Artikel in dieser Ausgabe
- Samariterwesen im neoliberalen Zangengriff
- Die Spannungen auf der Welt haben zugenommen
- «Menschenrechte dürfen niemals als Waffe gegen andere instrumentalisiert werden»
- Mögliche Ursachen und Folgen der Unruhen im Iran
- Iran zu Beginn des Jahres 2018
- Venezuela: «Die Sanktionen müssen beendet werden, und der Wirtschaftskrieg muss aufhören»
Samariterwesen im neoliberalen Zangengriff
Direkte Demokratie und Milizwesen können und dürfen nicht mit privatwirtschaftlichen Managementmethoden «gesteuert» werden
Im Artikel «Dem Schweizer Samariterwesen als Teil des Milizwesens gilt es, Sorge zu tragen» (Zeitgeschehen im Fokus Nr. 17, 4.12.2017) haben wir die Entstehungsgeschichte des Schweizer Samariterwesens und dessen grosse Bedeutung für das Zusammenleben in den Gemeinden dargelegt. Es ist wie die Schweiz föderalistisch organisiert und Teil des Milizwesens, das wie ein filigranes Netz unser ganzes Staatswesen durchzieht und vom Gemeinsinn, von der Bereitschaft der Bürger lebt, freiwillig zu Gunsten der Gemeinschaft Aufgaben zu übernehmen.
Derzeit wird aber das Kurs- und Ausbildungswesen des Samariterbundes mittels privatwirtschaftlicher Managementmethoden einer Radikalkur unterzogen, deren Folgen verheerend sind: «Zahlreiche erfahrene Samariterlehrerinnen treten auf 2018 zurück, kleine Vereine gehen ein», «es hat nichts mehr mit Freiwilligenarbeit zu tun», «der Milizgedanke geht immer mehr verloren – wir werden an der Professionalisierung noch zu Grunde gehen», heisst es in Leserzuschriften von Präsidentinnen und Samariterlehrerinnen verschiedener Vereine. Diese Aussagen sind alarmierend. Was ist los?
Wer auf die Webseite des Schweizerischen Samariterbundes (SSB) geht, gewinnt den Eindruck, als ob es sich um einen Wirtschaftskonzern handle. Es ist von «Corporate Identity», von «Vereins- und Kursmarketing», von «Change-Management-Prozess», «Strategie 2020», Sponsoring, Werbemitteln und Planungsbroschüren die Rede. 2016 rechtfertigt Monika Dusong, ehemalige Präsidentin des SSB, die Umstrukturierung des Samariter-Kurswesens: «Wir wollen uns ja nicht aus dem Markt verdrängen lassen, weder im Sanitätsdienst noch bei den Bevölkerungskursen, denn es bleibt unsere Grundaufgabe, in der ganzen Schweiz Erste-Hilfe-Leistungen anzubieten und Erste-Hilfe-Wissen zu vermitteln.»1 Von welchem Markt ist hier die Rede? Wer sind die Konkurrenten? Der SSB ist doch kein profitorientiertes Unternehmen oder etwa doch?
Neoliberaler Umbau – Gesundheitswesen als lukrativer Markt
Die Aussage von Monika Dusong ist nur auf dem Hintergrund des neoliberalen Umbaus des Gesundheitswesens zu verstehen. Seit den 90er Jahren wird das Gesundheitswesen Reformen unterzogen, die auf mehr Wettbewerb, mehr Markt, mehr Gewinn abzielen und zwischen den verschiedenen Anbietern eine scharfe Konkurrenzsituation schaffen. Gesundheit wird zur Ware. Zur besseren Vergleichbarkeit werden die Leistungen standardisiert (Fallpauschalen), und die Leistungserbringer sind angehalten, Systeme zur Qualitätssicherung einzurichten. In diesem Kontext ist ein eigener Markt für Zertifizierungen entstanden, die als Markenzeichen für gute Qualität verkauft werden. Der SSB als Freiwilligenorganisation von Laien-Erst-Helfern steht mitten in diesem von Konkurrenz geprägten Umfeld profitorientierter Rettungsorganisationen. Er hofft, mit zusätzlichen Qualitätszertifikaten sein Tätigkeitsfeld erhalten zu können. Deshalb hat er 2015 beschlossen, sich vom Interverband für Rettungswesen (IVR) zertifizieren zu lassen. Ob ihm dabei klar war, worauf er sich einlässt, sei dahingestellt.
Die Rolle des Interverbands für Rettungswesen
Der IVR ist ein privatrechtlicher Verein, der 1962 gegründet wurde und ursprünglich Kurse für Rettungssanitäter anbot. 2001 schloss die Schweizerische Sanitätsdirektorenkonferenz (SSK) mit dem IVR eine erste Vereinbarung ab und beauftragte ihn, die Kantone bei der Entwicklung und Einführung eines Systems zur Qualitätssicherung der Rettungsdienste (Richtlinien) zu unterstützen und bei den einzelnen Rettungsdiensten Qualitätskontrollen durchzuführen (Anerkennungsverfahren). 2014 erweiterte die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) in einer zweiten Vereinbarung den Leistungsauftrag. Als weitere Leistung soll der IVR die Kantone auch bei der Entwicklung von Systemen im Bereich der Rettungskette, die einen positiven Einfluss auf den Rettungsablauf haben (First Responder Systeme), unterstützen und Richtlinien und Hilfsmittel für die Organisation des Sanitätsdienstes bei Grossanlässen weiterentwickeln und fortführen. Laut Vereinbarung sind alle Kantone dem IVR als Aktivmitglieder beigetreten oder sind dessen Gönner und tragen 60 % des Gesamtaufwandes des IVR. Der IVR ist also ausführendes Organ der GDK und mit der Qualitätssicherung und -kontrolle des kantonalen Rettungswesens beauftragt.
Der SSB und die lokalen Samaritervereine im Würgegriff des Qualitätsmanagements
Der SSB hat nun, um die IVR-Zertifizierung «First Aid» zu bekommen, gegen Widerstand aus der Basis, das bis anhin bereits qualitativ hochstehende und gut funktionierende Kurs- und Ausbildungswesen der Samariter nach den Vorgaben des IVR umstrukturiert und sich damit in den erbarmungslosen Würgegriff des Qualitätsmanagements begeben. Alle Vereins- und Verbandskader, d. h. Kursleiter/Technische Leiter, Samariterlehrer und Instruktoren sind nun gezwungen, sich nach IVR-Reglementen bis Ende 2017 «aufschulen» zu lassen, ansonsten können sie keine Kurse mehr erteilen. Das führt zu nicht nachvollziehbaren Situationen. Die Präsidentin eines gut funktionierenden Samaritervereins erzählt, dass eine ihrer drei Samariterlehrerinnen von Beruf Rettungssanitäterin sei und dennoch «einigen Aufwand» betreiben musste, damit sie weiterhin Vereinsübungen leiten und Kurse erteilen könne. Einreichen musste sie das Rettungssanitäter HF
-Diplom, das SVEB 1-Zertifikat2 und einen Lebenslauf. Sie musste einen Online Kurs absolvieren und die OVKW 20163 besuchen. Da sie als diplomierte Rettungssanitäterin HF als «Professional» gilt, musste sie zumindest keine separaten Aufschulungs- oder Präsenzkurse besuchen. Momentan ist jedoch noch nicht geprüft, ob alles für den Ausbilder Stufe 3 IVR ausreicht.
