«Neutralisierung von Nord Stream – Schwerpunkt amerikanischer Aussenpolitik» 

Beteiligung der USA an den Sabotageakten mit der Komplizenschaft europäischer Länder?

von Jacques Baud*

Am 26. und 27. September 2022 werden nach einer Reihe von Explosionen Lecks in den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 in der Nähe der dänischen Insel Bornholm entdeckt. Im Westen herrscht schnell ein Konsens, dass es sich um einen Sabotageakt handelt.¹ Die Frage ist nur, wer ihn verübt hat.

Trotz fehlender Fakten richten sich alle Augen auf Russland. Im französischen Fernsehsender LCI behauptete der französische General Michel Yakovleff sogar, dass Russland seine eigenen Gaspipelines sabotiert haben könnte, um zu zeigen, dass es dazu in der Lage sei!² Zu denken, dass die Russen genauso dumm sind wie wir, ist ein Irrtum: Dieser General täte gut daran, Sun Tzu noch einmal zu lesen.

Die Aussage des Generals veranschaulicht die im Westen vorherrschende Verschwörungsmentalität.

Erstens: Russland hat seine Gaslieferungen seit den 1960er Jahren nie als Druckmittel eingesetzt. Schon 1982 hatten die Amerikaner die russische Gaspipeline Bratsvo sabotiert.³ 40 Jahre später ist es der Westen, der ankündigt, keine russischen Gas- und Ölprodukte mehr importieren zu wollen, um von seinem Nachbarn nicht mehr abhängig zu sein. Im März war Russland gezwungen, die Lieferungen einzustellen, weil Kanada eine Turbine für Nord Stream 1 nicht zurückgeben wollte und sich dann weigerte, Garantien für die Rückgabe weiterer Turbinen zu geben.

Zweitens: Wenn Russland den Westen unter Druck setzen wollte, könnte es mit dem Gashahn spielen, um den Markt zu kontrollieren und so seinen Willen durchzusetzen. Das ist das Prinzip der Erpressung: die Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen. Indem es die Gaspipelines zerstört, nimmt es sich automatisch jegliche Handlungs- und Erpressungsfähigkeit gegenüber den europäischen Ländern. Das macht also absolut keinen Sinn. Die Anklage gegen Russland ist umso absurder, als Russland und die Türkei angekündigt haben, einen «Energie-Hub» zu errichten, um Europa mit Gas zu versorgen.⁴

Bestüberwachte Meerenge

Die Insel Bornholm liegt in der Mitte der Meerenge zwischen Schweden und Polen. Seit dem Kalten Krieg dient sie dazu, die Durchfahrt russischer Atom-U-Boote zwischen der Ostsee und dem Nordatlantik zu überwachen. In der Nato-Terminologie als BALTAP bezeichnet, wird diese Meerenge von der grössten Dichte an elektronischen Unterwassersensoren und Abhörgeräten im gesamten Ostseeraum abgedeckt. Es ist schwer vorstellbar, dass russische Unterwasseraktionen so nahe bei Bornholm stattgefunden haben könnten, ohne einen Alarm auszulösen. Russland hätte weder das Interesse noch die Möglichkeit gehabt, eine solche Sabotage zu begehen. Oder, angenommen, Russ­land hätte diese Sabotage durchgeführt, dann könnte man sich die Frage stellen, wie effektiv die Nato bei der Überwachung dieser strategischen Zone ist.

Von den anderen möglichen Schuldigen kann man Deutschland wahrscheinlich ausschliessen. Die Gaspipeline Nord Stream 1 wurde auf Wunsch von Gerhard Schröder und Nord Stream 2 auf Wunsch von Angela Merkel gebaut, um aus der Atom- und Kohleenergie auszusteigen. Ausserdem ist Deutschland das Land, das am meisten unter den westlichen Sanktionen für fossile Brennstoffe leidet.

Ist Polen in den Anschlag verwickelt?

Im Gegensatz dazu zeigten die USA und Polen von Anfang an Widerstand gegen das Nord Stream-Projekt. Im Februar 2022 behauptete Präsident Biden, dass es im Falle einer russischen Offensive «kein Nord Stream 2 mehr geben würde». Auf die Frage, wie dies geschehen solle, antwortete er: «Ich verspreche Ihnen, dass wir in der Lage sein werden, dies zu tun.»⁵ Während des Baus der Gaspipeline störte die polnische Marine wiederholt auf gefährliche und unverantwortliche Weise die russischen Schiffe, die für den Bau der Pipeline verantwortlich waren.⁶ Die Polen haben seit Beginn der russischen Operation ein sehr unreifes politisches Verhalten an den Tag gelegt, weshalb viele angelsächsische Militäranalysten davon ausgehen, dass Polen in diesen Anschlag verwickelt ist.

Bereits 2015 hatte die schwedische Marine eine mit Sprengstoff beladene Unterwasserdrohne in der Nähe von Nord Stream 2 abgefangen.⁷ Die schwedischen Behörden machten keine Angaben zur Nationalität des Unterwasserfahrzeugs, doch scheint es sich um eine westliche Konstruktion zu handeln. Da dieses Ereignis kurz nach der Ukraine-Krise 2014 stattfand, ist es ausserdem sehr wahrscheinlich, dass Schweden es gesagt hätte, wenn es russischer Herkunft gewesen wäre!

 

US Navy übt in der Ostsee mit Sabotageeinheiten

Zwischen April und Oktober 2022 setzte die US Navy die USS Kearsarge und ihre Amphibiengruppe ein⁸, die in der Ostsee sechs Monate lang eine Reihe von Übungen (mit Sabotageeinheiten und Spezialisten für Unterwassersprengungen) durchführte.⁹ Die Websites ads-b.nl und Flightradar24 haben in ihren Datenbanken die Bewegungen von US-Hubschraubern des Typs MH-60S in der Ostsee gespeichert und verzeichnen zahlreiche Bewegungen im Bereich der später beobachteten Lecks.10

In Geheimdienstkreisen mehren sich die Gerüchte über eine amerikanische Verantwortung. Eine Analyse des Wirtschaftswissenschaftlers Jeffrey Sachs von der Columbia University wird von der «Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)» – einer einst angesehenen Schweizer Tageszeitung – als «Verschwörungstheorie» bezeichnet, ohne irgendwelche Belege anzuführen!11 Die «NZZ» lässt sich nämlich von einem Artikel inspirieren, der am Vortag12 vom Center for European Policy Analysis veröffentlicht worden war, das von der amerikanischen Waffenindustrie finanziert wird, von der National Endowment for Democracie (NED), von der amerikanischen und der estnischen Regierung13. Eine Quelle, die Richter und Partei ist, was zeigt, dass die «NZZ» nicht mehr nach den Prinzipien der «Münchner Charta» arbeitet.

Zudem ist es interessant, festzustellen, dass die «NZZ» das Attentat Russland zuschreibt, während weder die Vereinigten Staaten noch die Europäische Union, noch Deutschland diese Sabotage Russland oder einem anderen Land formell zugeschrieben haben. Ein Verschwörungsmedium, das eine Verschwörungstheorie aufdeckt…

Die «NZZ» berichtet über etwas, was alle Merkmale eines Terroranschlags aufweist, ohne auch nur das geringste Faktenelement zu liefern. Es ist richtig, dass sich zum jetzigen Zeitpunkt nur auf Grund einzelner Indizien Schlussfolgerungen ziehen lassen. Die Neutralisierung von Nord Stream 2 ist seit fast zehn Jahren und insbesondere während der Amtszeit von Donald Trump ein Schwerpunkt der amerikanischen Aussenpolitik. 

Abgesehen von Joe Bidens Äusserungen, die unterschiedlich interpretiert werden können, steht fest, dass eine solche Sabotage nicht ohne das Wissen und die Zustimmung Dänemarks und Schwedens hätte stattfinden können, die den Unterwasserraum an dieser Stelle technisch beherrschen. Zudem ist es ebenso sicher, dass eine solche Sabotage ohne die politische Zustimmung der Vereinigten Staaten nicht hätte stattfinden können.

Demonstrationen für Beendigung der Saktionen gegen Russland

Darüber hinaus würden auch die Umstände in Deutschland die Hypothese einer amerikanischen Verantwortung tendenziell bestätigen. Die Sabotageakte kamen zu einem günstigen Zeitpunkt, als die parlamentarische Linke in Deutschland die Regierung aufforderte, Verhandlungen mit Russland aufzunehmen, und die Bevölkerung ermutigte, auf die Strasse zu gehen und die Wiedereröffnung von Nord Stream zu fordern14, die von Deutschland (und nicht von Russland) geschlossen worden war.

Seit Anfang September häufen sich in Deutschland die Demonstrationen15, die ein Ende der Sanktionen gegen Russland und die Wiederherstellung der Erdgaslieferungen fordern16. Die europäischen Medien berichten nicht darüber, sondern versuchen, den Spannungszustand aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig führt Deutschland aber geheime Verhandlungen mit Russland, um Lösungen zu finden.17

Ein Umkippen Deutschlands zugunsten einer «Normalisierung» mit Russland war also möglich. Aus diesem Grund haben die USA möglicherweise versucht, die derzeitige Situation unumkehrbar zu machen. Offenbar habe die CIA die deutschen Behörden vor einem möglichen Sabotageakt gegen die Gaspipelines gewarnt.18 Es ist schwierig, diese Warnung zu interpretieren, aber es scheint, dass die CIA gegen diese Sabotageaktionen war, da sie die Kohäsion innerhalb der Nato hätten gefährden können. Jedenfalls scheint der BND, der deutsche strategische Nachrichtendienst, nicht darüber informiert worden zu sein. So sieht alles nach einer Operation einiger Nato-Länder gegen Deutschland aus.

Keine gemeinsame Untersuchungskommission

Russland beantragte die Mitgliedschaft in der gemeinsamen Untersuchungskommission (JIT) zu dem Vorfall, die von Dänemark, Schweden und Deutschland eingesetzt werden sollte. Wie zu erwarten war, wurde sein Antrag abgelehnt. Dann lehnte Schweden auf der Grundlage einer vorläufigen Untersuchung die Teilnahme an einer JIT mit der Begründung ab, dass es seine Informationen aufgrund des Geheimhaltungsgrades nicht mit Deutschland teilen könne. Am 6. Oktober gab Schweden bekannt, dass es die Ermittlungen seiner Polizei abgeschlossen habe und zu dem Schluss gekommen sei, dass es sich um «schwere Sabotage»¹⁹ handelte, lehnte jedoch aus Gründen der «nationalen Sicherheit» ab, seine Ergebnisse mitzuteilen. Dies war auch der Tenor der Antwort der deutschen Regierung auf die Anfrage der Parlamentarier. Ende Oktober, als Russland Grossbritannien beschuldigte, kündigte die schwedische Regierung eine weitere Untersuchung durch die schwedischen Streitkräfte an.

Auf den Punkt gebracht: Wenn die Untersuchung die Verantwortung Russlands bestätigt hätte, wäre es zu einer Reihe von Krisensitzungen in Europa und der Nato gekommen. Dies war jedoch nicht der Fall. Wir wissen nicht mit Sicherheit, wer den Anschlag tatsächlich durchgeführt hat, aber die Deutschen wissen, dass es nicht Russland war und somit einer ihrer Nato-Verbündeten.

Wenn man dann noch bedenkt, dass Anthony Blinken, US-Aussenminister, diesen Anschlag als «unglaubliche Gelegenheit»20 bezeichnete, was sicherlich kein Westler nach den Anschlägen vom September 2001 gesagt hätte, bekommt man ein Bild vom besonderen Status dieser Sabotage.

Welche Werte verteidigt Deutschland?

Am 13. Oktober 2022, als Russland der Türkei die Einrichtung eines «Energie-Hubs» vorschlug, wurde ein Sabotageversuch gegen die TurkStream-Pipeline abgefangen.21 Die Urheber dieses Versuchs sind uns nicht bekannt, aber es ist anzunehmen, dass er zum selben Projekt gehört, nämlich Russland vollständig und unumkehrbar zu isolieren.

All diese Elemente sind keine Tatsachenbeweise, sondern Indizienbeweise für die Beteiligung der USA an diesen Sabotageakten mit der Komplizenschaft europäischer Länder. Dies wirft die Frage nach der Substanz der Beziehungen zwischen westlichen Ländern auf: Basieren diese Beziehungen auf der ständigen Erpressung mit Gewaltanwendung oder gar Terrorismus?

Es stellt aber auch die Substanz der deutschen Demokratie in Frage, deren Führer akzeptieren, dass sie von ihren eigenen Verbündeten und gegen ihre eigene Bevölkerung vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Welche Werte verteidigt Deutschland? Wenn die Deutschen solche Behörden akzeptieren, dürfen sie sich nicht über die drohende wirtschaftliche Katastrophe beschweren.

Die Bedeutung des Angriffes auf die Brücke von Kertsch

Am Morgen des 8. Oktober 2022 explodiert ein Lastwagen auf der Brücke von Kertsch, die die Halbinsel Krim mit dem russischen Hoheitsgebiet verbindet. Sehr schnell kursieren Videos von Überwachungskameras, die die Explosion eines Lastwagens zeigen. Die Bilder erinnern ein wenig zu sehr an die Anschläge des Islamischen Staates in den Jahren 2015 bis 2016. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum das Westschweizer Radio und Fernsehen das Ereignis schamhaft mit «Ein grosses Feuer brach auf der grossen Auto- und Eisenbahnbrücke aus, die die von Moskau annektierte ukrainische Krim mit dem russischen Territorium verbindet»22, beschreibt. Natürlich vermeidet es der Westen nach dem Attentat auf die Journalistin Darya Dugina, dem Anschlag auf die Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 und den Eliminierungen ukrainischer Politiker, die die Referenden befürworteten, daran zu erinnern, dass die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten auf Terrorismus zurückgreifen!

