland so scharf? Was steckt hinter der massiven antirussischen Stimmung auch in der Schweiz? Mit Bundesrat Cassis ist die Neutralität der Schweiz immer weiter zurückgestutzt worden und diesen Trumpf können wir nun nicht mehr ausspielen. 

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat man den Feind verloren. Ich frage mich schon, ob wir auf unserer Welt immer so etwas wie Feindfiguren brauchen. Regierungen, die man negativ bewertet wie zum Beispiel Erdogan, Putin, Orban etc. Das sind Persönlichkeiten, die zumindest in der eigenen Bevölkerung eine hohe Zustimmung geniessen. Über ihren Stil und ihr Verhalten kann man sicher streiten, aber von der Bevölkerung werden sie unterstützt. Mir ist oft aufgefallen, dass von gewissen Politikern gegen diese Personen Neid und Missgunst verbreitet wurde, insbesondere von westlichen Politikern, die kaum glauben können, dass man als Staatsmann eine so breite Zustimmung erhalten und die Verankerung in der Bevölkerung so gross sein kann. Und endlich hat man den Beweis, dass Putin zu den «Bösen» gehört und dass man doch schon immer Recht hatte, gegenüber diesem Menschen misstrauisch zu sein. Und diese Stimmung wird immer schärfer. Dass vielleicht die Politik des Westens die Hauptursache für den Konflikt darstellt, wird natürlich kaschiert und überdeckt. In dieser Stimmung kommt man zu keiner konstruktiven Lösung. 

Was wäre jetzt zu tun?

Man müsste sich die eigenen Fehler eingestehen und über den eigenen Schatten springen. Wie man es im täglichen Leben auch tun muss, wenn man mit anderen Menschen im Konflikt ist. Weihnachten, das in unserer christlichen Tradition eine zentrale Bedeutung besitzt, hat die Botschaft des Friedens und der Versöhnung. Diesen Weg müssen wir gehen, wenn wir das friedliche Zusammenleben der Menschen gewährleisten wollen. Fehler passieren auf beiden Seiten, aber man muss die Grösse haben, über die Fehler der anderen hinwegzusehen. Nur so kommen wir zu einem friedlichen Zusammenleben. Für die Ukraine heisst das, sich mit ­Russland an einen Tisch zu setzen und eine Lösung auszuhandeln. Aber solange die Waffen sprechen und der Westen ständig für Nachschub sorgt, wird das nicht möglich sein. 

Der Ansatz, vom Schlachtfeld an den Verhandlungstisch zu kommen, ist das einzig Richtige. Die Schweiz hätte das als neutrales Land vorschlagen und in die Wege leiten können. Die Schweiz hat aber in der Person von Bundesrat Cassis diese Möglichkeit zerstört, als er auf dem Bundesplatz ­Selenskij huldigte. Damit ist die Neutralität gefallen. Was muss getan werden, damit wir wieder zur konsquenten Neutralität zurückkehren?

Es wäre sicher möglich, wieder auf diesen Weg zurückzufinden. Grundsätzlich hat die Schweiz ihre wichtigste «Waffe» aus der Hand gegeben. Friedensverhandlungen zu initiieren, das hat sie verspielt. Die Neutralität als Erfolgsgeheimnis der Schweiz haben wir in dem Moment leichtfertig aus der Hand gegeben, als wir Stellung bezogen und eingeteilt haben in Gut und Böse. Die Schweiz hat offenbar vergessen, dass Sanktionen gegen ein Land zu ergreifen, pures Gift für die Neutralität ist. Denn Sanktionen sind letztlich eine kriegerische Waffe, die ein Land in die Knie zwingen soll, ohne dass ein Schuss gefallen ist. Sich daran zu beteiligen, ist der Tod eines neutralen Landes. 

Die Schweiz hat doch in viel schwierigeren Situationen die Neutralität nicht verraten.

Ja, sogar während des Zweiten Weltkriegs, als die Schweiz von den Achsenmächten umzingelt war, hat der Bundesrat an der Neutralität festgehalten, obwohl die Lage der Schweiz viel bedrohlicher war als heute. Es ist die logische Konsequenz, dass die Schweiz nach ihrer Stellungnahme gegen Russland nicht mehr als Vermittler in Frage kommt. Tatsächlich gibt es auch von führenden Persönlichkeiten wie Präsident Marcon oder dem Papst Initiativen, um Friedensverhandlungen in die Wege zu leiten. Hier müsste unser Land einhängen und jede Friedens­initiative unterstützen und vor allem sich einer Positionierung zu enthalten und nicht schon im Vorfeld festzulegen, wer der Böse und wer der Gute ist. Man muss jetzt von vorne anfangen, ohne irgendwelche Schuldzuweisungen, sonst wird es nicht gehen. Es muss ehrlich verhandelt werden! Nur wenn wir zur konsequenten Neutralität zurückkehren, können wir vermittelnd in den Konflikt eingreifen und so tatsächlich Menschenleben retten und nicht mit Waffenlieferungen, wie uns manche Politiker weismachen wollen. 

Was können wir aus den Erfahrungen der letzten Monate für Schlüsse ziehen?

Die Methoden des Westens, mit Gewalt, Drohungen, Sanktionen und zuletzt Krieg mehr Macht zu erlangen, zeigen deutlich, worum es im 21. Jahrhundert geht, und leider unterscheidet sich das nicht von dem Verhalten vor etwas mehr als 100 Jahren. Kann der Mensch nicht aus seinen Fehlern lernen? Doch, die Bemühungen um ein friedliches und prosperierendes Zusammenleben in Europa sind keine Illusion, – Frieden ist möglich! Es gilt deshalb – gerade für die Schweiz –, alle diplomatischen Kanäle offen zu halten und vorwärtszuschauen, um eine friedliche Lösung zu ermöglichen. Denn letztlich gibt es in diesem kriegerischen Konflikt nur Verlierer, je länger er andauert, um so grösser wird die Zahl.

Frau Nationalrätin Estermann, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Dieser Krieg ist nicht einfach vom Himmel gefallen»

Die Neutralität ist friedensfördernd

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko 

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Gibt es inzwischen irgendwo in Deutschland oder in der EU Bemühungen für Verhandlungslösungen mit den Kriegsparteien, um diesen Konflikt so schnell wie möglich zu beenden?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ich war in der vorletzten Woche in Brüssel und habe dort verschiedene Gespräche auch mit Kommissionsmitgliedern geführt. Leider habe ich nicht im geringsten den Eindruck gewonnen, dass dort über die Option von Verhandlungen in der näheren Zukunft nachgedacht wird, nicht einmal in einer weiteren Zukunft. Das war für mich sehr, sehr ernüchternd. Vorherrschend war die Vorstellung, dass dieser Krieg gewonnen werden kann, dass Russland danach so weit geschwächt sein wird, dass es militärisch nicht mehr handlungsfähig ist. Das letzte Argument hatte ich bis dato noch nicht gehört, wurde aber in Brüssel vertreten. Konkret heisst das, dass Sanktionen verlängert werden sollten, selbst dann, wenn es zu einem Friedensabkommen käme, um somit eine dauerhafte Schwächung Russlands zu gewährleisten, die militärische Aktivitäten ausschliesst. Da sind tatsächlich Vorstellungen, die hier vorherrschend sind.

Das heisst im Klartext, die Ukraine ist jetzt für den «Westen» das Mittel zum Zweck, und eigentlich geht es nur darum, Russland ein- für allemal in die Knie zu zwingen …

Ja, so ist es. Es wurde dieser Tage das neunte Sanktionspaket gegen Russland beschlossen. Man spricht auch viel von militärischer Unterstützung in Form von weiteren Waffenlieferungen. Auf der Ebene von Friedensverhandlungen ist vom Friedensnobelpreisträger EU hier sehr wenig zu erwarten.  

Man hört aber – wie vor kurzem von Macron – dass man doch den Verhandlungsweg ins Auge fassen solle. Macron ist immerhin der Präsident einer Atommacht. Warum entfaltet das nicht mehr Wirkung?

Ja, diese Stimmen hat es immer wieder gegeben. Es gab einzelne Vorstösse, ob das der österreichische Kanzler oder der Papst waren. Auch in den USA hat sich der Generalstabschef in dem Sinne geäussert, dass die militärische Option wenig erfolgsversprechend sei. Es gab auch eine Gruppe von US-Parlamentariern aus der demokratischen Partei, die sich in eine solche Richtung vernehmen liessen. Man muss sich doch überlegen, wie man die verfeindeten Parteien wieder an einen Tisch bringt oder dass man zumindest einmal einen Waffenstillstand beschliesst. Möglicherweise gibt es Optionen für weitergehende Schritte. Auffallend ist, dass diese Vorstösse immer sehr schnell verpuffen bzw. die Exponenten teilweise scharf angegangen werden. Die dreissig Demokraten in den USA wurden ganz schnell unter Druck gesetzt und daraufhin haben sie ihre Initiative zurückgezogen. Das ist sehr bemerkenswert, denn es sind ganz massive Kräfte am Werk, die einen langen Krieg wollen und damit die Hoffnung einer nachhaltigen, langfristigen und weitgehenden Schwächung Russlands verbinden. Wir reden hier von einem mehrjährigen Zeitraum.

Nicht zu vergessen, der grosse Bodenschatzreichtum Russlands …

Ja, natürlich. Bei Macron war übrigens sehr interessant, als er direkt angesprochen hat, dass die Sicherheitsgarantien aller Beteiligten auf den Tisch gehören, auch diejenigen Russlands. Das widerspricht ganz der Darstellung, dass das, was sich in den letzten Jahrzenten mit der Nato-Osterweiterung vollzogen hat, nur eine Wahnvorstellung Putins sei, einschliesslich der militärischen Unterstützung der Ukraine durch den Westen. Das ist übrigens ein Punkt, den ich immer wieder in die Debatte bei uns im Bundestag einbringe. Man muss auch die Vorgeschichte kennen und diskutieren, auch wenn man den Einmarsch nicht gutheissen kann, ist dieser Krieg nicht einfach von Himmel gefallen. Wenn man die Vorstellungen hat, irgendwann einmal Verhandlungen zu führen, und man nicht mehr weiss, was sich im Vorfeld alles ereignet und die Russen zu diesem Schritt bewogen hat, wird man zu keinem Frieden kommen. Es geistert die Vorstellung herum, dass es ein russisches Karlshorst geben muss. Das sagte mir ein Vertreter der OSZE. Also eine Kapitulation, wie sie Nazi-Deutschland am 8./9. Mai 1945 unterschrieben hat. So stellt sich der Vertreter der OSZE das Ende des Krieges vor. Solche Vorstellungen sind leider verbreitet.

Was ich im Gespräch mit verschiedenen Menschen feststelle, ist, dass immer mehr Leute Zweifel bekommen an den Informationen, die uns täglich vorgesetzt werden.

Ja, da haben Sie natürlich Recht. Ich sprach hier eher von Akteuren, die führende politische Funktionen haben. Ich denke ebenfalls, dass es eine allmähliche Kriegsmüdigkeit im positiven Sinne des Wortes gibt. Die Menschen realisieren, dass man vor einem langen Abnutzungskrieg steht, vor allem auf Kosten der Menschen in der Ukraine, aber mit weitreichenden Folgen auch für die Situation in Deutschland und der Welt.

An welche Folgen denken Sie dabei?

An die wirtschaftlichen Belastungen durch die Sanktionen sowie die Energieversorgung. Aber natürlich ist die ganze Welt davon betroffen, denn die Folgen sind überall zu spüren. Aber dass die Skepsis immer mehr in den Vordergrund tritt – diesen Eindruck habe ich auch. Bei uns in Deutschland ist das feststellbar, aber ich denke, in der Schweiz wird das noch stärker der Fall sein. Die Schweiz hat auch verweigert, dass die Gepard-Munition an die Ukraine geliefert werden darf. Ich habe darüber mit Schweizer Parlamentariern gesprochen, die zu Besuch im deutschen Bundestag waren. Sie sagten, dass die Schweiz mit der Übernahme der Sanktionen sehr weit gegangen sei, aber die direkte militärische Unterstützung durch die Freigabe der 6500 Schuss Munition würde die Neutralität vollständig aushebeln. Das war der Grundtenor bei allen Teilnehmern einer Delegation, die im Bundestag waren. Man sei ein neutrales Land, und Waffen- oder Munitionslieferungen kämen nicht in Frage. Das war eine klare Botschaft.

Wie haben die deutschen Parlamentarier darauf reagiert?

Es war offensichtlich eine Enttäuschung bei der Mehrheit der deutschen Abgeordneten, es gab aber auch Stimmen, die die Schweizer Position begrüssten.

Dass die Schweiz hier konsequent bleibt, ist begrüssenswert, aber 6500 Schuss werden wohl kaum kriegsentscheidend sein, deshalb ist es auch speziell, dass man so auf die Schweiz losgeht. Es bräuchte doch wahrscheinlich ein Vielfaches dieser Munition, damit sie einen militärischen Nutzen hat …

Ja, das wurde auch von der Schweiz betont, die Menge sei nicht die Welt und sehr schnell verschossen. Brasilien hingegen verfügt über 300 000 Schuss Gepard-Munition. Auf deutscher Seite hofft man nun, dass der neue Präsident Lula da Silva, dem ich sehr gewogen bin, diese Munition freigibt. Ich hoffe natürlich, dass er das nicht macht. Sein Spielraum ist natürlich auch nicht sehr gross.

Wie meinen Sie das?

Am 1. Januar ist seine Amtseinsetzung als neuer Präsident, und das Ganze steht auf wackeligen Füssen. Es gibt nach wie vor starke Proteste gegen ihn im Land, und man muss genau beobachten, wie sich das entwickelt. Die deutsche Bundesregierung ist im Moment international emsig unterwegs, um die Front gegen Russland zu verbreitern. Die deutsche Aussenministerin Baerbock war in Indien, dort ist sie abgeblitzt. Man versucht überall, die Front gegen ­Russland auszuweiten, aber nur mit begrenztem Erfolg.

Hat Bolsonaro keine Munition an die Ukraine geliefert?

Bolsonaro hat die Munition nicht geliefert. Es gibt gute Gründe, Bolsonaro zu kritisieren. Was im Amazonasgebiet passiert, ist verheerend. Aber das ist oftmals gar nicht das Kriterium für andere westliche Regierungen. Dass er vom Westen fallengelassen wurde, könnte damit zusammenhängen, dass er in der geopolitischen Frage aus Sicht der Nato-Staaten nicht auf ihrer Seite steht. Die westlichen Regierungen haben denn auch sehr schnell zum Wahlsieg Lula da Silvas gratuliert. Biden hat nach 40 Minuten angerufen, auch Scholz und Macron haben rasch reagiert. Sie haben darauf geachtet, dass das Wahlergebnis, woran ich überhaupt keinen Zweifel hege, anerkannt wird. Erstaunlich ist, dass zur Amtsübernahme am 1. Januar Steinmeier und Macron nach Brasilien fliegen werden. Im Vergleich zur Wahl von Gustavo Petro in Kolumbien – eine sehr wichtige Wahl, denn Kolumbien ist das zweitgrösste Land Lateinamerikas mit einer unglaublichen Gewalttradition – ist das schon auffallend. Petro ist ein linker Präsident, der glaubwürdig für den Friedensprozess steht. Hier war Deutschland nur mit dem stellvertretenden Botschafter vertreten. Zu Lula da Silva fährt Steinmeier, der Bundespräsident, als erster Mann im Staat und der französische Präsident Marcon. Das ist ein ganz, ganz starkes Signal. Das ist eine Umarmungspolitik. Lula da Silva ist sicher kein Wunschkandidat für diese Regierungen, aber mit Bolsonaro ging es auch nicht. Auch Putin hat sehr schnell reagiert und Lula zum Wahlsieg gratuliert.

Ist das aussergewöhnlich?

In dem Sinne nicht, da Lula da Silva mit Russland BRICS gegründet hat, was ein Gegengewicht zur Dominanz der Nato-Staaten darstellen soll. Aber offensichtlich wird Lula da Silva von verschiedenen Seiten umworben. Seine Äusserungen im Wahlkampf zum Krieg in der Ukraine kann man nur unterschreiben. Er hofft, dass der Krieg, bis er Präsident ist, beendet sein wird, und wenn nicht, dann wird er alles tun, damit der Krieg ein Ende findet. Er hat ähnlich wie Südafrika keine einseitigen Schuldzuweisungen gemacht und sich ganz anders geäussert als die meisten westlichen Staaten. Ich hoffe sehr, dass er auf der internationalen Bühne in diesem Sinne erfolgreich arbeiten kann. Der mexikanische Präsident Lopez Obrador hat auch Initiativen gestartet, die bisher zu wenig Unterstützung fanden, aber je mehr Regierungen aktiv werden, umso besser.