Samariterlehrer, die bis anhin neben den monatlichen Vereinsübungen auch Bevölkerungs- und Firmenkurse gegeben haben, dürfen jetzt nur noch die Vereinsübungen leiten, wenn sie sich nicht mittels einer Passerelle zum Kursleiter 1 aufschulen lassen. Dies, obwohl sie sich nach der fundierten Ausbildung zum Samariterlehrer ständig weitergebildet haben, um auf dem neusten medizinischen Stand zu sein, und über jahrelange Praxis verfügen. Wer denkt, mit dieser «Aufschulung» sei es getan, täuscht sich. In der Planung 2018 ist zu lesen: «Aufgrund der Zertifizierungsvorgaben des Interverbandes für Rettungswesen (IVR) sind seit 2017 alle Ausbildungskader verpflichtet, eine methodisch-didaktische Weiterbildung zu absolvieren sowie ihre Erst-Helfer-Stufe IVR zu repetieren.» Die Aufschulung und die Weiterbildung bringen laut Teilnehmern fachtechnisch kaum etwas Neues. Neu sind methodisch-didaktische Module, in denen die Vereinskader Präsentationstechniken lernen sollen. Das gehört zur Marketingstrategie! Das alles kostet die Vereine sehr viel Geld, die Samariterlehrer viel Zeit und Nerven! Tatsache ist, dass es keine neuen medizinischen Erkenntnisse gibt, die diesen riesigen Aufwand rechtfertigen würden.
Verheerende Folgen
Der SSB selbst droht unter den Auflagen des IVR zu kollabieren. In Leserzuschriften heisst es: «Von den Kursleitern und den Samariterlehrern verlangt der SSB vollen Einsatz, seitens SSB klappt es überhaupt nicht, nichts funktioniert. Das Ganze ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Man wollte auf Biegen und Brechen etwas durchsetzen, was gar nicht funktioniert. Mit dieser Strategie ist das Samaritersterben vorprogrammiert. Was mir sehr zu denken gibt.» In einer anderen Zuschrift heisst es: «Leider ist es so, dass wegen der unnötigen Umstrukturierungen viele Vereine aufgegeben haben. Wir haben uns alle immer weitergebildet, nicht zuletzt die Samariterlehrer. Nun aber ist vieles kaputtgegangen, nicht zuletzt auch Vertrauen in den SSB! Wir sind aktuell noch einer der grössten Vereine in der Umgebung mit 40 altersmässig gut durchmischten Mitgliedern; aber auch wir müssen kämpfen. Der Milizgedanke geht immer mehr verloren – wir werden an der Professionalisierung noch zu Grunde gehen…» Das darf nicht sein!
«Dieses im ganzen Land verteilte Wissen der Samaritervereine ist die beste Lebensversicherung, die die Schweiz hat. Überall gibt es dank uns Menschen, die spontan, aber kompetent Erste Hilfe leisten können. Dies gilt besonders auch für abgelegene oder periphere Gebiete, in denen die Blaulichtorganisationen oft lange Anfahrtswege haben.»
Monika Dusong, Präsidentin des SSB von 2006–2017
Die Wirtschaft hat den Bürgern zu dienen und nicht umgekehrt!
Samariterarbeit ist Herzenssache, das kann jede Samariterin, jeder Samariter bestätigen. Sie schauen nicht weg, wenn jemand in Not gerät, sondern springen helfend bei. Sie fühlen sich den 7 Grundsätzen des Roten Kreuzes verpflichtet: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit, Universalität. Sie haben sich in eigenem Interesse stets weitergebildet, um fachgerecht helfen zu können. Ich zitiere nochmals Monika Dusong, ehemalige Präsidentin des SSB: «Dieses im ganzen Land verteilte Wissen der Samaritervereine ist die beste Lebensversicherung, die die Schweiz hat. Überall gibt es dank uns Menschen, die spontan, aber kompetent Erste Hilfe leisten können. Dies gilt besonders auch für abgelegene oder periphere Gebiete, in denen die Blaulichtorganisationen oft lange Anfahrtswege haben.» Sie hat recht, die Samariterinnen und Samariter verfügten schon vor den unnötigen Umstrukturierungen über ein sehr fundiertes Wissen in Erster Hilfe, waren in ihren Gemeinden gut vernetzt, arbeiteten mit den Feuerwehren vor Ort zusammen und leisteten bei zahlreichen Anlässen Sanitätsdienst, wo sie Hand in Hand mit den professionellen Rettungsorganisationen arbeiteten.
Samariterinnen und Samariter sind Menschen der Tat und nicht der grossen Worte. Es geht ihnen nicht um Ruhm, Ansehen, Gewinn und Macht, sondern darum, falls nötig, helfen zu können. Diese intrinsische Motivation droht mittels sogenannter Qualitätssicherung in einer Flut von Vorgaben, Reglementen und Auflagen erstickt zu werden. Es ist zynisch, wenn Monika Dusong im oben erwähnten Interview sagt: «Es kann durchaus sein, dass es aufgrund der Neuerungen während zwei oder drei Jahren in einigen Vereinen eine Durststrecke geben wird, etwa wenn die ‹alten Hasen›, wenn ich das so sagen darf, das Neue nicht mehr mitmachen wollen. Dann müssen zuerst neue Mitglieder aufgebaut werden. Aber hier kommt gerade auch durch die neue Jugendausbildung einiges in Bewegung.» Das ist völlig blauäugig gedacht. Die Erfahrung und das Wissen all jener langjährigen Samariterlehrerinnen und -lehrer, die auf 2018 zurücktreten, fehlen unwiederbringlich. Es ist nicht nur fachtechnisches Wissen, sondern vor allem die innere Haltung, die gelebte Mitmenschlichkeit und die Fähigkeit, einen Verein zu einer menschlichen Gemeinschaft zusammenzuführen, was in der bisherigen Samariterarbeit ganz natürlich von der älteren an die jüngere Generation weitergegeben wurde. Dies kann durch keine noch so qualitätsgeprüfte, standardisierte Ausbildung und schon gar nicht mit E-Learning geleistet werden.
Die Folgen der Ökonomisierung und Kommerzialisierung von Gesundheit, Bildung und Service Public sind längst absehbar: Das Milizwesen, das freiwillige Engagement der Bürger für das Gemeinwohl wird im Zwangskorsett von Vorgaben und Kontrollen erstickt, die Qualität der Dienstleistungen nimmt eher ab als zu, die Kosten steigen, und die Bürokratie wird aufgebläht. Gründe genug, innezuhalten und sich auf die Grundlagen unseres Staatswesens zu besinnen: In der direkten Demokratie ist der Bürger die oberste Instanz und nicht die Gewinnmaximierung!
1 «Samariter» 01/2016
2 Gesamtschweizerisch anerkanntes Zertifikat für Kursleiter in der Erwachsenenbildung
3 Obligatorische Vereinskaderweiterbildung
Die Spannungen auf der Welt haben zugenommen
«Schweizer Armee muss Verfassungsauftrag erfüllen»

Zeitgeschehen im Fokus Welche Rüstungsgeschäfte stehen in der nächsten Zeit an?
Nationalrat Jakob Büchler Was jetzt ansteht, und zum Glück hat der Bundesrat das jetzt eingesehen, ist ein Gesamtsystem für die Verteidigung, und zwar am Boden und in der Luft. Die bodengestützte Luftabwehr brauchen wir. Unsere Luftabwehr steht heute auf schwachen Füssen. Wir arbeiten mit alten Systemen. Was die Raketenabwehr anbetrifft, haben wir wenig zur Verfügung. Dazu brauchen wir bis 2030 eine gut abgestimmte Luftabwehr, um den Schutz in der dritten Dimension zu gewährleisten. Wir brauchen die bodengestützte Luftabwehr, auch weil Kampfflugzeuge allein nicht alles abdecken können.
Sind die Luftwaffe und die Luftraumverteidigung im Moment die einzige Schwachstelle?
Wir müssen auch die Artillerie und die Panzertruppen modern ausrüsten. Wir haben zum Teil 40 bis 50 Jahre alte Maschinen, die wir bald nicht mehr gebrauchen können. Man kann sie zwar immer noch einsetzen und revidieren, aber das geht auch nicht ewig. Aufgrund dieser Lage haben wir einen «Beschaffungsstau». Die Armee muss einige Anschaffungen machen, aber es geht nur, indem man das Gesamtsystem am Boden wie in der Luft neu aufstellt und aufeinander abstimmt. Spätestens ab 2035 müssen wir diesen Zustand erreicht haben.
Was bedeutet das für unser Budget?