Anschlag ferngesteuert aktiviert?

Dieses Attentat zeigt mehrere Dinge. Erstens: unsere Unfähigkeit, die Situation zu analysieren. Die Kertsch-Brücke war vor März 2022 von strategischer Bedeutung. Die Eroberung des südlichen Teils der Ukraine durch die russische Koalition hat die Lage verändert. Die Bedeutung der Kertsch-Brücke rührt heute hauptsächlich von ihrer Eisenbahnkomponente her, die von dem Anschlag nicht betroffen war.

Zweitens war der Anschlag – der offenbar von den Sonderdiensten des ukrainischen Geheimdienstes (SBU) inszeniert worden war – ein Selbstmordattentat, das nach dem Muster der Anschläge des Islamischen Staates gestaltet war. Genau wie in Syrien und im Irak beobachtet, ist es möglich, dass der Fahrer der LKW-Bombe nichts davon wusste und der Anschlag ferngesteuert aktiviert wurde, auch wenn es dafür anscheinend derzeit keine Beweise gibt.

Denn es gibt keinen guten oder schlechten Terrorismus. Es gibt den Terrorismus. Terrorismus ist eine Methode. Wir mögen es (zu Recht) nicht, wenn sie gegen uns eingesetzt wird, aber wir tolerieren sie – um nicht zu sagen, wir fördern sie –, wenn sie gegen andere eingesetzt wird. Ich stelle fest, dass keine westlichen Medien oder Regierungen die angewandte Methode verurteilt haben! Wenn man diesen Terrorismus nicht verurteilt, warum verurteilt man dann den islamistischen Terrorismus, der ebenfalls das Ergebnis einer ausländischen Intervention ist?

 

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

¹ «Nord Stream leaks: Sabotage to blame, says EU», BBC News, 28 septembre 2022 (www.bbc.com/news/world-europe-63057966)

² youtu.be/EMD47FFBvTs

³ Roman Kupchinsky, «Analysis: The Recurring Fear Of Russian Gas Dependency», Radio Free Europe/Radio Liberty, 11 mai 2006

www.reuters.com/business/energy/erdogan-says-he-agreed-with-putin-form-natural-gas-hub-turkey-2022-10-19/

⁵ «If Russia invades Ukraine, there will be no Nord Stream 2, Biden says», Reuters, 8 February 2022 (www.reuters.com/business/energy/if-russia-invades-ukraine-there-will-be-no-nord-stream-2-biden-says-2022-02-07/)

⁶ «Poland Denies ‹Provocative› Naval Maneuvers Near Nord Stream 2», The Maritime Executive, 2 April 2021 (maritime-executive.com/article/poland-denies-provocative-naval-maneuvers-near-nord-stream-2)

⁷ Mark Iden, «Explosive-Laden Drone Found Near Nord Stream Pipeline», Pipeline Technology Journal, 13 novembre 2015 (www.pipeline-journal.net/news/explosive-laden-drone-found-near-nord-stream-pipeline)

⁸ Staff Sgt. Brittney Vella, «22nd MEU Returns from Seven-Month Deployment», marines.mil, 11 octobre 2022 (www.marines.mil/News/News-Display/Article/3184121/22nd-meu-returns-from-seven-month-deployment/)

www.fehmarn24.de/fehmarn/us-navy-passiert-fehmarnbelt-grosser-flottenverband-der-91809308.html

10 www.moonofalabama.org/2022/09/whodunnit-facts-related-to-the-sabotage-attack-on-the-nord-stream-pipelines.html

11 Lia Pescatore, «Nord-Stream-Lecks: kaum Fakten, dafür umso wildere Spekulationen», «NZZ», 18 octobre 2022 (www.nzz.ch/amp/wirtschaft/nord-stream-lecks-kaum-fakten-dafuer-umso-wildere-spekulationen-ld.1706600)

12 Mary Blankenship & Bill Echikson, «Conspiracy Theorists, Right-wing Politicians Fuel Nord Stream Disinformation», Center for European Policy Analysis (CEPA), 17 octobre 2022 (cepa.org/article/conspiracy-theorists-right-wing-politicians-fuel-nord-stream-disinformation/)

13 cepa.org/about-cepa/our-supporters/

14 Sevim Dagdelen, «Sturm statt Burgfrieden», Junge Welt, 5 septembre 2022 (www.jungewelt.de/artikel/433948.sturm-statt-burgfrieden.html)

15 «Thousands march in eastern Germany to protest soaring energy prices», aa.tr, 27 septembre 2022 (www.aa.com.tr/en/environment/thousands-march-in-eastern-germany-to-protest-soaring-energy-prices/2696034)

16 Philip Oltermann, «Germany’s Die Linke on verge of split over sanctions on Russia», The Guardian, 19 septembre 2022 (www.theguardian.com/world/2022/sep/19/germanys-die-linke-on-verge-of-split-over-sanctions-on-russia)

17 Pepe Escobar, «Who profits from Pipeline Terror?», The Cradle, 29 septembre 2022 (thecradle.co/Article/Columns/16307)

18 www.spiegel.de/politik/nord-stream-gasleitungen-cia-warnte-bundesregierung-vor-anschlag-auf-ostsee-pipelines-a-3ab0a183-8af6-4fb2-bae4-d134de0b3d57

19 sakerhetspolisen.se/ovriga-sidor/nyheter/nyheter/2022-10-06-starkt-misstanke-om-grovt-sabotage-i-ostersjon.html

20 www.state.gov/secretary-antony-j-blinken-and-canadian-foreign-minister-melanie-joly-at-a-joint-press-availability/

21 www.aa.com.tr/en/politics/several-arrested-after-attempt-to-blow-up-turkstream-pipeline-russia/2710880

22 www.rts.ch/info/monde/13448785-au-moins-trois-morts-apres-lattentat-contre-le-pont-entre-la-crimee-et-la-russie.html

 

«Hat Amerika also Deutschland den Krieg erklärt? – Ja!»

hhg. Scott Ritter, ehemaliger Geheimdienstoffizier der US-Marine, Inspektor in der damaligen Sowjetunion zur Umsetzung des INF Vertrages und ehemaliger Uno-Waffeninspektor bezeichnet die Sabotage von Nord Stream 1 und 2 als «Angriff der USA auf Deutschland.» Deutschland habe dank des günstigen russischen Gases gespart «und dieses Geld zum Wohle des Deutschen Volks verwendet». Nun soll Deutschland der Zugang zu russischem Gas verwehrt werden. Statt dessen soll es amerikanisches Flüssiggas zu exorbitanten Preisen kaufen, was es sich nicht leisten kann. Und Scott Ritter weiter: «Hat Amerika also Deutschland den Krieg erklärt? – Ja! Wisst ihr nicht, dass Amerika die Telefongespräche von Angela Merkel abhörte? Wisst ihr nicht, dass Amerika euch nicht respektiert? Wisst ihr nicht, dass ihr nur als willfährige Kolonie der USA betrachtet werdet? Dass Deutschland nicht aufstehen und für seine eigenen Rechte eintreten kann, führte dazu, dass seine Infrastruktur angegriffen wurde. Eure nationale Sicherheit und euer wirtschaftliches Überleben wurden bedroht. War es Russland? Es waren die USA. Wenn ihr das nicht seht, dann nehmt die deutsche Flagge runter, hisst die amerikanische Flagge und anerkennt euren Status als US-Kolonie.» 

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=K5-3Ywr-cW0

 

«Man muss sich auf einen Verhandlungsprozess einlassen»

Interview mit Jacques Baud

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie ist es zu bewerten, wenn der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis in die Ukraine reist und dort mit Selenskij zusammentrifft? Wie wirkt das auf Russland?

Jacques Baud An sich ist es nicht schlecht, dass Ignazio Cassis Kontakte zur Ukraine unterhält. Ausserdem ist es ziemlich normal, dass ein führender Politiker das Bedürfnis verspürt, sich vor Ort ein Bild zu machen. Die Frage ist nur: Zu welchem Zweck? Denn er wird Selenskij sicherlich nicht zu Verhandlungen drängen, und deshalb ist es unwahrscheinlich, dass er für die ­Russen an Glaubwürdigkeit gewinnt. Denn wie unsere Medien beziehen auch unsere Politiker ihre Informationen nur aus der ukrainischen Propaganda. Um sich ein genaues Bild von der Lage zu machen, muss man jedoch beide Seiten anhören und eine Synthese erstellen. Dies will im Westen jedoch niemand tun. Vor kurzem teilte mir ein Journalist einer grossen französischen Zeitung mit, dass er gekündigt habe, da die Politik seiner Redaktion darin bestehe, die Wahrheit nicht zu veröffentlichen, um nicht den Eindruck zu erwecken, Wladimir Putin zu unterstützen!

Was wäre das Gebot der Stunde?

Heute muss man sich, was auch immer man von Russland halten mag, auf einen Verhandlungsprozess einlassen. Die Vorstellung des Westens, dass man erst nach einem Sieg der Ukraine verhandeln werde, ist eine Klügelei, um den Konflikt zu verlängern. 

In Wirklichkeit hat Russland bereits gewonnen: Sein Ziel der «Entnazifizierung» wurde nach der Einnahme von Mariupol erreicht1 und die «Entmilitarisierung» ist bereits erfolgt. Denn was wir heute sehen, ist eine andere ukrainische Armee als die, die im Februar 2022 eingesetzt wurde. Man kann sagen, dass die «ukrainische Armee 1.0» vernichtet wurde. Die ukrainischen Streitkräfte, die heute kämpfen, sind die «ukrainische Armee 2.0». Die genaue Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten ist nicht bekannt. Im Juni 2022 schätzte der ehemalige US-General Stephen Twitty die Verluste der ukrainischen Armee auf 200 000 Mann.2 Die russischen Militärbehörden nennen eine Zahl in der Grössenordnung von 70 000, einige offene Quellen sprechen jedoch von 402 000 getöteten Soldaten. Diese Zahl ist wahrscheinlich stark übertrieben, doch sie spiegelt die enormen Verluste wider, die die ukrainischen Streitkräfte erlitten haben und über die unsere Medien nie berichten. 

Warum geschieht das nicht?

Würde man von diesen Verlusten berichten, würde die westliche Öffentlichkeit ihre ­Regierungen sicherlich auffordern, eine Verhandlungslösung zu ­finden. Aber das ist nicht das, was der Westen will. Die Ukraine muss­te sieben Teilmobilmachungen durchführen, um die Truppen auf dem Schlachtfeld halten zu können. Mit tragischen Folgen, denn diese Soldaten sind unzureichend auf den Kampf gegen die russischen Koalitionskräfte vorbereitet. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass das von westlichen Ländern gelieferte Material oft veraltet und nicht an die ukrainischen Bedingungen angepasst ist, nicht repariert werden kann und von unerfahrenen Besatzungen eingesetzt wird, die oft Google Translate zur Übersetzung der Bedienungsanleitungen nutzen müssen, wie die New York Times feststellte.3 Darüber hinaus lassen sich diese Materialien nur schwer in ein kohärentes operatives Konzept integrieren. 

Welche Staaten sind aktuell die Kriegstreiber?

Derzeit sind es die Amerikaner, die die Ukrainer dazu drängen, weiterzukämpfen, da sie vor dem 8. November und den Zwischenwahlen einen kleinen Erfolg erzielen wollen. Ich erinnere daran, dass einige ukrainische Medien selbst erklärt hatten, dass der Westen das grösste Hindernis für den Frieden sei.4 Daher kommt es zu einer Vielzahl kleiner «Gegenoffensiven», die von den Russen systematisch zurückgeschlagen werden und die Ukrainer enorme Verluste kosten. Die Besessenheit des Westens, dass die Ukraine Russ­land in dieser Angelegenheit besiegen könnte, treibt die Ukraine in die Selbstzerstörung. Denn man darf nicht vergessen, dass diejenigen, die sich auf dem Schlachtfeld befinden, die Wirtschaft nicht am Laufen halten.

Die westliche Propaganda, die Russland nach dem Scheinsieg in Charkow erreichte, äusserte sich in Kritik an Wladimir Putin und der Regierung. Das Problem ist, dass diese Kritik nicht für eine Kapitulation Russlands spricht, sondern im Gegenteil für ein härteres Vorgehen gegen die Ukraine. Das ist genau das Gegenteil dessen, was der Westen zu erreichen gedachte. So wurden die Russen dazu gedrängt, ihre Angriffe zu intensivieren und Infrastruktur zu zerstören, die sie bislang nicht zu zerstören versucht hatten.

Noch immer versucht Cassis seine Politik gegenüber Russland als mit der Neutralität vereinbar zu erklären. Schadet sein tatsächliches Verhalten wie der Auftritt in der Ukraine nicht der Glaubwürdigkeit der Schweiz?

Das ist schwer zu sagen. In der gegenwärtigen Konjunkturlage gewinnt die Schweiz im Westen sicherlich an Glaubwürdigkeit, aber sie verliert sie im Rest der Welt. Sie gewinnt sie bei denjenigen, die die Neutralität nicht brauchen (schauen Sie sich an, wie die neutralen Länder vom europäischen Kontinent verschwinden), aber sie verliert sie bei denjenigen, die sie brauchen würden.

Das Problem ist, dass wir uns in einer westlichen Welt befinden, die versucht, ihre Gewissheiten in der Welt durchzusetzen. Sie ist sich so sicher, dass sie auf dem richtigen Weg ist, dass sie sich erlaubt, keine neutralen Länder mehr zu haben. Schweden und Finnland haben bereits signalisiert, dass sie sich auf eine Seite schlagen, und die Schweiz tut das Gleiche, ohne es zu sagen. 