Es scheint in diesen Ländern mehr Vernunft zu herrschen als in Europa, und es hat etwas Beruhigendes, dass nicht alle in das Kriegsgeheul einstimmen, sondern nach einer diplomatischen Lösung suchen bzw. dafür offen sind.

Am bemerkenswertesten ist die Haltung Südafrikas. Die Aussenministerin verteidigte sehr eindrücklich ihre Position, nämlich keine Position einzunehmen, die eine spätere Konfliktlösung erschwert. Sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, würde das von vornherein verhindern. Damit hält es Südafrika offen, später auch Teil einer Vermittlungslösung zu sein. Diese Haltung nehmen viele afrikanische, lateinamerikanische, aber auch asiatische Staaten ein, und dies ist in der jetzigen Situation sehr sinnvoll. Man verurteilt die Verletzung der territorialen Integrität, verweist aber auch auf die Vorgeschichte der Nato-Osterweiterung und die Verletzung des Minsker Abkommens. Eine Alleinschuldthese wird eigentlich nur von Nato-Staaten und ihren Verbündeten vertreten.

Die Haltung der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Länder ermöglicht es, Verhandlungen anzubieten. Das ist der Grund, warum man die Position unseres Bundesrats, der für die Aussenpolitik zuständig ist, nicht gutheissen kann, weil er unüberlegt und in völliger Emotionalität den Trumpf, als neutraler Staat Verhandlungen anbieten zu können, aus der Hand gegeben hat. Das wird nur sehr schwer wieder zurückzuholen sein.

Diesen Aspekt habe ich in der Diskussion mit der Schweizer Delegation im Bundestag auch angesprochen, dass die Neutralität etwas Wichtiges ist, die man zu einem späteren Zeitpunkt einsetzen kann, indem man in Verhandlungen eine vermittelnde Rolle einnimmt oder Funktionen in einem Konflikt übernimmt. Ich erinnere mich an den Konflikt zwischen Georgien und Russland. Seit dem Krieg 2008 gibt es dort keine Botschaften, und der diplomatische Austausch läuft über die Schweizer Botschaft. Was alles dahintersteckt, kann ich nicht beurteilen, aber grundsätzlich ist es etwas Gutes, dass es Staaten gibt, die diese Rolle einnehmen können.

Ja, um so erstaunlicher ist es, wenn manche Schweizer Politiker erklären, dass es heute die Neutralität nicht mehr brauche.

Das ist viel zu kurz gedacht. Wir sehen das an der OSZE. Ich bin Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Ich hatte es schon einmal erwähnt, dass bei der Sommersitzung in Birmingham die Briten seinerzeit die Visa für die russische und belarussische Delegation verweigert hatten. Ein weiteres Treffen war vor etwa vier Wochen in Warschau, und dort wurden ebenfalls die Visa der russischen und belarussischen Abgeordneten verweigert, mit der Begründung, dass sie für den Krieg gestimmt hätten. Das kann man so sicher nicht sagen, weil es keine direkte Abstimmung dazu gab. Natürlich ist der Spielraum in weniger demokratischen Staaten anders als in anderen Staaten. Wenn sie aber nicht teilnehmen können, fallen die persönlichen Kontakte ganz weg, die bei solchen Treffen von immenser Bedeutung sind. Es ist doch interessant, zu erfahren, wie mein Gegenüber denkt und wie es die Lage einschätzt. Dazu kam noch, dass eine Woche später auch das Visum für Lawrow verweigert wurde. Das Treffen des Ministerkomitees der OSZE hatte in Lodz stattgefunden. Meines Wissens ist es das erste Mal in der Geschichte, dass einem Aussenminister im Rahmen der OSZE das Visum verweigert wurde, und das unter grossem Protest. Stattdessen war der russische OSZE-Botschafter da.

Wird es in Zukunft so weitergehen, dass die Delegationen der beiden Staaten sozusagen ausgeladen werden?

Das wird sich bald zeigen, denn das nächste Treffen auf Parlaments­ebene ist im Februar in Wien. Hier rechnen jetzt alle damit, dass Österreich als neutraler Staat diese Visa erteilen werde und die Abgeordneten aus Russland und Belarus auch dort sein können. Das zeigt doch, wie wichtig es ist, dass es solche Staaten gibt, die neutral sind und einen Dialog ermöglichen. Es ist auch kein Zufall, dass die OSZE ihren Sitz in Wien hat.

Gibt es in der Parteienlandschaft Deutschlands Stimmen, die etwas mehr Vernunft und Rationalität in die Debatte bringen und auf ein Ende des Krieges drängen?

Das hat sich in den letzten Monaten nicht wesentlich verändert. Die Parteien CDU, FDP und Grüne bewegen sich eher auf einem Eskalationskurs, bei der SPD ist es immer etwas schwankend. Sie bildet mit FDP und den Grünen die Regierung, ist aber wohl nicht die treibende Kraft, aber sie macht die Eskalationspolitik mit. Es gibt noch Leute, die sich in der Tradition der Entspannungspolitik sehen wie z. B. der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich und andere. DIE LINKE lehnt Waffenlieferungen ab und vertritt die Position, dass verhandelt werden muss. Das ist die Einstellung grosser Teile der Partei, wird aber nicht so prononciert und zugespitzt, wie etwa Sahra Wagenknecht das macht. Sie greift die Regierung für ihre Politik massiv an. Die AfD ist auch etwas gespalten, aber in dieser Frage kein eskalierender Teil.

Gibt es weiterhin Stimmen aus Militärkreisen, die in dieser Auseinandersetzung eine Orientierung geben können?

Doch, doch. Wer sich immer wieder zu Wort gemeldet hatte, war der ehemalige General Harald Kujat. Er war der ranghöchste Militär in Deutschland und weit oben in der Hierarchie der Nato. Er äussert sich immer wieder sehr, sehr kritisch. Er warnt vor den Vorstellungen, dass es einen schnellen Sieg geben könnte, er warnt vor einem langen Abnutzungskrieg und er warnt vor einer Eskalation, die in eine atomare Richtung gehen könnte. Er äussert sich wesentlich vernünftiger als ein Grossteil der politischen Akteure im Parlament und in der Regierung. Er wird auch zunehmend angegriffen und isoliert, was auch bemerkenswert ist. Er war einmal als Experte für eine Anhörung im Bundestag vorgeschlagen und wurde aufgrund seiner Position vom Ausschuss abgelehnt. Es ist schon sehr auffallend, dass diejenigen, die deutlich eine Position vertreten, die nicht der Regierungsline entspricht, übrigens wie auch in der Corona-Debatte – ganz schnell auf einer Cancel-Liste landen. Ab und zu wird Harald Kujat dennoch in den Medien interviewt. Man muss sich bewusst sein, dass er natürlich kein Pazifist ist, aber eine realistische Einschätzung der militärischen Lage hat. Das ist natürlich ernüchternd für diejenigen, die meinen, die Ukraine könnte bald diesen Krieg gewinnen und aufgrund dessen Verhandlungsoptionen ablehnen.

Angela Merkel hat sich doch auch schon für Verhandlungen eingesetzt. Hat sie sich nochmals öffentlich zu Wort gemeldet?

Sie hat in einem kürzlich erschienenen Zeit-Interview gesagt, dass sie das Minsk-2-Abkommen 2015 abgeschlossen habe, um Zeit zu gewinnen, da die Ukraine militärisch mit dem Rücken zur Wand gestanden sei. Diese Zeit habe die Ukraine nutzen können, und deshalb könnten die Ukrainer heute so gut kämpfen. Das ist eine ganz krasse Aussage. Denn wenn das so stimmt und kein nachträgliches Schönreden ihrer Position ist, dann heisst das, dass es von deutscher Seite aus – zusammen mit Frankreich als wichtigen westlichen Akteur – mit diesen Minsker-Abkommen nie ernst gemeint war, sondern dass das die Russen nur ruhigstellen und der Ukraine die Möglichkeit zur Aufrüstung geben sollte. Putin hat dazu vor Journalisten wörtlich gesagt:  «Ehrlich gesagt, war das für mich völlig unerwartet, das enttäuscht. Ich habe offen gesagt, nicht erwartet, so etwas von der ehemaligen Bundeskanzlerin zu hören.» Das heisst in der Konsequenz, dass man auf deutsche Verhandlungen nicht mehr vertrauen kann. Das ist ­natürlich ein fatales Signal an ­Russland.

Hatten wir nicht schon einmal so etwas Ähnliches vor nicht allzu langer Zeit?

Ja, mich hat das sofort an die Situation mit Frank-Walter Steinmeier im Jahre 2014 erinnert. Das darf man nicht vergessen, dass kurz vor dem Putsch in der Ukraine ein Fünf-Punkte-Plan ausgehandelt wurde. Steinmeier als deutscher Aussenminister, der französische Aussenminister Fabius, der polnische Aussenminister Sikorsky und ein diplomatischer Vertreter ­Russlands waren anwesend sowie die Oppositionsführer und der ukrainische Präsident Janukowitsch. Das ist das Abkommen mit der kürzesten Halbwertszeit in der Weltgeschichte, da es bereits nach wenigen Stunden hinfällig war. Als ich im Ausschuss den damaligen Aussenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier danach gefragt hatte, gab er mit zur Antwort, dass Janukowitsch durch seine Flucht aus Kiew in den Osten der Ukraine und später nach Russland die Grundlage dieses Abkommens entzogen habe. Das ist eine abenteuerliche Argumentation! Was Frau Merkel zur Ukraine sagte, schlug international grosse Wellen, Putin hat sich dazu geäussert, aber bei uns wird das nicht diskutiert.

Wenn Frau Merkel sich dahingehend äussert, dann gibt sie eigentlich zu, dass man in Hinblick auf die Lösung des Konflikts nichts unternommen hat. Putin hatte also Recht, als er dem Westen und der Ukraine vorwarf, nichts getan zu haben, um zu einer friedlichen Lösung des Konflikts zu kommen. Vor einigen Wochen hat übrigens Poroschenko genau das gleiche gesagt wie Frau Merkel.

Poroschenko liess sich immer so verlauten, dass er die Abkommen nicht ernst nehme. Wir müssen klar sehen, dass die Mehrheit in Asien, Afrika und Lateinamerika die Dinge aber anders sieht als der Westen. Wenn man sich vorstellt, dass es einmal kraftvolle und durchschlagende Verhandlungen geben sollte, dann wären Länder aus diesen Kontinenten wie z. B. Indien, China oder auch Mexiko und Südafrika ganz wichtige Akteure.  

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Suche nach Frieden in der Ukraine?

von Jacques Baud*

Heute zeigen uns unsere Medien die tragischen Bilder von Kindern und Zivilisten, die bei Kälte und Dunkelheit in die U-Bahn von Kiew geflüchtet sind, um Schutz vor den Bomben zu suchen. Das ist traurig, und sie verdienen unser Mitgefühl. Es ist natürlich einfach, Russland dafür die Schuld zu geben. Doch weder diese Ukrainer noch unsere Medien, Diplomaten oder Regierungen zeigten das gleiche Mitgefühl für die anderen Ukrainer, die im Donbas acht Jahre lang von Kiews Armeen bombardiert wurden und seit 2014 jedes Weihnachten und jeden Winter unter denselben Bedingungen verbringen. Warum ist das so?

Tatsache ist, dass für die ukrainischen Neonazi-Milizen die Menschen im Donbas nur «Untermenschen» sind, die unser Mitgefühl nicht verdient haben. Diese Position wurde acht Jahre lang von unseren Medien geteilt, die niemals ihre Stimme gegen diese Angriffe erhoben haben. Diese über 10 000 Toten haben weder unsere Medien noch unsere Diplomaten bewegt, die doch so sehr um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts (HVR) besorgt sind – allerdings nur für gewisse Menschen!

Wenn es unseren Diplomaten und Medien wirklich darum gegangen wäre, einen Krieg in der Ukraine zu verhindern, hätten sie die Missachtung des Status der Krim im Jahr 1995 durch die Ukraine angeprangert; sie hätten den Staatsstreich von 2014 verurteilt; sie hätten die Diskriminierung der russisch-, ungarisch- und rumänischsprachigen Minderheiten durch die nicht gewählten ukrainischen Behörden im Jahr 2014 verurteilt; sie hätten seit 2014 die Ukraine dazu gedrängt, ihren Verpflichtungen aus den Minsker Vereinbarungen nachzukommen; sie hätten ein wenig Mitgefühl für die russischsprachigen ukrainischen Zivilisten im Donbas gezeigt, die seit 2014 von ihrer eigenen Regierung bekämpft wurden; sie hätten die internationale Öffentlichkeit vor den Übergriffen der Neonazi-Milizen auf Zivilisten im Donbas gewarnt; sie hätten im Februar3 und dann im August 2021 die Schliessung der ukrainischen Oppositionsmedien verurteilt, die sich anschickten, die internationale Gemeinschaft auf die im März beschlossene Vorbereitung einer Offensive in der Südukraine aufmerksam zu machen; sie hätten den ukrainischen Artilleriebeschuss der Zivilbevölkerung im Donbas Mitte Februar 2022 verurteilt; sie hätten das Verbot von Oppositionsparteien in der Ukraine im Jahr 2022 verurteilt.

Die Ukraine-Krise hätte durchaus vermieden werden können, wenn wir uns bemüht hätten, sie verstehen zu wollen und sie rechtzeitig, d. h. ab 2015, anzugehen. Wir haben es jedoch nicht getan – absichtlich! Die jüngsten Interviews mit Angela Merkel in den deutschen Zeitungen «Der Spiegel» und «Die Zeit» zeigen, dass Deutschland den Frieden in Europa absichtlich geopfert hat, um den Anschein der Einheit in der Nato zu wahren.

Wie immer hört der Westen (sowohl auf linker als auf rechter Seite) den Hauptakteuren nicht zu, sondern setzt seine Lesart des Konflikts durch, die die eigenen Phantasien befriedigt. Am 24. Februar 2022 nannte Wladimir Putin Gründe und Ziele der russischen Intervention. Unsere Journalisten (und offenbar auch unsere Diplomaten) übernahmen das, was ihr Narrativ nährte (Entmilitarisierung und Entnazifizierung), und entfernten das, was ihm widersprach. Tatsächlich haben wir in unserer Lesart des Problems der russischen Intervention die Rationalität entzogen, die die Russen ihr zugeschrieben haben, um Putins Entscheidung im Hinblick auf das Ziel, das wir ihr zugeschrieben haben, als irrational oder unverhältnismässig erscheinen zu lassen. Es ist übrigens genau in demselben Sinn und Geist, wenn erklärt wird, Putin sei krank oder verrückt. Wir (d. h. unsere Medien) haben dadurch das Lagebild verzerrt und damit Bedingungen geschaffen, die einen Dialog verunmöglichen.

Narrative, die den Frieden verhindern

Wie ich immer wieder zu sagen pflege: Von der Art und Weise, wie wir eine Krise verstehen, hängt die Art und Weise ab, wie wir sie lösen. Unsere unaufhaltsame Tendenz, das, was die Protagonisten sagen, durch unsere eigenen, von den Fakten losgelösten «Eindrücke» zu ersetzen, führt unweigerlich zu einer Verschlechterung der Situation. Dies betrifft Journalisten, die wir bereits vor einigen Wochen erwähnt haben und die die Ideen der ukrainischen Neonazis weiterverbreiten, aber auch Analysten, die manchmal als «pro-russisch» angesehen werden. Diese sogenannten Experten haben eine ganze Reihe von Diskursen entwickelt, die versuchen, die russische Intervention zu erklären, und zwar nicht auf der Grundlage dessen, was die Russen gesagt haben, sondern auf der Grundlage ihrer eigenen Wahrnehmungen. Frieden baut man nicht auf Hirngespinsten, sondern auf Fakten auf.

Hier einige dieser Narrative in bunter Mischung:

Die russische Intervention sei Ausdruck eines Zivilisationskonflikts: Dieses Narrativ, das sowohl von der extremen Rechten als auch von der extremen Linken propagiert wird, erklärt den Krieg in der Ukraine als eine Konfrontation zwischen einer traditionalistischen, religiös inspirierten Zivilisation und einem «woken» Westen. Das ist falsch. Auch wenn es zwei «grosse» Strömungen gibt, die Gesellschaft auf dem europäischen Kontinent zu verstehen, verläuft die Bruchlinie nicht an der russischen Grenze, sondern zwischen Westeuropa (laut Donald Rumsfeld dem «alten Europa») und Osteuropa (dem «neuen Europa»). Die baltischen Staaten, Polen, Weissrussland, Ungarn oder die Ukraine haben dieselbe Anschauung von Gesellschaft wie Russland. Russland führt keinen Zivilisationskrieg. Man könnte sogar sagen, dass das Gegenteil der Fall ist. Der Westen hat das Gefühl, dass nur seine Sicht der Dinge richtig ist und dass der Rest der Welt seine Weltanschauung übernehmen muss. Die Russen hingegen sind der Meinung, dass jede Gesellschaft einen positiven Aspekt hat und dass es keinen Grund gibt, anderen eine bestimmte Sichtweise aufzuzwingen.