Wir wissen, dass das mit grossen Herausforderungen verbunden ist. Die Bundesfinanzen steigen stetig an um ca. 700 Millionen Franken pro Jahr. Wir haben jetzt ein Bundesbudget von 72 Milliarden. Vor 10 Jahren waren es noch 60 Milliarden. Dabei gibt es Departemente, die einen grossen Zuwachs pro Jahr haben. Das ist aber nicht bei der Landwirtschaft und nicht bei der Armee, hier ist es stagnierend bis leicht abnehmend. Die Armee braucht jetzt für die beiden neuen Luftabwehrsysteme in den nächsten Jahren 9 Milliarden, die der Bundesrat bereitstellen möchte. Das verteilt sich über mehrere Jahre. Jedes Jahr gibt es eine neue Diskussion um das Budget. Das heisst, wenn wir ein Waffensystem im Parlament beschlossen haben, wird es jedes Jahr zu neuen Verteilkämpfen kommen. Das wird eine grosse Herausforderung sein.
Neun Milliarden scheint ein hoher Betrag. Warum brauchen wir jetzt so viel Geld für die Armee?
Die Armee hat einen Verfassungsauftrag zu erfüllen, und ich stelle fest, dass wir in weiten Teilen der Armee eine Überalterung bei den Systemen erkennen können. Dazu kommt, dass wir im Bereich der Cyber-Abwehr einiges machen müssen. Wir haben eine Motion von Ständerat Josef Dittli überwiesen, die verlangt, dass die Armee eine Cyber-Einheit mit den besten Spezialisten aufstellen muss, die wissen, was in diesem Bereich alles passiert, um Gegenmassnahmen ergreifen zu können. Ein Cyber-Angriff kann verheerende Auswirkungen haben.
Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem das deutlich wird?
Ein banales Beispiel: Die Türen zum Hangar, in dem sich die Kampfjets befinden, müssen elektronisch geöffnet werden. Wenn durch einen Cyber-Angriff diese nicht mehr rechtzeitig geöffnet werden können, kann das verheerende Auswirkungen haben. So etwas können wir uns nicht leisten.
Hat die Politik die Armee vernachlässigt, dass jetzt so viele Beschaffungen anstehen?
Das ist natürlich schon so. Man hat zum Beispiel in den Jahren vor der Gripen-Beschaffung nichts anderes auf dem Programm gehabt, denn erst kommt die «grosse Kiste», die neue Luftwaffe. Sie kam aber nicht, was ich persönlich nach wie vor bedauere, aber im Vorfeld hat man ganz viele Beschaffungen zurückgestellt. Ich rede hier von Radschützenpanzern, von Artillerie und ähnlichem. Schon damals standen diese Beschaffungen auf dem Programm, aber um den Gripen nicht zu gefährden, hat man alles hintenangestellt. Danach hatte man eine grosse Beschaffungslücke, und die Rüstungsgüter, die man dringend gebraucht hätte, waren zurückgestellt. Dazu kam noch, dass die Ratslinke nach der verlorenen Gripen-Abstimmung das Armee-Budget gleich noch weiter kürzen wollte, was völlig an der Realität vorbeizielte.
Haben die ganzen Reformen auch ihren Teil zum Zustand unserer heutigen Armee beigetragen?
Die Armee XXI, die der damalige Bundesrat Ogi auf den Tisch gebracht hatte – das weiss man heute – war eine völlige Fehlplanung. Man hat der Armee so extrem die Flügel gestutzt, dass sie kaum noch funktionierte. Zum Beispiel in der Ausbildung. Wiederholungskurse (WKs) und Kaderlaufbahnen wurden verkürzt usw. Das war alles nur zum Nachteil der Armee.
Kann man diese Entwicklung stoppen?
Mit der Weiterentwicklung der Armee (WEA) greift man auf Altbewährtes zurück. Man macht wieder eine Rekrutenschule (RS) und verdient mit ihr den nächst höheren Grad ab, genau wie das in der Armee 95 der Fall war. Die Schnellbleiche der Armee XXI war ein völliger Flop. Junge Leute sind so durch die RS getrieben worden. Nach 8 oder 10 Wochen RS waren sie bereits in der Unteroffiziersschule und wurden vor Soldaten gestellt, die sofort merkten, dass diejenigen keine Führungsqualitäten und keine Ahnung von ihren Aufgaben hatten. Mit anderen Worten, die jungen Offiziersanwärter waren nicht in der Lage, diese Herausforderung zu bewältigen. Wer in der Armee etwas können will, muss wie in einer Berufslehre das Handwerk erlernen. Wer eine Kaderlaufbahn ergreifen will, der muss sich das nötige Können und Wissen aneignen. Wir müssen vieles wieder aufholen, was wir mit der Armee XXI verloren haben.
Vor welchen Herausforderungen steht unsere Armee heute?
Die Bundesverfassung sagt es klipp und klar. Die Armee schützt und verteidigt Land und Leute vor Angriffen von aussen, ob am Boden oder in der Luft. Die Angriffe können sich auf verschiedenen Ebenen abspielen, auch auf der elektronischen. Deshalb muss unsere Armee innert Kürze in der Lage sein, Cyber-Attacken abzuwehren. Sie muss bei Naturkatastrophen und Ähnlichem mithelfen. Mit der WEA müssen 35 000 Mann in 10 Tagen mobilisiert werden können. Die Mobilmachung findet wieder statt, und ab 2018 wird das wieder umfassend geübt. Das ist eine grosse Herausforderung. Die Armee hat einen klaren Auftrag von der Bundesverfassung her, da müssen wir gar nicht weiter diskutieren.
Muss unsere Armee unabhängig bestehen können oder wäre, wie von der Ratslinken vereinzelt gefordert, eine engere Zusammenarbeit mit der Nato eine Möglichkeit?
Die Neutralität unseres Landes gibt uns ganz klar vor, dass wir Schutz und Verteidigung von Volk und Land selbst organisieren und bewerkstelligen müssen. So wie es unsere Bundesverfassung umschreibt. Letzthin habe ich gehört, dass die Nato auf mehr Zusammenarbeit unter den einzelnen Ländern drängt. Mehr gemeinsame Manöver, mehr gemeinsame Materialbeschaffung usw. Gleichzeitig heisst es aber vonseiten der Nato, dass jeder Staat autonom bleiben soll. Das ist doch ein Witz. Wenn man Mitglied der Nato ist, dann muss man mitkämpfen und mitbezahlen. Die Nato ist ein Militärbündnis, das verteidigt, aber auch angreift, wenn es das für nötig befindet, und das wird vom Hauptquartier in Brüssel aus diktiert. Das wollen wir nicht, das Volk wird das nie akzeptieren, und unsere Verfassung verbietet das. Wenn in Deutschland die Särge von irgendwelchen Nato-Einsätzen nach Hause kommen, sind das schwere Schicksalsschläge. Die jungen Menschen haben ihr Leben für die Nato geopfert. Das möchte ich nie erleben. Würden wir unsere Neutralität aufgeben, dann hätte die Schweiz sehr viel verloren.
Wie sehen Sie die Bedrohungslage?
Die hat sich in den letzten Jahren erhöht. Die Idee, dass nach dem Fall der Mauer der Weltfrieden ausgebrochen sei, das war schon damals, unter uns gesagt, realitätsfremd. Im Gegenteil, die Spannungen auf der Welt haben zugenommen, ebenfalls die Terrorgefahr. Dazu kommen die grossen Völkerbewegungen, die uns vor neue Aufgaben stellen. Kurz gesagt: Die heutige Situation erfordert es, dass wir unseren Verfassungsauftrag ohne Wenn und Aber erfüllen und die nötigen Finanzen dafür bereitstellen, damit wir unser Land in jeder Lage schützen und verteidigen können. Wir müssen klar ins Auge fassen, dass unser Land auch von den umliegenden Staaten her niemals vom ewigen Frieden umgeben sein wird. Wenn wir in der Aussenpolitischen Kommission erfahren, was der Nachrichtendienst für Informationen bekommt, dann heisst das alles andere als Entwarnung.
Herr Nationalrat Büchler, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
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Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Art. 58 Armee
1 Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.