Die Tragödie ist, dass diese kriegerische Haltung von den Zentren ausgeht. Seit einigen Jahrzehnten sind wir dabei, den Geist der Kolonialisierung zu reaktualisieren. Im 19. Jahrhundert war es die französische Linke, die im Namen einer «zivilisatorischen Mission» die Kolonialisierung in Gang setzte. Dasselbe gilt für die Vereinigten Staaten, wo man sagt, dass «die Demokraten Kriege beginnen und die Republikaner sie beenden». Man kann über das Argument streiten, aber es drückt ein sehr reales Phänomen aus. Mit Ideen, die von dem Gefühl inspiriert sind, das Richtige zu tun, und die nicht immer falsch sind, rechtfertigen unsere «Eliten» kriegerische Haltungen. In der Tat sind unsere Eliten genau wie die Jesuiten, die Südamerika kolonisierten, um das Wort des Evangeliums zu verbreiten. Was nicht bedeutet, dass diese edlen Ideen völlig uneigennützig waren!

Dieses Phänomen wird durch die Aussage des EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell, die er im Oktober 2022 bei einer Rede in Brügge (Belgien) machte, perfekt illustriert: «Europa ist ein Garten, […] der Rest der Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten eindringen.»5 

Es zeigt, dass wir immer noch von der Arroganz derer geprägt sind, die es «geschafft» haben und den anderen ihr Modell aufzwingen wollen. Borrells Bemerkung wurde in den afrikanischen Ländern äusserst schlecht aufgenommen, und viele meiner Kontakte sagten mir, dass sie von dieser Bemerkung verletzt worden seien. 

Solche Aussagen sind nur schwer zu verdauen und erinnern tatsächlich an tiefsten Kolonialismus.

Heute befinden wir uns in einer ganz besonderen Situation, in der in allen westlichen Ländern eine Radikalisierung der Zentren und das Aufkommen der mässigenden Rolle der sogenannten Extreme zu beobachten ist. Dies ist ein unnatürliches Paradoxon. In allen Ländern wächst die Wut über die Nachlässigkeit unserer Führer. Es sind die Extremen, die zur Beruhigung der Lage aufrufen, und die Pseudointellektuellen in unseren Medien und Regierungen, die von ihren Elfenbeintürmen aus zum Krieg drängen. 

Wie in einem kürzlich erschienenen Artikel der Washington Post6 zu lesen war, schaffen es unsere demokratischen Systeme nicht mehr, «effektive und charismatische Führer» hervorzubringen, und es gibt eine wachsende Nachfrage in der Bevölkerung nach «starken Führern, die die Dinge vorantreiben». Die Schweiz ist in dieser Situation, aber sie ist nicht die einzige, in allen europäischen Ländern wird die Macht in Frage gestellt. Es ist ironisch, dass die westliche «Strategie», um Russ­land dazu zu bringen, den Krieg zu beenden, darin bestand, einen Regimewechsel herbeizuführen. Doch in allen westlichen Ländern gerät das Machtgleichgewicht, das zu Beginn des Jahres bestand, in unterschiedlichem Masse ins Wanken. Um darauf zu reagieren, wird die Zensur in all ihren Formen verstärkt.

Unsere Demokratie ist also in Gefahr. Nicht wegen Wladimir Putin, sondern wegen denjenigen, die glauben, dass man autoritäre Regierungen nur bekämpfen kann, indem man sie stürzt, und die unsere Demokratien in autoritäre Regierungen umwandeln.

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

1 «Russia no longer requesting Ukraine be ‹denazified› as part of ceasefire talks», Financial Times, 28 mars 2022 (https://www.ft.com/content/7f14efe8-2f4c-47a2-aa6b-9a755a39b626)

2 «US-General verwundert: ‹200 000 ukrainische Soldaten verschwunden›», Exxpress.at, 8 juin 2022 (https://exxpress.at/us-general-verwundert-200-000-ukrainische-soldaten-verschwunden/)

3 Thomas Gibbons-Neff & Natalia Yermak, «Potent Weapons Reach Ukraine Faster Than the Know-How to Use Them», The New York Times, 6 juin 2022 (https://www.nytimes.com/2022/06/06/world/europe/ukraine-advanced-weapons-training.html)

4 Роман Романюк, «Від «капітуляції» Зеленського до капітуляції Путіна. Як ідуть переговори з Росією», pravda.ua, 5 mai 2022 (https://www.pravda.com.ua/articles/2022/05/5/7344096/); Abdul Rahman, «Ukrainian news outlet suggests UK and US governments are primary obstacles to peace», Peoples Dispatch, 9 mai 2022 (https://peoplesdispatch.org/2022/05/09/ukrainian-news-outlet-suggests-uk-and-us-governments-are-primary-obstacles-to-peace/)

5 https://youtu.be/ufAHg6hN4OA

6 https://www.washingtonpost.com/national-security/2022/10/16/authoritarian-world-leaders-putin/

 

Ukraine-Konflikt: Grossbritannien und USA als treibende Kräfte?

Stimmen aus dem Europarat

von Thomas Kaiser, Strasbourg 

Das dominierende Thema an der Herbstsession der parlamentarischen Versammlung des Europarats in Strasbourg war der Ukraine-Konflikt. In vielen Statements schwang die Verurteilung des russischen Vorgehens mit, auch wenn es um andere Themen ging. Insbesondere die ukrainische Delegation liess keine Gelegenheit verstreichen, die antirussische Stimmung zu befeuern. Es gab kaum eine Stimme, die zur Vernunft gemahnte, und wenn, dann erst, nachdem man sich von Putin distanziert oder ihn und sein Vorgehen verurteilt hatte.

Der Schweizer Bundespräsident, Ignazio Cassis, der am ersten Tag der Session eine Rede vor der Versammlung hielt, nahm ebenfalls Bezug auf die Situation in der Ukraine. Obwohl er gerne seine enge Verbundenheit mit dem ukrainischen Präsidenten demonstriert und unter anderem durch parteiisches Verhalten der Schweiz das russische Etikett «eines unfreundlichen Staates» eingebrockt hatte, hielt er ein Plädoyer für die Neutralität. So verstieg er sich darin, die Übernahme der Sanktionen als kompatibel mit der Neutralität zu erklären; auch ein Sitz im Uno-Sicherheitsrat stelle neutralitätsrechtlich kein Problem dar, doch man spürte förmlich, dass er sich um Schadensbegrenzung bemühte. Aber was der Bundesrat äussert, ist das eine, wie die Staatenwelt es wahrnimmt, ist das andere. Seit der US-Präsident Joe Biden nach Verhängung des ersten Sanktionspakets gegen Russland und dessen Übernahme durch die Schweiz mit «even Switzerland» kommentierte, war die Neutralität gefallen. Dass Bundesrat Cassis als Vertreter der Schweiz keinen Vorschlag für eine Verhandlungslösung präsentierte, zeigt, wie es um die Schweizer Neutralität wirklich steht.

Russland nicht im Europarat vertreten

Die Stimmung gegen Russland war allgegenwärtig. Kaum jemand schien sich die Mühe zu machen, der antirussischen Stimmung nur ein Jota entgegenzuhalten. Gerade der Europarat, der eine besondere Verpflichtung zum Frieden und zur Verteidigung der Menschenrechte hat, schien angesichts des Krieges diese zentrale Aufgabe völlig aus dem Auge verloren zu haben.

Schon einmal war Russland nach dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukovic und der nachfolgenden Abspaltung der Krim und deren Aufnahme in die Russische Föderation von der Parlamentarischen Versammlung das Stimmrecht entzogen worden. Damals wie heute waren die treibenden Kräfte dahinter die Ukrainer und die britischen Tories. Mit einem grossem Propaganda­aufwand boxte man den Entscheid durch und verstiess dabei sogar gegen die eigene Satzung. Die Reaktion der Russen liess nicht lange auf sich warten. Die Delegation verliess nach dem Entzug des Stimmrechts die parlamentarische Versammlung und war an den Sitzungen nicht mehr anwesend, während es auf der Ministerebene weiterhin zusammenarbeitete. 

Der im Gefolge der Maidan-Proteste 2014 von den USA orchestrierte Staatsstreich – es sei nur an das abgefangene Telefonat der US-Aussenbeauftragten, Victoria Nuland, erinnert, in dem sie mit dem US-Botschafter in der Ukraine die neue Regierung verhandelte, zu einem Zeitpunkt, als Janukovic noch im Amt war – führte zu keinerlei Sanktionierung gegenüber der Ukraine. Damals nahm man diesen Putsch, der verfassungswidrig war,  ohne grosse Reaktion zur Kenntnis. Der damalige Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, sprach davon, dass der Putsch eine Revolution gewesen sei und man es mit der Verfassung nicht so genau nehmen könne. Auch der jahrelange Beschuss der Provinzen Donezk und Lugansk durch ukrainische Truppen und das Ignorieren der Minsker Abkommen führte zu keiner Rüge im Europarat. Man blendet die Menschenrechtsverletzungen der Ukrainer bis heute einfach aus.

Stimmen der Vernunft sind Mangelware – aber es gibt sie

Dennoch gab es von Seiten der parlamentarischen Versammlung immer wieder Bestrebungen, Russ­land als gleichwertiges Mitglied anzuerkennen und es zurück in die Parlamentarische Versammlung zu bringen. Der ehemalige Schweizer Ständerat aus dem Tessin, Filippo Lombardi, äusserte sich in einem Interview in dieser Zeitung: «Ja, es war überhaupt keine ausgewogene Diskussion betreffend Russland. Ohne die russische Delegation ist es sinnlos, über Russland zu diskutieren. Ich plädiere daher immer für offene Kontakte, offene Beziehungen und einen offenen Dialog. Der Dialog ist umso wichtiger, als man nicht mit allen geäusserten Aspekten einverstanden ist.» (Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 12 / 2016) Es dauerte nochmals zwei Jahre, bis sich die Parlamentarische Versammlung nach zähen und emotional geführten Debatten gegen den Widerstand der Briten und Ukrainer zur Rückkehr der russischen Delegation durchringen konnte. Nach dem 24. Februar 2022 gab es sofort starke Bestrebungen, Russland erneut auszuschliessen. Einem geplanten Rauswurf kamen die Russen zuvor, indem sie aus dem Europarat austraten, und zwar auf allen Ebenen, auch aus dem Ministerrat.

Senator Paul Gavan, Mitglied von Sinn Féin und Delegierter am Europarat. (Bild thk)

Ruslan Kotsaba, Präsident der ukrainischen Friedensorganisation «Ukrainian Pacifist Movement ». (Bild thk)

 

Demütigung Russlands

Stimmen, die den Dialog einfordern und zu einer Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt aufrufen, werden kaum gehört. Zum einen, weil sie von den Mainstreammedien ignoriert werden, zum andern, weil sie mit dem Etikett «Putin-Versteher» oder «Putin-Unterstützer» öffentlich verunglimpft und unglaubwürdig gemacht werden. Dennoch liessen sich am Europarat Stimmen finden, die rund um die Vorgänge in der Ukraine eine etwas andere Sicht vertraten. Das Interview mit dem österreichischen SPÖ-Bundesrat, Stefan Schennach, in dieser Ausgabe, macht deutlich, dass nicht alle mit dem Beginn des Krieges ihre Vernunft an den Nagel gehängt haben. Nur schon die dezidierte Aussage zur Politik des Westens: «Diese Demütigung Russ­lands war zu viel», wirft doch ein ganz anderes Licht auf die Ursachen, die zu diesem Krieg geführt haben, als unsere Medien im Konzert mit den meisten Politikern der Öffentlichkeit glauben machen wollen.

Auch der irische Senator, Paul Gavan, Mitglied von Sinn Féin und Delegierter am Europarat, weicht in seiner Beurteilung des Ukraine-Konflikts vom Mainstream ab. Zwar verurteilt er den Angriff Russ­lands scharf und findet Putins Entschluss, die Ukraine anzugreifen eine «entsetzliche Entscheidung, die absolut zu verurteilen» sei und «für die er die Verantwortung trägt». Im weiteren Gespräch bringt er aber klar zum Ausdruck, dass es «auf der Ebene der Uno Anstrengungen» bräuchte, um «einen Waffenstillstand zu erwirken». Danach muss es zu einer Verhandlungslösung kommen: «Der Schlüssel für mich ist, Raum zu schaffen, damit ein Dialog möglich ist.» Andernfalls, so seine Befürchtung, «könnte sich das Ganze in einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen ausweiten.» Damit es zu einer Verhandlungslösung kommt, wie es auch Stefan Schennach verlangt, braucht es einen Staat oder eine Staatengruppe, die sich ernsthaft dafür einsetzt.

Neutralität verspielt?

Auf die Frage, ob Irland als neutraler Staat diesen Part übernehmen könnte, zeigt sich Gavan skeptisch, denn ähnlich wie die Schweiz hat Irland die Sanktionen der USA übernommen: «Wir haben einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat, und ich bin der Meinung, wir haben viel zu wenig daraus gemacht. Wir haben in der Vergangenheit keinen Kolonialismus betrieben. Wir sind nicht Mitglied der Nato, bis jetzt noch nicht, und ich hoffe, das bleibt für immer so. Ich bin sicher, Irland hätte das Potential, eine grössere Rolle zu spielen und sich für Friedensverhandlungen einzusetzen. Aber das scheint im Moment unwahrscheinlich.» Er wehrt sich auch gegen den Vorwurf, als «Putin-Freund» klassifiziert zu werden, «wenn man sich für einen Waffenstillstand» einsetze. Die Parallelen zur Stimmung in der Schweiz sind augenfällig.