Die russische Intervention soll durch die Ausdehnung der Nato nach Osten verursacht worden sein: So begründen Nato-feindliche Kreise die russische Intervention. Auch diese Behauptung ist falsch. Es gab eindeutig westliche Versprechen, dass die Nato sich nicht nach Osten ausdehnen würde, die nie eingehalten wurden, weil sie nicht in einem Vertrag verankert waren. Trotzdem hegte Russland Anfang der 1990er Jahre die Hoffnung, Teil einer Nato zu werden, die man nach dem Vorbild der OSZE zu einem System der kollektiven Sicherheit umgestaltet hätte, das auf Kooperation statt auf Konfrontation beruht. Aus diesem Grund sahen die Russen die Erweiterung der Nato zunächst nicht als Bedrohung an. Wladimir Putin behielt diese Position bis Anfang der 2000er Jahre bei. Das änderte sich ab 2002, als die Amerikaner unter der Präsidentschaft George W. Bushs begannen, sich aus allen Abrüstungsverträgen zurückzuziehen. Obwohl dies eine wesentliche Herausforderung für die nationale Sicherheit darstellt, war Russland stets der Ansicht, dass es sich um ein Problem diplomatischer Natur handelt, das auf dieser Ebene gelöst werden muss.

Die russische Intervention ziele darauf ab, das Zarenreich oder die Sowjetunion (man weiss es nicht genau) wiederherzustellen: Dieses Narrativ wird von Neonazis (oder ähnlichen Gruppierungen) in den baltischen Staaten, in Polen und in der Ukraine portiert. Es ist eine Form von Verschwörungstheorie, die auf den Schriften Alexander Dugins basiert, der von der Boulevardpresse und unseren Medien als «enger Vertrauter von Wladimir Putin»11 beschrieben wird. Das ist schlichtweg eine Lüge, denn Dugin sieht Putin als «Liberalen» und kritisiert ihn offen. Es scheint sogar, dass die beiden Männer sich nie getroffen haben,13 und er soll laut dem ukrainischen Medium «Euromaidan Press» im Jahr 2014 wegen seiner extremistischen Äusserungen sogar von der Moskauer Universität verwiesen worden sein.14 Es ist wahrscheinlich diese Rhetorik, die die Ukrainer dazu ermutigt hat, im August 2022 einen Terroranschlag auf Dugin zu verüben, und dies rechtfertigt, dass unsere Medien diese Tat nicht verurteilt haben!

So wird Wladimir Putin (ehemaliges KGB-Mitglied, natürlich!!) unterstellt, er traure der ehemaligen UdSSR nach, wenn er erklärt, dass «die Zerstörung der UdSSR die grösste geopolitische Katastrophe in der Geschichte des 20. Jahrhunderts sei».15 Dieser Satz taucht regelmässig in den Medien wie «RTS» (Radio Télévision Suisse), «Le Monde»17, «Le Figaro»18 oder «France 24»19 auf, um Putins Bestreben zu illustrieren, die «Grösse» der UdSSR wiederherzustellen. In Wirklichkeit stammt der Satz aus einer Rede vom 25. April 2005, in der Putin die chaotische Art und Weise des Übergangs der russischen Gesellschaft zur Demokratie bedauert und nicht das Ende des Sowjetregimes. Anders als der weissrussische Präsident Lukaschenko ist Wladimir Putin keineswegs ein Nostalgiker, der sich nach einer kommunistischen Welt sehnt. Im Gegenteil, er hat eine sehr «westliche» Wirtschaftspolitik gefördert. Im Übrigen waren auch Alexander Solschenizyn und Alexander Dugin, die als Putins Inspirationsquellen beschrieben werden, vehemente Gegner des Sowjetsystems.

Die russische Intervention sei Ausdruck des Hasses auf das ukrainische Volk: Dieses Argument stammt von ukrainischen Neonazis und wurde von den westlichen «like-minded» Medien weitgehend übernommen. Es besagt, dass Wladimir Putin die Existenz des ukrainischen Volkes leugne und es als Teil des russischen Volkes ansehe, was seine Absicht, die Ukraine «zurückzuerobern», rechtfertigen würde. Dieses Argument stammt aus einer Interpretation eines von Wladimir Putin selbst unterzeichneten und am 12. Juli 2021 veröffentlichten Artikels mit dem Titel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern».21 Die Antwort der ultra-rechtsextremen ukrainischen Medien wird von unseren Journalisten weiterverbreitet, die behaupten, Wladimir Putin betrachte die Ukraine «als ein Land, das es nicht gibt, und er erkennt die Existenz der Ukraine als Land nicht an».22 Natürlich wird darin eine Verschwörung Wladimir Putins gesehen, um die beiden Länder gewaltsam zu vereinen.23 Das ist falsch: Zu keinem Zeitpunkt spricht Putin von einer Annexion oder auch nur von einer Wiedervereinigung der Ukraine und Russlands.

Was die ultra-nationalistischen/neonazistischen Medien in Wirklichkeit verschweigen, ist, dass dieser Artikel eine Antwort auf das «Gesetz über indigene Völker der Ukraine» ist, das am 1. Juli 2021 verabschiedet wurde. Dieses Gesetz erinnert ein wenig an die Nürnberger Rassengesetze der 1930er Jahre und räumt ukrainischen Bürgern je nach ihrer ethnischen Herkunft unterschiedliche verfassungsmässige Rechte ein, wie der Abgeordnete Oleg Seminsky von der Präsidentenpartei präzisiert.25 In seinem Artikel erkennt Wladimir Putin nicht nur unmissverständlich die Existenz der Ukraine an, indem er sie als «freien Staat» definiert, sondern er spricht auch eindeutig von der «Souveränität der Ukraine». Seine Absicht ist also eindeutig nicht, eine Wiedervereinigung von Russland und der Ukraine zu suggerieren, sondern der Ukraine klarzumachen, dass sie keinen Grund hat, ihre russischstämmigen Bürger gegenüber den ukrainischstämmigen Bürgern zu diskriminieren.

Die russische Intervention sei durch Hass auf den Westen, auf Europa und/oder ihre Demokratie motiviert: Aus Hass auf die Demokratie habe Wladimir Putin einen Krieg gegen den Westen angezettelt. Doch erinnern wir uns daran, dass es 2013 die Europäische Union war, die sich gegen ein Abkommen mit der Ukraine stellte, das ihre wirtschaftlichen Interessen mit Russland in Einklang gebracht hätte. Genau dasselbe Argument wurde uns als Erklärung für die islamistischen Terroranschläge serviert, deren einziger Grund unsere illegalen, illegitimen und kriminellen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten waren (gegen die, das sei angemerkt, die Schweizer Regierung – eine grosse Verfechterin des humanitären Völkerrechts – keinerlei Sanktionen ergriffen hat!). Für Russland stützt sich dieses Argument auf die Behauptung, Wladimir Putin habe diesen Krieg 2014 begonnen, weil er sich gegen den Vertrag zwischen der Ukraine und der Europäischen Union gestellt habe.26 Das ist falsch, denn es war der damalige Präsident der Europäischen Kommission, José-Manuel Barroso, der der Ukraine selbst eine Wahl aufzwang, während Russland eine Kompromisslösung angeboten hatte.27 Die Präsidenten der Europäischen Kommission werden wahrlich nicht auf Grund ihrer Ethik oder ihrer Kompetenz ausgewählt.

In Wirklichkeit…

Diese verschiedenen Narrative sind weder Motiv noch Ursache für die russische Militärintervention in der Ukraine. Sie sind lediglich im Hintergrund existierende «begünstigende Faktoren» (enabling factors), die dazu beitragen, die Kluft zwischen dem Westen und Russland zu vertiefen, was Russland jedoch nie als Grund für eine militärische Konfrontation erachtet hat.

Sie machen den Krieg in der Ukraine zu einem unabwendbaren Schicksal, das nicht durch Verhandlungen beeinflusst werden kann. Deshalb tauchen sie in unseren Medien (wieder) auf, um zu zeigen, dass es keinen Sinn hat, einen Dialog zu eröffnen. Es handelt sich um revisionistische Konstruktionen von Ereignissen, die sich auf keine konkreten Fakten stützen und einer Verschwörungstheorie ähneln.

Der Auslöser für die russische Sonderoperation war der Donbas. Die Opfer im Donbas werden nie erwähnt werden, weil sie den eigentlichen Grund für die russische Intervention darstellen. Einige werden sagen, dass es sich dabei lediglich um einen Vorwand handle. Das ist durchaus möglich. Aber wir haben alles getan, um Putin diesen Vorwand zu liefern, der im übrigen an sich vollkommen legitim ist. Es geht um nichts anderes als die Anwendung des Prinzips der «Responsibility to protect» (R2P). Hätten sich unsere Diplomaten ab 2014 um die Einhaltung des HVR bemüht, wären wir nicht in dieser Situation.

Es sei darauf hingewiesen, dass unsere Medien den Beginn «des Krieges» auf Februar 2022 datieren. Dieser Krieg hat jedoch bereits 2014 begonnen, und die russische Intervention ist lediglich eine Militäroperation im Rahmen dieses Krieges. Die Neonazis bestreiten jedoch, dass es sich um einen Krieg handelt, und nennen ihn seit 2015 «Anti-Terror-Operation», um sich nicht mehr an das HVR halten zu müssen, das allgemein als Kriegsrecht bekannt ist.

Der Grund, warum unsere Medien den Beginn des Krieges auf den 24. Februar (und nicht auf 2014) datieren und nie über die Opfer im Donbas sprechen (oder sie von der russischen Operation abkoppeln), ist, weil sie einen legitimen Grund für eine Intervention liefern. Die ukrainischen Neonazi-Milizen, die in der Donbas-Region operierten, betrachteten russischsprachige Menschen als «Untermenschen».

Durch ihr Schweigen zu diesen Verbrechen zeigen unsere Medien – und unsere Politiker –, dass sie eine ähnliche Einstellung haben. Sie wollen allerdings nicht mit Neonazis gleichgesetzt werden. Daher sieht «RTS» in der Ukraine keine Neonazis (oder misst ihnen nur marginale Bedeutung bei) und tut alles als Kreml-Propaganda ab.30 Dass «RTS» nicht nach den Grundsätzen der Münchner Charta arbeitet, zeigt sich in den differenzierteren Äusserungen amerikanischer Medien. Der «Atlantic Council», ein mit der Nato und der US-Regierung verbundenes Medium, hatte schon lange davor gewarnt, dass «das Asow-Regiment sich nicht entpolitisiert hat»31 und dass «die Ukraine ein echtes Problem mit rechtsextremer Gewalt hat»32 (nein, nicht «RT» [Russia Today] hat diese Schlagzeile geschrieben). Im März dieses Jahres schrieb «NBC News», dass «das Naziproblem in der Ukraine real ist»33 – im Gegensatz zu den Behauptungen von «RTS» – während das zentristische US-Medium «The Hill» erklärte, dass dies nichts mit der Propaganda des Kreml zu tun habe.35 Unsere Medien haben offensichtlich sehr merkwürdige politische Präferenzen, und ich glaube gerne, dass sie keine Neonazi-Sympathien hegen, aber ihre Analysen zeigen dies nicht.

Wir haben bereits gesehen, dass einige Journalisten des Service public der Schweiz Theorien über eine islamistische Verschwörung aufrechterhalten, die den Westen bedrohe und auf einen «Grossen Austausch» abziele!37

Im übrigen ist ihre Haltung gegen jegliche Verhandlungen auch heute noch nur möglich, wenn sie die ukrainischen Verluste völlig ausser Acht lassen. Seit Februar 2022 tun sie so, als ob der Krieg nur auf russischer Seite Opfer fordere: Die Ukrainer führen einen siegreichen Krieg ohne Verluste.

Weil uns der Preis, den die Ukrainer zahlen, niedriger erscheint als der von den Russen gezahlte Preis, ermutigen wir die Ukraine, weiter zu kämpfen. Das Problem ist, dass die Situation genau umgekehrt ist. Wir wissen das, aber wir weigern uns, es zu sagen.

Die Position der Schweiz

Am 23. November erklärte unser Botschafter in Kiew, den ich gut kenne, gegenüber dem Westschweizer Fernsehen «RTS», dass Verhandlungen mit Russland bedeuten würden, den Aggressor zu belohnen. Er stellte klar, dass die Schweiz in diesem Konflikt nicht neutral sei, sondern «das Neutralitätsrecht» anwende, das darin bestehe, keinem Bündnis beizutreten und keine Waffen an die Kriegsparteien zu liefern. Die Schweiz stehe angesichts des illegalen und illegitimen Charakters dessen, was Russland tut, hinter der Position der Ukraine und halte sich an das humanitäre Völkerrecht.

Zu seinem Pech gab Angela Merkel bereits am nächsten Tag im «Spiegel» zu, die Ukraine habe das Minsker Abkommen nicht unterzeichnet, um es umzusetzen, sondern um Zeit zu gewinnen und ihre Armee wieder auf Kriegskurs zu bringen. Sie sei selbst das Minsker Abkommen eingegangen, ohne wirklich die Absicht zu haben, es umzusetzen. Dieses Geständnis wird sie in ihrem Interview mit der «Zeit» vom 8. Dezember bestätigen. Das ist eigentlich nichts Neues, da Petro Poroschenko bereits dasselbe zugegeben hatte und klarstellte, dass er das Abkommen nur unterzeichnet habe, um der Ukraine die Wiederaufrüstung zu ermöglichen,42 und sogar von Journalisten am Telefon diesbezüglich in die Falle gelockt worden war. Neu ist das Geständnis, dass Deutschland ein Komplize der Ukraine war und nicht bereit war, seine Aufgabe als vertrauenswürdiger Garant zu erfüllen. Zudem hatte im Juni 2022 die Veröffentlichung des Telefongesprächs vom 20. Februar 2022 zwischen Emmanuel Macron und Wladimir Putin gezeigt, dass Macron das Minsker Abkommen, dessen Garant er sein sollte, schlichtweg nie gelesen hatte.44

Das heisst so viel wie: Die westlichen Hauptakteure des Minsker Abkommens geben selbst zu, dass sie die Abkommen zwar eingegangen seien, aber ohne die Absicht, sie je einzuhalten. Sie haben also sowohl die Russen als auch die Bevölkerung des Donbas und das ukrainische Volk belogen. Ich erinnere daran, dass Russlands Position bis Februar 2022 die Autonomie (und nicht die Unabhängigkeit) der Donbas-Republiken unter der Autorität Kiews war, wie es im Minsker Abkommen vorgesehen war.

Angela Merkels Geständnis schlug im «Rest der Welt» wie eine Bombe ein, da es die Doppelzüngigkeit des Westens demonstrierte. Natürlich erwähnen unsere Schweizer Medien Angela Merkels Geständnis nicht, denn sie geben der Tatsache Recht, dass Wladimir Putin dem Westen nicht vertraut! Der Westen liess nicht nur die Ausschreitungen gegen die russischsprachigen Ukrainer im Donbas zu, sondern hatte auch nicht die Absicht, die Minsker Vereinbarungen, die Gegenstand der Resolution 2202 (2015) des Uno-Sicherheitsrats waren, durchzusetzen. Das Anliegen unseres Botschafters, die Einhaltung des Völkerrechts durchsetzen zu wollen, ist vollkommen legitim, aber man hätte dies bereits 2015 proklamieren müssen und nicht erst 2022, nachdem die Lage katastrophal geworden war.

Die Erklärungen unseres Botschafters und die fast zeitgleichen Erklärungen von Angela Merkel klingen wie ein unglaubliches Versagen der europäischen (und schweizerischen) Diplomatie und zeigen, dass unsere Auffassung von HVR von variabler Geometrie ist und als Vorwand benutzt wird, um die Aufnahme von Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland nicht zu fördern.

Die Äusserungen unseres Botschafters in Kiew bezüglich der Idee von Verhandlungen zur Lösung des Konflikts in der Ukraine werfen mehrere Probleme auf:

Das erste ist, dass er den Konflikt wie ein Fussballspiel betrachtet, bei dem man in die Verlängerung gehen muss, um bessere Voraussetzungen für Verhandlungen zu haben. Das könnte man verstehen, wenn es sich um ein Spiel handelte, aber es bedeutet, dass man die menschlichen Kosten dieser Verlängerungen geringschätzt.

Das zweite ist, dass, wie er ganz richtig sagt, die Entscheidung, zu verhandeln, «bei den Ukrainern liegt». Das Problem ist nun, dass wir Selenskij mindestens drei Mal im Februar, März und August daran gehindert haben (abgesehen davon, dass wir ihm nie dabei geholfen haben, sein Programm ab 2019 umzusetzen), indem wir ihn dazu gedrängt haben, seine Vorschläge fallen zu lassen. Auch hier hat sich die Schweiz, die im Vorfeld der Minsker Vereinbarungen massgebend gewesen war, seither zurückgehalten.

Der dritte Punkt ist, dass die Schweiz, wie der Botschafter selbst sagt, in dieser Angelegenheit nicht neutral ist. Der Kern des Problems ist jedoch nicht, dass die Schweiz der Ukraine zu Hilfe kommt (was auch gut ist), sondern dass sie nicht in der Lage war, eine objektive Analyse der Situation vorzunehmen, die unabhängig von der ukrainischen Propaganda ist. Heute sind die Kommunikationskanäle zwischen dem Westen und Russland unterbrochen, und es bestehen nur noch lose Verbindungen zu den USA, wenn es um den Austausch von Gefangenen oder um nukleare Fragen geht. In diesem Zusammenhang ist jedoch festzustellen, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Vermittler sind – weder Europa noch die Schweiz. Im Dezember war es die Türkei, die ein Treffen zwischen Wolodimir Selenskij und Wladimir Putin ankündigte. Doch keines dieser Länder ist ein Vorbild für demokratische Regierungsführung, ihre Handlungen sind nicht besonders neutral und die Türkei liefert sogar Waffen an die Ukraine. Warum hat Russland also mehr Vertrauen in die Türkei als in die Schweiz?

Dummköpfe und Verschwörungstheoretiker werden sagen, dass «nur Diktatoren einander verstehen können». Eine weniger primitive Erklärung ist, dass die Türkei eine ausgewogenere Beurteilung des Konflikts hat. Wie der «Kyiv Independent» schreibt: «Die Türkei unterstützt nachdrücklich die territoriale Integrität der Ukraine, obwohl sie gegen die Anstiftung von Widersprüchen in der Region durch die ‹unfassbare Politik› gegen Russland ist».50 Während unser Diplomat als Richter auftritt, versucht Erdogan, ein regionales Sicherheitsproblem zu lösen und den Verlust von Menschenleben zu stoppen.51 Das ist der Unterschied zwischen einem ideologischen und einem pragmatischen Ansatz. Für eine effektive Vermittlungsarbeit müssen nicht die Fakten den Schlussfolgerungen angepasst werden, sondern die Schlussfolgerungen den Fakten. 

Viertens drückt sich unser Botschafter wie jemand aus, der Russland bestrafen will, anstatt nach einer Lösung für das Problem zu suchen. Wenn man Richter und Partei ist, ist es unmöglich, eine vermittelnde Rolle zu spielen. Das ist bedauerlich. Weil die Schweiz nicht als Richterin auftrat, konnte sie zwischen den USA, dem Iran und Kuba vermitteln. Dazu musste sie weder kommunistisch noch islamisch werden.

Das fünfte ist, dass der Schweizer Botschafter die Situation so darstellt, wie er sie gerne hätte, und nicht so, wie sie ist. Er zeichnet ein sehr rosiges Bild von den militärischen Fähigkeiten der Ukraine, indem er erklärt, dass sie versucht, ihre jüngsten Erfolge in Charkow und Cherson auszunutzen, um weiter zu siegen.

Unser Botschafter ist der Meinung, dass Russland aus Angst vor einer ukrainischen Rückeroberung Verhandlungen anstrebt und es daher für die Ukraine nicht der richtige Zeitpunkt ist. Das Problem ist, dass dies absolut nicht der Realität entspricht. Die Einnahme des Gebiets von Charkow, das die Russen zuvor verlassen hatten, war für die Ukrainer tödlich, obwohl es keine Kämpfe gab: Sie kamen in eine «Feuerzone» (огневой мешок) und wurden von der russischen Artillerie vernichtet, ohne ihren «Erfolg» ausnutzen zu können. Dasselbe gilt für Cherson, das die Ukraine bereits zwei Tage vor dem Interview unseres Botschafters zu evakuieren beschlossen hatte, nachdem sie vergeblich versucht hatte, Artillerieeinheiten dort zu positionieren.52 Seit Februar sind die Ukrainer nur in Gebiete vorgerückt, die zuvor von den Russen verlassen worden waren. Sie rückten kampflos vor und wurden dann in diesen Zonen von der Artillerie der Russen vernichtet, ohne dass die Russen Verluste erlitten. Das erklärt, warum Selenskij dem russischen Abzug in Cherson skeptisch gegenüberstand und (zu Recht) befürchtet hatte, dass es sich um eine Falle handle: Er hatte aus den Ereignissen in Charkow gelernt! Bis Anfang Dezember 2022 wurden alle ukrainischen «Gegenoffensiven» (oder genauer gesagt, «Gegenangriffe») abgewehrt. 

Der Kern des Problems: sein Verständnis

Das Interview mit unserem Botschafter führt uns – einmal mehr – zur Feststellung, dass das Kernproblem die Unfähigkeit unserer Medien und Behörden ist, den Konflikt auf der Grundlage von Fakten und nicht auf der Grundlage ihrer Ideologie zu verstehen. Sie sind nicht die einzigen, denn der im September veröffentlichte «Sicherheitsbericht der Schweiz 2022» greift dieselbe Rhetorik auf, ohne jegliche Analyse, was für ein Dokument, das unsere Sicherheitspolitik leiten soll, sehr schwerwiegend ist und uns in die falsche Richtung drängt. Aber das ist eine andere Debatte!

Jedes Ereignis, das von unseren Politikern und Medien präsentiert wird, wird losgelöst von seinem Kontext und den Prozessen, die zu ihm geführt haben, geliefert: Alles wird so dargestellt, als ob es völlig unvorhersehbar und irrational wäre. Dabei ist das, was wir beobachten, so vorhersehbar, dass die Analysten der «RAND Corporation» es bereits für 2019 vorhergesagt und den Westen vor den Risiken seiner Politik gegen Russland gewarnt hatten.55 Wir sind es also, die diese Situation bewusst herbeigeführt haben!

Das westliche Narrativ basiert auf der Vorstellung, dass Russland versucht, die Ukraine zu erobern. Daher messen wir den Erfolg der Russen an der Geschwindigkeit, mit der sie voranschreiten. Da diese Geschwindigkeit niedrig ist, sehen unsere Medien (und unsere Diplomaten!) darin einen Misserfolg. Die Russen aber messen ihren Erfolg in zerstörtem Potenzial und nicht in Kilometern. Im Juni 2022 erklärte David Arakhamia, Selenskijs Berater, dass die Ukraine täglich 1000 Mann (getötet und verwundet) verliere.56 Zu dem Zeitpunkt befand man sich in den Kämpfen in Lysychansk und Severodonetsk.

Ende November 2022, als der Botschafter sich äusserte, fand schon seit mehreren Wochen die Schlacht bei Bakhmut statt, und sie wird noch tödlicher sein. Die ukrainischen Verluste werden das Äquivalent eines Bataillons pro Tag erreichen! Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass – vereinfacht gesagt – die Russen ihre Ziele auch ohne Bewegung erreichen könnten: Es genügt, wenn die von unserem Botschafter erwähnten berühmten ukrainischen «Gegenoffensiven» an der russischen Verteidigung zerschellen. Dies hatte General Surowikin, der Befehlshaber der Operation in der Ukraine, bereits Anfang Oktober gesagt.57 Natürlich würde unsere öffentliche Meinung – die bereits unter den Sanktionen leidet – die Art unserer Unterstützung für die Ukraine ablehnen, wenn sie wüsste, dass sie eine unnötige Verlängerung des Konflikts fördert.

Darüber hinaus hat unser Diplomat immer noch nicht verstanden, dass die Russen nach den Prinzipien von Clausewitz funktionieren, indem sie davon ausgehen, dass a) Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist und b) operative Erfolge in strategische/politische Erfolge umgewandelt werden müssen.

Mit anderen Worten: Auch wenn das ursprüngliche Ziel der Russen darin bestand, die Sicherheit der Bevölkerung im Donbas zu gewährleisten, ist alles andere das Ergebnis von Anpassungen ihrer politisch-strategischen Ziele im Zuge ihrer operativen Erfolge.

Hätte man Selenskij Ende Februar 2022 verhandeln lassen, wäre es wahrscheinlich zu einer Lösung ähnlich der Situation am 24. Februar gekommen, mit Garantien für die Neutralität der Ukraine und für die Sicherheit des Donbas. Dies war übrigens der Inhalt von Selenskijs Vorschlag im März, und die Russen waren bereit, darüber zu diskutieren. Aber indem man diese Verhandlungen verhinderte, gab man Russland Raum, seine operativen und damit strategischen Ziele neu zu gestalten. Ausserdem hat man Moskau gezeigt, dass das Entscheidungszentrum nicht in Kiew oder Brüssel liegt, sondern in Washington.

So hatte Russland bis dahin die ukrainische Energieinfrastruktur nicht angegriffen, doch die Entschlossenheit des Westens, den Konflikt zu verlängern, veranlasste es, den Druck zu erhöhen. Nun richtet sich dieser Druck nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch – und vor allem – gegen den Westen, der sich verpflichtet hat, die Ukraine wieder auf die Beine zu bringen. Dies entwickelt sich zu einer titanischen Last für Europa.

Heute ist festzustellen, dass die Stimmen, die zu Verhandlungen aufrufen, von den Militärs und ihren Geheimdiensten (insbesondere den amerikanischen) kommen. Im Gegensatz zu unseren Diplomaten haben sie vollkommen verstanden, dass es der Ukraine nicht gelingen wird, die von Russland besetzten Gebiete zu befreien, und dass man sich auf einen Dialog einlassen muss. Das «Wall Street Journal» enthüllte, dass das US-Militär die an die Ukrainer gelieferten HIMARS-Raketen heimlich modifiziert hat, um zu verhindern, dass sie russisches Territorium erreichen.58 Im Klartext: Das US-Militär versucht, eine Eskalation des Konflikts zu verhindern, und hat dies den Russen deutlich signalisiert. Problematisch ist, dass, während das Militär versucht, die Lage zu beruhigen, die Politiker versuchen, die Situation zu eskalieren.

Der Westen ist gefangen zwischen seinem Narrativ und der Realität der Dinge. Wenn man das, was ich seit März dieses Jahres gesagt habe, berücksichtigt hätte, wäre die Ukraine heute wahrscheinlich in einer viel besseren Position!  Deshalb bezeichnen mich die Neonazis als «pro-Putin» und «Verschwörungstheoretiker», während man mich in den USA eher als «pro-ukrainisch» sieht! Aber wir haben Medien, die nicht versuchen, das Verständnis oder die Lösung von Problemen zu erleichtern, sondern uns einen ideologischen Blick auf diesen Konflikt aufzwingen wollen. Wir würden uns wünschen, dass sie sich mit demselben Eifer für die Palästinenser, Syrer, Libyer, Iraker und Afghanen einsetzen, aber bislang waren sie nur destabilisierende Faktoren.

Die jüngsten Äusserungen von General Walerij Saluschnyj, dem Generalstabschef der ukrainischen Streitkräfte, in «The Economist» widersprechen dem Optimismus unserer Diplomatie und der Propaganda unserer Medien.59 Sie zeigen zwei Dinge. Das erste ist, dass die Erklärungen unseres Botschafters in völligem Widerspruch zu den tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort stehen. Das zweite ist, dass die tatsächliche Lage der ukrainischen Streitkräfte, die den Analysen entspricht, die wir hier bereits vorgelegt haben, in unseren traditionellen Medien, die nicht mehr und nicht weniger als Propaganda betreiben, offensichtlich ausgeblendet wird.

Wie kann unsere Diplomatie sich vorstellen, zu einer Lösung des Konflikts beizutragen, ohne ihn zu verstehen?

Fordern die Russen Verhandlungen?

Laut dem Schweizer Botschafter in Kiew ist es Russland, das heute um Verhandlungen bittet, da es sich in einer schwachen Position befinde. Das ist falsch.

Ende Oktober stellte selbst der US-Aussenminister Anthony Blinken fest, dass Wladimir Putin nicht mehr um Verhandlungen ersuche. Tatsächlich musste der Westen bereits im November zugeben, er habe die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Am 1. Dezember erklärte Joe Biden, er sei bereit, mit Wladimir Putin zu verhandeln.61 Am 2. Dezember sprach Olaf Scholz mit Wladimir Putin, um ihm einen Verhandlungsprozess vorzuschlagen.62 Aus der vom Kreml erstellten Abschrift des Gesprächs geht eindeutig hervor, dass Scholz Putin angerufen hat. In diplomatischer Hinsicht bedeutet dies, dass Scholz der Bittsteller ist und nicht Putin. Am 5. Dezember deutet Antony Blinken auf einer vom «Wall Street Journal» organisierten Konferenz an, dass die USA bei Verhandlungen mit Russland die Forderung nach Rückgabe der Krim an die Ukraine fallen lassen könnten. Am selben Tag schlägt Emmanuel Macron vor, mit Russland zu verhandeln und ihm die Sicherheitsgarantien zu geben, die es ein Jahr zuvor gefordert hatte.65

Die westlichen Politiker wussten also nicht nur von Anfang an, dass das Minsker Abkommen nicht umgesetzt werden würde, sondern sie hatten auch erklärt, dass sie die Sanktionen gegen Russland erst dann aufheben würden, wenn das Abkommen umgesetzt sei!66 Die Böswilligkeit des Westens ist offensichtlich, und es ist kaum vorstellbar, dass dies heute ein verhandlungsfreundliches Klima schafft.

Als Russland im Februar seine Operation startete, hatte es als erstes Ziel, die Sicherheit der Menschen im Donbas zu gewährleisten. Das war das Ziel der Minsker Vereinbarungen, das die Ukrainer nicht umsetzen wollten. Das ist es, was der Westen bewusst vernachlässigt hat. Die Drohung einer Invasion gegen die Bevölkerung des Donbas Anfang Februar 2022 veranlasste die Russen dann, diese Sicherheit mit ihrer Intervention durchzusetzen.

Die International Crisis Group (von George Soros finanziert) hat die Entwicklung der Explosionen im Donbas seit 2020 aufgezeichnet. Es wird deutlich, dass die Explosionen ab März 2021, kurz nachdem Präsident Wolodimir Selenskij ein Dekret zur Rückeroberung der Krim und des Südens des Landes erlassen hat, auf eine erste Intensitätsstufe ansteigen. Diese Intensitätsstufe wird das ganze Jahr 2021 über bestehen bleiben. Es erklärt die russischen Machtdemonstrationen an der Grenze ab April und ist offenbar der Grund für die Planung eines vorbehaltenen Entschlusses für eine Intervention zugunsten der Bevölkerung im Donbas, aber noch kein fester Entschluss. Daher erklärten Ende Januar/Anfang Februar die Nato,68 der französische Militärgeheimdienst69 und die Ukrainer selbst,70 dass es keine Hinweise auf einen Entschluss gebe.

Eine Studie der Universität Adelaide (Australien) über Cyberaktivitäten zu Beginn dieses Jahres in der Ukraine zeigt, dass die Ukrainer eindeutig auf eine Intensivierung der Militäroperationen vorbereitet waren. Ab dem 24. Februar befanden sich die Cyberaktivitäten ukrainischer Bots sofort auf einem sehr hohen Niveau, und erst einige Tage später begannen die russischen Cyberaktivitäten.71 Dies deutet darauf hin, dass die ukrainischen Netzwerke ihre Cyberangriffe bereits vor dem 24. Februar vorbereitet hatten und bereit waren, sie an diesem Tag sehr schnell auszulösen.

Am 24. Februar war das Ziel Russlands begrenzt, und Wladimir Putin ging wahrscheinlich davon aus, dass seine Operation die Ukraine zu Verhandlungen bewegen und schnell beendet würde. Seine Rechnung ging auf, denn bereits am 25. Februar forderte Selenskij die Aufnahme von Gesprächen, die an der Grenze zu Belarus begannen. Es war der Westen, der diesen Prozess schnell unterbrach. Ende März 2022 das gleiche Szenario: Die Russen waren bereit, über Selenskijs Vorschläge zu diskutieren, und hatten als Zeichen des guten Willens ihre Truppen aus dem Norden des Landes abgezogen. Anfang April drängte der Westen Selenskij jedoch, seine Vorschläge zurückzuziehen. Die Idee, Russland verfolge das Ziel, die Ukraine zu «übernehmen» und zu «zerstören«, kam aus dem Westen und nicht aus Russland, diente aber dazu, alle ukrainischen Versuche, die Krise zu überwinden, kurzzuschliessen.

Die Russen haben nicht die Ukraine unterschätzt, sondern die Bereitschaft des Westens, einen Konflikt zu wollen. Sie erkannten daraufhin, dass es dem Westen nicht um die Ukraine, sondern um den Zusammenbruch Russlands ging und dass er alles tun würde, um die Ukraine daran zu hindern, sich auf Verhandlungen einzulassen.

Im April/Mai 2022 existierte die ukrainische Armee vom Februar praktisch nicht mehr, und der Westen kam ins Spiel, um die ukrainische Verteidigung über Wasser zu halten. Zu diesem Zeitpunkt begann die Ukraine mit dem Einsatz territorialer Truppen, um der russischen Koalition entgegenzuwirken. Die Demonstrationen der Ehefrauen und Mütter der ukrainischen Soldaten wurden gewaltsam unterdrückt.72

Die Russen wissen, dass dieser Konflikt auf die eine oder andere Weise an einem Verhandlungstisch enden wird. Ihre Strategie, um dies zu erreichen, besteht darin, die Energieinfrastruktur des Landes zu treffen, um einerseits im Land Druck für einen Verhandlungsprozess zu erzeugen, andererseits aber auch, um dem Westen zu zeigen, dass eine Verlängerung des Krieges – insbesondere durch Waffenlieferungen – für ihn in Zukunft untragbare Kosten verursachen wird.

Die Position der russischen Regierung ist seit Februar 2022 eindeutig, eine Verhandlungslösung zu erreichen. Angesichts der mangelnden Aufrichtigkeit des Westens wird sie jedoch nicht die Initiative ergreifen. Im Gegensatz zu dem, was unser Botschafter sagt, ist also nicht Russland der Bittsteller.

Anfang Dezember und insbesondere nach Angela Merkels Enthüllungen im «Spiegel» und in der «Zeit» wurde der russischen Öffentlichkeit klar, dass Wladimir Putin nicht gelogen hatte und dass der Westen es nicht ehrlich meint. Am 9. Dezember erklärte Wladimir Putin auf seiner Pressekonferenz in Bischkek (Kirgistan), dass das Vertrauensniveau in den Westen «fast bei null» liege.73 Deshalb wird die russische Regierung, auch wenn sie seit Februar die Position vertritt, eine Verhandlungslösung zu erreichen, angesichts der Unaufrichtigkeit des Westens nicht die Initiative ergreifen. Im Gegensatz zu dem, was unser Botschafter sagt, ist es eindeutig nicht Russland, das Verhandlungen fordert.

Dies erklärt, warum die öffentliche Meinung in Russland weiterhin auf der Linie der Regierung liegt, wenn man der jüngsten Umfrage des Levada-Zentrums (das in Russland als ausländischer Agent gilt) Glauben schenkt. Sie zeigt, dass 53 % der Befragten Verhandlungen befürworten würden (gegenüber 57 % im Oktober), während 41 % einen Krieg befürworten würden (gegenüber 36 % im Oktober). Diese Zahlen scheinen einer «geheimen» Umfrage nahe zu kommen, die vom russischen Oppositionsmedium Meduza enthüllt wurde und deren Ursprung und Authentizität nicht überprüft werden konnte.

Unsere Medien sehen darin eine Missbilligung der Politik des Kremls, doch in Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall. Es war der Westen, allen voran die Europäische Union und Grossbritannien, die Selenskij dazu zwangen, sich von den Verhandlungen zurückzuziehen, da er sonst keine westliche Hilfe mehr erhalten hätte. Es ist also zu beobachten, dass die russische Bevölkerung nicht nur weiterhin die Politik Wladimir Putins (dessen Beliebtheitsgrad im November 2022 bei 79 % liegt) gutheisst, sondern dass auch die Beliebtheit der «Falken» wie Dimitri Medwedew stetig steigt. Was man in den letzten Wochen beobachten kann, ist eine Verschiebung der russischen Meinung hin zu einer härteren Gangart, die sich durch einen wachsenden Verlust an Vertrauen in den Westen erklären lässt.

Im übrigen ist festzustellen, dass die russische öffentliche Meinung die Militäroperation in der Ukraine weiterhin stabil unterstützt. Im September (nach dem Abzug aus Charkow) war ein leichter Umschwung zu verzeichnen, was zeigt, dass die russische Gesellschaft die westlichen Informationen zwar aufnimmt, aber in der Lage ist, die Dinge auseinanderzuhalten.

Was wir nicht sehen, ist, dass die Russen Zugang zu westlichen Medien haben, die sie mit den Informationen (manche würden sagen: mit der Propaganda) in Russland konfrontieren können. Umgekehrt haben die Menschen im Westen keinen Zugang zu russischen Medien, und wenn Russen auf unseren Bildschirmen erscheinen, handelt es sich meist um Oppositionelle. Unser Bild von der Situation wird also absichtlich falsch vermittelt, damit die Öffentlichkeit die Ukraine weiterhin unterstützt.

Im Oktober 2021 berichtet «RTS», dass das unabhängige Medium «Dojd» in Russland als «ausländischer Agent» eingestuft wird, was bedeutet, dass seine Finanzierung oder sein Management ganz oder teilweise aus dem Ausland stammt. «Dojd» operiert seit Juni 2022 von Lettland aus, das ihm gerade seine Lizenz entzogen hat, da seine Kommentare «zu russlandfreundlich» seien! Willkommen in der EU-Demokratie (nein, «RTS» hat diese Information nicht geliefert).

Umgekehrt hat im Westen der Rückkopplungseffekt der Sanktionen die Wirtschaft geschwächt und das soziale Klima angespannt. Die Politik des Westens wird immer weniger akzeptiert und führt zu einem Anstieg der Extreme. Der vereitelte Putschversuch in Deutschland zeugt von den herrschenden Spannungen. Doch das ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Das Gefühl, Behörden und Medien würden die Realität «anpassen», um schlecht durchdachte, ideologisch gesteuerte Strategien zu rechtfertigen, fördert ein Gefühl der Revolte. Man könnte dies als Verschwörungstheorie bezeichnen, wenn es nicht bewiesen wäre. Journalisten, die üble Ideen verbreiten, Medien, die alle abweichenden Gedanken ausschliessen, selbst wenn sie auf Fakten beruhen, tragen dazu bei, dieses Klima der Spannung und den Aufstieg neuer Faschismen zu erzeugen.78

Der Westen ist nicht fähig, aus der Geschichte zu lernen, und unterschätzt systematisch die Sorge und das Mitgefühl der Russen für ihre Völker im Ausland. Das war der Grund für Russlands Intervention zugunsten Serbiens im Jahr 1914, das war der Grund für seine Intervention in Georgien im Jahr 2008 zugunsten der Südosseten, die von ihrer eigenen Regierung bombardiert wurden,79 das war der Grund für seine Intervention in der Ukraine im Jahr 2022 und das wird der Grund für seine Intervention in Serbien im Jahr 2023 sein, wenn unsere Diplomatie nicht darauf achtet.

Fehlende Strategie und Kohärenz

Die Schweiz tritt zu Recht für das HVR ein. Unser Botschafter in Kiew ist ein würdiger Vertreter unserer Politik und nimmt legitimerweise Stellung für die Ukraine.

Aber warum hat er sich dann nicht schon vorher für dieses Prinzip eingesetzt und im Vorfeld gehandelt, um die Einhaltung des Minsker Abkommens und der Uno-Resolution 2202 (2015) durchzusetzen?

Ausserdem könnte man mit der gleichen Logik fragen, warum wir seit 2003 weiterhin diplomatische und Handelsbeziehungen mit den USA unterhalten haben? Wir haben also nicht nur Aggressoren, sondern auch Länder, die den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eindeutig belogen haben, belohnt. Nach welchen Kriterien vergibt die Schweiz Aggressionsprämien? Wieder einmal stelle ich die Frage: Warum ist der Konflikt in der Ukraine tadelnswerter und verurteilenswerter als frühere Konflikte, die wir (auch passiv) unterstützt haben?

Russland will die Ukraine nicht zerstören, sondern sie zu Verhandlungen drängen. Nicht eine Verhandlung mit der Nato, sondern mit der Ukraine, denn sein Ziel ist es, die direkte Bedrohung für die russischsprachige Bevölkerung im Donbas zu beseitigen. Das hat Wladimir Putin von Anfang an gesagt. Dieses Ziel betrifft heute jedoch auch die vier Oblaste im Süden des Landes, die sich der Russischen Föderation angeschlossen haben. Russland kann seine Ziele auf zwei Arten erreichen: auf diplomatischem Wege und durch Verhandlungen oder durch Gewalt, indem es das ukrainische Militärpotenzial zerstört.

Russland hat festgestellt, dass der Westen nicht nur acht Jahre lang nicht gewillt war, die Verhandlungslösung umzusetzen, sondern sich auch heute bemüht, jegliche Verhandlungen zu verhindern. Seit Ende Februar sabotierte der Westen die verschiedenen Versuche der Ukraine, zu verhandeln, indem er sie mit Waffen versorgte und sie drängte, die Kämpfe fortzusetzen. Denn der Westen strebt nicht einmal einen Sieg der Ukraine an, sondern einen Regimewechsel in Russland. Das ist übrigens auch der Grund, warum Wolodimir Selenskij ein Dekret unterzeichnete, das verbietet, mit Russland zu verhandeln, solange Wladimir Putin an der Macht ist.

Das war der Zweck der massiven Sanktionen, die Russland in die Knie zwingen, es an der Fortsetzung seiner Operationen hindern und ihm so eine Niederlage aufzwingen sollten. So lautete die von der «RAND Corporation» für das Pentagon entwickelte Strategie.81 Diese Strategie hätte sicherlich im Jahr 2014 funktioniert, aber nicht mehr im Jahr 2022: Der Westen ist acht Jahre zu spät, und das RAND-Dokument sah alle Risiken für die Ukraine vor, die wir heute beobachten.

Bleibt also die harte Methode

Bis zum Anschlag auf die Brücke von Kertsch hatten die Russen die elektrische Infrastruktur nur gezielt getroffen, um die ukrainische Militärlogistik über Eisenbahn zu stören, aber es gab keine systematischen Zerstörungen. Nach den Anschlägen auf Darja Dugina und später auf Kertsch wurde den Russen klar, dass der Westen mit allen Mitteln versuchte, den Konflikt zu verlängern. Daher begannen sie, die ukrainische Strominfrastruktur systematisch zu treffen, allerdings nach einem bestimmten Schema. Einerseits wurde damit versucht, den Westen dazu zu bringen, nicht mehr die Verlängerung des Konflikts anzustreben, und andererseits sollte damit auf Terrorakte reagiert werden, die kein westliches Land verurteilte.

Es ist sicherlich fragwürdig, die zivile ukrainische Energieinfrastruktur zu zerstören. Ein Verbrechen rechtfertigt kein anderes. Aber wenn wir die USA, Grossbritannien und Frankreich, die dasselbe im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in Syrien getan haben, wie die «Washington Post» berichtet, durch Sanktionen oder diplomatische Massnahmen verurteilt hätten, dann hätten die Russen vielleicht nicht so gehandelt. Sind es also nur Terroristen, die sich weigern, Aggressionen zu belohnen?

Im März 2019 wurde Wolodimir Selenskij mit der Idee gewählt, Frieden mit den Russen zu schliessen. Es waren die Neonazis, die ihm daraufhin sofort mit dem Tod drohten, sollte er dies tun.83 Seltsamerweise hat keines unserer Medien versucht, Selenskij zu unterstützen, indem sie sich gegen diese Drohungen auflehnten. Im Gegenteil, sie haben systematisch in die gleiche Richtung wie diese Neonazis gedrängt.

Es ist wichtig, Kriegsverbrechen anzuprangern, egal von welcher Seite sie kommen. Aber wenn man nur eine Seite verurteilt und die Verbrechen der anderen Seite systematisch verschweigt, ist das eine «Prämie für Verbrechen», die man gewährt. Seit 2014 haben unsere Medien die Anschläge auf das Zentrum von Donezk und die Zivilbevölkerung, den Einsatz von Landminen in bewohnten Gebieten, die Folter und die Massaker nie verurteilt, sondern im Gegenteil systematisch versucht, sie zu leugnen oder zu verharmlosen. Wie oft hat die Schweiz gegen die Angriffe auf Zivilisten im Donbas protestiert oder sie verurteilt? Hätten unsere Medien, Diplomaten und Politiker damals reagiert, hätte Russland im Februar 2022 höchstwahrscheinlich nicht angegriffen. In jedem Fall lieferte ihre Nachgiebigkeit gegenüber der Missachtung des HVR durch die Ukraine zwischen 2014 und 2022 Russland einen legitimen Grund für eine Intervention.

Unser Botschafter hat Recht, wenn er die Ukraine unterstützt. Aber seine Einschätzung der Situation führt ihn nicht zur richtigen Lösung, sondern trägt zu noch mehr Leid bei. Das HVR ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Aussenpolitik und muss es auch bleiben. Aber die Zeit ist nicht mehr reif für Ideologie. Unsere Diplomaten hatten acht Jahre Zeit, um das Internationale Humanitäre Völkerrecht in der Ukraine durchzusetzen. Sie haben es nicht getan und damit die Voraussetzungen für eine militärische Intervention geschaffen. Das ist eine schreckliche Fehleinschätzung. Hätten sie meine Analysen seit März weniger voreingenommen gelesen, hätten sie vielleicht gesehen, wie man den Kurs der Ukraine, der das Land vorhersehbar gegen die Wand fuhr, korrigieren könnte. Auch das haben sie nicht getan.

Was sich aus diesem Konflikt auf der Ebene unserer Aussenpolitik ableiten lässt, ist vielfältig. Zunächst einmal haben wir eine «variable Geometrie» in Bezug auf das Völkerrechtshilfegesetz. Die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts setzt jedoch eine strikte Unparteilichkeit voraus, die wir nicht mehr haben. Zweitens hat der Westen – einschliesslich der Schweiz – die Beziehungen zu Russland gegen eine Stärkung der atlantischen Einheit eingetauscht, wie Angela Merkel bestätigte. Wir haben den Frieden in Europa gegen den Zusammenhalt der Nato eingetauscht.

Wir haben das gleiche Problem mit dem Kosovo, den das Völkerrecht (Resolution 1244 des Uno-Sicherheitsrats) als Territorium Serbiens betrachtet, dessen Unabhängigkeit die Schweiz jedoch anerkennt. Wir erkennen die Stimme des kosovarischen Volkes als über dem Völkerrecht stehend an, aber nicht die Stimme des Krim-Volkes, die am 20. Januar 1991 geäussert wurde, um vor der Unabhängigkeit der Ukraine «Subjekt der UdSSR» (und nicht der Ukrainischen Sozialistischen Republik) zu sein. Und wir geben der Ukraine, die die Krim 1995 de facto annektiert hat, einen Bonus. Wir wenden das Völkerrecht also so an, wie es uns gefällt.

Fragwürdiges Ziel: Russlands Zusammenbruch

Unsere Regierungen führen auf der Grundlage dessen, was die Medien sagen. Dies überträgt unseren Medien eine beträchtliche Verantwortung, der sie nicht mit Sorgfalt nachkommen, indem sie die Münchner Charta missachten, wie wir bereits in einigen Sendungen des Schweizer Fernsehens gesehen haben, die absichtlich «Fake News» verbreiten. Indem sie manchmal sogar den ukrainischen Medien widersprechen, beeinflussen unsere Medien die Art und Weise, wie wir auf die Krise reagieren. Hätten sie Raum für unterschiedliche Meinungen gelassen, hätten sie es der Ukraine leichter gemacht. Aber das war nicht ihr Ziel. Ihr Ziel war es, Russland zum Zusammenbruch zu bringen, koste es, was es wolle, und die Schwäche ihres Narrativs verbietet es, andere zu Wort kommen zu lassen.

Alles, was wir heute beobachten: die enormen ukrainischen Verluste, den Verlust von Territorien und die Wirkungslosigkeit der Sanktionen hatte die «RAND Corporation» bereits 2019 in ihrer Strategie (auf Seite 100) gegen Russland vorausgesehen.86 Wir im Westen (einschliesslich der Schweiz) haben diese Warnungen also in voller Kenntnis der Sachlage und auf sehr zynische Weise bewusst ignoriert und die Ukraine in diese Katastrophe gestürzt.

Ab dem 24. Februar berieten und unterstützten wir die Ukraine wie einen Sieger. Dabei hätten wir sie unterstützen müssen, als ob sie verlieren könnte. Getragen von ihrem Hass auf Russland, schlossen unsere Medien jede kritische Analyse der Handlungen der Ukraine aus und führten sie dazu, ihre Fehler zu wiederholen. Heute zahlt sie den Preis für die blinde und idiotische Selbstgefälligkeit unserer Journalisten und Politiker.

Es reicht nicht aus, sich einzureden, dass die Ukraine gewinnt, damit sie gewinnt. Seit März verkünden unsere Medien den Sieg der Ukraine, die Niederlage Russlands, den Zusammenbruch Russlands, seine Isolation und das baldige Ende von Wladimir Putin. Nichts davon ist passiert. Unsere Medien betreiben «wishfull thinking», um ihr Bedürfnis nach Hass zu befriedigen. Die Realität sieht anders aus. Die Unfähigkeit der europäischen Diplomatie, sich anders als durch Waffenlieferungen und Sanktionen durchzusetzen, unsere unterschiedliche Behandlung dieses Konflikts im Vergleich zu früheren Konflikten und die herablassenden Botschaften gegenüber Afrika haben den alten Kontinent diskreditiert und Eurasien, dessen Hauptakteure China, Indien und Russland sind, neues Leben eingehaucht.

Wir haben völlig versagt.

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

Dieser Artikel steht auch in französischer Sprache zur Verfügung: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/fr/newspaper-ausgabe-fr/articles-traduits-en-francais.html#article_1459

3 «Ukraine: Zelenskiy bans three opposition TV stations», dw.com, 3 février 2021
11 Katherine Bayford, «Alexander Dugin was never Putin’s brain», Unherd, 22 août 2022
13 Pjotr Sauer, «Alexander Dugin: who is Putin ally and apparent car bombing target?», The Guardian, 21 août 2022
14 «Putin’s ideologist, chauvinist philosopher Dugin fired from work», Euromaidan Press, 28 juin 2014
15 «Comment un homme a changé la Russie», la-croix.fr, 26 avril 2005
17 «La chute de l‘empire soviétique, vingt-cinq ans après», lemonde.fr, 8 septembre 2016
18 «Vladimir Fédorovski: «La chute de l‘URSS est encore un traumatisme…», lefigaro.fr, 16 décembre 2016
19 «Poutine, l‘incontournable patron de la Russie», France 24, 18 mars 2018
21 «Article de Vladimir Poutine «Sur l‘unité historique des Russes et des Ukrainiens», belgium.mid.ru, 12 juillet 2021
22 Isabelle Mandraud dans l’émission «C dans l’air» du 11 janvier 2022 (« Poutine rêve d‘URSS, l‘Ukraine sous tension #cdanslair 11.01.2022 », France 5/YouTube, 12 janvier 2022) (08’55’’)
23 Paul Gogo, «L’inquiétant article de Vladimir Poutine sur l’Ukraine», La Libre, 16 juillet 2021 (mis à jour le 18 juillet 2021)
24 «Принят Закон ‹О коренных народах Украины›», rada.gov.ua, 1er juillet 2021
25 «Слуга народу» Семінський проголосив позбавлення конституційних прав росіян, які проживають в Україні, zikua.news, 2 juillet 2021
26 Benjamin Haddad, dans l’émission «C dans l’air» du 21février 2022 (« Ukraine : que veut vraiment Poutine? #cdanslair 21.02.2022 », France 5/YouTube, 22 février 2022) (04’02’’)
27 «Barroso reminds Ukraine that Customs Union and free trade with EU are incompatible», ukrinform, 25 février 2013
29 «Transcript of Vladimir Putin’s speech announcing ‘special military operation’ in Ukraine», The Sydney Morning Herald, 24 février 2022
30 «A la rencontre du régiment Azov, accusé par la Russie d’être infesté de ‹néonazis›?», rts.ch, 16 avril 2022
31 Oleksiy Kuzmenko, «The Azov Regiment has not depoliticized», Atlantic Council, 19 mars 2020
32 Josh Cohen, «Ukraine’s Got a Real Problem with Far-Right Violence (And No, RT Didn’t Write This Headline)», The Atlantic Council, 20 juin 2018
33 Allan Ripp, «Ukraine’s Nazi problem is real, even if Putin’s ‘denazification’ claim isn’t», NBC News, 5 mars 2022
35 Lev Golinkin, «The reality of neo-Nazis in Ukraine is far from Kremlin propaganda», The Hill, 9 novembre 2017
37 Sylvain Besson, La Conquête de L‘Occident. Le Projet secret des islamistes, éditions du Seuil, Paris, 7 octobre 2005
42 «Minsk deal was used to buy time – Ukraine’s Poroshenko», The Press United, 17 juin 2022
44 «‹On s‘en fout des propositions des séparatistes!›: quand Emmanuel Macron téléphonait à Vladimir Poutine pour éviter la guerre en Ukraine», franceinfo / AFP, 25 juin 2022
50 «Erdogan announces new talks with Zelensky, Putin», The Kyiv Independent, 9 décembre 2022

51 «Turkey’s Erdogan announces meetings with Zelenskyy, Putin», The New Voice of Ukraine, 9 décembre 2022
52 Lorenzo Tondo & Peter Beaumont, « Ukraine to start evacuations in Kherson and Mykolaiv regions as winter sets in », The Guardian, 21 novembre 2022
55 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, « Extending Russia : Competing from Advantageous Ground », RAND Corporation, 2019
56 Dave Lawler, « Ukraine suffering up to 1,000 casualties per day in Donbas, official says », Axios World, 15 juin 2022
57 «Суровикин: российская группировка на Украине методично „перемалывает“ войска противника», TASS, 18 octobre 2022
58 Michael R. Gordon & Gordon Lubold, «U.S. Altered Himars Rocket Launchers to Keep Ukraine From Firing Missiles Into Russia», The Wall Street Journal, 5 décembre 2022
59 «An interview with General Valery Zaluzhny, head of Ukraine’s armed forces», The Economist, 15 décembre 2022
61 Felicia Schwartz & Leila Abboud, « Joe Biden says he is prepared to speak to Putin about ending Ukraine war », Financial Times, 1er décembre 2022
62 Tristan Fiedler, «In Putin call, Scholz urges diplomatic solution, withdrawal of Russian troops», Politico, 2 décembre 2022
65 Charles Szumski, « Macron’s new security architecture opens Pandora’s Box in Nato politics », euractiv.com, 5 décembre 2022

66  Cynthia Kroet, «Merkel: EU will lift Russia sanctions when Minsk accords implemented», Politico.eu, 2 mai 2017
68 «U-turn Time! Nato’s Stoltenberg Now Says ‘No Certainty’ to Alleged Russian Invasion Plans of Ukraine», RT/YouTube, 29 janvier 2022
69 Laurent Lagneau, «Guerre en Ukraine : Le directeur du renseignement militaire français poussé vers la sortie», OPEX360, 31 mars 2022
70 «Ukraine Estimates Probability of Major Escalation With Russia as Low-Defence Minister», Reuters/USNews, 18 février 2022
71 Bridget Smart, Joshua Watt, Sara Benedetti, Lewis Mitchell & Matthew Roughan, « #IStandWithPutin versus #IStandWithUkraine: The interaction of bots and humans in discussion of the Russia/Ukraine war », The University of Adelaide, 15 août 2022 (mis à jour 20 août 2022)

72 Paul Waldie, «In the small Ukraine city Khust, a rare public display of dissent over war with Russia», The Globe and Mail, 2 mai 2022
73 Kevin Liffey, «Putin says loss of trust in West will make future Ukraine talks harder», Reuters, 9 décembre 2022
78 Vicente Navarro, «The Predictable Resurgence of Fascism and Nazism On Both Sides of the North Atlantic and Its Consequences», CounterPunch, 9 décembre 2022
79 Andrew Rettman, «EU-sponsored report says Georgia started 2008 war», euobserver.com, 30 septembre 2009
80 Liv Klingert, «Zelenskyy signs decree rejecting negotiations with Putin», The Brussels Times, 4 octobre 2022
81 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, « Extending Russia : Competing from Advantageous Ground », RAND Corporation, 2019
83 Лилия Рагуцкая, «Ярош: если Зеленский предаст Украину – потеряет не должность, а жизнь», Obozrevatel, 27 mai 2019
86 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, «Extending Russia: Competing from Advantageous Ground», RAND Corporation, 2019



Das Friedensversprechen der Uno – auch für die Ukraine!

von Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas

Der hybride Krieg in der Ukraine hat auf traurige Weise gezeigt, wie ineffektiv die Uno ist, wenn es darum geht, bewaffnete Konflikte zu verhindern oder sogar einen Waffenstillstand auszuhandeln, wenn Feindseligkeiten ausgebrochen sind. 

Es ist nicht nur die Schuld des Sicherheitsrats und der Generalversammlung, sondern auch die Schuld der Mainstream-Medien, die weiterhin Öl ins Feuer giessen, die Schuld der Kriegsprofiteure weltweit, die Schuld des militärisch-industriellen-digitalen-finanziellen Komplexes, der den Prozess antreibt und einen vernünftigen Kompromiss zur Beendigung der Feindseligkeiten verhindert. Viele stellen sich die Frage: Wozu ist die Uno gut? Wer glaubt noch an sie? Was nützt ein Generalsekretär, der den Stier nicht bei den Hörnern packt, der die Dinge nicht beim Namen nennt, der nicht proaktiv gültige Entwürfe für den Frieden vorschlägt und das gesamte Uno-System zur Unterstützung pragmatischer Initiativen mobilisiert?

Wie wir alle wissen, kommt die Uno-Charta einer Weltverfassung gleich, die als Grundlage für eine gültige «regelbasierte internationale Ordnung» dienen könnte, die die Interessen von acht Milliarden Menschen und nicht nur die Interessen der «Eliten» einer Handvoll Länder widerspiegelt. Leider haben sich die Verfasser der Charta von 1945 nicht dafür entschieden, die Organisation mit einem wirksamen Durchsetzungsmechanismus auszustatten. Der «Talkshop» schwingt sich mit Lippenbekenntnissen zu Frieden und Menschenrechten auf, während die Macher Konflikte schüren und dafür sorgen, dass Kriege verlängert werden.

Die erklärten Grundsätze und Ziele der Uno zielen auf die Verwirklichung von Frieden, Entwicklung und Menschenrechten ab, edle Ziele, die einen echten politischen Willen, Engagement für die Sache, Kompromissbereitschaft durch Dialog und Multilateralismus erfordern. Nach der friedlichen Auflösung der Sowjetunion hätte die Welt einen friedlichen Weg einschlagen können, militärisch geprägte Volkswirtschaften in Volkswirtschaften zugunsten der Sicherheit der Menschen umwandeln und die Abrüstung zugunsten der Entwicklung vorantreiben können. Diese durchaus realistische Möglichkeit wurde durch den Grössenwahn einiger Politiker vereitelt, durch den Ehrgeiz, bis in alle Ewigkeit die Nummer eins zu sein und zu bleiben.

Zweck der Uno, der die Verhütung von Kriegen

Zbigniew Brzezinskis «Grand Chessboard», das neokonservative «Project for the New American Century» und andere imperialistische Entwürfe zielten darauf ab, dem Rest der Menschheit eine unipolare Welt aufzuzwingen, die von einer einzigen Supermacht, den Vereinigten Staaten, beherrscht wird. Diese geopolitischen und wirtschaftlichen Ambitionen negieren das zentrale Ziel und den Zweck der Uno, der die Verhütung von Kriegen ist und bleibt. Wir können nur mit Bedauern feststellen, dass in den 77 Jahren ihres Bestehens Hunderte von Kriegen stattgefunden haben und dass auch heute noch Kriege geführt werden, die die Uno nicht vorhersehen konnte. Ebenso versäumte sie es, für berechtigte Beschwerden tragfähige Lösungen zu finden. 

Zwar hat die Uno ein Forum für Verhandlungen geboten, das in einigen Fällen erfolgreich war, insbesondere während der kubanischen Raketenkrise 1962, als die Welt einer nuklearen Konfrontation sehr nahe war. 

Wenn Kriege ausbrechen, muss es die Priorität aller Uno-Organisationen sein, Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu erleichtern und proaktiv Vorschläge für einen vernünftigen Kompromiss zu unterbreiten. In der Tat ist ein unvollkommener Frieden immer besser als ein «guter Krieg» – wenn es überhaupt etwas gibt, das als «guter Krieg» oder gar als «gerechter Krieg» bezeichnet werden kann. 

Zweifellos geht das Mandat der Uno über die Schaffung der Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben hinaus. Idealerweise sollte die Organisation auch die internationale Solidarität und Zusammenarbeit in allen Bereichen menschlichen Handelns fördern, den fairen Handel, den kulturellen Austausch, die globale Gesundheit, die Lösung globaler Probleme wie Pandemien, Klimawandel, Entwaldung, Wüstenbildung, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis und die Koordination der Katastrophenhilfe. 

Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass die Uno in den letzten sieben Jahrzehnten hervorragende Arbeit bei der Festlegung von Standards geleistet hat. Sie hat Überwachungsmechanismen, Vertragsorgane und Petitionsverfahren eingerichtet. Viele Fortschritte wurden während des Entkolonialisierungsprozesses in den 1950er und 60er Jahren erzielt, als das Selbstbestimmungsrecht der Völker als «ius cogens» anerkannt wurde. Doch die indigenen Völker Nord- und Südamerikas wurden nie entkolonialisiert. Dies bleibt eine wichtige Aufgabe für die Uno.

Völkerrecht ist kein Selbstläufer

Dank der Uno wurden beträchtliche Fortschritte bei der Anerkennung der Rechte von Frauen und Minderheiten, der Verabschiedung der Erklärung über die Rechte indigener Völker, der Ziele für nachhaltige Entwicklung, zahlreicher Urteile des Uno-Menschenrechtsausschusses, z. B. über das Recht auf Wasser für indigene Gemeinschaften usw. erzielt. Leider besteht nach wie vor eine erhebliche Umsetzungslücke. Das Völkerrecht ist kein Selbstläufer.

Wie wir wissen, wird die internationale Sicherheit durch stabile Beziehungen zwischen den Nationen gestärkt und profitiert vom inneren Frieden in den Staaten, der von Uno-Organisationen wie dem Entwicklungsprogramm, der Generaldirektion für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten, UNICEF, dem Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte und dem Hohen Kommissar für Flüchtlinge usw. gefördert wird. Wenn es interne und externe Ungleichgewichte zwischen Ländern gibt, sind der internationale Frieden und die Sicherheit bedroht und der Uno-Sicherheitsrat wird gemäss Artikel 39 der Uno-Charta zum Handeln aufgefordert. Leider ist die Organisation nach wie vor sehr polarisiert und hat keine wirksamen Massnahmen gemäss den Kapiteln VI und VII der Uno-Charta ergriffen, um Probleme durch Vermittlung, Diplomatie, Beratung und technische Hilfe zu lösen.

Der Prozess der Globalisierung, der von den Uno-Organisationen wie UNESCO, WHO, ILO, WTO, WIPO, ITU und UNEP unterstützt wird, hat zur internationalen Sicherheit beigetragen, aber das Beharren eines Landes, der Vereinigten Staaten von Amerika, auf seinem Exzeptionalismus und seinem Handeln ausserhalb der Uno-Charta hat die Welt destabilisiert. 

Die einzige bestehende «regelbasierte internationale Ordnung» ist die Uno-Charta, die jedoch von amerikanischen Experten und Think Tanks als veraltet angesehen wird, vor allem, weil sie es nicht zuliess, dass sich das Völkerrecht vollständig der amerikanischen Hegemonie unterordnete. Jedenfalls haben viele Uno-Organisationen bisher weitgehend den Interessen der USA und der EU gedient und bei ihren groben Verstössen gegen das Völkerrecht geschwiegen, z. B. in Bezug auf die geheimen CIA-Gefängnissen, aussergerichtliche Tötungen (extra-judicial executions), ausserordentliche Überstellungen (extraordinary renditions), Folterzentren in Guantanamo, die Verfolgung von Julian Assange, bei Beteiligung oder Finanzierung von Coups d'etat in Bolivien, Ukraine, Peru, bei Angriffen auf Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien etc.  

Missbrauch des Vetorechts

Der Missbrauch des Vetorechts, z. B. zur Blockierung legitimer Uno-Untersuchungen, z. B. zu Biolaboren in der Ukraine, hat die Autorität und Glaubwürdigkeit der Organisation geschwächt. Die Wahrnehmung des Scheiterns wird jedoch von den Mainstream-Medien heruntergespielt, die Fake News und Propaganda verbreiten und unbequeme Fakten und abweichende Darstellungen unterdrücken. Immer häufiger werden wir Zeuge schwerwiegender Demokratiedefizite in Ländern, die sich angeblich für Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung einsetzen, und der Tendenz, die Welt in Demokratien und Autokratien, in «die Guten» und «die Bösen» einzuteilen. Es ist dieser binäre Ansatz, der zu bewaffneten Konflikten führt.

Nato nicht an Koexistenz und Deeskalation interessiert

Auf dem Nato-Ministertreffen am 29. November 2022 in Bukarest wurde die sogenannte «Politik der offenen Tür» bekräftigt und die Einladung von 2008 an die Ukraine und Georgien erneuert. Dies bestätigt, dass die Nato-Führer nichts aus den Folgen ihrer Unnachgiebigkeit in den Jahren 2008 bis 2022 gelernt haben, als sie nicht verstanden, dass eine europäische Sicherheitsarchitektur den legitimen Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung tragen muss. Die europäische Sicherheit kann nicht auf Kosten Russlands aufgebaut werden. Das Treffen in Bukarest bestätigt, dass die Nato nicht an Koexistenz und Deeskalation interessiert ist, sondern an ihren hegemonialen Ambitionen festhält. Die unnachgiebige Haltung der Nato, wie sie auf dem Bukarester Treffen deutlich wurde, stellt eine weitere Provokation gegenüber Russland dar und steht im Widerspruch zu Buchstaben und Geist der Uno-Charta. Jeder objektive Beobachter würde zustimmen, dass die Nato und die EU seit Jahrzehnten ein ständiges Muster von Provokationen gegen Russ­land verfolgen, den Sport als ­Waffe gegen das Land einsetzen, russische Sportler boykottieren, die russische Führung dämonisieren, einseitige Zwangsmassnahmen, Handelsembargos und Finanzblockaden verhängen, die die Vorteile der Globalisierung zunichte gemacht und Lieferketten unterbrochen haben, was nicht nur Russ­land, sondern auch den Rest der Welt betrifft. Die «westlichen Demokratien» haben auch das Recht auf Eigentum der Russen verletzt und Milliarden von Dollar russischer Privatpersonen beschlagnahmt oder eingefroren, die wir gerne als «Oligarchen» diffamieren, als ob wir nicht unsere eigenen Oligarchen hätten, auch im militärisch-industriellen Komplex. Diese Beschlagnahmungen können nur als «magnum latrocinium», als massiver Diebstahl, bezeichnet werden und sind sicherlich eine verbotene Form der «Gewalt» im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 der Uno-Charta.

Darüber hinaus muss wiederholt werden, dass Artikel 2 Absatz 4 der Uno-Charta sowohl die tatsächliche Anwendung von Gewalt als auch die Androhung ihrer Anwendung verbietet. Die Strategie der Nato, Russland einzukreisen, der parallele Versuch der USA, China einzukreisen, und die 800 US-Militärstützpunkte weltweit stellen eine weitere Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Sinne von Artikel 39 der Uno-Charta dar. Russ­land und China haben also zweifelsohne ein berechtigtes Sicherheitsinteresse, das im Uno-Sicherheitsrat wiederholt artikuliert wurde – bislang ohne Erfolg.

Die Nato verwandelte eindeutig in ein Offensivbündnis

Die Nato ist spätestens seit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts seit Jahrzehnten kein «Verteidigungsbündnis» mehr. Die Entscheidung von US-Präsident Bill Clinton im Jahr 1997, die Nato entgegen den Zusicherungen gegenüber Michail Gorbatschow nach Osten zu erweitern, verwandelte das Bündnis eindeutig in ein Offensivbündnis, das andere Staaten bedrohen würde. Diese Erweiterung wurde von dem US-Diplomaten par excellence, George F. Kennan, dem Vater der «Containment»-Doktrin, verurteilt. In einem kritischen Essay, der am 5. Februar 1997 in der «New York Times» erschien, warnte Kennan: «Die Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Zeit nach dem Kalten Krieg. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Aussenpolitik in eine Richtung lenken würde, die uns ganz und gar nicht gefällt … ».

Nicht nur George F. Kennan warnte vor der Nato-Erweiterung. Der letzte US-Botschafter in der Sowjetunion, Jack Matlock, Professor John Mearsheimer von der Universität Chicago, Professor Richard Falk von Princeton, Prof. Jeffrey Sachs von der Columbia University, Professor Francis Boyle von Illinois, Professor Dan Kovalik von Pittsburgh und sogar der ehemalige Aussenminister Henry Kissinger haben ihre Besorgnis über Provokationen zum Ausdruck gebracht, die zu einer nuklearen Konfrontation führen könnten.

Nato am Staatsstreich gegen den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch beteiligt

Kaum zwei Jahre nach Clintons Beschluss, die Nato zu erweitern, hat das westliche Bündnis bewiesen, dass es in Wirklichkeit ein Angriffsbündnis ist, das sich der Kontrolle durch den Uno-Sicherheitsrat entzieht. Die nackte Aggression der Nato gegen Jugoslawien im Jahr 1999, einen Staat, der kein Land bedrohte, stellte objektiv einen Verstoss gegen Artikel 2 Absatz 4 der Uno-Charta und ein «Verbrechen gegen den Frieden» im Sinne von Artikel 6 Buchstabe a des Nürnberger Statuts von 1945 sowie einen Verstoss gegen Artikel 5 des Römischen Statuts von 1998 dar, das 2002 in Kraft trat. 

Es ist eine Schande für die Uno-Organisation und den Internationalen Gerichtshof, dass dieser massive Verstoss gegen die Uno-Charta nicht formell verurteilt wurde und dass die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Damit wurde ein Präzedenzfall der Straflosigkeit geschaffen, der die Glaubwürdigkeit der Uno weiter untergraben hat.

Die offene und verdeckte Beteiligung der USA und der Nato am Staatsstreich gegen den demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Jahr 2014 stellte einen Verstoss gegen den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten dar, der in zahlreichen Resolutionen der Generalversammlung, darunter 2123, 2625 und 3314, verankert ist. Darüber hinaus stellten die rasche Militarisierung der Ukraine, die Lieferung von tödlichen Waffen, Drohnen und Raketen seit 2014 sowie die Ausbildung ihrer Soldaten eine wachsende existenzielle Bedrohung für Russland dar. In einem sehr realen Sinne begann der Krieg in der Ukraine bereits im Februar 2014 und nicht erst im Februar 2022. 

Uno-Charta verpflichtet zur friedlichen Beilegung von Konflikten

Nach Artikel 2 Absatz 3 der Charta sind alle Staaten verpflichtet, Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen, eine Verpflichtung, die auch nach dem Ausbruch eines bewaffneten Konflikts fortbesteht. Diese Verpflichtung zu Verhandlungen erfordert einen Kompromiss, eine Gegenleistung, und akzeptiert weder «Sieg oder Tod» noch Forderungen nach «bedingungsloser Kapitulation», was im Atomzeitalter die Apokalypse bedeutet. 

Die Verlängerung eines Krieges, durch die Weigerung zu verhandeln, stellt sowohl ein Verbrechen gegen den Frieden als auch ein Verbrechen gegen die Menschheit dar, insbesondere in einer Situation, in der der Frieden und die Sicherheit des gesamten Planeten auf dem Spiel stehen, wenn man die wachsende Gefahr einer nuklearen Konfrontation bedenkt.

Die Nato – kriminelle Organisation oder Narrenschiff?

Die Wahrnehmung der Nato als legitimes Bündnis ist weitgehend ein Ergebnis ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Beobachter haben bereits darauf hingewiesen, dass die Nato wegen ihrer Angriffskriege, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, wegen der Beteiligung ihrer Streitkräfte an Folter und «ausserordentlichen Überstellungen» unter Verletzung der Genfer Rotkreuz-Konventionen sehr wohl als «kriminelle Organisation» im Sinne der Artikel 9 und 10 des Nürnberger Statuts betrachtet werden könnte, in denen die Nazi-SS und das Reichssicherheitshauptamt als kriminelle Organisationen bezeichnet wurden.

Wir können uns die Nato auch in sanfteren Farben vorstellen, wenn wir ihre Ausrichtung und Praktiken mit dem berühmten Gemälde von Hieronymus Bosch über das Narrenschiff vergleichen. In einem sehr realen Sinne verhält sich die Nato wie ein Narrenschiff oder schlimmer noch, wie Arthur Rimbauds Bateau ivre – das betrunkene Schiff. 

Informationskrieg

Die Mainstream-Medien haben eine schändliche Rolle bei der Schaffung falscher Wahrnehmungen gespielt, nicht nur in der westlichen öffentlichen Meinung, sondern auch in der Welt insgesamt, denn viele Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika werden immer noch von den fremdsprachigen Nachrichtendiensten CNN, BBC, Reuters, AP, Deutsche Welle beeinflusst, ganz zu schweigen von der rein propagandistischen Voice of America. Sie alle verbreiten Fake News und unterdrücken abweichende Meinungen. Leider haben die Vereinten Nationen keinen Mechanismus, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, obwohl solche Desinformationen letztlich eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit darstellen.

Das Mainstream-Narrativ über die Ukraine will uns glauben machen, dass es vor Februar 2022 keine Probleme in der Ukraine gab und dass die russische Militäraktion völlig irrational ist – eine Aggression um der Aggression willen, die auf allgemeiner, unbegründeter Schurkerei beruht. Eine solche manipulierte «Wahrnehmung» stellt in Wirklichkeit eine Form von Kriegspropaganda und Aufstachelung zum Hass dar. Beides ist nach Art. 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) verboten. Natürlich verfügt der Uno-Menschenrechtsausschuss, der die Einhaltung des ICCPR überwacht, über keinen wirksamen Mechanismus zur Durchsetzung der Einhaltung von Art. 20 ICCPR, selbst wenn dadurch das Recht auf Leben (Art. 6) bedroht wird.

Oft genug gelingt es den Mainstream-Medien, uns durch Manipulation in die Unterwerfung zu treiben, indem sie uns dazu bringen, unsere eigenen Gefühle und Instinkte zu verleugnen, uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen, um kognitive Dissonanzen zu erzeugen und «Big Brother» zu lieben. Es liegt an uns, unsere Rechte geltend zu machen und uns gegen die Manipulierer in den Medien zu wehren. Wir müssen von unseren demokratisch gewählten Vertretern im US-Kongress und in den Parlamenten auf der ganzen Welt verlangen, dass sie aufhören, den Dritten Weltkrieg zu provozieren, dass sie aufhören, den Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu schüren, dass sie sich zum Frieden als Menschenrecht und zur Uno-Charta als unserer universellen Verfassung bekennen.

Schlussfolgerung

In diesem Sinne wollen wir bekräftigen, dass ein nachhaltiger Frieden Multilateralismus und gegenseitigen Respekt zwischen den Nationen und Völkern erfordert. Eine der Bedingungen für einen nachhaltigen Frieden ist die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts aller Völker, einschliesslich der Völker der Krim, des Donbas, Abchasiens, Südossetiens, Transnistriens usw. Die Mainstream-Medien spielen diesen entscheidenden Aspekt des Konflikts herunter oder leugnen ihn sogar, aber es war die aggressive Haltung der Ukraine gegenüber der russischen Bevölkerung der Krim und dem Donbas, die zahllosen Verstösse gegen die Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015, die direkt zum Krieg in der Ukraine führten.

Erinnern wir uns: Selbstbestimmung ist weit mehr als ein Recht, das im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 1) kodifiziert, in der Uno-Charta (Art. 1, 55, Kapitel XI) und in unzähligen Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats verankert ist. Es ist Teil des fundamentalen Naturrechts, wie es bereits im 16. Jahrhundert von Francisco de Vitoria anerkannt wurde. Noch bevor wir uns mit dem Naturrecht und seiner Metaphysik befassen, sollten wir anerkennen, dass Selbstbestimmung ein angeborener Impuls ist, ein Instinkt für Freiheit, Identitätsgefühl, Individualismus und Selbstverwirklichung. 

Die Selbstbestimmung ist keineswegs die Quelle von Konflikten, sondern eine Voraussetzung für das Zusammenleben. Der Konflikt entsteht nicht durch die Ausübung dieses Grundrechts, sondern durch dessen ungerechte Verweigerung. Sie ist keineswegs eine Form der Anarchie, sondern ein Baustein der zivilisierten Staatsführung, die Quelle einer gerechten Gesellschaft, die auf gleichen Rechten und gleichen Bedingungen beruht. Die Alternative ist Kolonialismus und Ausbeutung – oder die vielen Erscheinungsformen des Neokolonialismus und des Imperialismus des 21. Jahrhunderts. Demokratie ist ein anderes Wort für Selbstbestimmung. Freiheit ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung, was konkret das individuelle und kollektive Recht bedeutet, unsere eigene Zukunft zu gestalten.

Zweifellos hat Russland am 24. Februar 2022 das Völkerrecht gebrochen, als es in die Ukraine einmarschierte, aber die Ukraine hat bereits seit 2014 gegen das Völkerrecht und die Minsker Vereinbarungen verstossen und grobe Menschenrechtsverletzungen an der russischsprachigen Bevölkerung begangen. Beide Völkerrechtsverbrechen müssen verurteilt werden. Die internationale Gemeinschaft, die Milliarden von Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien sollten ebenfalls sofortige Friedensverhandlungen fordern und die enorme Gefahr für das Überleben des Planeten verurteilen, die durch die Provokationen der Nato gegen Russland entstanden ist. Ein Streit zwischen der Nato und Russland über die Frage, ob Lugansk in der Ukraine oder in Russland liegt, rechtfertigt es nicht, die nukleare Vernichtung des Planeten Erde zu riskieren.

Wenn wir wirklich Frieden wollen, müssen wir auch für Gerechtigkeit sorgen. Dies ist das Motto der Internationalen Arbeitsorganisation – si vis pacem, cole iustitiam. Machen wir es zu unserem eigenen Motto.

Erinnern wir uns an die kubanische Raketenkrise im Oktober 1962 und an die Friedensrede von US-Präsident John F. Kennedy am 10. Juni 1963, die auf die heutige Situation sehr gut anwendbar ist. Kennedy sagte:

«Manche sagen, es sei nutzlos, von Weltfrieden oder Weltrecht oder Weltabrüstung zu sprechen – und dass es nutzlos sein wird, bis die Führer der Sowjetunion eine aufgeklärtere Haltung einnehmen. Ich hoffe, dass sie das tun. Ich glaube, wir können ihnen dabei helfen. Aber ich glaube auch, dass wir unsere eigene Haltung überprüfen müssen – als Einzelne und als Nation –, denn unsere Haltung ist ebenso wichtig wie die der Sowjetunion. Und jeder Absolvent dieser Schule, jeder nachdenkliche Bürger, der am Krieg verzweifelt und den Frieden herbeiführen will, sollte damit beginnen, nach innen zu schauen – indem er seine eigene Einstellung zu den Möglichkeiten des Friedens, zur Sowjetunion, zum Verlauf des Kalten Krieges und zu Freiheit und Frieden hier zu Hause überprüft.

Lassen Sie uns also beharrlich sein. Der Frieden muss nicht undurchführbar sein, und der Krieg muss nicht unvermeidlich sein. Indem wir unser Ziel klarer definieren, indem wir es überschaubarer und weniger weit entfernt erscheinen lassen, können wir allen Völkern helfen, es zu sehen, daraus Hoffnung zu schöpfen und es unwiderstehlich anzustreben.

Vor allem müssen die Atommächte bei der Verteidigung ihrer eigenen lebenswichtigen Interessen solche Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug oder einen Atomkrieg zu führen. Einen solchen Kurs im Atomzeitalter einzuschlagen, wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik …»

Kindern im grössten Slum Afrikas eine Zukunft geben 

«Bei soviel Elend konnte ich nicht so tun, als ob ich nichts gesehen hätte»

von Susanne Lienhard

Im Jahr 2009 hat der Toggenburger Alex Weigel in Kibera, einem der grössten Slums Afrikas, in der Hauptstadt Kenias (Nairobi), eine Schule eröffnet: die «KidStar Academy». In einer kleinen Lehmhütte empfing er zusammen mit einer Lehrerin die ersten Kinder. Heute, nur 13 Jahre später, kümmern sich unter seiner Leitung 24 kenianische Mitarbeiter um nahezu 200 Kinder und Jugendliche und geben ihnen das Rüstzeug für und die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Die Kinder und Jugendlichen lernen neben Lesen und Schreiben alles, was es für ein selbstständiges und menschenwürdiges Zusammenleben braucht. Alex Weigels Schule, die in einer Lehmhütte begann, ist aus Kibera nicht mehr wegzudenken. Sie ist zu einer Schule fürs Leben geworden, zu einer Schule, in der Menschlichkeit gelebt wird.

Alex Weigel: «Jeden Morgen warten zwei Kinder auf mich vor der Schule und fragen: Mr. Alex, wann können wir auch zu dir in die Schule kommen?» (alle Bilder: Good Hearts Organisation)

 

Diesen Herbst war Alex Weigel an der Kantonsschule Wattwil zu Besuch und erzählte von seinem Projekt. Er nahm die rund 60 Jugendlichen auf eine Reise nach Nairobi mit in seine neue Heimat, wie er sagte. 

Alex Weigel war vor vielen Jahren selbst Schüler an der Kantonsschule Wattwil und Mitbegründer des Hilfsprojekts «Hungerfranken», das bis heute von Schülerinnen und Schülern fortgeführt wird. Es fiel ihm deshalb nicht schwer, die Aufmerksamkeit der Jugendlichen zu gewinnen: «Was ihr im Leben braucht, erhaltet ihr von euren Eltern, von eurem Umfeld und von dieser Schule hier. Es ist prägender, als ihr es jetzt wahrhaben wollt. Verlangt von euren Lehrern, dass sie euch die Dinge über die Welt so vermitteln, dass ihr sie in ihrer Tiefe versteht. 

Alles hat damit begonnen, dass ich während der Kantischulzeit gemerkt habe, dass es nicht allen Menschen so gut geht wie uns. Ich wollte wissen warum. Bücher, wie ‹Warum sie so arm sind› von Rudolf Strahm, die Lehrer dieser Schule haben in mir einen Traum wachsen lassen: Mitmenschen, denen es nicht so gut geht wie uns, zu helfen. 2009 habe ich begonnen, diesen Traum in die Wirklichkeit umzusetzen.» 

Wie alles begann

Alex Weigel erzählte, wie er 2008 mit seiner Tochter, die eben die Matura bestanden hatte, eine Reise nach Afrika machte. Die Reise ging nach Kenia, wo eine Bekannte lebte, die sich in einem Armenviertel Nairobis engagierte. Rückblickend sagt er: «Dieser dreiwöchige Aufenthalt im Slum von Nairobi veränderte mein ­Leben. Bei soviel Elend konnte ich nicht so tun, als ob ich das nicht gesehen hätte. Ich fragte die Menschen vor Ort, was sie am dringendsten bräuchten und erfuhr, dass ihr grösster Wunsch ein Spital und eine Schule für ihre Kinder war. Das Spital war eine Nummer zu gross für mich, aber vor Ort eine Schule aufzubauen, das könnte machbar sein, dachte ich.» Gesagt getan. 2009 empfing Alex Weigel in einer kleinen Lehmhütte die ersten Schülerinnen und Schüler der «KidStar Academy». Bereits ein Jahr später konnte er in ein Wellblechgebäude mit vier Schulzimmern, einer Küche und einem Wassertank umziehen. 

«Ich habe viel gelernt. Ich wollte die Eltern partizipieren lassen und verlangte, dass jedes Kind einen Löffel mitbringt für die warme Mittagsmahlzeit, die sie in der Schule bekommen. Da kam eine Mutter zu mir und sagte, dass sie nur einen einzigen Löffel habe. Sie könne ihn nicht mitgeben, da sie ihn zu Hause brauche, um das Nachtessen für die Familie zuzubereiten.» Alex Weigel hält inne und ist sichtlich gerührt, als er sagt: «An Armut habe ich mich nie gewöhnt!» 

Ausgewogene Ernährung – Beziehung – Gesundheit – Bildung

Damit die Kinder sich konzentrieren und lernen können, legt die «KidStar Academy» viel Wert auf eine ausgewogene Ernährung und die persönliche Beziehung als Garant für Nachhaltigkeit. Alex Weigel ist überzeugt, dass man nur helfen kann, wenn man sich persönlich mit den Menschen auseinandersetzt und erfährt, wo ihre Probleme liegen. Die Eltern vieler Kinder müssen am Morgen nach Nairobi fahren, um einen Tagesjob zu finden, damit sie abends etwas zu essen haben. Das hat natürlich zur Folge, dass die Kinder den Tag durch auf sich gestellt sind und oft zu Hause eingeschlossen werden. Die Mütter haben Angst, dass ihnen sonst etwas zustossen könnte, da Gewalt und Kriminalität an der Tagesordnung sind. Andere Kinder sind Waisen, da ihre Eltern zum Beispiel an Aids gestorben sind. Die «KidStar Academy» bietet diesen Kindern eine sichere Umgebung und menschliche Wärme. Sie lehrt sie schon von klein auf, wie wichtig die persönliche Hygiene ist, um Krankheiten vorzubeugen. Gemeinsames Händewaschen und Zähneputzen sind eine Selbstverständlichkeit. Die «KidStar Academy» ist eine staatlich anerkannte Primarschule (neu 1. bis 6. Klasse). Alex Weigel lobt die mittlerweile 12 diplomierten Lehrerinnen und Lehrer, die  die Kinder gemäss dem kenianischen Lehrplan unterrichten und sie auf weiterführende Schulen vorbereiten. Sie unterrichten mit Herz und verzichten auf jegliche Gewalt, was in Kenia leider eine Seltenheit ist. Neben der Vermittlung der Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen haben auch kreative Fächer einen grossen Stellenwert. Es wird musiziert, getanzt, gespielt und es werden handwerkliche Fertigkeiten geübt. Alex Weigel erklärt, dass nicht die Besten belohnt werden, sondern diejenigen, die sich am meisten verbessert haben. Das fördert die Motivation und trägt zu einer guten Lernatmosphäre bei. Alex Weigel legt viel Wert darauf, dass die Angestellten entsprechend entlöhnt werden. Dies ist dank regelmässigen Spenden auch möglich und garantiert Kontinuität im Lehrkörper. 

Land für eine neue Schule – alle packen an!

2012 musste das bisherige Schulgebäude dem Bau einer Autobahn weichen. Aufgeben kam für Alex Weigel nicht in Frage. Er bemühte sich um eine Alternativlösung und bekam schliesslich von der Stadtverwaltung Nairobis in Lang’ata, einem etwas besseren Quartier, das an Kibera angrenzt, ein steiles unbewirtschaftetes Stück Land von 10 000 m². Die Kleinbauern, die hier ihre Ziegen weiden liessen, wurden entschädigt und bekamen eine Schule für ihre Kinder. 

Mit vereinten Kräften und tatkräftiger Unterstützung der Eltern wird das neue Schulgelände begradigt. 

 

Aber nun ging die Arbeit erst richtig los. Das Gelände musste gerodet und begradigt werden, damit darauf die Schulgebäude errichtet werden konnten. Mit vereinten Kräften und tatkräftiger Hilfe der Eltern entstanden drei Vorschulräume für die Kleinen und ein Haus für den Hauswart. 2014 wurde ein Fels abgetragen, und die Eltern stabilisierten in Freiwilligenarbeit mit Gabionen den Hang. So konnte eine weitere Fläche nutzbar gemacht und 2015 darauf eine Schulhalle mit Schulküche errichtet werden. Mit ihren Kindern zusammen pflanzten sie zur weiteren Stabilisierung des Hangs und zur Grenzmarkierung 200 Bäume. 

Die neuen Vorschulräume für die Kleinen: eine sichere Umgebung, in der sie sich wohlfühlen, spielen und entdecken können.

 

2016 kam die nächste Herausforderung. Es stellte sich heraus, dass die Autobahn nicht an der vorgesehenen Stelle gebaut wurde, sondern so, dass dabei die Wasserleitung der «KidStar Academy» gekappt wurde und die Sturmwasserleitung, die die Autobahn in der Regenzeit vor Überflutung schützen sollte, sich direkt auf dem Schulareal entleerte. Es galt also, das Gelände zu drainieren und zwei neue Sturmwasserleitungen zu legen, um das Schulgelände zu sichern. Wieder packten alle an, und meisterten diese Aufgabe mit vereinten Kräften. Dank einer neuen Wasserleitung in den «Forst» bekommt die Schule nun gutes, reines Wasser, was für alle ein Segen ist. 

Die Schulhalle wurde neu in verschiedene Klassenzimmer unterteilt und mit einem Blechdach versehen, das für mehr Licht im Raum sorgte. Lehrlinge aus der Elektrikerschule von Peter Baumgartner¹  sorgten für die Elektrifizierung der Schule, und bereits 2018 konnte ein neues Gebäude mit zwei gemauerten Schulzimmern für die 6. und 7. Klasse errichtet werden. 

Dank eines lokalen Unternehmers konnte 2019 der Rohbau eines weiteren Schulgebäudes und umweltfreundliche Toiletten gebaut werden, und 2020 wurde der Grundstein für einen Spielplatz und neue Klassenzimmer gelegt. 

Gegenseitige Hilfe und Hilfe zur Selbsthilfe

Alex Weigel erzählt, dass sie während der Corona-Krise auch die Nachbarn mit Essen versorgt oder für ein Waschhäuschen ein Wellblechdach spendiert hätten, damit sich die Bewohner dort unbeobachtet waschen konnten. 

2018 konnte ein neues Gebäude mit zwei gemauerten Schulzimmern für die 6. und 7. Klasse erbaut werden. 

 

Ehemalige Schüler kommen in den Ferien oft zurück und wollen mithelfen. Die «KidStar Academy» bleibt für sie ein Zuhause, und Arbeit gibt es immer genug. Geplant ist nun zum Beispiel, über das Schulareal einen befestigten Weg zu bauen und auch einen Schulgarten anzulegen. Die Kinder sollen lernen, auf dem Land zu überleben und den Boden so zu bewirtschaften, dass er Früchte trägt. Da der Preis für Kartoffeln im letzten Jahr ums Achtfache gestiegen ist, plant die «KidStar Academy» nun, u. a. selbst Kartoffeln anzupflanzen. 

Lernen fürs Leben

Die Kinder lernen, dass man kaputte Dinge repariert, statt sie wegzuwerfen. In Ferien- und Wochenendateliers werden Schuhe geflickt, Wände gestrichen, Zäune repariert und Bäume und Gemüse gepflanzt und Letzteres in der Küche zu feinen Gerichten verarbeitet. 

In Ferien- und Wochenendateliers lernen die Kinder und Jugendlichen lebenspraktische Dinge, wie z.B. Schuhe flicken.

 

Die Ferien- und Wochenendateliers bieten den Kindern und Jugendlichen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung und schützen sie davor, von kriminellen Banden rekrutiert zu werden. 

Spielgruppe für die ganz Kleinen

Viele Kinder wachsen in schwierigen, verwahrlosten Familienverhältnissen auf. Deshalb hat die «KidStar Academy» 2021 eine Spielgruppe für die Drei- und Vierjährigen eröffnet. Die Spielgruppenleiterinnen lehren die Kinder nicht nur das Zusammenleben in der Gruppe, sondern geben ihnen auch weitreichende Grundlagen, Struktur und eine Grundsicherheit fürs Leben mit auf den Weg. Sie schaffen für viele der Kinder zum ersten Mal ein Umfeld, in dem sie sich wohlfühlen, spielen und entdecken können. Nicht selten sind sie auch Ansprechpersonen für die Mütter. Alex Weigel betont, dass der frühe Kontakt mit den Eltern von grosser Bedeutung ist. Die Kinder werden meistens von einem Elternteil abgeholt,  so dass ganz automatisch viele Möglichkeiten entstehen, mit den Eltern zu sprechen. Damit die Eltern arbeiten gehen können, findet die Spielgruppe von sieben Uhr morgens bis ungefähr vier Uhr nachmittags statt. 

Der neue Spielplatz bereitet viel Freude: Gemeinsames Spielen und Singen haben einen grossen Stellenwert.

 

Kinder sind unsere Zukunft

Alex Weigel ist zutiefst überzeugt, dass sich Kinder so einfach entfalten, wenn man ihnen gibt, was sie brauchen, um zu wachsen. In diesem Zusammenhang erzählt er von Rebekka, die als Baby von ihrer HIV-kranken Mutter aus Verzweiflung in die Latrine geworfen wurde. Eine Nachbarin hörte ihr Wimmern und rettete das Baby, dessen Kopfhaut bereits von Maden zerfressen war. Rebekkas Mutter starb an HIV, und Rebekka wuchs bei verschiedenen Pflegefamilien auf. Sie fiel Alex Weigel auf, weil sie, anstatt wie andere Elfjährige zur Schule zu gehen, jeden Tag an der Schule vorbeilief, um Wasser zu holen. Er machte ausfindig, wo sie wohnte und überzeugte die Familie, Rebekka eine Chance zu geben und sie zu ihm in die Schule zu schicken. Alex Weigel beschreibt das Mädchen so: «Rebekka war ein extrem scheues Mädchen. Es stellte sich heraus, dass sie sich für ihre entstellte Kopfhaut schämte. In der Schule verstand sie am Anfang fast nichts. Am meisten Angst hatte sie vor den Mitschülern und versteckte sich in den Pausen jeweils hinter dem Gebäude.» Alex Weigel respektierte ihre Zurückhaltung, suchte aber geduldig immer wieder den Kontakt zu ihr. Er interessierte sich für sie und erfuhr, dass sie sich nicht nur für ihre Kopfhaut schämte, sondern auch dafür, keine richtigen Schuhe zu haben. Rebekka spürte, dass Alex Weigel es gut mit ihr meinte. Er gab ihr zu verstehen, dass sie liebenswert war, und half ihr die Angst vor den Gleichaltrigen zu verlieren und sich ihnen anzunähern. So gewann er langsam das Vertrauen des Mädchens. Rebekka wurde zu einem der sozialsten Kinder. Sie spürte, wenn es anderen Kindern nicht gut ging und kümmerte sich um sie. Heute geht sie auf die High School und braucht die Hilfe von Alex Weigel nicht mehr.

Kinder sind unsere Zukunft: «Mary Ann ist seit Januar 2014 bei uns, Ende 2016 hat sie die Vorschule abgeschlossen und Mitte letzten Jahres beim Bäumchen pflanzen mit ehemaligen KidStar-Schülerinnen engagiert mitgeholfen.»

 

Unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen versetzt Berge

Wenn man Alex Weigel zuhört, wird sein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen spürbar. Er ist überzeugt, dass jeder Mensch, sei er noch so sehr auf Abwege geraten, auf einen menschlichen Weg zurückfinden und zum verlässlichen Mitspieler werden kann, wenn man ihm ehrlich begegnet und ihm die Möglichkeit dazu gibt. Er erzählt der gebannten Zuhörerschaft von den Wächtern, die Tag und Nacht für die Sicherheit auf dem Schulgelände sorgen. Es sind ehemalige Diebe und Mörder, die im Quartier bekannt sind. Alex Weigel hat ihnen Vertrauen geschenkt und sie als Wächter angestellt. Er gesteht, dass er damit natürlich ein gewisses Risiko eingegangen sei, sich heute aber in seiner Entscheidung bestätigt sehe: «Ich kann mich hundertprozentig auf die fünf Männer verlassen. Im Quartier kennt sie jeder und weiss, dass es besser ist, sich nicht mit ihnen anzulegen.» Alex Weigel hat ihnen ein Häuschen gebaut, so dass sie auch während der Regenzeit einen trockenen Ort haben. Sie sind es, die jeden Morgen die Kinder empfangen, und ihnen die Pforte zum Schulgelände öffnen. Eines ist für Alex Weigel klar, er lässt sich auf keinen Fall bestechen, auch wenn er dadurch kurzfristig vielleicht schneller vorwärts käme. Längerfristig zahlt sich jedoch Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit aus, beides stiftet Vertrauen. 

Ein Beitrag zum Frieden

Nach gut zwei Stunden ist allen klar, dass Alex Weigels Traum, Mitmenschen, denen es nicht so gut geht wie uns, zu helfen, Wirklichkeit geworden ist. Lassen wir ihn abschliessend nochmals selbst zu Wort kommen: «Offensichtlich scheint mir, dass in unserer Schule (und das ist eine grosse Ausnahme in Kibera und weit herum) keine Gewalt zur Anwendung kommt, weder physisch noch in anderer Form. Besucher – auch lokale – wundern sich oft explizit, wie ‹diszipliniert› unsere Schulkinder sind, obwohl bei uns nicht geschlagen wird. Das zeigt ganz klar, dass unsere Lehrer und Angestellten eben auch etwas besser sind als andere, und sie in ihrem Unterricht wohl interessanter, kompetenter wirken und respektvoller mit einander und den Kindern umgehen. Das wirkt sich Frieden stiftend aus auf die ganze Schule und dadurch auf die Gesellschaft, weil das in die Familien hineinstrahlt und auch in Zukunft Wirkung hat. Laut einem früheren Schweizer Botschafter hat Kenia ‹eine sehr brutale Gesellschaft›, was besonders im Slum Setup unverhohlen auch an den Kindern zum Ausdruck kommt. Unsere Schule leistet damit über die letzten 13 Jahre einen bedeutenden Beitrag zum Frieden in Familien und der Gesellschaft. Wir haben Tausende von Menschenleben positiv berührt, schulisch, medizinisch, sozial und mit Waisen-, Ferien-, Wochenend- und Ernährungsprogrammen weit über den Schulbetrieb hinaus zur Linderung von Elend in unzähligen Familien beigetragen. Das ist unser Einsatz für eine bessere Welt. Aus Familien, die nicht hungern, deren Kinder lernen und nicht herumlungern, deren Eltern respektvoll behandelt und unterstützt werden, kommen viel friedlichere Menschen! Waisenkinder, die in Familien integriert und liebevoll begleitet werden, tragen zum Frieden in der Gesellschaft bei, statt diese klein-kriminell zu bedrohen.» 

¹ Peter Baumgartner, ehemaliger Afrikakorrespondent des «Tages-Anzeigers», kehrte nach seiner Pensionierung nicht in die Schweiz zurück, sondern initiierte in Nairobi mehrere Hilfsprojekte, unter anderem eine Primar- und eine Elektrikerschule. 

 

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