2 Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Das Gesetz kann weitere Aufgaben vorsehen.
3 Der Einsatz der Armee ist Sache des Bundes.
«Menschenrechte dürfen niemals als Waffe gegen andere instrumentalisiert werden»
Söldner der Menschenrechte gibt es in Hülle und Fülle, und man findet sie zuhauf in den Reihen der nationalen Menschenrechtsinstitutionen, Nichtregierungsorganisationen, Universitäten, Think Tanks, Ministerien, den verschiedenen Organen der Vereinten Nationen sowie in europäischen, amerikanischen und afrikanischen Menschenrechtskommissionen und -ausschüssen. Eine riesige Menschenrechtsindustrie ist entstanden und hat sich ausgebreitet, die nicht nur jene Menschen anzieht, die sich ernsthaft für die Förderung der Menschenwürde, für Gerechtigkeit, sozialen Frieden und Solidarität einsetzen. Sie zieht auch solche Menschen an, die an gut bezahlten Arbeitsplätzen und der nicht monetären Belohnung interessiert sind, die da heisst Mitglied in einem Club zu sein und zu einer Gemeinschaft von Aktivisten zu gehören, die die Illusion einer Zugehörigkeit zur Avantgarde nährt, beispielsweise zum Club der «Progressiven», der «Erleuchteten» oder der «Guten».
Im Laufe meiner 45-jährigen Erfahrung in Menschenrechtsorganisationen, Universitäten und Institutionen der Vereinten Nationen habe ich zu viele dieser «Söldner» getroffen, die nicht praktizieren, was sie predigen, die sich wie intolerante Ideologen verhalten und ihre Mitmenschen einschüchtern, sie demütigen und eigentlich nur Verachtung für diejenigen zeigen, die auf die praktische Anwendung der Menschenrechte Wert legen. Wie in jedem Geschäft gibt es einen erheblichen Druck in Richtung Konformismus auf das, was die Geldgeber verlangen, nämlich sich den Wünschen der Lobbys zu beugen, «Bandwaggons» beizutreten und «dem Geschmack des Monats» zu huldigen. Diejenigen, die nicht zustimmen oder einfach nur widerwillig «das Seil ziehen», müssen einen Preis zahlen, wobei sie zwischen Selbstzensur, Ausgrenzung oder Ausdauer in einem Don Quijotischen Streben nach Wahrheit wählen können. Heuchelei ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts – sie ist seit Menschengedenken Teil des menschlichen Daseins.
Ungeachtet dessen gibt es echte Menschenrechtler – in Menschenrechtsinstitutionen, Nichtregierungsorganisationen, Universitäten, Think Tanks, Ministerien und Expertenkommissionen. Diese ungenannten Helden im Dienste der Menschheit verdienen unsere Solidarität und unseren Respekt. Ich erinnere mich gerne an viele UN-Kollegen und an meine UN-Chefs Jakob Möller, Theo van Boven, Kurt Herndl, Jan Martenson, Jose Ayala Lasso, Bertie Ramcharan – ich habe viel von ihnen gelernt, vor allem, dass Menschenrechte niemals als Waffe gegen andere instrumentalisiert werden dürfen. In dem Moment, in dem die Menschenrechte nicht mehr als positive Ansprüche und konstruktive Impulse wahrgenommen werden, sondern zu Werkzeugen werden, um politische Feinde zu demontieren, wird die gesamte Philosophie der Menschenwürde und Solidarität untergraben. Unser Entschluss für 2018: Demonstrieren wir täglich für die Menschenrechte unter dem Gesichtspunkt der drei Bs: Besonnenheit, Beharrlichkeit und Begeisterung.
Der Text gibt die persönliche Meinung von Professor de Zayas wieder. Siehe auch www.alfreddezayas.com und http://dezayasalfred.wordpress.com
Mögliche Ursachen und Folgen der Unruhen im Iran
Seit einigen Monaten hat der US-amerikanische Präsident, Donald Trump, den Iran ins Visier genommen. Er kritisierte das Atom-Abkommen, das sein Vorgänger im Amt, Barack Obama, mit dem Iran zusammen mit fünf weiteren Staaten ausgehandelt hatte, und sprach davon, es für nichtig zu erklären. Gleichzeitig warf er dem Iran vor, den internationalen Terrorismus zu unterstützen. In die gleiche Kerbe schlägt auch Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident Israels, der im Iran «die grösste Gefahr für Israel» sieht und die Demonstranten ermutigte weiterzumachen. Mit der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels hat Donald Trump seine enge Verbundenheit mit dem jüdischen Staat signalisiert.
Zusätzlich soll der Iran die Huthi-Rebellen im Jemen in dem seit Jahren andauernden Konflikt unterstützen und für die Unruhen im Land verantwortlich sein. Der Ausschluss Katars aus dem Golfkooperationsrat hängt wohl damit zusammen, dass Katar sich mit dem Iran auf die gemeinsame Ausbeutung des Gasfeldes, das vor den Küsten beider Staaten liegt, geeinigt hat. Seit Monaten wird in den Medien ein Machtkampf zwischen dem erzkonservativen wahhabitisch-sunnitischen Staat, Saudi-Arabien, und dem schiitischen Iran um die Vorherrschaft im Nahen Osten beschworen, besonders als die Sanktionen gegen den Iran etwas gelockert, jedoch inzwischen von Trump wieder verschärft werden sollen. Dabei gilt der Iran immer als Aggressor.
Eingreifen Russlands
Neben Israel ist Saudi-Arabien – bis heute hat es den Staat Israel nicht anerkannt – enger Verbündeter der USA im arabischen Raum. Das Paradoxe daran ist nur, dass gerade Saudi-Arabien massgeblich zum Aufbau und zur Bewaffnung der Terrortruppe IS in Syrien beigetragen hat.¹ Mit Unterstützung der USA hätten die Saudis den bewaffneten Widerstand gegen die Regierung in Syrien organisiert und diesen über die Türkei mit Waffen beliefert. Ziel der Operation sei es, den syrischen Präsidenten Assad zu stürzen und das Land zu fragmentieren.2
Als der Krieg in Syrien immer heftiger wurde und das syrische Militär sich gegen die Umsturzversuche erfolgreich wehrte, hiess es bei den EU-Staaten und den USA an verschiedenen Uno-Konferenzen jahrelang: «Mit Assad wird nicht verhandelt, Assad muss weg!», was nichts anderes bedeutete, als den Krieg bis zu seinem Sturz weiterzuführen, mit Tausenden von unschuldigen Opfern.³ Vereitelt wurde dieser Plan nur durch das von Syrien erbetene Eingreifen Russlands und des Iran. Nachdem diese Allianz den IS immer weiter in die Defensive getrieben hatte, mussten die sich bisher sehr verhalten zeigenden USA aktiv in den Kampf gegen den IS eingreifen, um nicht sämtliche Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Der IS ist heute nahezu aufgerieben und spielt im syrischen Krieg nur noch eine untergeordnete Rolle.4 Wo diese Kämpfer wieder auftauchen werden, um ihr Unwesen zu treiben, bleibt abzuwarten.