Die Rolle der Nato beurteilt Paul Gavan sehr kritisch. Er sieht in ihr keine «Friedensorganisation», wie sie sich selbst gern bezeichnet, sondern er zeigt auf, wo sie überall Krieg geführt hat. Er erwähnt den irischen Aussenminister, der die Nato als «rein defensiv» beschrieb. Dieser Auffassung kann er sich nicht anschliessen: «Erzählen Sie das den Menschen im Irak, erzählen Sie das den Menschen in Afghanistan.» Dass der Krieg ein riesiges Geschäft ist, darf laut Gavan nicht vergessen werden: «Die Kriegsindustrie ist daran interessiert, dass der Krieg weitergeht. Das ist ebenfalls dunkle Realität.»

Verdeckter Krieg

Neben vereinzelten Stimmen politischer Exponenten gibt es auch zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für ein Ende des Krieges und für Verhandlungslösungen einsetzen. Die ukrainische Friedensorganisation «Ukrainian Pacifist Movement», dessen Präsident Ruslan Kotsaba am Europarat zu Besuch war, engagiert sich für ein Ende der Kampfhandlungen. Im Gespräch mit ihm erfährt man Dinge, die in unseren Medien nicht berichtet werden. Die Ukraine hat er verlassen, weil er gespürt hat, dass der Krieg im Anzug war und er als überzeugter Pazifist jegliche Kampfhandlungen ablehnt. Auch versprach er sich davon, in Westeuropa für das Friedensanliegen Gehör zu finden. Auf die Frage, wie man den Krieg stoppen könne, gibt es für ihn nur eine Antwort: «Verhandeln!» Dabei differenziert er sehr genau, wer in Verhandlung treten muss: «Es wäre wundervoll, wenn die beiden, die für den Krieg verantwortlich sind, Verhandlungen führen würden. Ich meine nicht Russland und die Ukraine, ich meine die USA und Grossbritannien, denn seit 100 Jahren gibt es einen verdeckten Krieg der USA und Grossbritanniens gegen Russland. Ruslan Kotsaba appelliert an das Gewissen der verantwortlichen Politiker: «Und jetzt müssen die Politiker, die sehr daran interessiert sind, Profite und Vorteile mitzunehmen, verstehen, dass sie damit aufhören sollten. Und wenn ein kleiner Teil von ihnen versteht, dass Verhandlungen jeden vor humanitären Krisen retten können, könnte dies ein erster Schritt sein.»

Russland ist nicht Putin

Was Ruslan Kotsaba beunruhigt, ist das fehlende Engagement für Verhandlungen. Die Fortführung des Krieges führe dazu, dass zu der bereits hohen Anzahl an Kriegstoten noch weitere hinzukämen, «und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf russischer Seite.» Eine Gefahr sieht er darin, dass sich der Krieg möglicherweise auf Polen und andere Staaten ausweiten könnte. Was ihn stört, ist die Gleichsetzung von Russland und Putin, und dass man Ablehnung verspürt, wenn man sich mit Russland verbunden fühlt. «Russ­land ist nicht Putin. Russland ist Russland. Das ist die russische Kultur, das ist die russische Sprache. Aber im Moment verursacht das viele Probleme. Die Leute begannen, diejenigen zu hassen, die Russisch sprachen, diejenigen, die die russische Kultur oder Literatur respektierten. Es wirkt irgendwie beschämend, wenn sie sagen, ich mag Russland trotz Putin.» Er meint, es gebe viele Leute, die dezidiert gegen die Politik von Putin seien, «aber wenn sie sagen, sie hätten die russische Staatsbürgerschaft, werden sie diskriminiert. Das besorgt mich.»

Uneinigkeit der Nato

Die Rolle der Nato in diesem Konflikt betrachtet er differenziert und erklärt, dass die Nato in ihrer Auffassung über den Krieg uneins war, und vergleicht die Situation mit der Bombardierung Serbiens 1999.

Damals wie heute sieht er die Briten und die USA als die treibenden Kräfte, «US-amerikanische und britische Piloten bombardierten Belgrad. Es war ein stiller Boykott der übrigen Nato-Staaten. Aber die Nato handelte in einer kollektiven Verantwortung. Das Gleiche passiert heute. Der hauptsächlich am Krieg interessierte Teil sind die USA und Grossbritannien. Die anderen Staaten sind verwirrt, weil sie den Krieg nicht eskalieren wollen.» Ihnen sei klar, so Kotsaba weiter, «es wird einen grossen wirtschaftlichen Schaden geben, besonders für Europa. Grossbritannien hat Interesse daran zu zeigen, dass die EU nicht länger existieren wird.» Er spricht davon, dass ein Grossteil der deutschen Industrie bereit sei, in die USA auszuwandern, wie zum Beispiel Volkswagen, nur schon weil das Benzin um ein Vielfaches billiger sei.

Die Ursachen für den Krieg beurteilt der Ukrainer als eine Reaktion Putins auf westliche Politik: «Putin hat erkannt, dass der Westen Tag für Tag und Schritt für Schritt in der Ukraine voranschreitet, um Land zu kontrollieren. Ich glaube, dass Selenskij kein Entscheidungsträger ist. Alles, was Putin tun wird oder tat, war ein direkter Hinweis an den Westen. Wahrscheinlich wollte er der Weltgemeinschaft zeigen, dass es zwischen Russland und der Ukraine normalerweise kein Problem gibt. Es ist ein Problem des Westens, der USA mit Russland. Die Ukraine wird als Werkzeug benutzt, Selenskij wird als Werkzeug benutzt. Und Putin hat allen die bittere Wahrheit gezeigt.»

Ende der Nachkriegsordnung bereits 1991

Bei aller antirussischen Rhetorik, die am Europarat zu hören und zu spüren gewesen ist, gibt es Menschen, die eine andere Sicht auf die Geschehnisse haben. Wenn man nur die letzten 20 Jahre mit offenen Augen und Ohren verfolgt hat – als Bürger sollte man das von seinen Volksvertretern erwarten können – dann ist doch offensichtlich, dass Russland über Jahre hinweg geostrategisch in die Enge getrieben wurde. Dass ein militärisches Vorgehen zu verurteilen ist, soll hier auf keinen Fall in Zweifel gezogen werden, aber dabei stehenzubleiben und die Gegenseite aufzurüsten, damit der Krieg sich noch Monate so hinzieht und zu Tausenden von Toten führt, ist genauso verwerflich, vor allem wenn man seit Jahrzehnten daran beteiligt war, wie es der österreichische Bundesrat Schennach zum Ausdruck brachte, Russ­land zu demütigen. Das Ende der Nachkriegsordnung zu beklagen und die Schuld allein Russland zuzuschieben, ist ebenfalls eine Geschichtsverzerrung. Spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Nachkriegsordnung Geschichte. Das Ende der Sowjetunion und der Zerfall Jugoslawiens sowie die daraus neu entstandenen Staaten haben nichts mit der Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam zu tun, denn niemand glaubte 1945, dass der Sowjetstaat jemals auseinanderfallen würde. Durch die Nato-Osterweiterung und die Aufnahme postsowjetischer Staaten in die EU wurde die Nachkriegsordnung obsolet. Selbst das Versprechen nach dem Ende des Kalten Kriegs, dass die Nato, wie der damalige deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher versicherte, sich «keinen Zoll breit nach Osten ausdehnen» werde, wurde von den USA und den Nato-Staaten gebrochen. Nur diese wenigen Fakten müssten zu einer anderen Einschätzung führen als «Putin und Russland böse und USA und Nato gut». So einfach ist die Welt nicht, aber es scheint so einfach, nach diesem Schema zu denken und zu handeln. Ein Friede wird damit nicht erreicht.

Der Bundesrat bleibt standhaft

Die Schweiz verbietet die Weitergabe von Munition an die Ukraine

von Thomas Kaiser

Der Druck Deutschlands auf die Schweiz, die Lieferungen von Munition für die Gepard-Panzer in die Ukraine freizugeben, war hoch. Bereits im Sommer gab es von der SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht diesbezüglich eine Anfrage, die der Bundesrat ablehnend beantwortet hatte. Ende Oktober erfolgte eine erneute Aufforderung mit der Begründung, dass mit Hilfe dieser Panzer die «sensible Infrastruktur in der Ukraine» und vor allem die «Getreidelieferungen aus der Ukraine» geschützt werden könnten. Man fühlt sich bei diesem Argument an Annalena Baerbocks scheinheilige Aussage erinnert: «Unsere Waffenlieferungen helfen offensichtlich sehr deutlich, Menschenleben zu retten.»¹ Der Einsatz von Waffen wird zu einer «Wohltätigkeit», zu einem «Akt der Mitmenschlichkeit». Mit dieser moralischen Keule erhoffte man sich wohl von deutscher Seite, die Schweiz zu einem weiteren Bruch ihrer Neutralität zu bewegen, wohl im Glauben, Bundesrat Cassis’ unsägliche Neudefinition der «kooperativen» Neutralität werde vom gesamten Bundesrat mitgetragen: Fehlanzeige. Auch diesmal blieb die Mehrheit des Bundesrats konsequent und lehnte eine Lieferung der Munition durch Deutschland erneut ab.

Erpressungsversuche

Bundesrat Guy Parmelin als Vorsteher des Wirtschaftsdepartements hat den Brief der deutschen Verteidigungsministerin beantwortet und wie folgt begründet: «Aufgrund des neutralitätsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots kann die Schweiz einer Anfrage um Weitergabe von Kriegsmaterial mit Schweizer Ursprung an die Ukraine nicht zustimmen, solange diese in einen internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist. Zudem schliessen auch die Bewilligungskriterien des Schweizer Kriegsmaterialgesetzes die Lieferung von Kriegsmaterial an Länder aus, die in einen internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sind.»² Die Reaktion in Deutschland liess nicht lange auf sich warten. So schreibt die FAZ online vom 03.11.2022: «Die Haltung der Schweiz in der Frage der Munitionsweitergabe stösst in Deutschland auf zum Teil scharfe Kritik. Ende vergangener Woche stellten Politiker der CDU und der FDP die Rolle der Schweiz als Rüstungslieferant in Frage.»³ Konkret waren schon vor der Beantwortung des Briefs scharfe Töne aus Deutschland zu vernehmen. So erklärte der deutsche FDP-Politiker Marcus Faber dem TagesAnzeiger: «Wenn Wiederausfuhren in einem Fall wie diesem unmöglich sind, können wir aus meiner Sicht künftig keine Rüstungsgüter mehr aus der Schweiz beziehen.»⁴ 

Bundesrat unerschüttert

Es ist dem Bundesrat trotz unverhohlener Erpressungsversuche vom «befreundeten» Nachbarstaat hoch anzurechnen, nicht eingeknickt zu sein. Die Attacken aus Deutschland sind nichts Neues, und es ist erstaunlich, mit welcher Arroganz man sich gegenüber der Schweiz und auch anderen Ländern gebärdet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass von aussen Druck auf die Gesetzgebung der Schweiz ausübt wird. Es sei nur an den früheren SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück erinnert, der der Schweiz mit der «Kavallerie» gedroht hatte, wenn sie ihre Steuergesetzgebung (Bankgeheimnis)nicht der EU anpasse. Man vergisst zu schnell, dass alle Staaten ihre (Macht-)Interessen haben und diese ihre Politik bestimmen. Das Gesäusel von «befreundeten» Staaten, die einen umgeben, ist weltfremd und hat nichts mit den bestehenden Realitäten zu tun. ν

¹ www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/interview-aussenministerin-baerbock-faz/2553542

² www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-91146.html

³ www.faz.net/aktuell/politik/ausland/munition-fuer-gepard-schweiz-verbietet-weitergabe-an-die-ukraine-18434573.html

www.blick.ch/politik/ende-der-ruestungskaeufe-schweiz-liefert-keine-munition-an-ukraine-deutsche-drohen-id18004577.html

Ukraine-Konflikt: «Es kann nur eine Verhandlungslösung sein – ein ‹Ausschiessen› gibt es nicht»

Interview mit dem österreichischen Bundesrat Stefan Schennach 

Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)
Bundesrat Stefan Schennach, SPÖ (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Möglichkeit sehen Sie für Österreich, zu einer Beendigung des Krieges in der Ukraine beizutragen?

Bundesrat Stefan Schennach Dazu kann man nur sagen, dass wir während Jahrzehnten – und hier erinnere ich an Bruno Kreisky – immer ein hohes Potential hatten, als neutraler Staat in Konflikten Gespräche zu vermitteln. Im Moment macht das überraschenderweise die Türkei, dennoch bin ich froh, dass wir keine Neutralitätsdebatte in Österreich haben. Das heisst, welche Partei das auch immer antastet, sie wird sich die Finger verbrennen. Egal zu welchem Zeitpunkt, es waren immer zwischen 75 und 85 Prozent der Bevölkerung für die Neutralität.

Was sagen Sie zum Verhalten von Schweden und Finnland?

Uns macht der Schritt von Finnland und Schweden sehr betroffen. Damit werden die übrigen neutralen Staaten geschwächt. Sie werden von Informationen abgeschnitten, weil wir über Schweden und Finnland innerhalb der EU immer Informationen bekommen haben, die wir derzeit nicht bekommen bzw. nicht mehr bekommen werden. Das Rütteln der Liberalen, der Neos in Österreich, an der Neutralität wird sich in den nächsten Wahlen nicht auszeichnen. 

In der Schweiz haben wir die Diskussion auch. Bei uns liegt die Zustimmung zur Neutralität bei mindestens 95 Prozent. Dennoch gibt es Bestrebungen zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Nato.

Wir haben einen Nationalfeiertag in Österreich, der an die Abstimmung vom 26. Oktober 1955 erinnert, bei der das österreichische Parlament einstimmig die Neutralität beschlossen hat. Viele vergessen, dass wir dafür extra einen Nationalfeiertag haben. Man sieht schon, dass die Neutralität zum Herzen Österreichs gehört.

Wie sehen Sie die Rolle der Nato in dieser ganzen Auseinandersetzung?

Die Nato muss sich aus ihrem Selbstverständnis heraus so verhalten, und andererseits sollte alles mit Mass und Ziel sein. Man kann den Krieg zwischen der Ukraine und Russland oder zwischen Russ­land und der Ukraine nicht «ausschiessen».

Was meinen Sie damit?

Man muss überlegen, wie das Ende dieses Krieges aussehen soll. Daran wird derzeit viel zu wenig gedacht. Kiew wird darüber entscheiden, was dabei herauskommen soll. Es wird mit Sicherheit so sein, dass sie Schutzmächte wollen. Wenn die Ukraine jetzt einen Frieden bekäme, wird Kiew fragen, wer ihre Schutzmächte seien. Es wird keinen Nato-Beitritt im klassischen Sinne geben. Es werden sich vier, fünf Staaten bereiterklären, diesen Schutzstatus zu erfüllen. Aller Voraussicht nach werden das Staaten sein, die auch der Nato angehören. Dennoch hat mir die Rolle des Olaf Scholz gut gefallen, weil er nicht in jedes «Hipp-Hipp-Hurra» und «noch schwerere Waffen liefern» eingestimmt hat. Medial ist ihm das in Deutschland auch nicht gut bekommen, weil alles so hysterisch auf Krieg eingestellt ist. Aber mir ist lieber, es denkt jemand 10mal nach, bevor er nur schreit: «Waffen, Waffen, Waffen!»

Wird die Ukraine in diesem Konflikt nicht völlig überhöht?

Die Geschichte, die Ukraine vertrete die Werte des ganzen Westens, ist schon sonderbar. Treten wir mal einen Schritt zurück: Die Ukraine verteidigt sich selbst. Das ist das Faktum. Es sind sicher Kriegsverbrechen auf beiden Seiten passiert. Beide Seiten haben mit Sicherheit Streumunition verwendet. Die Verbrechen gehören aufgeklärt, und wir werden in dieser Beziehung noch viel Arbeit vor uns haben. Der Europarat hat angeboten, was Untersuchungen anbetrifft, unterstützend tätig zu sein. Das ist wichtig und richtig. Aber jetzt kommen Berichte daher, die alle aus ukrainischer Hand stammen. Wie objektiv ist denn das?

Verstehe ich Sie richtig: Es braucht eine Verhandlungslösung?

Es kann nur eine Verhandlungslösung sein. Wollen wir uns doch nichts vormachen. Russland ist eine der stärksten Militärmächte der Welt. Als ich von der Explosion an der Brücke von Kertsch gehört habe, war mir klar, dass die nächste Eskalationsstufe folgen wird. Die Bombardierung von Kiew ist das Resultat davon. Die Brücke ist ein Prestigeobjekt von Putin persönlich, und so einfach kann man das nicht lösen. Alldem zu applaudieren, davor kann ich nur warnen. Wir sind nicht im Krieg. Niemand von uns verliert seine Nächsten gerade im Krieg. Wir sind in einer anderen Situation und müssen über Verhandlungslösungen nachdenken. Es kann nur eine Verhandlungslösung sein, ein «Ausschiessen» gibt es nicht. 

Wenn wir uns den aufkeimenden Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan vor Augen führen, ist das eine Folge des Ukraine-Kriegs.

Inwiefern?

In dessen Schatten und unbeobachtet finden durch die Reduzierung russischer Truppen in Armenien neue Auseinandersetzungen statt. Man war hier im Europarat verwundert, als ich seinerzeit an Russland appelliert hatte, einen Friedensvertrag zwischen den beiden Kriegsparteien herzustellen. Die Briten waren empört. Ich sagte ihnen, sie sollen jemanden nennen, der in der Lage ist, dort einen Frieden zu sichern. Nur Russland hat das zustande gebracht. Der Waffenstillstandsvertrag ist nicht ganz eingelöst. Die Armenier geben noch immer nicht die Karten mit den vergrabenen Minen heraus, und Aserbeidschan gibt noch immer nicht kriegsgefangene Soldaten heraus. Das geht nicht, und die Begründung dafür, dass die Soldaten Terroristen seien, ist nicht akzeptabel. Das sind Soldaten einer anderen Armee und keine Terroristen.

Können Sie sich erklären, warum die Kriegshetze solche Dimensionen angenommen hat?

Das Phänomen kann ich mir nur damit erklären, dass alles, was man nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hat, wie die Grundsätze von Helsinki, der OSZE usw., durch den Angriffskrieg Russlands, an den niemand mehr in Europa wirklich geglaubt hat, über den Haufen geworfen worden ist. Niemand hätte darauf nur einen Cent oder Rappen gewettet, dass der Fall eintreten würde. Das, was Scholz mit der Zeitenwende bezeichnet hat, ist ein Grund der Hysterie. Die Nachkriegsordnung ist zerstört.

Aber diese ist doch nicht erst seit dem 24. Februar zerstört?

Ja, aber nicht durch Krieg.

Die Politik seit 1991 führte zu einer langsamen Veränderung der Nachkriegsordnung. Solange die Politik im Sinne der USA betrieben wurde, hat niemand die Zerstörung der Nachkriegsordnung beklagt. Wenn es in die andere Richtung geht, dann ist man empört.

Die USA, die Nato als auch die EU haben die russischen Interessen nicht berücksichtigt, obwohl immer versprochen wurde, das zu tun. Diese Demütigung Russlands ist einfach zu viel. Aber, dass Russ­land mit einem Angriffskrieg darauf reagiert, das haben wir nicht erwartet.

Herr Bundesrat Schennach, ich danke für das Gespräch

Interview Thomas Kaiser,
Strasbourg

Corona, Krieg und der Weg in eine andere Republik

Zwei Bundestagsabgeordnete und ihre Erfahrungen

von Thomas Moser*

Die vielzitierte «Zeitenwende» begann nicht im Februar 2022, sondern zwei Jahre vorher im März 2020. Vor dem Krieg, dem Angriff russischer Streitkräfte auf das Nachbarland Ukraine, lag der Corona-Ausnahmezustand, der Angriff auf demokratische Verfahren und die Grundrechte durch Bundes- und Landesregierungen. Und so wie der Krieg Verteidigung genannt wird, so hiess die Ausgangssperre Schutzmassnahme. Aber auch der Begriff «Zeitenwende» ist eine Aneignung.

Die Zeitenwende ist tatsächlich ein Zeitenbruch. Dem einen Ausnahmezustand folgte nahtlos der nächste, und auch der übernächste wird bereits angedroht. Die Ahnung beschleicht einen, nichts wird wieder so sein, wie zuvor.

Man könnte auch sagen: Am 25. März 2020, als der Deutsche Bundestag aufhörte, die Legislative und damit die erste Gewalt im Staate zu sein, als sich die gewählten Abgeordneten der Bundesregierung auslieferten und akzeptierten, dass im Handstreich mehrere Grundrechte ausser Kraft gesetzt wurden, endete die zweite Republik dieser Bundesrepublik Deutschland. Die erste BRD-Republik, gewissermassen die Bonner Republik, dauerte von ihrem Beginn 1949 bis 1990, als mit der Adoption der umgestürzten DDR die zweite Republik folgte, inoffiziell auch Berliner Republik genannt. Sie fand 2020 ebenfalls ihr Ende.

Eine neue Republik mit durchgehend demokratischen Strukturen in aufgeklärten Verhältnissen gibt es bisher nicht. Das Land befindet sich in einer unbestimmten Zwischenzeit. Während die einen weiter zu einer demokratieentleerten autoritären Exekutiv-Demokratie streben, treten andere für eine Demokratisierung der Demokratie ein oder was von ihr übrig ist. Wieder andere wollen ihre Komplettabschaffung und fantasieren von einem Reich. Wie auch immer: Wir stehen vor einem Weg in eine andere Republik.

Es begann mit Corona

Mitte März 2020 wurde gegen die drohende Krankheitsseuche der bundesweite Lockdown verhängt. Allgemeine Ausgangssperre – so etwas hatte es in der Bundesrepublik bisher nicht gegeben. Und das, obwohl nicht einmal Krieg herrschte. Die schärfste Massnahme für die nicht gerade grösste Gesundheitsgefahr – schon von Anfang an lag ein elementarer und mutwilliger Widerspruch in der Corona-Politik. Doch anstatt dass sich der Bundestag und die Landesparlamente als Kontrollinstitution der Demokratie verstanden hätten, lösten sie sich auf ins Nichts und überliessen der Exekutive, der zweiten Gewalt im Staat, das Feld. Der Gesundheitsminister liess sich vom Parlament ermächtigen, selbstständig Gesetze zu erlassen.

Anstatt jeden Tag zusammenzutreten, die Regierung herbeizuzitieren und ihr Fragen zu stellen zur Epidemie, zum Lockdown und allem, was die Leute bewegte, live im Netz, Radio und Fernsehen übertragen, liessen die Gewählten ihre Wähler allein und begaben sich selber nach Hause. Anstatt sich in dieser Krisensituation als Instrument einer wehrhaften Demokratie zu begreifen, ergab man sich ohne Not den Vollzugsorganen. Die übten sich schnell in nie gesehener Kommandoherrschaft und genossen das bald regelrecht, wovon unter anderem der bayerische Ministerpräsident ein beredtes Zeugnis ablegte. Bis heute wird mit administrativen Verordnungen nach Goodwill durchregiert. Masken runter, Masken rauf. Ohne Ende inhaltsleere Durchsagen in Bussen und Bahnen wie eine Gehirnwäsche des Grossen Bruders.

Was auf diesem Weg vor allem verloren ging, war Verantwortung. Man war nicht mehr rechenschaftspflichtig, musste keine Fragen mehr beantworten, wähnte sich im alleinigen Besitz der Wahrheit, die man gleich selber definierte. Da braucht es keine Demokratie. Man vollzog einen imaginären allgemeinen Willen, der keinen Widerspruch dulden musste. Es war wie eine Kriegslogik ohne Krieg, der dann aber auch noch kam, fast wie bestellt. Man exekutierte seine «Massnahmen» bis hinunter zu den lokalen Ordnungsämtern, die kein Problem darin sahen, Grundrechte so einfach mal auszusetzen oder nach vier Wochen wieder zuzulassen. Änderungen und Anpassungen wie Tankstellenpreise. Wie ordinär.

Wie konnte das alles passieren?

Warum haben Parteien und Vereinigungen, die einst zum Schutz der Menschen aufgebaut wurden, wie die Grünen, die Linkspartei oder die Gewerkschaften, im Corona-Regime mitgemacht, als sei es das einzig Richtige und Mögliche? Und warum wurde darüber hinaus jeder und jede, die nur den leisesten Zweifel hegten, von Anfang an verbal rücksichtslos niedergeprügelt und mit dem Schlimmsten belegt, was es in Deutschland geben kann: Seht her, Nazis? Wenn aber demokratische Regungen zu faschistischen erklärt werden, ist das zugleich ein Bruch mit dem Anti-Faschismus.

Das sind Bestandteile des Zeitbruchs, in den wir geraten sind und von dem niemand weiss, wie er weiter-, geschweige denn wie er ausgeht. Jedenfalls nicht mit der vierten Impfung.

Einzug der Corona-Verhältnisse in das Bundesparlament

Marco Bülow und Andrej Hunko haben die Corona-Entscheidungen damals im Bundestag als Abgeordnete unmittelbar miterlebt. Bülow war 19 Jahre lang als Sozialdemokrat Mitglied dieser Versammlung. In Dortmund gewann er ein Direktmandat. Ende 2018, schon vor Corona, verliess er Partei und Fraktion. Den Ausschlag gab die Wiederauflage der Grossen Koalition, die im Wahlkampf von den SPD-Spitzen noch ausgeschlossen worden war. Bülow wählte in der Folge die GroKo-Kanzlerin Merkel nicht mit und stimmte dem Haushalt nicht zu. Er wurde zum SPD-Dissidenten. An seinem Mandat hielt er fest.

Den Einzug der Corona-Verhältnisse in das Bundesparlament erlebte er als partei- und machtloser Abgeordneter, der auf keinen Apparat zurückgreifen konnte, um sich in der unübersichtlichen Daten- und Gesetzeslage zurechtfinden zu können. Als Parlamentarier hat er gelernt, dass man keine Chance hat zu wissen, worüber man eigentlich abstimmt, wenn man nicht gerade Fachexperte ist. Dann bleibe eigentlich nur, gegen die Gesetzesvorlagen zu stimmen.

Eine neue politische Heimat hat Marco Bülow bisher nicht gefunden. Er macht bei der Satirepartei «Die Partei» mit, die streng genommen eine Anti-Partei ist.

Vielleicht sind die Parteien inzwischen ja historisch überkommen, so oft wie sie ihren Auftrag missbrauchten, und die Ideen- und Willensbildung findet künftig über andere Wege statt. Ein Musterbeispiel für diese Überkommenheit ist ausgerechnet die Linkspartei.

Als am 25. März 2020 im Bundestag ein Paket von Corona-Gesetzen zur Verabschiedung anstand, war der genaue Inhalt und Wortlaut der Gesetze zum Teil bis kurz vor Beginn der entscheidenden Sitzung nicht bekannt. Der fraktionslose Abgeordnete Marco Bülow sagt heute: «Im Bundestag herrschte eine ganz komische Stimmung.» Sein Kollege Andrej Hunko von der Linkspartei erinnert sich an eine «grosse Gereiztheit», die sich damals breit gemacht habe, auch in seiner Fraktion.