Trump bekundet Solidarität
Seit dem 28. Dezember 2017 gibt es Unruhen im Iran. In mehreren Städten gehen Menschen auf die Strasse und protestieren zunächst gegen Arbeitslosigkeit und schlechte Löhne und zwei Tage später auch gegen das Staatssystem. Ein bekanntes Strickmuster? Ist uns von den vergangenen verschiedenen «Farbenen Revolutionen» nicht Ähnliches bekannt? In der Ukraine z. B. endeten die monatelangen Protestaktionen, die massgeblich von den USA und der EU unterstützt wurden, in einem Staatsstreich.5 Präsident Trump liess es sich denn auch nicht nehmen, über Twitter seine Solidarität mit den Protestierenden im Iran zu bekunden, und liess verlauten, sie in ihrem Anliegen «nach mehr Freiheit und Demokratie» unterstützen zu wollen. Alles nur Zufall? Wenn Donald Trump beabsichtigt, über den Uno-Sicherheitsrat in die inneren Angelegenheiten des Iran einzugreifen, scheint das ein weiterer Versuch zu sein, die iranische Regierung unter Druck zu setzen und das Land zu destabilisieren. Verschiedene Staaten haben jedoch den Vorstoss der US-Botschafterin im Uno-Sicherheitsrat abgelehnt und damit den Plan der USA vereitelt.6
Mag sein, dass im Iran nicht alles zum besten bestellt ist und nicht alle Menschen mit der Regierung zufrieden sind. Der Staat leidet unter dem tiefen Ölpreis, aber auch ganz besonders unter den illegalen unilateralen Sanktionen, verhängt von den USA und teilweise auch der EU. Auch die Menschenrechtslage steht immer wieder in der Kritik. Aber in wie vielen der 193 Uno-Staaten ist das anders, obwohl sie keine Sanktionen zu gewärtigen haben? Der aufmerksame Beobachter der Situation hat ein Déjà-vu-Erlebnis. Als die USA und die Nato 2011 auf einen Krieg in Libyen drängten, um «friedliche» Demonstranten vor Gaddafis Brutalität zu schützen, erwirkten sie eine Uno-Sicherheitsratsresolution, die ein militärisches Eingreifen in Libyen ermöglichte und das Land völlig zerstörte. Deutschland, zu dem Zeitpunkt Mitglied im Sicherheitsrat, sowie Russland und China enthielten sich damals der Stimme. Der damalige deutsche Aussenminister, Guido Westerwelle, argumentierte, dass man mit der Begründung, warum man in Libyen intervenieren wolle, in 60 bis 70 Staaten hätte militärisch eingreifen können.7
Bushs «Achse des Bösen»
Wie Afghanistan, Libyen und Syrien gehört laut dem ehemaligen US-Präsidenten, George W. Bush auch der Iran zur «Achse des Bösen», und Trump befindet sich in dieser Tradition, wenn er von einem «Schurkenstaat» spricht.8 Was den drei erstgenannten Ländern widerfahren ist, ist sattsam bekannt. Soll jetzt der Iran ein weiteres Opfer dieser arroganten imperialen Machtpolitik sein, wie sie von den USA und ihren Verbündeten seit mehr als 70 Jahren betrieben wird? Proteste schüren, die vielleicht sogar berechtigte Unzufriedenheit der Menschen anheizen, um das Land ins Chaos zu stürzen, damit wie in Libyen ein «Regime-Change» erreicht wird?
Bereits die Sanktionen, die der Westen gegen den Iran verhängt hatte, setzten dem Land ungeheuer zu. Für viele Iraner ist dieses Szenario nichts Neues. Als 1953 der demokratisch gewählte Premier Mohammed Mossadegh mit Hilfe der CIA gestürzt wurde und Schah Reza Pahlewi an die Macht kam, gingen diesem von aussen befeuerte und organisierte Strassenunruhen sowie ein Boykott von lebenswichtigen Ölexporten voraus. Mossadegh wollte die riesigen Gewinne aus der Ölindustrie nicht mehr allein dem Ausland zukommen lassen, sondern eine paritätische Verteilung. Das war zu viel für die britischen und die US-amerikanischen Ölfirmen. Zuerst wurden Sanktionen verhängt und danach das Land mit von aussen gesteuerten Demonstrationen aufgewiegelt und am Schluss Mossadegh gestürzt. Danach wurde der USA-treue Schah auf den Thron gehievt.9
Ein zweites Syrien verhindern
Wenn der iranische Präsident Rohani der Bevölkerung das Recht auf Demonstration zugesteht, sie aber auf die Einhaltung der Gesetze verpflichtet, passt das nicht so ganz ins Bild, das die Mainstreammedien vom Iran zeichnen. Wenn die breite Masse der Bevölkerung erkennt, dass es bei den Protesten nicht um ihre Freiheit geht, sondern um das Einbinden des Irans in das neoliberale System, wird der Spuk wahrscheinlich bald ein Ende haben. Den Menschen geht es zwar dann noch nicht besser, aber damit kann vielleicht ein zweites Syrien verhindert werden.
1 Karin Leukefeld: Flächenbrand, 2015, S. 91ff.
2 ebenda, S. 85ff. und Michael Lüders: Die den Sturm ernten, 2017, S. 86ff.
³ Fritz Edlinger (Hg.): Der Nahe Osten brennt, 2017, S. 50 ff.
⁴ NZZ vom 30.12.2017: Wie 2018 zu einem Friedensjahr werden kann
5 Willam F. Engdahl: Krieg in der Ukraine, 2014, S. 26ff.
6 NTV: Kritik – USA blamieren sich vor dem UN-Sicherheitsrat. 6.01.2018
7 Zeitgeschehen im Fokus No. 7, 20. Mai 2017 Interview mit Andrej Hunko, S. 2
8 Michael Lüders: Die den Sturm ernten, 2017, S. 77ff.
9 Oliver Stone, Peter Kuznick: Amerikas ungeschriebene Geschichte, 2016, S. 176ff.
Iran zu Beginn des Jahres 2018
Im Jahr 1953 stürzten Washington und Grossbritannien die demokratisch gewählte Regierung Mohammad Mossadeghs und installierten einen Diktator, der den Iran zum Vorteil Washingtons und der Engländer regieren sollte. In freigegebenen Dokumenten gestand die CIA ihre Rolle bei der Beseitigung der iranischen Regierung ein. Das Muster für einen Staatsstreich ist immer dasselbe. Washington heuert Protestierende an, schürt dann Gewalt, kontrolliert die Berichterstattung und jagt die Regierung aus dem Amt.
Seit die Iranische Revolution im Jahre 1979 den von Washington installierten Diktator gestürzt hat, versuchte Washington die Kontrolle über den Iran zurückzugewinnen. 2009 finanzierte Washington die «Grüne Revolution», die ein Versuch war, die Regierung Ahmadinejads loszuwerden.
Heute ist Washington wieder gegen das iranische Volk aktiv. Es ist kaum zu glauben, dass irgendein Iraner guten Glaubens gegen seine eigene Regierung auf die Strasse gehen würde, nachdem er gesehen hat, was die von Washington organisierten Proteste in Honduras, Libyen, der Ukraine und Syrien angerichtet haben, und was sie versucht haben, im Jahr 2009 dem Iran und heute Venezuela anzutun. Sind diese protestierenden Iraner vollkommen dumm oder wurden sie angeheuert, um Verrat gegen ihr Land zu begehen?
Warum lässt der Iran Versuche vom Ausland bezahlter Agenten zu, die Regierung zu destabilisieren, wie es die Ukraine tat und wie es Venezuela heute tut? Sind diese Regierungen einer solchen westlichen Gehirnwäsche unterzogen worden, dass sie denken, Demokratie bedeute, die Erlaubnis zu erteilen, die Regierung zu stürzen?
Sind Regierungen von den westlichen Medien so eingeschüchtert worden, dass sie es schwierig finden, sich gegen vom Ausland bezahlte Provokateure zu verteidigen?
Nach der erfolgreichen Provokation gewalttätiger Proteste im Iran beabsichtigt Washington nun eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats zum Thema Iran dazu zu benutzen, den Boden für weitergehende Eingriffe gegen das Land zu bereiten.
Die von Washington angezettelte Gewalt wurde in ein «Menschenrechtsproblem» des Iran verwandelt. Wird Washington damit durchkommen?
Das Schicksal des Iran hat Auswirkungen auf Russland und China. Wenn es Washington gelingt, den Iran zu destabilisieren, sind Russland und China als nächste dran. Russland scheint dies begriffen zu haben. Russlands Vizeaussenminister sagte neulich: «Wir warnen die USA vor Versuchen, sich in die inneren Angelegenheiten der Islamischen Republik Iran einzumischen.»
Genauso wie die russische Regierung verstanden hat, dass Russland die Destabilisierung Syriens durch die USA nicht zulassen kann, so versteht Russland auch, dass es die Destabilisierung des Iran nicht zulassen kann.
Der Staatschef der Türkei stellte sich hinter Russland und erklärte: «Offensichtlich schüren einige Leute vom Ausland aus Unruhen.»
Dies ist für jeden offensichtlich, ausser für Amerikaner, die ununterbrochen von «ihrer» Regierung und den medialen Lügenfabriken wie CNN, New York Times, Washington Post und BBC belogen werden.
Trump und Haley sind die Typen von Grossmäulern, die wahrscheinlich Washingtons Macht über die Welt und den Einfluss auf sie zerschlagen werden. Sie bedienen sich bekannter Namen, lassen zu, dass ausländische Führer gekauft werden, und stossen unsinnige Drohungen aus. Wenn das nicht den Rest der Welt aufwachen lässt, dann wird es wohl nie geschehen. ν
Quelle: www.paulcraigroberts.org/2018/01/05/iran-2018-paul-craig-roberts/
Übersetzung «Zeitgeschehen im Fokus»
Venezuela: «Die Sanktionen müssen beendet werden, und der Wirtschaftskrieg muss aufhören»
Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred M. de Zayas, Unabhängiger Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung
Professor Dr. Alfred M. de Zayas weilte vom 26. November bis 4. Dezember 2017 in Venezuela. Er hatte im August um eine Einladung gebeten, der im September stattgegeben wurde. Damit war Alfred de Zayas seit 1996 der erste Uno-Berichterstatter, der offiziell nach Venezuela eingeladen wurde. Alfred de Zayas wollte mit der Reise erforschen, wie die Bolivarische Revolution die Menschenrechte – vor allem die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte – umsetzt. Dabei war es ihm ein besonderes Anliegen, die Berichterstattung in unseren Medien mit der Realität zu vergleichen. Um sich ein möglichst objektives Bild zu machen, traf der Uno-Experte 35 Nichtregierungsorganisationen, Vertreter von Industrie und Handel sowie Angehörige von Inhaftierten. Neben einer Vielzahl von Ministern der Regierung kam er zweimal mit dem amtierenden Aussenminister Jorge Arreaza und seinem Stab zusammen. Während seines Aufenthalts konnte er sich, wie in «Zeitgeschehen im Fokus» (Nr. 18 vom 23. 12. 2017) bereits berichtet, frei bewegen. Auch hielt er an der Universität von Caracas eine Vorlesung. Im folgenden Interview berichtet der Uno-Experte über seine Eindrücke und Erfahrungen in Venezuela.
Professor Alfred M. de Zayas im Gebäude der Asamblea Nacional Constituyente in Caracas. (Bild zvg)
Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Lage in Venezuela nach Ihrem Aufenthalt?
Professor Alfred de Zayas Die Bolivarische Revolution, die sich in Venezuela vollzogen hat, hat ein Modell entwickelt, das in den ersten 10 Jahren sehr gut funktionierte. Das ist zum Teil mit dem hohen Ölpreis zu erklären. Venezuela ist zu 95 % von den Öleinnahmen abhängig. Mit diesen Einnahmen hat der Staat viele soziale Projekte finanzieren können. Aber jetzt, wo der Ölpreis um mehr als die Hälfte gesunken ist, hat das natürlich massive Konsequenzen für die wirtschaftliche Situation des Landes.
Wodurch zeichnet sich das Modell in Venezuela aus?
Es ist ein soziales Modell, das eine gerechtere Verteilung des Reichtums im Land erreichen will. Inzwischen sind 2 Millionen Wohnungen der armen Bevölkerung übergeben worden. Damit kamen etwa 8 Millionen Menschen in den Genuss einer zahlbaren Wohnung. Es gibt auch das sogenannte System des CLAP (Comité Local de Abastecimiento y Producción – Örtlicher Ausschuss für Versorgung und Produktion), bei dem die Regierung Lebensmittelpakete an die Ärmeren verteilt. Diejenigen, die das nicht finanzieren können, bekommen die Pakete natürlich gratis.
Was enthält ein solches Paket?
Ich habe eines geöffnet. Es sind 16 kg Lebensmittel darin: Zucker, Reis, Speiseöl, Mehl, Maismehl, Milchpulver etc. Das bekommt eine Familie zweimal im Monat. Deshalb gibt es keine «Hungersnot» in Venezuela, trotz Medienberichten und Verallgemeinerungen. Leider herrscht Mangel in mehreren Sektoren, und manche Produkte sind schwer zu bekommen, aber die Bevölkerung hungert nicht wie z. B. in vielen Ländern Afrikas und Asiens – oder gar in den Favelas von São Paolo. Es gibt vor allem Probleme bei der rechtzeitigen Verteilung der importierten Produkte – aber dies liegt überwiegend in der Verantwortung des privaten Sektors, der die Verteilung oft genug boykottiert, und manchmal die Produkte in grossen Warenhäusern lagert, um sie dann nicht den Supermärkten zu liefern, sondern auf den schwarzen Markt zu bringen, um so grösseren Profit zu machen.
Was ist besonders an der «Bolivarischen Revolution»?
Sie ist ein Alternativmodell zum puren Kapitalismus. Sie ist kein «Marxismus», und schon gar kein «Marxismus-Leninismus». Sie ist ein Versuch, dem kapitalistischen System ein menschliches Gesicht zu verleihen. Seit 1999, als Hugo Chávez an die Macht kam, fand eine Reorientierung des Landes statt, die Schule machen könnte. So hat man innert kürzester Zeit den Analphabetismus beseitigt. Die Schule ist gratis vom Kindergarten bis zur Universität. Übrigens sehen wir das Gleiche auch in Kuba. Es ist eine Priorität des Landes, den Analphabetismus und die extreme Armut zu beseitigen.
Wenn man heute in der New York Times liest oder sich bei CNN oder UN-Watch etc. über Venezuela «informiert», stösst man immer wieder auf den Begriff der «humanitären Krise» …
… ich warne vor diesem Terminus technicus, weil eine «humanitäre Krise» leicht instrumentalisiert werden kann, um eine sogenannte «humanitäre Intervention» zu rechtfertigen oder einen «regime change» anzustreben, unter dem Vorwand, die Regierung lasse es zu, dass die Bevölkerung verhungere. Manche Staaten wollen der venezolanischen Regierung unterstellen, dass sie die Rechte der Bevölkerung nicht mehr garantieren könne. Dadurch sei eine humanitäre Krise entstanden, und so könnten sie von aussen militärisch eingreifen. Darum geht es.
Wie ist die Situation konkret vor Ort?
Ich war 8 Tage in Venezuela, ich konnte mich überall frei bewegen. Ich konnte nirgends Strassenkinder sehen, ich habe nirgends Menschen gesehen, die gebettelt haben. In ganz Caracas habe ich keinen einzigen Bettler gesehen. Dabei ging und fuhr ich quer durch die ganze Stadt. Ich bin auch durch die ärmeren Viertel gelaufen, und ich habe nichts davon bemerkt. Ich behaupte keinesfalls, dass es so etwas nicht gebe, aber ich behaupte, dass die Fälle, die es gibt, in keiner Weise repräsentativ sind. Ich sah hier und da eine Schlange Menschen, die auf den Verkauf von einigen Produkten wartete. Aber die Menschen waren dabei guter Laune. Ich sah keine Unruhe, obwohl die Presse immer wieder von so etwas berichtet.
Menschen, die betteln, sind in unseren westlichen Industrienationen an der Tagesordnung. Niemand käme wegen Bettlern auf die Idee, z. B. in Deutschland von einer humanitären Krise zu sprechen.
In Venezuela habe ich keine bettelnden Menschen gesehen. Es gibt Armut, aber die Bevölkerung ist nicht so, wie ich die Menschen in der DDR damals in den 70er Jahren wahrgenommen hatte: Sie waren depressiv oder liefen mit fahlen Gesichtern herum, traurig und deprimiert. Die Bevölkerung auf der Strasse in Caracas zeigt sich vergnügt. Ganz normal wie in anderen Städten auch, überall sind Autos, Motorräder und Fahrräder unterwegs.
Können sich die Menschen mit Lebensmitteln versorgen?