Der Weg in die Corona-Politik, der dann betreten wurde, das war für Hunko bereits die «Zeitenwende», die zwei Jahre später dann durch den neuen Bundeskanzler beansprucht werden sollte.

Für Olaf Scholz, damals als Finanzminister einer der wesentlichen Corona-Manager, war der Ausnahmezustand anscheinend noch ein Normalzustand. Das Gesetzespaket wurde durch das Parlament gejagt. An erster Stelle der Corona-Nachtragshaushalt von über 120 Milliarden Euro. Die Geschäftsordnung des Bundestags wurde geändert, um mit einem Viertel plus eins der Abgeordneten tagen und beschliessen zu können. Bis dahin galt die Hälfte plus eins als Voraussetzung. Dazu kam die vorsorgliche, mögliche Aufhebung der Abgeordneten-Immunität, um auch sie in den Hausarrest schicken zu können.

Die Abwicklung der Demokratie sollte auf formale, demokratische Weise geschehen

Zentraler Baustein des Corona-Rechts war und ist das sogenannte Infektionsschutzgesetz (IfSG), das den Bundesgesundheitsminister zum alleinigen Gesetzgeber machte. Bundestag und Bundesrat wurden für überflüssig erklärt.

Selbst die beiden politischen Profis Bülow und Hunko haben damals nicht alle Entscheidungen und deren Tragweite realisiert, wie sie heute wissen. Unter den gewählten Volksvertretern herrschte eine grosse Unsicherheit. Bülow fasst alles in dem Satz zusammen: «So eine Lage habe ich im Bundestag in 19 Jahren nicht erlebt.»

Die Massnahmen, die ergriffen wurden, waren die einer anderen Republik. Als besonders tückisch erwies sich, dass mit dem Infektionsschutzgesetz, immanent sozusagen, mehrere Grundrechte, wie Freiheit der Person, Unverletzlichkeit der Wohnung, Versammlungsfreiheit, Recht auf Freizügigkeit, Glaubensfreiheit oder Berufsfreiheit ausser Kraft gesetzt wurden. Dabei sollen doch Grundrechte, wie man in Deutschland jahrzehntelang gelernt hat, nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verändert werden dürfen.

Das Infektionsschutzgesetz wurde in der Folge x-mal geändert, manchmal mit, oft aber ohne die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit. Zum Teil sogar lediglich mit einer relativen Mehrheit, sprich unter 50 Prozent. Im August und September 2021 beispielsweise stimmte lediglich zweimal eine Minderheit von etwa 46 Prozent bzw. 48 Prozent der Bundestagsabgeordneten dem Gesetz und damit der Ausserkraftsetzung mehrerer Grundrechte zu. Eigentlich war es damit gescheitert. Das störte aber weder die herrschenden Corona-Politiker noch die folgsamen Medien. Weil das zentrale Corona-Gesetz verfassungswidrig war, waren damit auch die sogenannten Corona-Verordnungen der Länder, die auf dem IfSG fussten, und die Ausgangssperre oder Zutrittsverbote nach 2G und 3G festlegten, die meiste Zeit illegal. Nur: Es gibt keine Instanz, die das hätte reklamieren können. Was man dabei lernt: Die Verfassung ist kein Subjekt, das seine Existenz geltend machen und sich selber verteidigen könnte. Ob eine Verfassung gilt, hängt von der Übereinkunft der wesentlichen politischen Kräfte ab. Doch die hatten sich 2020 auf etwas anderes geeinigt. Dass diese Illegalität niemandem mehr aufgefallen ist, steht für die allgemeine Verwahrlosung der politischen Sitten, die mit der Corona-Politik einherging. Man könnte es auch Zerfall einer Ordnung nennen.

Das laute und öffentliche Veto einer Partei, wie etwa der Linkspartei, hätte ausgereicht, diesen Weg ins Abseits zumindest zu stören. Doch auch die Linkspartei ging und geht ihn mit.

Das jüngste Infektionsschutzgesetz, eben koalitionsintern ausgehandelt, das ab 23. September 2022 gelten soll, ist strenggenommen Ausdruck dessen, dass die grosse Coronagefahr nicht (mehr) droht. Dennoch soll es zum Beispiel mit der Maskenpflicht so weiter gehen wie bisher. Die Maske als äusseres Symbol eines anhaltenden Regiments. Die angebliche Corona-Schutzpolitik verkommt zur hohlen autoritären Symbolpolitik, die allerdings ein Ziel verfolgt: Der Ausnahmezustand soll der Normalzustand bleiben. Das heisst zugleich, die zweite Republik bleibt abgeschafft.

Bülow und Hunko sind Zeitzeugen, die als gewählte Volksvertreter die Ereignisse eigentlich aus dem Inneren der politischen Macht hätten mitbekommen sollen. Doch offensichtlich gibt es im nationalen Parlament verschiedene Macht- und Informationsebenen. Ab März 2020 fand der ordentliche Parlamentsbetrieb praktisch nicht mehr statt. Sitzungswochen wurden abgesagt oder um mehrere Tage verkürzt. Debatten gab es keine mehr. Kritik war sowieso tabu. Die Arbeit wurde in die Ausschüsse verlagert, doch auch die tagten nicht mehr wie bisher. Das galt auch für Fraktionssitzungen. Immer mehr Abgeordnete blieben zuhause.

Was im Normalbetrieb nicht akzeptiert wird, war jetzt erwünscht. Für Marco Bülow eine sehr merkwürdige Auffassung von Demokratie: «Ein Parlamentsbetrieb wie in einem Entwicklungsland», befindet er. Der Regierung kam das entgegen, sie konnte ungestört agieren.

Allerdings war für den früheren Sozialdemokraten schon vor Corona nicht alles in parlamentarischer Ordnung. So ganz neu und anders sieht er die Politik und die Politikmethode, die mit Beginn von Corona praktiziert wurde, nicht. Eher war bereits im politischen «Normalbetrieb» angelegt, was ab 2020 dann allgemeingültig wurde.

Schnell wurde das Narrativ, die Corona-Proteste seien rechts, ja rechtsextrem, in Umlauf gebracht

Andrej Hunko zählte zur Fraktionsspitze der Linkspartei, er war einer der Stellvertreter der Vorsitzenden. Das ist er heute nicht mehr. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble lud damals im März 2020 alle Fraktionsvorstände zu sich an einen Tisch und schwor sie auf die kommenden Zeiten und die bevorstehenden besonderen Aufgaben des Bundestags ein. Ein Protokoll dieses Treffens ist bisher nicht bekannt. Vielleicht erklärt diese Art der nationalen Einheit das nahezu synchrone Handeln der Parteien, das wie durch Zauberhand einsetzte. Dazu zählt übrigens auch, um keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen, die AfD.

Die Linie der Linkspartei sollte sein, das Corona-Gesamtpaket mitzutragen, es aber abzulehnen, wo es um die Grundrechte ging. Eine Trennung, die innerhalb der Corona-Politik aber nicht möglich ist. Lockdown geht nur, indem gleich mehrere Grundrechte geopfert werden. In Teilen der Bevölkerung wurde das verstanden. Deshalb kam es bereits im März 2020 zu Demonstrationen und Protesten gegen diese Politik.

Ziemlich schnell wurde das Narrativ, die Proteste seien rechts, ja rechtsextrem, in Umlauf gebracht und setzte sich vor allem auch mit Hilfe der Medien durch. Die Linkspartei sollte sich als eine der eifrigsten Verfechterinnen dieses Narrativs erweisen. Die Diskreditierung als «rechts» oder zumindest «rechtsoffen» wurde zur Hauptlinie der Delegitimierung des Protests. Sie findet bis heute Anwendung und verfängt gerade in einer Informationsgesellschaft, wo nicht jeder persönlich zu Ereignissen hingehen kann, sondern auf Berichte angewiesen ist.

Eine wichtige Rolle bei der Denunziation des Protestes spielten und spielen sogenannte Antifa-Gruppen, die einerseits als Stichwortgeber fungieren und andererseits konkret Absprachen mit dem polizeilichen Staatsschutz treffen, beispielsweise um corona- und regierungskritische Demonstrationen zu verhindern. Andrej Hunko ist lange genug politischer Basisaktivist, um zu wissen, dass diese Antifa-Gruppen mit der historischen Antifa nichts mehr zu tun haben, die noch tatsächlich gegen den Nationalsozialismus kämpfte. In den 1970er-Jahren wurde die Antifa staatlich unterwandert und gekapert.

Der Staatsschutz agiert aber nicht nur unter dem Label «links», sondern auch unter «rechts». Dazu zählte unter anderem die Treppenbesetzung des Reichstagsgebäudes Ende August 2020, an einem Tag, als in Berlin mehrere hunderttausend Menschen gegen die Corona-Politik auf die Strasse gingen und die als sogenannter «Reichstagssturm» aufgeblasen wurde, um Coronademonstranten zu diskreditieren. Es existieren mehrere Indizien, dass diese Aktion unter der Regie des Staatsschutzes stattfand. Eine Polizeieinheit wurde kurz vorher abgezogen und danach wieder hinbeordert. Auch Hunko verfügt über entsprechende Informationen. Überhaupt gehört das konspirative und provokative Eingreifen des Staatsschutzes in die Corona-Auseinandersetzungen zu den Sachverhalten, die politisch aufgearbeitet und aufgeklärt werden müssten, findet der linke Bundestagsabgeordnete. Zum Beispiel mittels eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses oder zumindest einer Enquêtekommission.

Vor allem aber hat der LP-Politiker die Erfahrung gemacht, dass bei den Demonstrationen die entgegengesetzte politische Richtung vorherrschte als die denunzierte. Er hat die Proteste vor allem in Aachen mitverfolgt und sagt: «Die meisten Demonstrierenden waren politisch eher links.» Seine Parteiführung interessierte das nicht. Am Tag, als es zu einer der grössten Demonstrationen in der Geschichte der BRD kam, stellte sie sich ungerührt mit der Parole vor die Presse: «Mit Nazis demonstriert man nicht». Die Linkspartei entpuppte sich nicht nur als eine strikte Befürworterin strenger Coronamassnahmen, sondern auch als Speerspitze der Diffamierung der Proteste. Als Hunko im Mai 2020 bei einer Corona-Demo in Aachen auftrat, wurde er danach innerhalb seiner Partei zum Austritt aufgefordert. Bis heute ist er Adressat von Attacken.

Wer die Coronaproteste von Anfang an neugierig beobachtete, konnte erkennen, dass viele Teilnehmer zum Klientel der Linkspartei zählten. Menschen aus dem sogenannten Prekariat, Arbeitslose, Ausgesonderte, Vereinzelte, Alleinerziehende, die dem Ausnahmezustand und Lockdown besonders hilflos gegenüber standen und nach Kontakt und Orientierung suchten. Die Linkspartei bot das nicht mehr. Im Gegenteil: Sie beschimpfte ihre eigenen Wähler. Das ist vielleicht eine Erklärung dafür, warum diese Partei inzwischen in rasender Geschwindigkeit erodiert.

Aber warum die Linke? Was ist mit ihr passiert? MdB Hunko sieht die Veränderung seiner Partei als Ergebnis eines schon länger stattfindenden Prozesses. Sie will zum Establishment gehören, regiert und trägt die Mainstream-Politik mit und will sie höchstens ein bisschen sozialer und friedlicher gestalten. Im Wesentlichen ist sie aber zum politischen Ordnungsfaktor geworden, der kritische Stimmen sammeln und binden soll. Doch dabei verbraucht sie sich, denn eine solche «Linkspartei» wird nicht gebraucht. Das Dramatische für Hunko: «Das ist nicht mehr reversibel.» Der Prozess sei unaufhaltbar. Politische Erosionsprozesse, die auch bei anderen Parteien im Gange sind, vollziehen sich da vielleicht nur langsamer.

Mit der Corona-Kommandopolitik versagten die Behörden während der Flutkatastrophe nahezu komplett

Wie sehr die demokratische und soziale Ordnung durch die autoritäre Corona-Politik Schaden genommen hat, wie rücksichtslos und brutal sich deren immanente Verantwortungslosigkeit auswirken kann, mussten unter anderem die Bewohner des Ahrtals im Juli 2021 erleben. Mit ihrer Corona-Kommandopolitik versagten die Behörden während der Flutkatastrophe nahezu komplett. Sie ergriffen keine Schutzmassnahmen, organisierten keine Hilfe trotz ausgereifter Rettungspläne und -ketten, wirkten wie paralysiert.

Wo es auf Zusammenarbeit und Kommunikation, auf Flexibilität und Gleichheit ankommt, war eine ans Befehlen gewöhnte Exekutive nun deplaziert und handlungsunfähig. Die geleistete Katastrophenhilfe wurde stattdessen organisiert ohne die Behörden, eigenverantwortlich von Feuerwehrleuten und Privatpersonen oder von Bauern, die mit ihren Traktoren zu Hilfe kamen. Sie waren es, die Dutzende vor dem Ertrinken gerettet haben. Zu Abertausenden kamen dann Helfer und Helferinnen in Eigeninitiative aus der ganzen Republik in die betroffenen Gebiete und packten an, wo es nur ging. Doch das Einzige, was den versagenden Politikern und ihren ihnen treu ergebenen Medien einfiel, war, corona-kritische «Querdenker» unter den Helfern aufzuspüren und zu denunzieren. Ausdruck eines Zivilisationsverlustes. Die Zynik, die darin steckt, kommt in der umgekehrten Betrachtung zum Ausdruck, denn nach dieser Logik hätte ein «Corona-Massnahmen-Kritiker» auch kein Flutopfer sein dürfen.

Und dann auch noch dies: Ausgerechnet in dieser historisch unentschiedenen und umstrittenen Krisenzeit gerät eine Wahl, also ein entscheidendes Instrument der Demokratie, zum Desaster. Bei der Bundestagswahl im September 2021, die in Berlin auch mit der Wahl zum Abgeordnetenhaus verbunden war, kam es zu Unregelmässigkeiten, Fehlern und Manipulationen, wie man sie in der Bundesrepublik noch nie gesehen hat und wie man es von einer erprobten Demokratie nicht erwartet hätte. Fehlende Stimmzettel, falsche Stimmzettel, Wähler, die noch drei Stunden nach Wahlschluss ihre Kreuze malten, als im Fernsehen bereits die Ergebnisse verkündet wurden, unbewachte Wahlurnen auf Höfen und so weiter. Nationale Wahlen wie in einer Bananenrepublik. Auf nichts scheint mehr Verlass zu sein. Ist das nur Zufall, oder hat das vielleicht auch etwas mit dem Überstrapazieren undemokratischer Vorgehensweisen unter Corona zu tun?

Vielleicht liege es daran, meint Andrej Hunko, dass «demokratische Grundverfahren nicht mehr so ernst genommen werden». Und Marco Bülow benutzt fast die selben Worte: «Wahlen, die immer mehr nur symbolischen Charakter haben, werden als wichtiger demokratischer Akt eben nicht mehr so ernst genommen.» Man gehe nicht mehr mit der nötigen Sorgfalt mit ihnen um. Und, kann man ergänzen, weil die Gewählten danach mit ihrem Mandat sowieso machen, was sie wollen. Dabei hätte der frühere Sozialdemokrat einige Ideen parat, wie man die parlamentarische Demokratie demokratisieren könnte: Abschaffung der 5 Prozent-Hürde beispielsweise, Plätze nur entsprechend der Wahlbeteiligung zu besetzen, den Rest freizulassen oder per Los-Verfahren zu vergeben.

Fortsetzung des Ausnahmezustandes

Nach Corona der Krieg. Bülow, inzwischen nicht mehr Mitglied des Bundestags, sieht im Beschluss, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereit zu stellen und das sogar im Grundgesetz zu verankern, die Verlängerung eben dieses Ausnahmezustandes. Und dazu gehört erneut der extremistische Umgang mit Kritikern dieser Politik. Die Instrumente liegen aus Corona-Zeiten bereit. Dieselben Mechanismen, dieselbe Rhetorik, Gegner zu diffamieren, finden ihre nahtlose Wiederverwendung. Man musste sie nur ein bisschen anpassen. Die Regierungspolitik wird als alternativlos erklärt. Um den Krieg zu beenden, kommen nur Waffenlieferungen an die ukrainische Seite in Frage, Widerspruch wird nicht geduldet, Kriegsgegner werden als Sympathisanten Russlands diffamiert.

Delegitimierung des Protests mittels der Konstruktion, er sei rechts – das ist Teil des Programms des Ausnahmezustandes und aller weiteren möglichen Fortsetzungen. Zum Beispiel auch, wenn es zu sozialen Unruhen kommen sollte, bei denen Coronagegner, Kriegsgegner und Armutsgegner zusammenfinden könnten. Andrej Hunko, der Bundestagsabgeordnete, dessen politische Karriere eng mit den sozialen Bewegungen verbunden ist, sieht diese Perspektive durchaus und sagt: «Im Herbst wird es diese Methode der Delegitimierung wieder geben.»

Für Marco Bülow befinden wir uns in einem «Zwischending» zwischen dem bisherigen politischen System und einem noch unbekannten neuen. Darauf passe ein Satz von Antonio Gramsci, dem italienischen Intellektuellen und Kommunisten, der vor etwa 100 Jahren auch einen Zeitenbruch erlebte und Folgendes geschrieben hat: «Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.»

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

Zuerst erschienen bei:

https://overton-magazin.de/krass-konkret/corona-krieg-und-der-weg-in-eine-andere-republik/  am 9. August 2022

* Thomas Moser ist freiberuflicher Journalist und Autor, der unter anderem für die ARD und das Online-Magazin «Telepolis» schreibt. Der studierte Politologe, Soziologe und Ethnologe beschäftigte sich in der Vergangenheit mit dem NSU-Prozess und veröffentlichte hierzu die Bücher «Geheimsache NSU» und «Ende der Aufklärung. Die offene Wunde NSU». In jüngerer Vergangenheit berichtete er über die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz.

 

Damit Aleppo wieder leuchtet

Im Kraftwerk der syrischen Metropole werden die Turbinen in Handarbeit restauriert

von Karin Leukefeld, Aleppo

«Der Eingang zum Elektrizitätswerk ist ein Stück weiter», sagt der Wächter und lässt den Schlagbaum wieder herunter, den er bereits für den Wagen hochgezogen hatte. «Hier geht es zum Wohnkomplex der Arbeiter, das Kraftwerk ist dort drüben.» Der Mann dreht sich um und weist auf die fünf rot-weiss gestreiften Schornsteine, die hoch in den Himmel ragen. «Fahren Sie noch 500 Meter weiter, dann sehen Sie schon den Haupteingang.»

Das grösste Elektrizitätswerk Syriens

Das öffentliche Unternehmen für die Stromerzeugung von Aleppo, PCEPGA, liegt knapp 25 Kilometer östlich von Aleppo an der Autobahn M5, die das nordsyrische Industriezentrum mit der syrisch-irakischen Grenze und Mossul im Nordirak verbindet. Mit fünf Schornsteinen, fünf Turbinen, fünf Kühltürmen, sechs Tanks für Schweröl, zwei Tanks für Gasöl und einem grossen Umspannwerk, von wo der Strom in alle Richtungen der Provinz von Aleppo verteilt wird, ist die Anlage das grösste Elektrizitätswerk Syriens. 1100 Megawatt Strom wurden hier vor dem Krieg erzeugt, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Die mehr als zwei Millionen Einwohner von Aleppo hatten Strom zu jeder Tages- und Nachtzeit und auch in den Dörfern im Umland der Stadt gab es Licht.

Ein Schornstein raucht wieder im Kraftwerk von Aleppo. (Bild Karin Leukefeld)

Überfall auf das Elektrizitätswerk

Dann kam der Bürgerkrieg. Bewaffnete Gruppen rückten von allen Seiten an Aleppo heran. Nur wenige Kilometer weiter östlich vom Wärmekraftwerk liegt der Militärflughafen Kuwaires mit einer Luftwaffenakademie. 2013 wurde Kuwaires angegriffen und eingeschlossen. Im Winter 2013/14 setzte sich der Islamische Staat im Irak und in der Levante (ISIL) gegen andere bewaffnete Gruppen durch und übernahm die Belagerung des Flughafens, die weitere zwei Jahre andauern sollte. Trotz zahlreicher Angriffe gelang es ISIL nicht, die Luftwaffenbasis einzunehmen, die Ende 2015 von einer Sondereinheit der syrischen Armee, den Tiger Forces, mit russischer Unterstützung befreit werden konnte. Von den 1100 Soldaten, die auf der Basis Kuwaires eingeschlossen wurden, überlebten 300. Die ISIL-Kämpfer wichen nach Südwesten aus und überfielen das Elektrizitätswerk.

Wiederinbetriebnahme

«Warum sind Sie nicht schon früher gekommen», fragt Ingenieur Mazen Samakie und kommt zur Begrüssung um seinen grossen Schreibtisch herum. Vergnügt lächelt er über seinen hintergründigen, sehr syrischen Scherz, denn er weiss, dass bisherige Anfragen von Journalisten, das Elektrizitätswerk zu besuchen, immer unbeantwortet blieben. Doch vor wenigen Wochen war Präsident Assad al-Bashar persönlich da, um der Wiederinbetriebnahme der ersten Turbine beizuwohnen. Seitdem können auch Journalisten über das Kraftwerk berichten.

Ein Blick in die Geschichte

Mazen Samakie ist Ingenieur der ersten Stunde in diesem Werk und kennt die Geschichte wie kaum ein anderer. 1994 habe der Bau an dem Kraftwerk begonnen, berichtet er. Im Juni 1997 wurde die erste von fünf Turbinen in Betrieb genommen. Die Installation der anderen Turbinen folgte im Abstand von wenigen Wochen. Seit 2007 leitet Samakie das Kraftwerk.

Turbine Nummer 5 arbeitet wieder. Ingenieur Mazen Samakie vor der reparierten Maschine. (Bild Karin Leukefeld)

Möglich wurde der Bau mit finanzieller Unterstützung der saudischen Zentralbank, erinnert sich Samakie. Die Turbinen seien von Mitsubishi in Japan gebaut, das US-Unternehmen Bechtel baute die Anlage. Die syrischen Techniker und Ingenieure seien sowohl bei Bechtel in den USA als auch bei Mitsubishi im japanischen Kobe ausgebildet worden.

Ingenieur Samakie erklärt die Funktionsweise

In einem Schnelldurchgang erklärt Samakie, wie ein Wärmekraftwerk funktioniert. Das Öl oder Gas wird verbrannt und erwärmt Wasser in einem Kessel so sehr, dass Wasserdampf entsteht. Der Dampf durchläuft ein langes Leitungssystem und treibt eine Turbine an, die wiederum einen Generator antreibt, der Strom erzeugt. Dieser Strom wird über das Umspannwerk in die Leitungen gespeist. Der Dampf läuft aus der Turbine in einen Kondensator, wo er zurück in Wasser verflüssigt wird. Das wird wiederum erhitzt, und der Kreislauf beginnt von vorn. Über eine Rauchgasanlage werden Stickstoffe herausgefiltert, Gas wird entschwefelt und entstaubt und über die Schornsteine in die Luft entlassen. In den Kühlgebäuden – pro Turbine einer – wird Dampf, der nicht mehr genutzt wird, in die Luft abgeführt. Das Wasser kommt über einen unterirdischen Kanal aus Maskaneh und Deir Hafir am östlich gelegenen Assad-Stausee. In einem Laborzentrum wird die Wasserqualität ständig überprüft.

Die Dschihadisten zerstörten im Kraftwerk alle wichtigen Anlagen

Es ist laut im Kraftwerk. Leitungssysteme mit Rohren aller Grössen bilden im Erdgeschoss ein unübersichtliches Labyrinth. Eine Treppe führt nach oben in das Gebäude, wo die fünf Turbinen in einer langen Reihe hintereinander installiert sind. Die schweren, von Gehäusen ummantelten Maschinen sind verkohlt. Verbrannte Kabel ragen wie ein bizarres Kunstwerk in die Luft. «Wir haben bis Oktober 2015 hier gearbeitet», sagt Samakie. Dann seien ISIL-Kampfgruppen auf das Gelände gekommen, und die komplette Belegschaft habe evakuiert werden müssen. Auch die nahe gelegene Wohnanlage mit fast 400 Wohnungen und Appartements für die Arbeiter und ihre Familien – mit einer Schule, einem Gesundheitszentrum, Schwimmbädern, einem Sportplatz, Geschäften, Cafés und Restaurants – musste verlassen werden.

Im Kraftwerk von Aleppo wurden alle fünf Turbinen vom ISIL zerstört. Nun werden sie in Handarbeit repariert. Turbine 5 konnte im Sommer 2022 wieder in Betrieb genommen werden. (Bild Karin Leukefeld)

Die Dschihadisten zerstörten im Kraftwerk alle wichtigen Anlagen: die Kontrollräume, die Labors, das Verwaltungsgebäude, die Umspannanlage und die Stromkabel. Sie versuchten, die Turbinen mit innen installierten Sprengsätzen zu zerstören. Als das nicht vollständig gelungen sei, habe man sie in Brand gesetzt. «Sie wollten die Menschen vom Regime befreien, wie sie sagten», meint Samakie. «Aber es ging nur um Zerstörung.»

In einem Bericht der Weltbank über die Zerstörungen in Syrien aus dem Jahr 2017 heisst es, das Wärmekraftwerk von Aleppo habe vor dem Krieg 60 Prozent des Stroms für Aleppo und Umland geliefert. Es müsse als «komplett zerstört» bezeichnet werden. Bewohner im Osten, im Zentrum und im Südwesten von Aleppo erhielten keinen Strom mehr aus dem öffentlichen Stromnetz. West-Aleppo könne nicht mehr als zwei oder drei Stunden mit Strom versorgt werden.

Schwierige Lage ohne Strom

Sechs Jahre lang blieben in Aleppo und Umgebung die Lichter aus. Nur wer über einen Generator und Beziehungen verfügte, konnte geschmuggeltes Öl von den Ölquellen im Osten des Landes kaufen, die bis heute von den US-Truppen besetzt sind. Eine Fabrik in Aleppo begann, Solaranlagen für Strassen und Plätze zu produzieren. Damit sie schöner aussehen, wurden sie wie Blumen gestaltet. Doch für die Inbetriebnahme von grossen Industriemaschinen reicht der Strom dieser Anlagen nicht aus, private Haushalte können die hohen Kosten für die Installation von Solaranlagen nicht tragen.

Während in den reichen Industriestaaten über das dringend benötigte Ende der fossilen Energie debattiert wird und entsprechende Förderprogramme aufgelegt werden, ist die Debatte um Strom aus Sonne und Wind in Syrien noch am Anfang. Das Familienunternehmen Elias aus Homs baut Windanlagen und speist an der Autobahn Homs-Tartus mit zwei Windturbinen jeweils 2,5 Megawatt in das öffentliche Stromnetz ein.

Verzicht auf Energie aus Öl und Gas ist momentan nicht möglich

Doch selbst wenn die Wirtschaftsblockade gegen Syrien, die Sanktionen von der EU und den USA aufgehoben und die US-Truppen die syrischen Ölfelder freigeben würden, könnte das Land die nächsten Jahre nicht auf Energie aus Öl und Gas verzichten. Wind und Sonne seien zwar die Energie der Zukunft, so Rabi Elias. Für den Wiederaufbau nach Krieg und Zerstörung müsse das Land die Ressourcen nutzen, die es hat, meint er.

Sanktionen verunmöglichen Hilfe beim Wiederaufbau

«Niemand hat uns geholfen», sagt Samakie. «Kein Staat, keine Regierung, keine internationalen Hilfsorganisationen. Die Sanktionen der EU und der USA verhindern, dass Firmen, die immer mit uns zusammengearbeitet haben, Ersatzteile liefern. Manche Mitarbeiter dieser Unternehmen, die das hier aufgebaut haben, würden uns helfen, aber sie dürfen nicht.» Die einzigen, die geholfen hätten, seien Freunde, fährt der Ingenieur fort und nimmt einen vorbeigehenden Mann mittleren Alters am Arm: «Er ist einer der Freunde, die uns hier helfen», sagt Samakie und lächelt den Mann an. Der Ingenieur stammt aus dem Iran und hilft seit fast zwei Jahren mit einem Team von 50 Fachleuten bei den Reparaturen der Turbinen. «Sie arbeiten mit unseren Leuten zusammen und haben es geschafft, die Turbine Nummer 5 wieder in Betrieb zu nehmen. Jetzt arbeiten sie an Turbine Nummer 1 und hoffen, in wenigen Monaten auch sie wieder instand gesetzt zu haben.»

Samakie dreht sich um und zeigt auf eine Reihe nagelneuer Ersatzteile, die neben einer der Turbinen aufgereiht sind. «Sehen Sie das hier?», fragt er. «Die Teile sehen aus wie neu, aber tatsächlich sind es die alten Teile aus der Turbine. Er und sein Team haben alles einzeln ausgebaut, geprüft, gesäubert, repariert. Heute sehen die Teile aus wie neu und werden wieder eingebaut.» Der iranische Ingenieur lächelt zurückhaltend. Er mache seine Arbeit seit mehr als 20 Jahren und habe viel Erfahrung sammeln können, sagt er.

Turbine Nummer 5 läuft wieder

Turbine Nummer 5 arbeite wieder und könne etwa 200 Megawatt produzieren, erklärt Samakie. Dann führt er ins Kontrollzentrum von Turbine Nummer 5, wo eine kleine Gruppe von Ingenieuren den gesamten Produktionskreislauf auf Bildschirmen überwacht. «Wir alle arbeiten hier von Anfang an», sagt Samakie. «Und wir haben alle geweint, als wir das erste Mal wieder hierherkamen, nachdem das Werk wieder betreten werden konnte. Und dann haben wir angefangen zu arbeiten.» Manche hätten weisse Haare bekommen, andere hätten gar keine Haare mehr, sagt er und legt lachend die Arme um zwei seiner Mitarbeiter, von denen einer ergraut und der andere kahl ist. Die beiden waren Ende der 90er Jahre wie Samakie auch zur Ausbildung bei Bechtel in den USA und bei Mitsubishi in Kobe. «Wir sind stolz, dass wir hier wieder arbeiten und die Menschen mit Strom versorgen können», sagt der eine und bespricht mit Samakie kurz den Produktionsverlauf auf einem der Kontrollbildschirme. Auf dem Tisch davor liegen Kräuter und Jasminblüten. Sie sollen der Arbeit der Ingenieure gutes Gelingen bringen.

Bleibende Schwierigkeiten

Wie schwierig der Betrieb des Kraftwerks ist, zeigt sich draussen an den Tanks, wo der Brennstoff gelagert ist. Das Kraftwerk könne mit Erdgas und Öl betrieben werden, erklärt Samakie. Jeder Tank fasse 25 000 Tonnen. Die zwei Tanks für Gasöl seien leer, weil die Erdgaspipelines aus dem Osten des Landes zerstört seien. Von den sechs Tanks für Öl seien drei zerstört und ausgebrannt. Zudem sei es schwierig, das Öl aus Hasakeh und Deir Ez Zor zu bekommen, weil US-Truppen die syrischen Ölressourcen besetzt hielten. Die Kraftwerksbetreiber leiden unter den Sanktionen. «Wir haben nichts gegen die Deutschen und die Menschen in Europa», sagte der Ingenieur zum Abschied. «Aber wir sehen, dass die Regierungen dort alles tun, um uns zu schaden.» 

Erstveröffentlichung in: «Neues Deutschland»/nd.DerTag/04.10.2022

www.nd-aktuell.de/artikel/1167413.syrien-damit-aleppo-wieder-leuchtet.html

 

Wirtschaftssanktionen

kal Der Europäische Rat hat im Mai 2011 wirtschaftliche Strafmassnahmen gegen Syrien als Reaktion auf das gewaltsame Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung verhängt. Die Massnahmen blockieren Vermögen und untersagen die Einreise in die EU. Sie richten sich gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad und Familie, das Militär und Geheimdienste. Auch private und staatliche Unternehmen sind betroffen. Sie werden beschuldigt, die staatliche Unterdrückung zu unterstützen. Seit Dezember 2011 sind alle staatlichen Unternehmen der Erdölindustrie sowie alle Ölgesellschaften des Landes auf der Liste. Aktuell umfasst sie 289 Personen, 70 private und staatliche Unternehmen sowie die syrische Zentralbank. Die Strafmassnahmen werden jährlich verlängert, zuletzt im Mai 2022.

Die US-Administration verabschiedete Ende 2019 das sogenannte Caesar-Gesetz zum Schutz der syrischen Bevölkerung. Dieses Gesetz trat im Juni 2020 in Kraft und droht Einzelpersonen, Unternehmen und Staaten, die mit Syrien Handel treiben, mit dem Einfrieren von Konten.

Diese Strafmassnahmen werden vom Uno-Sonderberichterstatter für die Auswirkungen wirtschaftlicher Strafmassnahmen auf die Rechte der betroffenen Bevölkerung verurteilt.

Zwei Väter – ein Israeli und ein Palästinenser – gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit

Sie verloren ihre Töchter – und wurden Freunde

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Bassam Aramin (links) und Rami Elhanan: Im November kommen sie für eine Vortragsreise in die Schweiz. (Bild: Katja Harbi)

Smadar, «die Weinrebe» aus dem Hohelied Salomos, war lebhaft, fröhlich, eine gute Schülerin, spielte Klavier und liebte Jazz. 1997 starb sie, 14 Jahre alt, bei einem palästinensischen Selbstmordattentat: «Sie wollte Schulbücher kaufen und sich später für einen Jazzdance-Kurs anmelden. Ein schöner ruhiger Tag. Sie bummelte mit ihren Freundinnen die Strasse hinunter und hörte Musik»¹, erzählt ihr Vater. Beerdigt wurde sie neben ihrem Grossvater, General Matti Peled, der sich für einen gerechten Frieden zwischen Palästina und Israel eingesetzt hatte.

Rami Elhanan, Israeli, Vater von Smadar, hatte nach dem Tod seiner Tochter Rachegedanken. Dann lernte er einen orthodoxen jüdischen Rabbiner kennen, dessen Sohn als Soldat 1994 von der Hamas entführt und getötet worden war. Der Rabbiner hatte den «Parents Circle» gegründet, für Palästinenser und Israelis, die Angehörige verloren hatten und trotzdem Frieden wollten. Im «Parents Circle» realisierte Rami zum ersten Mal, dass Palästinenser menschliche Wesen sind: «Dann sah ich diese Frau, ganz in Schwarz, in einem traditionellen Kleid und mit Kopftuch – eine Frau, die ich an einem anderen Ort vielleicht für die Mutter eines der Mörder meines Kindes gehalten hätte. […] Sie hielt ein Foto ihrer Tochter vor der Brust. […] Ich war wie vom Donner gerührt: Diese Frau hat auch ihr Kind verloren. […] Der Schmerz dieser Frau unterschied sich in nichts von meinem Schmerz.» Zudem erkannte Rami, dass es in der israelischen Politik nicht um «Sicherheit» geht, sondern darum, «andere Menschen zu beherrschen, ihr Leben, ihr Land, ihren Kopf. Es geht um Kontrolle. Das heisst um Macht.»

Abir, «Duft der Blüte» aus dem Altarabischen, zeichnete gerne und wollte später  Ingenieurin werden. 2007 wurde sie von einem jungen israelischen Grenzpolizisten getötet, «der sein Gewehr hinten aus dem Jeep schob und direkt auf sie zielte.» Sie war zehn Jahre alt. Während der Pause hatte sie zwei Armbänder aus Zuckerperlen gekauft. «Auf dem Rückweg zur Schule schenkte Abir das zweite Armband ihrer Schwester Areen,» schreibt ihr Vater. Kurz vor dem Schultor traf sie der Schuss am Hinterkopf. Da man ihr im örtlichen Spital nicht helfen konnte, sollte sie in ein Spital nach Israel verlegt werden. Am Checkpoint wurde der Krankenwagen zwei Stunden aufgehalten. Im Spital starb Abir.

Bassam Aramin, Palästinenser, Vater von Abir, wuchs unter israelischer Besatzung auf: «Sie kommen in Jeeps und Panzerfahrzeugen, patrouillieren auf den Strassen und sagen, zeig mir deinen Ausweis, stell dich an die Wand, halt’s Maul, umdrehen, runter auf den Boden. Sie stürmen in dein Zuhause, sperren es ab, schlagen alles kurz und klein. […] Sie verhaften deinen Vater, deine Brüder, deinen Onkel.» Mit 12 Jahren erlebte er an einer Demonstration wie ein Junge von einer Kugel tödlich getroffen wurde. «In diesem Augenblick entstand in mir ein tiefes Verlangen nach Rache», so Bassam. Nach einem Angriff auf israelische Militärjeeps kam er mit 17 Jahren ins Gefängnis.

Dort befasste er sich mit der jüdischen Geschichte, lernte hebräisch und las Schriften von Gandhi und Martin Luther King. «Und mit der Zeit dachte ich, dass sie vielleicht recht hatten, dass sich Frieden nur durch Gewaltverzicht und Widerstand erreichen lässt», so Bassam.

1992 kam er frei, gründete eine Familie und setzte sich für ein Ende der israelischen Besatzung ein. 2005 begannen er und drei andere Palästinenser sich heimlich mit ehemaligen israelischen Soldaten zu treffen: «Wir begegneten uns als Feinde, die miteinander reden wollten.» Nach vielen Gesprächen gründeten sie die israelisch-palästinensische Organisation «Combatants for Peace». 

Nach dem Tode von Abir schloss sich Bassam dem «Parents Circle» an und begann, sich zusammen mit Rami Elhanan für einen gerechten Frieden zwischen Palästina und Israel einzusetzen. 

¹ Alle Zitate aus: Colum McCann:  Apeirogon. Rowohlt, 2022

 

Bassam Aramin und Sami Elhanan weilen vom 15. bis 22. November 2022 in der Schweiz und berichten von ihren Erfahrungen

Dienstag, 15. November 22, 19.30 Uhr, Reformierte Kirche Offener St. Jakob am Stauffacher, Zürich

Mittwoch, 16. November 22, 19.30 Uhr, Reformiertes Kirchgemeindehaus, Liebestrasse 3, Winterthur

Donnerstag, 17. November 22, 19.30 Uhr, Haus der Religionen – Dialog der Kulturen, Europaplatz 1, Bern

Freitag, 18. November 22, 19.30 Uhr, Werkhof, Planche-Inférieure 14, Fribourg

Samstag, 19. November 22, 18.30 Uhr, Espace Dickens, Avenue Charles Dickens 4, Lausanne

Sonntag, 20. November 22, 18.30 Uhr, Centre de l'Espérence, Rue de la Chapelle 8, Genf

Montag, 21. November 22, 19 Uhr, kHaus, Kasernenhof 7, Basel

Diestag, 22. November 22, 19 Uhr, Grosser Hörsaal der Evangelischen Hochschule, Gebäude B, Buggingerstr. 38, D-Freiburg i.Br.

Leserzuschrift

Für den Frieden braucht es alle

Seit Monaten wird unser Alltag vom Krieg und der Art, wie darüber berichtet wird, beherrscht. Die Berichterstattung ist geprägt von Kriegsrhetorik, die unsere Besorgnis nur noch weiter verstärkt.

Gedanken und Gemüt werden von einer feindseligen Sprache vereinnahmt. Sanktionen und Waffenlieferungen führen immer weiter vom Friedensziel weg. Die Hoffnung und der Wille zum Frieden werden gelähmt. Seit Menschengedenken werden die Völker auf diese Weise in den Krieg geführt.

Lösungsorientiertes Handeln sieht anders aus. Peter Maurer, der scheidende Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) sagte kürzlich: «Diplomatie muss am aktivsten sein, wenn die Lage am hoffnungslosesten scheint». Dieser friedensorientierte Ansatz muss wieder zentraler Bestandteil der schweizerischen Aussenpolitik werden: Keine einseitigen Stellungnahmen und Verurteilungen und handeln nur immer mit dem Ziel, dem Frieden eine Chance zu geben. Erinnern wir uns: Diplomatie und menschliche Vernunft verhinderten auch in der Kubakrise den atomaren Schlagabtausch. – Wir alle können dem Nebel des Krieges entgegentreten und entschlossen für den Frieden der Völker eintreten!

Ulrich Meister, Menziken

Zurück