Früchte gibt es genug. Die Menschen essen Bananen oder Mangos auf den Strassen. Mangel gibt es bei jenen Produkten, die die inländischen und ausländischen Monopole bestimmen.
Wie sieht es in den Supermärkten aus?
Ich habe mehrere Lebensmittelläden und Märkte besucht – und auch fotografiert. Es stimmt nicht, dass die Lebensmittelläden leer sind. Gewiss, einige haben leere Regale – ich habe von Nichtregierungsorganisationen (NGOS) solche Bilder bekommen – aber es gab immer genug von allem. Natürlich gibt es einige Produkte, die importiert werden, die Venezuela selbst nicht herstellen kann. Die sind Mangelware. Aber man kann sehr gut ohne diese Produkte leben. Dass die Versorgung mit Hygieneartikeln für Frauen oder Windeln für die Babys Mangelware sind, hängt damit zusammen, dass diese Artikel importiert werden. Allerdings kann man alles auf dem schwarzen Markt bekommen – jedoch extrem verteuert.
Wird hier gezielt ein Mangel erzeugt, um die Unzufriedenheit der Menschen mit der Regierung zu schüren?
Es gibt Studien und statistische Daten von mehreren Universitätsprofessoren, die das Phänomen erforscht haben – vor allem, warum und wieso Versorgungsengpässe immer schlimmer werden, gerade wenn Wahlen oder Referenden bevorstehen. Das soll die Menschen negativ beeinflussen, so dass sie gegen die Regierung stimmen. Dies nennt man auf Spanish «voto castigo» (Strafstimme). Wenn man einen Artikel aus der New York Times liest, dann steht da drin, dass in Venezuela Versorgungsengpässe bestehen, z. B. auch bei Medikamenten. Aber nirgends steht, warum das so ist. Nirgends steht, dass der Privatsektor die Devisen hat, um die notwendigen Medikamente zu importieren. Dies wird nicht gesagt. Es wird auch nicht gesagt, dass bei subventionierten Produkten ein riesiger Schmuggel entstanden ist – man kann subventionierten venezolanischen Reis oder Mehl in Bogotá kaufen.
Was sind die Gründe für diese Phänomene?
Es gibt eine ganze Reihe Gründe, die ich bei meinem Aufenthalt beobachten konnte. Ich muss sie eingehender studieren. Ich habe ausführliche Dokumentationen von verschiedenen Quellen erhalten, die ich erst noch verdauen muss. Es gibt auch sehr gute Bücher darüber. Eine Ökonomin in Caracas, Professor Dr. Pasqualina Curcio, hat in ihrem Buch genauestens erklärt, wie der Wirtschaftskrieg gegen Venezuela diese Situation des Mangels verursacht, und zwar ganz gezielt. In der Zeit um die Wahlen – ungefähr zwei, drei Monate vorher – verschwinden die Waren. Besonders Hygiene-Artikel kann man nicht mehr besorgen. Allerdings hat man, und das ist auch dokumentiert, Lagerhäuser gefunden, die mit diesen Produkten gefüllt waren. Ich habe diesbezügliche Dokumentationen mit Bildern erhalten.
Man setzt also den künstlich erzeugten Mangel bewusst ein?
Ja, die Waren werden nicht an die Supermärkte ausgeliefert, sondern auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen gehandelt. Ein weiteres Problem, das ich auch der Regierung mitgeteilt habe, sind die Preiskontrollen. Sie sollten den Ärmeren lieber eine direkte finanzielle Unterstützung geben, anstatt eine Preiskontrolle durchzuführen.
Was kann man damit verhindern?
Die Gefahr ist die Korruption und der Schwarzmarkt. Die Menschen sind Menschen, und wenn sie subventionierte Waren kaufen können, ist die Versuchung, diese subventionierten Waren zu einem höheren Preis wieder zu verkaufen, zu gross. Es gibt ein Riesengeschäft mit subventioniertem Maismehl, mit subventioniertem Reis, den man dann in Kolumbien, Brasilien, Aruba kaufen kann. Die Waren werden über die Grenze geschmuggelt. Venezuela hat eine sehr lange Grenze mit Kolumbien und Brasilien. Auch die Karibikinseln sind leicht erreichbar.
Wer ist dafür verantwortlich, dass das so funktioniert?
Es gibt eine international organisierte Mafia, die das betreibt, aber anscheinend tun die Regierungen der Nachbarländer nichts, um diesen Schmuggel zu unterbinden. Wenn ein Warenhaus in Bogotá billigen Reis aus Venezuela anbietet, dann müsste man eigentlich davon ausgehen, dass der Händler weiss, woher der Reis kommt: Entweder ist er geklaut oder geschmuggelt. Er ist also auf jeden Fall illegal in das Land gekommen. Die Regierung unternimmt nichts – oder zu wenig – gegen diese Warenhäuser. Ausserdem erlaubt Kolumbien nicht, dass die Währung von Venezuela zu einem festen Kurs gewechselt werden kann. Das hat verheerende Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Finanzlage in Venezuela.
Wie sieht es mit der landwirtschaftlichen Produktion im Land aus?
Sie wird heute ganz gezielt gefördert. Die Regierung steht diesen Angriffen nicht tatenlos gegenüber. Sie hat eine ganze Serie von Massnahmen getroffen. Sie hat auch ein Programm zur Diversifizierung der Landwirtschaft lanciert. Sie will nicht mehr so stark vom Öl abhängig sein und will vermehrt die Produkte selbst herstellen. Aber man hat ein Problem bei der Beschaffung von Saatgut. Denn das ist in den Händen ausländischer Monopolisten, und die Regierung hat Schwierigkeiten, zu anständigen Preisen an dieses heranzukommen.
Inwiefern haben die Sanktionen eine Auswirkung auf die Versorgungslage?
Direkte und indirekte Sanktionen haben die wirtschaftliche Lage in Venezuela schwer getroffen. Der Wirtschafts-, Finanz- und Handelskrieg gegen Venezuela erinnert an die US-Massnamen gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes 1970-73 in Chile und gegen die sandinistische Regierung Daniel Ortegas in Nicaragua in den 1980er Jahren.
Lieferungen aus dem Ausland werden in Dollars gehandelt. Allerdings müssen für die Auszahlung in Dollars unterschriftsberechtigte Personen signieren. Viele der Personen, die dieses Recht zur Signierung haben, befinden sich namentlich auf der Sanktionsliste. Das bedeutet, dass kein Handelspartner es wagt, diese Unterschrift zu akzeptieren. Somit kann die Firma kein Geld verdienen, weil keine Zahlung erfolgen kann, und die Waren kommen nicht nach Venezuela. Die Lieferanten haben Angst, dass sie von den US-Behörden belangt werden – mit Strafen von mehreren zehntausend Dollar, wenn sie sich nicht an das Sanktionsregime der USA halten.
Für welche Waren oder Wirtschaftszweige gelten die Sanktionen?
Das ist das nächste Problem. Niemand weiss eigentlich, wie weit sie reichen. Es liegen ihnen sogenannte Gummiparagraphen zugrunde, die man so oder so auslegen kann. Doch wer will schon Strafe zahlen müssen? Also halten sich viele internationale Firmen zurück und gehen lieber kein Risiko ein. Für Venezuela ist das verheerend. Es ist ein Chaos.
Was würde dem Land helfen?
Die Sanktionen müssen beendet werden. Der Wirtschaftskrieg muss aufhören, das wäre die grösste Hilfe für das Land. Aber das, was in Venezuela zu beobachten ist, sind die Folgen eines gezielten Wirtschaftskriegs. Es sind sehr viele Länder, die hier mitmachen, auch aus Europa. Die Desinformation über Venezuela ist erfolgreich gewesen – sogar bei Menschen, die besser informiert sein müssten. Man muss vor Ort gewesen sein, um zu sehen, dass es nicht so ist, wie man es in der New York Times liest. Wenn man die Mainstreammedien anschaut, hat man den Eindruck, das Land sei nahe an der Katastrophe. Tatsache ist, das Land ist reich und mit ein bisschen Kooperation und Solidarität könnte es sein Öl, sein Gold, sein Bauxit gut verkaufen. Venezuela muss jetzt viel Handel mit China und Indien betreiben, weil der Handel mit den USA und Europa sehr eingeschränkt ist.
Ist der Ölhandel ebenfalls den Sanktionen unterstellt?
Ja, zum Teil. Die Sanktionen sind sehr komplex. Es ist nicht so, dass ein Verkauf nicht erfolgen kann, sondern er ist mit so vielen Hindernissen verbunden, und es gibt so viele Auflagen und Verzögerungen, dass viele Leute sagen: «Wir handeln lieber nicht mit Venezuela, es gibt zu viele Unwegsamkeiten.»
Während Ihres Aufenthalts konnten Sie sicher auch mit der Bevölkerung sprechen. Was haben Sie hier für einen Eindruck gewonnen?
Viele sind etwas resigniert, weil sie unter einem Wirtschaftskrieg zu leiden haben. Aber wenn es zu Wahlen kommt, gewinnt Maduro. Die Mehrheit der Bevölkerung macht nicht die Regierung dafür verantwortlich, sondern beschuldigt die USA, Europa, Kolumbien etc. Als die verfassungsgebende Versammlung gewählt werden sollte, gab es zunächst vier Monate davor sehr gewalttätige Demonstrationen. In den ausländischen Medien lasen wir von «friedlichen» Demonstrationen. In Tat und Wahrheit waren es Gewaltorgien mit Molotow-Cocktails und Sprengkörpern. Es war nahezu Terrorismus, der viele normale, unpolitische Menschen traf, wenn z. B. ein Lieferant von A nach B fahren musste, aber die «guarimbas» (gewalttätige Demonstrationen mit Barrikaden) ihm den Weg versperrten. Da sind mehrere einfache Menschen getötet worden, die nur von A nach B wollten. Ausserdem haben Demonstranten Spitäler und Kindergärten angegriffen, um die Menschen einzuschüchtern. Ist das etwa nicht klassischer Terrorismus?
Hatten die Demonstrationen mit diesen Methoden Erfolg?
Nein, es sind 8,5 Millionen Menschen zur Urne gegangen. Bei den Kommunalwahlen am 15. Dezember sind mehr als 9 Millionen zur Urne gegangen. Die Opposition hat keinen Erfolg, die Bevölkerung umzustimmen, aber die Polarisierung des Landes ist gewaltig. Gemäss den Medien in den USA oder in Europa muss man die Regierung dringend aus dem Amt jagen. Man darf nicht vergessen, dass diese Regierung bereits 1999 demokratisch gewählt wurde, im Jahre 2002 einen Staatsstreich überstand, weil die Bevölkerung und die Armee verhindert haben, dass Chávez getötet wurde. Auch das 2004 anberaumte Abwahlreferendum hat Chávez mit einem Glanzergebnis gewonnen. Nach seinem Tod 2013 wurde Maduro ins Amt gewählt, was ebenfalls mit Terror seitens der Opposition begleitet wurde.
Wie ist die Regierung mit all diesen organisierten Angriffen umgegangen?
Sie hat versucht, einen gewaltsamen Umsturz zu verhindern und die verfassungsmässigen Rechte zu bewahren. Dabei sind natürlich etliche Fehler passiert. Wenn eine Regierung so unter Druck ist, dann muss sie auch schnell handeln. Wenn man schnell handelt, macht man Fehler. Man schiesst über das Ziel hinaus. Dazu gehören z. B. die Subventionen und Preiskontrollen. Das sollte man beenden. Das wird natürlich eine Zeit des Übergangs brauchen, aber die Regierung sollte das ändern, und diejenigen, die gezielt Hilfe brauchen, sollten diese auch bekommen.
Welche Agenda führt die Opposition?
Man möchte die Jahre unter Chávez und Maduro löschen und zu einem urkapitalistischen Modell zurückkehren. Es gibt aber mindestens 8 Millionen Chavistas, und sie werden nicht verschwinden. Diese Wähler sind überzeugt von dem Programm der Regierung. Diese Menschen werden es nicht zulassen, dass die sozialen Errungenschaften einfach weggefegt werden. Wenn die Wirtschaft trotz der ständigen Angriffe nicht ganz zusammenbricht, wird sich die Regierung kaum beseitigen lassen. Die Verwaltung und die Armee stehen auf der Seite der Regierung. Der Plan in Washington ist sicher, unter Desinformation über die angeblich miserable Lage im Land mit Hunger, Kindersterblichkeit und einem wirtschaftlich desolaten Zustand einen militärischen Angriff auf Venezuela durchzuführen, um die Regierung aus dem Amt zu jagen. Wir kennen das ja aus anderen Ländern, etwa als im September 1973 die Regierung Salvador Allendes durch einen Putsch entmachtet wurde, und Allende selbst dabei starb.
Wie beurteilen Sie Ihren Aufenthalt?
Ich habe einen ganz anderen Eindruck bekommen, als ich es mir je vorgestellt habe, bevor ich im Land war. Es ist in unseren Medien eine Kampagne gegen das Land im Gang, deren Berichterstattung mit den realen Zuständen wenig zu tun hat. Auch besteht kein Interesse, dass bekannt wird, wie es wirklich in dem Land aussieht. Wochen vor meiner Reise wurde meine Unabhängigkeit, meine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. UN-Watch hat einen Artikel veröffentlicht und meinen Besuch als gefälschte Untersuchung bezeichnet, noch bevor ich einen Fuss auf venezolanischen Boden gesetzt hatte. Einige NGOs haben behauptet, ich sei nicht der richtige Sonderberichterstatter für diese Fragen. Das war, bevor ich überhaupt irgendetwas darüber verlauten liess. Auf meinem privaten Blog zeigte ich ein Bild von einem Supermarkt, der mit Waren gefüllt war. Danach gab es Angriffe gegen mich. UN-Watch hat das Bild gefunden und darauf reagiert. Ich habe das Bild kommentarlos veröffentlicht. Ich wurde als Chavist, als Castrist, als Kommunist etc. angegriffen. Alles, was ich damit zeigen wollte, ist, dass es nicht so ist, wie man uns glauben machen will. Ich hatte so viele Bilder von leeren Regalen gesehen, dass ich meinte, es sei legitim, in meinem privaten Blog ein anderes Foto zu zeigen (das auch meine Beobachtung in anderen Supermärkten wiedergab).
Was haben Sie der venezolanischen Regierung vorgeschlagen?
Ich habe dem Aussenminister sechs Seiten vorläufige Empfehlungen unterbreitet, u. a. institutionelle Verbesserungen, die Aufhebung der Preiskontrollen, die Bekämpfung des Schmuggelgeschäfts und der Korruption, aber immer innerhalb der Rechtsstaatlichkeit. Man muss die UN-Pakte über bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte respektieren. Man muss den Dialog mit der Opposition suchen und dabei viel Flexibilität und Geduld zeigen. Man soll Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert worden sind, entweder entlassen oder vor ein Gericht bringen und einem fairen Prozess unterziehen. Und für die bessere Verwaltung des Landes braucht man vor allem Technokraten, nicht nur Ideologen! Vor allem muss die Regierung beweisen, dass sie es mit den Menschenrechten ernst meint. Korruption muss auf allen Ebenen bekämpft werden, auch mit der Hilfe des UN-Büros gegen Drogen und Verbrechen in Wien (UN Office on Drugs and Crime). Dabei können UN-Organisationen, wie z. B. die Weltgesundheitsorganisation, die FAO (Food and Agriculture Organisation), die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) usw. dazu beitragen, dass die notwendigen Verbesserungen in die Tat umgesetzt werden.
Was halten Sie von den Gesprächen in der Dominikanischen Republik?
Jede Möglichkeit des Dialogs mit der Opposition muss ergriffen werden. Die bisherigen Treffen in Santo Domingo im November und Dezember 2017 haben bereits Früchte getragen. Weitere Treffen sind im Januar vorgesehen. Man soll diese Verhandlungen unterstützen.
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser