Dem Frieden eine Chance geben

von Thomas Kaiser

Als 1945 die Uno gegründet wurde, sassen die fürchterlichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs den Menschen tief in der Seele. Es bestand, wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, ein weltweiter Wunsch nach Frieden, am treffendsten ausgedrückt in dem Aufruf: «Nie wieder Krieg!»

Heute, fast 75 Jahre später, werden immer noch Kriege geführt, obwohl die Verfassung der Uno, die Uno-Charta, den Frieden und die friedliche Konfliktlösung der Staaten als oberstes Prinzip definiert. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ist ausdrücklich verboten. Und dennoch werden die Machtinteressen vielfach über das Völkerrecht gestellt.

Am 10. Dezember 2018 feierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ihr 70jähriges Jubiläum. Sie stellte 1948 einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung hin zu einer friedlicheren und sozialeren Welt dar, der bis heute Gültigkeit hat. Zusammen mit den vier Genfer Konventionen, dem sogenannten Humanitären Völkerrecht, das das Führen eines Krieges im Grunde genommen unmöglich macht, zeigt sich das ständige Streben nach Frieden und Versöhnung. Beispiele für ein friedliches Zusammenleben der Menschen gibt es unzählige. Denn Millionen von Menschen leben trotz unterschiedlichen Kulturen und Sprachen ohne grössere Konflikte zusammen. Die Schweiz legt unter anderem ein beredtes Zeugnis davon ab.

Die Menschen wollen keinen Krieg

Damit der Mensch in den Krieg zieht, braucht es den gezielten Einsatz einer Propagandamaschinerie. Die Menschen wollen keinen Krieg, sie wollen in Frieden leben können. Doch der Krieg hat sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem einträglichen Geschäft entwickelt, und die Zahlen, die das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI aktuell veröffentlicht hat, sprechen eine deutliche Sprache. Es wird gerüstet, und zwar weltweit. Die Waffenlobby ist aktiv, das «Bombengeschäft» verspricht einträgliche Gewinne. Dass in jedem Krieg, ob im Jemen, in Syrien, in Afghanistan, in Palästina oder im Kongo, Menschen sinnlos geopfert werden, scheint das Gewissen der Verantwortlichen kaum zu berühren.

Tatsächlich hat sich die Menschheit alle Instrumente geschaffen, die ein friedliches Zusammenleben der Völker garantieren könnten, und dennoch lesen wir immer wieder von gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Hunderten oder gar Tausenden von Opfern. Wozu das alles?

Konflikte friedlich und im Dialog lösen

Unseren Kindern bringen wir so früh wie möglich bei, dass Konflikte friedlich und im Dialog gelöst werden müssen, dass man auch einmal nachgeben und die eigenen Bedürfnisse hinten anstellen muss. Was sinnvollerweise im kleinen zu gelten hat, muss erst recht im grossen gelten. Denn wenn in einer Auseinandersetzung der gewaltvolle Weg beschritten, also Krieg geführt wird, werden in der Regel nicht nur Tausende und Abertausende unschuldiger Menschen davon betroffen sein, sondern es ist, wie Papst Franziskus es  formulierte, immer eine Niederlage für die Menschheit. Doch was haben Kriege tatsächlich gebracht ausser einer Vielzahl unschuldiger Toter, die gerne gelebt hätten, traumatisierte Generationen, die kaum ins reale Leben zurückfinden, und Völker, die über Generationen verfeindet sind? Satte Gewinne für die Rüstungskonzerne. Nein! Kriege sind das Unmenschlichste, was sich Menschen ausgedacht haben. Leid, Elend, Not und Trauer sind die Folgen.

Sich bewusst gegen den Krieg entscheiden

Spätestens seit der Aufklärung besteht das Bewusstsein, dass der Mensch für sein Tun und Handeln selbst verantwortlich ist. Nichts geschieht einfach so, sondern es sind immer Menschen, die einen Entscheid in diese oder in die andere Richtung fällen. Also kann sich die Menschheit auch ganz bewusst gegen einen Krieg entscheiden. Fragen wir die Menschen, ob sie Krieg oder Frieden wollen. Die Antwort ist eindeutig: Frieden und nichts als Frieden.

Wenn wir verhindern wollen, dass unsere Regierungen – aus welchen Gründen auch immer – Krieg führen, auch mit so wohlklingender Begründung wie «humanitäre Intervention», dann müssen wir sie daran hindern. Schon in den 60er Jahren verlangte der US-amerikanische Senator Wayne Morse, dass die Aussenpolitik in die Hände des Volkes gelegt werden müsse. Würde die Bevölkerung in einem Staat direkt über Krieg und Frieden entscheiden können, gäbe es keine Kriege.

Heute, an der Schwelle zum nächsten Jahr, stehen wir wie jedes Jahr vor der Frage, wie wir langfristig den Frieden auf der Welt sichern können.

Gemeinsam anstehende Probleme lösen

Die Politik spricht von Klimazielen, denen sich die ganze Welt anschliessen sollte. Der CO₂-Ausstoss müsse dringend reduziert werden, so der vielzitierte Satz. Wir sollen Energie sparen, damit die Erderwärmung nicht weiterschreitet. Aber niemand erwähnt die Kriege, die sofort aufhören müssen. Bei allen Bombardements werden Unmengen von CO₂ freigesetzt, aber das scheint die offiziellen Klimaschützer nicht zu beunruhigen. Würden die Kriege aufhören – das wäre möglich – und die Menschheit sich zusammentun, nicht oktroyiert durch irgendeinen Migrationspakt, dann könnten wir gemeinsam die anstehenden Probleme auf dieser Welt lösen, und zwar konstruktiv im gegenseitigen Einvernehmen. Das Milizwesen der Schweiz sowie die Subsidiarität könnten hier Vorbild sein, ganz abgesehen von der direkten Demokratie, die den Bürgerinnen und Bürgern direkte politische Einflussnahme erlaubt. Was Menschen leisten können, wenn sie sich freiwillig einer Sache verschrieben haben und gleichwertig mitgestalten können, ist beeindruckend. Was im kleinen funktioniert, muss auch im grossen möglich sein.

«Ohne Russland gibt es keinen Frieden in Europa und in der Welt»

Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann 

Nationalrätin Yvette Estermann (Bild thk)
Nationalrätin Yvette Estermann (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In unseren Medien finden sich regelmässig negative und sehr polemische Artikel zu Russland, die das Land und seine Regierung oft scharf angreifen. Wie beurteilen Sie das als Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats?

Yvette Estermann Leider wird Russland in unseren Medien häufig negativ dargestellt, und ich sehe die Ursache darin, dass der Westen nach dem Mauerfall sein Feindbild, den «bösen Russen», verloren hatte, den man für alles verantwortlich machen konnte. Heute ist Russland erstarkt, und unter Präsident Putin hat das Land etwas zu sagen. Den Menschen geht es besser, und mir scheint, im Westen ist man etwas neidisch, dass der Präsident im eigenen Land so grossen Rückhalt bei der Bevölkerung geniesst. Deshalb ist man bestrebt, Russland in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Alles Negative muss daher aus Russland kommen. Das ist sehr bedenklich, denn ohne Russland gibt es keinen Frieden in Europa und in der Welt. Wenn man Russland immer beschuldigt und gewisse Entwicklungen nicht akzeptiert, dann werden wir nie Frieden haben.

Der Konflikt mit der Ukraine ist wieder etwas in den Vordergrund gerückt. Und nach den Abläufen im Asowschen Meer haben sich westliche Staaten vorbehaltslos auf die Seite der Ukraine gestellt. Wie beurteilen Sie das?

Wenn ich mich richtig erinnere, haben die beiden Präsidenten Reagan und Gorbatschow im gegenseitigen Einvernehmen für Osteuropa eine neutrale Zone beschlossen, damit die ehemaligen Ostblockländer nicht auf die Seite der Nato gezogen werden. Aber genau das ist passiert. Zuerst hat man sie in die EU aufgenommen und nachher selbstverständlich in die Nato oder auch in umgekehrter Reihenfolge. Hier verstehe ich die russische Regierung, wenn sie sagt, wir haben unsere Sicherheit verloren. Wir haben den Warschauer Pakt nicht mehr, aber die Nato rückt immer näher an unsere Grenzen heran. Das war eine Provokation. Es war ein Fehler, dass man die Ostblockländer sich nicht als neutrale Staaten entwickeln liess. Stattdessen hat man sie auf die Seite des Westens gezogen und Ängste geschürt. 

Wo hat man die Ängste besonders angeheizt?

Das wurde ganz bewusst auf dem Baltikum eingesetzt. Man schürte Ängste, indem man ihnen weismachte, dass sie annektiert würden. Hier hat der Westen noch Hausaufgaben zu erledigen, nämlich dass man sich objektiv in der Russlandfrage verhält und nicht Dinge erfindet, die in die eigene politische Agenda passen.    

Hat die Nato Russland nicht eher in die Enge getrieben als einen Ausgleich gesucht?

Ja, selbstverständlich, nach dem Motto, dass Frieden kein Geld bringt, aber Krieg und Angstmacherei schon. Präsident Putin befindet sich wirklich in einer schwierigen Lage. Wenn er sein Volk schützen möchte, müsste er härter reagieren. Auf der anderen Seite weiss er ganz genau, wenn er härter reagierte, auch wenn es Verteidigung wäre, würde ihm das als Aggression ausgelegt. Das ist das grosse Problem, bei dem sich der Westen bewegen muss. Denn ohne Russland wird es keinen Frieden geben. 

In Syrien wird der Einsatz Russ­lands, der wohl letztlich zu einem Ende des Krieges führen wird, negativ bewertet. 

Man versucht immer etwas Positives ins Negative zu verkehren oder umgekehrt. Ich hoffe, dass es zu einem Treffen zwischen den beiden Präsidenten Putin und Trump kommt und es der Verbesserung der Lage zwischen diesen beiden Ländern dient. Sie wollen dort über die Ukraineproblematik sprechen und den Syrienkonflikt thematisieren. 

Wie muss man das bewerten?

Ich bin davon überzeugt, dass eine Lösung nur auf diplomatischem Weg erreicht werden kann. Viele Leute haben das noch nicht begriffen. Wir sitzen wirklich auf einem Pulverfass! Jede Provokation, jede Aggression kann das Fass zum Überlaufen bringen. Man sollte immer miteinander sprechen, und je mehr man miteinander spricht, um so besser versteht man sich, um so besser ist es für alle. Ausser für ein paar wenige, die mit Krieg und Rüstung viel Geld verdienen. Aber für die Menschheit ist der Krieg ein Elend. 

Sie betonten, wie wichtig der Dialog ist und dass ein friedliches Zusammenleben der Völker nur im Dialog möglich ist. Wie sehen Sie in dieser Beziehung die Rolle der Schweiz?

Die Schweiz hätte wunderbare Möglichkeiten. Zum Glück haben wir mit Russland im Rahmen der Möglichkeiten ganz gute Beziehungen. Wir brechen die Gespräche nicht ab und führen den Dialog auf verschiedenen Ebenen.

An welche Ebenen denken Sie dabei?

Wir pflegen den Austausch im Bereich der Bildung, der Forschung und der Innovation. Es bestehen auch sehr gute wirtschaftliche Beziehungen. Ich sehe immer noch den Frédéric César de la Harpe vor mir, der Erzieher von Zar Alexander I. gewesen ist. Das war der mächtigste Schweizer, weil er den russischen Zaren beeinflussen konnte. Wir brauchen jemanden, der mit Russland ins Gespräch kommt. Es muss eine starke Persönlichkeit sein, die Russland und die russische Seele versteht. Eine Person mit diesem Format wäre im diplomatischen Korps für die Gestaltung der aussenpolitischen Beziehungen sehr wichtig. 

Wo sehen Sie den Wirkungsradius der Schweiz?

Die Schweiz könnte sehr viel bewirken, da wir kein Mitglied der EU und der Nato sind. Die Möglichkeiten wären da, aber sie liegen brach. Wir packen das nicht richtig an. Natürlich, als neutraler Staat wollen wir uns nirgends einmischen, aber wir können unsere Dienste zur Vermittlung anbieten. Es ist so, dass man sich nicht getraut, aktiver zu werden. Doch ich hoffe, dass wir einen Beitrag leisten, um die Beziehung zu Russ­land weiter zu verbessern.

Inwiefern ist Russland wirtschaftlich interessant? 

Für Schweizer Unternehmen ist Russland sehr interessant. Ich bin überzeugt, dass es zu einer Win-Win-Situation kommen kann. Aber man hat zu wenig Mut, der negativen Kampagne, die von einigen westlichen Staaten einschliesslich den USA gegen Russ­land geführt wird, entgegenzutreten. Hier müsste man das ganz sachlich betrachten und sagen: Wir sind neutral, wir möchten mit allen sprechen, mit allen Handel treiben. Man kann die Dinge immer von zwei Seiten anschauen, aber leider vergessen das viele. Viele haben Scheuklappen und wollen die Wahrheit nicht wirklich in Betracht ziehen. 

Da spielen unsere Medien auch eine nicht unbedeutende Rolle.

Ich weiss nicht, ob die Journalisten schon in Russland waren, ob sie mit den Menschen dort gesprochen haben. Sie schreiben etwas hinter einem Tisch, was sie irgendwo aufgeschnappt haben. Heute geht man nicht ins Land und hört den Menschen zu. Man geht ins Internet, und dort schreibt einer vom anderen ab. Wenn jemand eine Abneigung gegen Russland oder die russische Nation hat, dann schreibt er negativ. Die Medien müssen neutral informieren. Man kann natürlich auch seine eigene Meinung darstellen, aber die Leute sind an unverfälschten Informationen interessiert. Aber viele Medien möchten das kleine Stück der Macht auskosten, um die Meinungen der Menschen zu beeinflussen.

Was könnte die Schweiz konkret tun?

Die Schweiz sollte die Beziehungen zu Russland pflegen. Auch das Freihandelsabkommen sollte man wiederbeleben. Man hatte nach der Auseinandersetzung um die Halbinsel Krim 2014 die Verhandlungen abgebrochen. Man spricht hier immer von Annexion, von mir aus war es eine Sezession. Seinerzeit hatte der damalige Präsident Chruschtschow bei einem Abendessen die Krim der Ukraine geschenkt. Für mich war es immer ein Teil Russlands, aber da scheiden sich die Geister. 

Sie sehen das anders als viele andere…

Ja, das war doch konstruiert. Bei der Unabhängigkeit des Kosovo hat man Land von Serbien annektiert, und Serbien hat man nicht einmal gefragt. Auf der Krim gab es eine Abstimmung, und die Mehrheit wollte weg von der Ukraine. Aber das akzeptiert der Westen nicht und behauptet, das sei alles unter Besatzung geschehen. Man weiss, dass auf der Krim nicht einmal eine Glasscheibe in die Brüche gegangen ist. Wenn Sie die Krim besuchen und sehen, wie die Leute dort leben, dann sehen Sie nichts von einer Besatzung. Westliche Journalisten, die dort hin gegangen sind, um darüber zu berichten, fanden nichts.

Warum besteht diese Abneigung gegenüber Russland?

Es ist ein grosses Land, und das scheint manchem Angst zu machen. Auch gab es in der Geschichte Zeiten, da gingen von Russland bzw. der Sowjetunion Gefahren aus. Aber Länder, die mit dem heutigen Russland einen konstruktiven Weg suchen wie Österreich oder auch die Schweiz und sich von der Angstmacherei nicht so beeindrucken lassen, werden gute Beziehungen zu Russland haben können. Russland ist ein verlässlicher Partner, ohne den wir in Europa nicht auskommen.

Frau Nationalrätin Estermann, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

«Bashar al-Assad ist ein guter Präsident»

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Der Krieg gegen die syrische Regierung hat dazu geführt, dass die Bevölkerung mehr denn je Partei für Baschar al-Assad ergreift. Der Autor hielt sich von Mitte Oktober bis Anfang November in Syrien auf. Er reiste mit der Gruppe «Freundeskreis Schweiz-Syrien», die freundschaftliche Kontakte zur christlichen Gemeinde in Kfarbou unterhält.

Wenn man von Süden kommend in Homs einfährt, sieht man linker Hand ein paar hundert Meter entfernt die ersten Ruinen. Baba Amr und andere Aussenbezirke der Stadt sind völlig zerstört. Geisterquartiere, die nur noch aus Betonfetzen und verrosteten Armierungen bestehen. Selbst in Mostar und Sarajevo habe ich in den 90er-Jahren nicht Zerstörungen von diesem Ausmass gesehen.

Homs war 2011 eine der ersten Städte, in denen bewaffnete Milizen Stadtteile unter ihre Kontrolle brachten. Wer auch immer als Exponent staatlicher Institutionen galt, musste damit rechnen, hingerichtet zu werden: Lehrer, Ärzte, Gemeindevorsteher, Polizisten. Die «Burial Brigade» von Baba Amr zum Beispiel gab 2012 in einem Interview an, seit März 2011 mehreren hundert «Verrätern» die Kehle durchschnitten zu haben.¹

Die Aufständischen deklarierten Homs zur «Hauptstadt der Rebellion». Minderheiten, die Nähe zur syrischen Regierung bekundeten, wurden vertrieben. Im Mai 2012 waren bereits 50 000 Christen aus Homs geflohen. 2014 eroberte die syrische Armee die besetzten Zonen zurück und legte ganze Quartiere in Schutt und Asche.

Zerstörtes Wohnquartier in Homs

In dieser Trümmerlandschaft wohnt niemand, Hunde und Katzen schnuppern in Abfallhaufen. Nur wenige hundert Meter weiter, in der Innenstadt von Homs, geht das Alltagsleben seinen gewohnten Gang: das Hupen der Autos und Motorräder im Stau, die Läden, die Gemüse und Früchte anbieten, das Gedränge der Leute. Da wird geredet, gelacht, geschimpft, gehandelt, wie wenn es die Zerstörung da draussen nicht gäbe. Der Krieg hat dieses gespenstische Nebeneinander erzeugt, das trügerische Bild einer Normalität neben den Ruinen. Da ist ein sozialer Organismus, der scheinbar unbekümmert funktioniert, während ein Teil seines Gewebes abgestorben ist.

Überall verhindern die Betonblöcke der Kontrollpunkte den Verkehr in Syrien. Der Krieg ist in vielen Regionen vorbei, man befürchtet aber weiterhin Terroranschläge. Noch gibt es militärische Sperrgebiete und Kontaktzonen, vor allem im Norden, aber auch an der jordanischen Grenze im Osten.

Ein Bus mit sieben Schweizer Touristen ist nicht alltäglich. Auf den Autobahnen zwischen den Städten begleiten uns abwechselnd Militärfahrzeuge. An den Kontrollsperren werden wir immer wieder gebeten auszusteigen. Die Soldaten mustern uns mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen. Man ruft einen, der ein wenig Englisch spricht. Der Postenkommandant sagt: «Welcome to Syria.» Manchmal wird Tee serviert. Auf einem Sandsack oder einer alten russischen Munitionskiste, die als Tisch dient. Die zwei Wörter, die wir am meisten hören, heissen «mah mushkila» – «kein Problem». Hier hat es offenbar niemand eilig. Mit oder ohne Krieg: Der Orient hat seinen eigenen Lebensrhythmus, eine Herausforderung für Schweizer Präzisionszeitmessung.

«Was haben wir euch getan?»

Der Souk al-Hamidiya in der Altstadt von Damaskus entspricht den hergebrachten Vorstellungen: Gedränge und Menschengewühl, ein Durcheinander von Gerüchen und Farben, das einen schier erdrückt. Viele junge Mädchen kommen nicht anders daher als in Hamburg, Zürich oder Mailand: Jeans, High Heels, Smartphone – chatten, posten, taggen. Gruppen von Schülerinnen posieren für Selfies. Stammen sie aus sunnitischer oder schiitischer Familie, tragen sie wohl ein Kopftuch im Hidjab-Stil. Kommen sie aus christlicher, alewitischer oder kurdischer Familie, wohl eher offenes Haar. Doch an Make-up und Wimperntusche wird nicht gespart, wie auch immer das Outfit sein mag.

Da sieht man Läden, die Seifen, Parfums, Nagellack oder Büstenhalter in allen Farben feilbieten, und davor stehen Frauen ganz in Schwarz. Sie tragen die fusslange Abaya und ein Kopftuch, die traditionelle Kleidung, wie man sie wohl von Marrakesch bis Kabul findet, besonders bei älteren Frauen. Gesichtsverschleierung mit dem Nikab findet man in Damaskus kaum. Ich sah sie aber in Hama, wo der fundamental-religiöse Einfluss seit jeher stärker war.

Auf dem Basar in Damaskus spricht mich im Gedränge ein alter Mann in rudimentärem Englisch an: «Aus der Schweiz also? Das ist gut, dass ihr kommt und seht, wie sie unser Land kaputt gemacht haben. Was haben wir den Europäern getan, dass ihr unseren Präsidenten stürzen wollt? Was haben wir den Amerikanern getan? Warum haben sie Truppen bewaffnet, die unser Land angreifen?»

Weitere Passanten mischen sich ein. Der Ton ist freundlich und keineswegs aggressiv, aber man spürt die Emotionen: «Bashar al-Assad ist ein guter Präsident. Er hat das Land geöffnet und modernisiert. Er war noch jung, er hat Fehler gemacht. Er hat zu lange gezögert. Er hätte wissen müssen, dass niemand im Westen ihm helfen wird gegen die USA, Katar und die Saudis. Er hätte die Russen früher zu Hilfe rufen sollen.»

Immer wieder ähnliche Einschätzungen, die wir zwei Wochen lang zu hören bekommen. In Homs, in Latakia, in Tartous oder in Damaskus. Wir hören sie von Lehrerinnen in schiitischen Schulen, von katholischen Ordensschwestern, von syrischen Parlamentariern, Politikern, Geschäftsleuten und Soldaten, aber auch von Menschen, denen wir auf der Strasse und in den Restaurants begegnen. Es sind Vorwürfe, gegen die es schwerfällt zu argumentieren. Dass der Westen mit allen Mitteln den Sturz der syrischen Regierung betreibt, kann man nun seit sieben Jahren jeden Tag in den Zeitungen lesen.

Früher fragte niemand: «Bist du religiös?»

In Kfarbou begrüsst uns Nabil, Pfarrer der christlichen Gemeinde. Der Ort mit 17 000 Einwohnern liegt wenige Kilometer südwestlich von Hama. Nabil hat sein fliessendes Italienisch in Italien gelernt. Seine Gemeinde habe Glück gehabt, sagt er. In der Nähe ist ein wichtiger Militärflugplatz, den die Armee halten wollte. So entging Kfarbou der Eroberung durch die bewaffneten Einheiten, die in westlichen Medien als «Rebellen» bezeichnet werden. Sie hätten wahrscheinlich mit den Christen in Kfarbou kurzen Prozess gemacht.

Die Häuserfassaden aus dem hellen Kalkstein des nahen Steinbruchs erzeugen den Eindruck von bescheidenem Wohlstand. Weiter draussen sieht man Olivenbäume bis zum Horizont. Das Wasser wird aus 230 Metern Tiefe hochgepumpt. Vor dem Krieg kosteten 5000 Liter Wasser zehn Dollar. Jetzt ist es das Fünffache. Das Leben ist ruinös teuer geworden durch den Krieg und die Sanktionen.

«Früher fragte niemand: ‹Bist du Schiit oder Sunnit, Alewit, Christ, Kurde, Druse oder was?›» sagt der Pfarrer. «Man war einfach Syrer. Es war egal, was einer glaubte, bei dem man seine Tomaten oder sein Benzin kaufte.» Religion war zunächst einmal Privatsache, so wie es die syrische Verfassung verlangt. Syrien war eine einigermassen funktionierende multireligiöse Gesellschaft, Baschar al-Assad war der beliebteste Staatschef in der arabischen Welt, und westliche Medien hofierten ihn als Reformer.

Immer wieder hören wir den Satz: Syrien ist die Wiege des Christentums. Hier haben Christen, Moslems, Juden und alle andern seit mehr als tausend Jahren zusammengelebt. Mit dem Krieg hat sich alles geändert. Er hat Misstrauen zwischen Leuten gesät, die früher im Alltag miteinander auskamen. Viele Familien haben Tote zu beklagen. Der Krieg hat einen sozialen Tumor hervorgebracht, der Syrien noch lange zu schaffen machen wird: das Verlangen nach Rache und der Hass auf diejenigen, die den Tod eines Sohns, eines Vaters oder eines Bruders zu verantworten haben. Offiziell wird viel über Versöhnung geredet. Doch das gegenseitige Vertrauen und der soziale Zusammenhalt sind in manchen Regionen so stark beschädigt wie die Häuser, die unter den Granaten einstürzten.

«In Kfarbou ist es anders. Die Bedrohung von aussen, die Not und die Angst vor den Angreifern haben das Dorf zusammengeschweisst», sagt der Pfarrer. Beim Gottesdienst am Sonntagmorgen ist die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein Chor von Jugendlichen singt. Die Gemeinde antwortet im Wechselgesang.

Christliche Liturgie in arabischer Sprache. Draussen auf dem Platz stehen grosse Tafeln mit Bildern der gefallenen Soldaten, die von hier stammen.

Sicher gab es auch vor dem Krieg unter der Oberfläche des täglichen Lebens schlecht vernarbte Wunden von alten Konflikten. Sicher hatten die Moslembrüder nie vergessen, dass sie ihren Versuch einer gewaltsamen Machtergreifung 1982 mit Tausenden von Toten bezahlen mussten. Hafiz al-Assad liess den Aufstand in Hama blutig niederschlagen. Die Moslembrüder flüchteten damals nach Jordanien und in andere europäische Länder. Viele von ihnen unterstützten 2011 den bewaffneten Aufstand gegen Assad. Der Sohn sollte bezahlen, was der Vater ihnen angetan hatte.

Auf der Rückfahrt nach Damaskus sieht man linker Hand die syrische Wüste, die sich im Dunst der Novembersonne verliert. Irgendwo in der Weite dort hinten ist die jordanische Grenze, über die schubweise 40 000 schwer bewaffnete Kombattanten nach Syrien eindrangen, um Assad zu stürzen. Sie waren in Camps in Jordanien unter Führung des CIA und anderer westlicher Geheimdienste ausgebildet worden.

Im Norden erfolgte eine ähnliche Invasion über die türkische Grenze. Rechter Hand sieht man die Wüstenberge des Dschebel Antilibanon. Die Höhenzüge sind weiss. Über Nacht ist der erste Schnee gefallen.

«Wir haben nie Giftgas eingesetzt»

In Damaskus treffen wir die Architektin Maria Saadeh, die ein perfektes Französisch spricht. Sie war bei Kriegsbeginn als Parteiunabhängige die jüngste Frau im syrischen Parlament. Mit einer Gruppe von syrischen Parlamentariern wollte sie 2012 und 2013 in Europa und Kanada über die Situation in ihrem Land berichten und stellte fest, dass ihr das Einreisevisum verweigert wurde:

«Man hörte offenbar nur auf eine sogenannte syrische Opposition, die eine vom Ausland diktierte Agenda verfolgte. Deren Mitglieder lebten zumeist nicht in Syrien, manche sprachen kein Wort arabisch. Was Parlamentsmitglieder aus Syrien zu sagen hatten, wollte und sollte offenbar niemand hören.»

Die Politik, das offizielle Syrien totzuschweigen, war die Regel. Auf einer Unesco- Konferenz in Paris wollte man Frau Saadeh das Mikrofon verbieten. Man referierte dort über die Zerstörung der historischen Kulturgüter in Syrien, – nur Mitglieder der syrischen Legislative waren nicht geladen und sollten nicht zu Wort kommen.

Propaganda und groteske Falschinformationen über Syrien seien in westlichen Medien der Brennstoff gewesen, mit dem dieser Krieg geführt wurde, sagt Frau Saadeh. So seien immer wieder Anschläge mit chemischen Waffen von den Aufständischen inszeniert worden, um Assad zu beschuldigen und eine Intervention der USA zu erreichen. «Wir haben kein Giftgas eingesetzt. Päsident Assad hat nie den Befehl dazu gegeben, und er würde es nie tun.»

Im Rückblick ist festzustellen, dass viele westliche Medien unter einer Art von euphorischer Hypnose namens «arabischer Frühling» in den Jahren 2010/2011 ein Wording erfunden haben, das die Realität auf den Kopf stellte. Da wurden von Saudi-Arabien und Katar finanzierte Terrorgruppen zu «Rebellen», und religiöse Fanatiker wurden zu «Aktivisten» und zuverlässigen Informanten unserer Medien. Da wurde der beliebteste Präsident des Nahen Ostens, ein von den Medien als jugendlicher Reformer gepriesener Baschar al-Assad, innert zwei Monaten zum «Schlächter von Damaskus». Ein Angriffskrieg mit mehr als 30 000 Luftangriffen in Libyen wurde zur «Wahrung einer Flugverbotszone». Und eine vom Westen finanzierte Propaganda-Organisation namens «Weisshelme» wurde in Hollywood für ihren Werbefilm mit einem Oscar geehrt. Syrienkenner und Journalisten, die zu Vernunft und Nüchternheit aufriefen, wurden als Assad-Versteher geschmäht. Die Mythen schossen ins Kraut. Syrische Intellektuelle, die seit Jahrzehnten nicht mehr in ihrem Land lebten, zeigten sich überwältigt von ihrem Eindruck, dass «syrische Kinder den Aufstand gegen Assad» begonnen hätten.

Wenn alles vorbei ist

Im ganzen Land sehen wir immer wieder mehrstöckige Neubauten. Überall werden Wohnungen gebaut für diejenigen, die bei ihrer Rückkehr keine mehr haben. Wenn der Albtraum vorbei ist, werden – so hofft man hier – wieder Touristen in das Land reisen, das einst mit seinen Denkmälern antiker Hochkulturen als eines der schönsten Reiseziele der Welt galt. Dann werden wieder Franzosen, Briten und Amerikaner durch die Souks flanieren und syrisches Olivenöl und Seife kaufen. Sie werden die Umayyaden-Moschee in Damaskus sehen, die stille Erhabenheit ihrer Gebetshalle, Pilgerstätte für Juden, Christen und Moslems.

Die vielen Müllhalden an den Rändern der Autobahnen werden die Touristen kaum fotografieren, wohl aber Steinnelken und Thymian an den tausendjährigen Mauern der Kreuzritterburg Krak des Chevalliers. Und sie werden in vielen christlichen Klöstern Mosaiken fotografieren, in denen Kalaschnikow-Kugeln stecken. Und Marienbilder, auf denen die Gottesmutter kein Gesicht mehr hat, weil Gottes­krieger es mit dem Hammer zerschlagen haben.

«Geld hat eine unglaubliche Rolle gespielt in diesem Krieg»

Makabre Sehenswürdigkeiten für Touristen werden in naher Zukunft die Ruinenquartiere sein, ganze Stadtteile in Aleppo, Homs, Damaskus, die in Trümmern liegen. Zeugen eines Krieges, der in westlichen Medien als «Bürgerkrieg» bezeichnet wurde und als solcher bereits in die schnelle Historiographie namens Wikipedia eingegangen ist.

«Es war kein Bürgerkrieg», sagt Elia Samman: «Es war von Anfang an ein Stellvertreterkrieg. Syrer wurden dafür bezahlt, gegen andere Syrer zu kämpfen.» Samman war Berater von Ali Haidar, dem Chef des 2012 gegründeten Ministeriums für Nationale Versöhnung. Samman ist wie Haidar Mitglied der Syrischen Sozialistischen Nationalen Partei, eine der zehn im Parlament vertretenen Parteien. Diese sind jedoch alle eingebunden in eine Regierungskoalition mit der Baath-Partei, die den politischen Betrieb weitgehend dominiert und de facto die alleinige Macht in Syrien hat.

«Geld hat eine unglaubliche Rolle gespielt in diesem Krieg», sagt Elia Samman. «2012 wurde uns vom Emirat Katar eine hohe monatliche Geldsumme angeboten, wenn wir die Seite wechseln und gegen Assad kämpfen würden. Aber das wollten wir nicht. Wir sind der Meinung, dass wir unsere Ziele politisch, nicht militärisch erreichen müssen.» Ab 2012 habe man beobachten können, dass immer mehr fremde Kombattanten in Syrien kämpften, Leute aus rund 80 verschiedenen Nationen: «Sie kamen aus allen Teilen der Welt. Sie kämpften für Geld oder weil sie religiöse Fanatiker waren oder aus welchen Motiven auch immer».

Heute könne jeder Syrer, der Mitglied in einer der feindlichen Milizen gewesen sei, zurückkommen und erhalte Amnestie, sagt Samman: «Er kann sich an uns wenden, und wir garantieren ihm, dass er keine Probleme bekommt. Etwa 15 000 haben schon davon Gebrauch gemacht.»

Auf die Frage, warum die USA und ihre Verbündeten Assad stürzen wollen, antwortet er: «Assad muss bezahlen für etwas, was er nicht gemacht hat: Er hat keinen Friedensvertrag mit Israel unterschrieben, und er hat sich nicht vom Iran und von Russland abgewandt. Er war nicht gehorsam gegenüber den USA.»

¹ www.spiegel.de/international/world/profile-of-rebels-in-homs-and-their-executioners-a-824603.html

Quelle: www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Assad-ist-ein-guter-Prasident

* Helmut Scheben studierte Romanistik. 1980 promovierte er zum Dr. phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter beim Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre bei der Tagesschau.

 

Syrien, ein Angriffskrieg und seine Folgen
hs. Die USA und ihre Verbündeten wollten seit 9/11 nach eigenem Bekunden einen New Middle East schaffen, das heisst unter anderem, unbotmässige Regierungen wie die syrische oder die iranische von der Macht entfernen. Präsident George W. Bush hatte Syrien auf die Liste der «Achse des Bösen» gesetzt. Wirtschaftssanktionen waren gegen Syrien verhängt worden. Der US-Botschafter in Damaskus schrieb 2006 in einem Bericht nach Wash­ington, Syrien sei stabil, Assad habe Reformen eingeleitet und werde wohl als Präsident in Wahlen bestätigt. Dann machte er ein Dutzend Vorschläge zur gezielten Destabilisierung des Landes und zum Sturz Assads¹. Der ehemalige französische Aussenminister Roland Dumas berichtete in einem Fernseh-Interview, dass die Nato-Staaten USA und Grossbritannnien bereits seit 2009 verdeckte militärische Angriffe in Syrien planten.²
Zweifellos gab es vor dem Krieg im Vielvölkerstaat Syrien Opposition und in gewissen Regionen auch Feindschaft gegenüber der etablierten Macht in Damaskus. Es gab Korruption. Auch liefen Polizei und starke Geheimdienste immer wieder aus dem Ruder.
Die USA und ihre Verbündeten haben versucht, nach der Methode «divide et impera» bestehende Konflikte zu schüren. Sie stellten bewaffnete Einheiten auf und schickten sie in einen Krieg gegen Syrien, der keine völkerrechtliche Begründung hatte. Nach dem erfolgreichen Umsturz in Libyen glaubte man, in Syrien leichtes Spiel zu haben. Im Medien-Hype des «arabischen Frühlings» war die internationale Öffentlichkeit zwar leicht zu beeinflussen, doch die Strategie endete in einem politischen Scherbenhaufen.
Assad rief das verbündete Russland, den Iran und die libanesische Hisbollah zu Hilfe und konnte militärisch die Oberhand gewinnen. Mehr noch, der Effekt des Angriffskrieges gegen Syrien kommt Assad am Ende zugute. Die syrische Bevölkerung steht heute geschlossener denn je hinter dem Präsidenten. Selbst Leute, die früher in Opposition zur Baath-Partei standen oder politisch teilnahmslos waren, wurden durch den Horror des Krieges politisiert und politisch umgepolt. Sie sehen Assad heute als Verteidiger und Retter der Arabischen Republik Syrien. Sieben Jahre Terrorangriffe fundamental-religiöser Ex­tremisten haben in Syrien eine Welle der Empörung ausgelöst, auf der Assad derzeit getragen wird.
¹ https://wikileaks.org/plusd/cables/06DAMASCUS5399_a.html
²https://www.bing.com/videos/searchq=roland+dumas+syria&view=detail&mid=C1168BC0A908ACFE878CC1168BC0A908ACFE878C&FORM=VIRE

 

Unicef liefert Nahrungsmittel und Medikamente nach Venezuela

Präsident Maduro bat die Vereinten Nationen um Unterstützung bei der Medikamentenversorgung

von Philipp Zimmermann, Caracas

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) hat rund 130 Tonnen Nahrungsmittel und Medikamente nach Venezuela geliefert. Präsident Nicolás Maduro hatte unlängst die Uno um Hilfe gebeten, um die Handelsblockade der USA gegen sein Land zu durchbrechen.

Wie der lateinamerikanische Fernsehsender Telesur berichtete, sollen die Hilfsgüter die Versorgung von 25 000 schwangeren Frauen, 10 000 Neugeborenen und 2 300 mit HIV infizierten Kindern mit Medikamenten ermöglichen. Zudem soll der Zugang von rund 100 000 Schwangeren und Kindern zu einer Malaria-Behandlung sichergestellt werden.

Maduro hatte vor zwei Wochen die UN-Organisationen angesichts der Wirtschaftssanktionen der USA um Unterstützung gebeten: «Wenn ich irgendwo auf der Welt wichtige Hilfsmittel zum Schutz unserer schwangeren Frauen kaufen möchte, verfolgt uns die US-Regierung und behindert oder verzögert den Kauf», sagte er beim Besuch in einem der staatlichen Geburtshäuser.

Der Nothilfefonds der UN-Generalversammlung (Central Emergency Response Fund, Cerf) hatte daraufhin für November 9,2 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt, «um die bestehenden Bemühungen zur Linderung der Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Venezuela zu verstärken», erklärten UN-Beamte am Montag.

Die Wirtschaftsblockade gegen Venezuela beinhaltet Finanzsanktionen seitens der USA, das Einfrieren von Bankkonten in der Europäischen Union, der Schweiz, Kanada und Panama sowie Handelsembargos, einseitige Massnahmen gegen grenzüberschreitende Zahlungen im internationalen Handel und die Sanktionierung ausländischer Unternehmen, die mit Venezuela Handel treiben.

Trotz der Schwierigkeiten durch die Blockade versucht die Regierung weiterhin, die Sozialprogramme auszuweiten. So wird die Zahl der Geburtshäuser im Rahmen des «Humanisierten Geburtenprogramms» (Misión Parto Humanizado) innerhalb von sechs Monaten von 124 auf 1 000 erhöht, die Anzahl der Mitarbeitenden von 10 000 auf 30 000. Das im Juli 2017 gestartete Programm soll natürliche Schwangerschafts- und Geburtspraktiken fördern sowie sexuelle Aufklärung und Unterstützung vor allem für junge Frauen anbieten.

Präsident Maduro hat vergangene Woche die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, eingeladen, das Land zu besuchen. Sie möge sich selber ein Bild «der negativen Auswirkungen der unilateralen Zwangsmassnahmen» machen, welche gegen Venezuela verhängt wurden, schrieb Maduro in der offiziellen Einladung.

Die Regierung Venezuelas bezeichnet die Sanktionen der USA, denen sich weitere Länder angeschlossen haben, als Verletzung internationalen Rechts. Sie verfolgten das Ziel, das Bild einer humanitären Krise zu produzieren und Venezuela als «gescheiterten Staat» darzustellen, um eine ausländische Intervention zu rechtfertigen. 

 

Quelle: amerika21.de/2018/12/218662/unicef-nahrung-medikamente-venezuela

«Ein unabhängiges neutrales Land braucht eine produzierende Landwirtschaft»

Interview mit Nationalrat Marcel Dettling

Nationalrat Marcel Dettling  (Bild www.marcel-dettling.ch)
Nationalrat Marcel Dettling (Bild www.marcel-dettling.ch)

Das Beispiel Venezuela zeigt, wie wichtig eine gesicherte umfassende Versorgung eines Landes mit eigenen lebenswichtigen Gütern ist. Ein Land, das im Bereich der Lebensmittelversorgung mehrheitlich auf Importe angewiesen ist, begibt sich in einem essentiellen Bereich in grosse Abhängigkeit. Diese Gefahr droht auch der Schweiz.

Unverständlicherweise zielt die bundesrätliche Agrarpolitik auf eine stärkere Öffnung des Agrarmarktes ab, die den Grad der Selbstversorgung weiter verringern wird. Damit ist ein wesentlicher Aspekt der Souveränität unseres Landes tangiert.

Nachdem das Parlament dem im letzten Jahr vorgestellten Bericht zur Agrarpolitik des Bunderats unter anderem wegen beabsichtigter Zollsenkungen und dem geplanten Ausbau des Freihandel zurückgewiesen hatte, eröffnete Bundesrat Schneider Ammann im Herbst 2018 die Vernehmlassung zur Agrarpolitik 2022+. Ob sich dabei etwas Grundsätzliches geändert hat und er von seinem ursprünglichen Ziel der Marktöffnung abgerückt ist, erklärt im folgenden Interview Nationalrat Marcel Dettling.

Zeitgeschehen im Fokus Ist die Vernehmlassung zur AP 22+ tatsächlich eine Korrektur seines letzten Berichts, der vom Parlament zurückgewiesen wurde?

Nationalrat Marcel Dettling Im Grundsatz ist es keine Korrektur. Er geht genauso weiter in Richtung Ökologisierung. Die Produktion wird mit keinem Wort darin erwähnt. Es werden verschiedene Ziele definiert, z. B. die Inlandproduzentenpreise sollen den Auslandproduzentenpreisen angeglichen werden. Das heisst nichts anderes, als im Inland die Produzentenpreise zu senken. 

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

In der Schweiz können wir Bauern das Schweinefleisch heute gratis abgeben. Trotzdem ist es im Laden in der Schweiz immer noch teurer als im Ausland. Das zeigt uns, dass der Bundesrat kein Verständnis für die einheimische Landwirtschaft hat. Die hohen Kosten entstehen nicht beim Produzenten, sondern zwischendrin in der Wertschöpfungskette, bis das Produkt in den Ladenregalen ankommt. Dazu kommen die hohen Kosten bei den vorgelagerten Stufen, wie Futtermittel, Tierarztkosten, Maschinen usw. 

Sie haben die Ökologisierung erwähnt. Welche Rolle spielt sie in dem Bericht?

Der Bundesrat will neue Ökoprogramme aufziehen. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass das eine riesige Bürokratie nach sich zieht, die tausende von Franken kosten wird, und zwar mit Programmen, die eigentlich schon laufen, aber neu verfasst werden. Man muss neue Berichte darüber schreiben. Neue Öko-Büros bekommen für solche Leistungen Geld, aber der Natur nützt es unter dem Strich nichts. 

Wie sieht es mit der Planungssicherheit für die Bauern aus?

Hier hat sich nicht viel geändert. Das ist ein Grundsatzentscheid, den der Bundesrat gefällt hat, nämlich, dass es keinen Angriff auf die Direktzahlungen gibt. Von daher ist zu erwarten, dass der Zahlungsrahmen unverändert bleibt. Aber damit man das Einkommen irgendwie halten kann, ist man gezwungen, bei diesen Ökoprogrammen mitzumachen. 

Das heisst, man bekommt nur dann finanzielle Unterstützung?

Ja, wenn man mitmacht. Wenn man nicht will, gibt es auch keine Unterstützung. Das kann jeder Bauer für sich entscheiden. Aber diese neuen Programme müssen ausgearbeitet werden, und dafür braucht es Geld, das ebenfalls in dem Zahlungsrahmen enthalten ist. Es ist also trügerisch zu sagen, der Zahlungsrahmen bleibt gleich. Das ganze Geld für die Öko-Büros geht natürlich konkret der Landwirtschaft verloren. 

Haben Landwirtschaftsbetriebe, die schon auf ökologischer Basis arbeiten, einen Vorteil?

Es wird wieder eine frische Umverteilung geben, wie es bei der vorhergehenden Agrarpolitik immer der Fall war. Das müssen wir stoppen. Wir haben mit der AP 2014/17 einen grossen Umbruch in der Landwirtschaft gehabt. Es sollte nicht sein, dass wir schon wieder einen solchen Umbruch erleben, mit neuen Programmen und Beitragsformen. Deshalb wird es zwangsläufig zu einer Umverteilung kommen. Das ist schlecht. Wenn es innerhalb der Bauernschaft zu einem Kampf kommt, ist das nie gut.

Was müsste man Ihrer Meinung nach ändern?

Man müsste auf Produktion setzen. Die nimmt ständig ab und für ein unabhängiges neutrales Land, wie wir es sind, braucht es eine produzierende Landwirtschaft. Mit jedem Kilo, das wir importieren müssen, sind wir abhängig vom Ausland. Diese Abhängigkeit müssen wir so tief wie möglich halten.

Ein wichtiger Kritikpunkt am letzten bundesrätlichen Bericht war die Senkung der Zölle und der Ausbau des Freihandels. Hat hier der Bundesrat zurückbuchstabiert?

Nein, das wäre ein Trugschluss. Wenn man den Text genau durchliest, ist auf vielen Seiten erwähnt, dass man die Landwirtschaft für die ausländischen Märkte fit machen muss. Wenn man das deuten kann, muss man feststellen, dass der Bundesrat immer noch das Ziel verfolgt, die Zölle zu senken, damit er mit anderen Staaten Freihandelsverträge abschliessen kann. Es geht zwar nicht mehr darum: Freihandel versus Landwirtschaft, aber auf den 161 Seiten des Berichts liest man, dass der Freihandel immer noch das oberste Ziel sein wird. 

Woran lässt sich das erkennen?

In den Zielen ist definiert, dass die Landwirtschaft ohne Grenzschutz auskommen muss, dass man die Landwirtschaft im Vergleich zu den ausländischen Mitbewerbern fit machen müsste. Also, das Ziel des Freihandels hat der Bundesrat nicht aufgegeben.

Herr Nationalrat Dettling, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern 

«Wiedersehen mit Freunden kombiniert mit einer sinnvollen Tätigkeit»

Ausbildungs- und Ferienlager des Schweizerischen Militär-Sanitäts-Verbandes

von Sonja Wenger

sl. Jedes Jahr organisiert der Schweizerische Militär-Sanitäts-Verband für Jugendliche ab 13 Jahren das Ausbildungs- und Ferienlager AULA. Kompetente Ausbilder, viele  sind im Gesundheitswesen tätig, und rund 80 freiwillige Helferinnen und Helfer bringen den Jugendlichen das Sanitätswesen näher und stärken  in ihnen das Bewusstsein, anderen Menschen helfen zu können. Grundlage dabei sind immer die 7 Grundsätze des Roten Kreuzes.

Bild Sonja Wenger

Bild Sonja Wenger

 

Die morgendliche Bergidylle im Oberengadin täuscht an diesem Spätjulitag. Während einer Woche geht es in einer Truppenunterkunft nahe der Gemeinde S-chanf bunt zu und her. Über 200 Jugendliche im Alter zwischen 13 und 22 Jahren wuseln in grünen, blauen, gelben und roten Warnwesten in Gruppen über das riesige Gelände. Sie nehmen teil am AULA, dem Ausbildungs- und Ferienlager des Schweizerischen Militär-Sanitäts-Verbandes (SMSV). Je nach Vorbildung erwerben die Jugendlichen dabei die Grundkenntnisse der Nothilfe, erweitern ihr Wissen in der Ersten Hilfe, im Pflegebereich oder in der Schadenplatzorganisation. 

Mit Ausnahme der 1. Klasse (in grün) kennen sich die meisten Teilnehmenden aus den vorherigen Jahren. Einmal dabei, bleiben die meisten Teilnehmenden dem AULA treu, bis sie im letzten Jahr beispielsweise die Prüfung zum Ersthelfer Stufe 3 IVR ablegen können. Für viele ist das AULA auch eine Möglichkeit, Berufe zu entdecken. Hier werden oft Interessen geweckt, Kontakte fürs Leben geknüpft und wichtige Weichen gestellt, denn die Ausbildungen sind schweizweit anerkannt, und nicht wenige ergreifen später einen Beruf in der Pflege, in der Medizin oder gar beim Militär.

Offen für alle

Das AULA gibt es seit drei Jahrzehnten, und die Teilnahme ist für alle offen. Seit einigen Jahren nehmen vermehrt Jugendliche aus der Romandie teil, sodass die Lektionen inzwischen auch auf Französisch übersetzt werden. Die Mischung verschiedener Altersgruppen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen aus dem Zivilleben ist einer der grossen Vorteile des AULA. «Alle schmeissen ihr Wissen in einen Topf», sagt Fabio Peter, Berufsoffiziersanwärter bei der Armee und für das AULA abkommandiert. «Hier können alle Hand anlegen, sich gegenseitig Hand reichen und sich dank einer intensiven Betreuung viel Wissen aneignen.» 

Wie Fabio Peter hat auch Sheryl Grubenmann alle Jahrgänge des AULA absolviert und ist heute in der Pflege tätig. Beim AULA mitzuhelfen, ist für sie Ehrensache – aber auch Spass. «Die Atmosphäre im AULA könnte man am besten als familiär bezeichnen», sagt die junge Frau. Ihr gefällt das Umfeld mit den hochmotivierten jungen Menschen, in dem man sich zwar necken kann, in dem aber aufgrund der militärischen Hierarchien auch ein respektvoller Umgang gepflegt wird. Für beide ist das AULA jeweils ein Wiedersehen mit Freunden – kombiniert mit einer sinnvollen Tätigkeit.

Und Action!

Wie viel Spass das machen kann, zeigt sich besonders am Besuchstag. So hat es die Demonstration verschiedener Löschverfahren bei Bränden in sich. Allerdings zeigen die Jugendlichen keinerlei Berührungsängste. Und während mit Feuerlöscher und Branddecken die Stichflammen erstickt werden, braust ein Super-Puma- Helikopter der Luftwaffe über die Köpfe und landet auf einer grossen Wiese. Im AULA wird zweifelsohne Action geboten. 

Neben dem Helikopter, mit dem jeweils die 4. Klasse (in rot) eine Evakuationsübung aus einem Biwak in den Bergen erhält, stellt die Schweizer Armee die gesamte Infrastruktur der Truppenunterkunft zur Verfügung. Dazu gehören auch ein vollständiges Zelt für eine Sanitätshilfsstelle und anderes Zubehör, denn Materialkenntnis ist ein wichtiger Punkt im Lehrplan. Zudem können sich die verschiedenen Rotkreuzrettungsorganisationen vorstellen, sodass die Teilnehmenden am Schluss die besten Grundlagen dafür haben, sich für ein weiterführendes Engagement zu entscheiden. 

Das nächste AULA findet vom 20. bis 27. Juli 2019 statt. 

Quelle: Samariter Nr. 4/18. Verbandsmagazin des Schweizerischen Samariterbundes, www.aula-jugendlager.ch

«Salvete discipuli!»1

Warum es sinnvoll ist, Latein zu lernen

von Andreas Kaiser

Der Lateinlehrer betritt das Klassenzimmer: «Salvete discipuli!» – «Salve magister!»², schallt es zurück. Lateinstunde an einem Zürcher Gymnasium. Erwartungsfroh – die einen mehr, die anderen weniger – richten 24 Schülerinnen und Schüler ihre Augen auf den Lehrer. Der ist gefordert, denn er muss die hohen Erwartungen seiner Klasse erfüllen: eine interessante, abwechslungs- und lehrreiche Lateinlektion.

Schulszene; römisches Relief aus Neumagen, ca. 180 n. Chr. (Bild zvg)

Schulszene; römisches Relief aus Neumagen, ca. 180 n. Chr. (Bild zvg)

 

Die bekommen die Schülerinnen und Schüler auch, denn dafür ist das Fach Latein geradezu prädestiniert. Der Lehrer legt eine Abbildung zweier Jugendlicher, die offensichtlich miteinander im Streit liegen, auf den Präsenter: «Das sind Julia und Konstantin. Sie leben, wie ihr seht, nicht immer stressfrei zusammen.» Es folgt eine kurze Diskussion mit den Schülern über ihre eigenen Erfahrungen mit Geschwistern, und ein erster persönlicher Beziehungsfaden ist geknüpft. Dann beginnt der Lehrer, eine Geschichte zu erzählen, von Julia und ihrem Zwillingsbruder, die sich darauf freuen, mit ihrer Mutter einkaufen zu gehen, denn beide haben heute Geburtstag.

Latein lebt

Zuerst wird entschieden, mit welchem Auto (bereits das erste lateinische Wort – sogar eine Kombination aus Griechisch und Latein: autos [selbst] und mobilis [beweglich]) die Einkaufsfahrt unternommen werden soll. Zur Auswahl stehen Audi (ins Latein übersetzter Name des Firmengründers Horch) oder Volvo (von lat. volvo: ich rolle). Man fährt zur Bank «Prokredit» (für einen Kredit [von lat. credere: glauben, vertrauen]) und geht dann gleich ins benachbarte Kaufhaus «Globus» ([Welt-]Kugel), kauft ein Velo (Abkürzung für veloziped, lat. velox: schnell, pes: Fuss), einen Computer (von lat. computare: zusammenrechnen) und eine Sporttasche von asics (animus sanus in corpore sano). Die Mutter schliesslich benötigt auch noch gewisse Produkte, von Candida-Zahnpasta (candidus: weiss), über Planta-Margarine (planta: Pflanze) und Nivea-Creme (niveus: schneeweiss) zu Tussipect Hustensaft (tussis: Husten, pectus: Brust) – eine Doppellektion liesse sich problemlos damit füllen.

Die Schüler spüren auf sehr anschauliche Weise, dass Latein keineswegs eine tote Sprache ist: Unser Alltag ist, ob wir's merken oder nicht, von Latein durchdrungen.

Hausaufgabe: Die Augen offen halten und Begriffe vermuteten lateinischen Ursprungs aus dem eigenen Alltag notieren und in der nächsten Lektion zur Diskussion stellen – was da alles zusammen kommt!

Lernen bereitet Freude

Dass eine Lateinlektion und das Lernen überhaupt manchmal harte Arbeit bedeuten, soll und darf nicht verschwiegen werden. Schliesslich wollen Formen, Vokabeln, Grammatikregeln und anderes mehr verstanden, auswendig gelernt und angewendet werden, damit sie «im Ernstfall» den Jugendlichen auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Aber all das geschieht mit Humor, Abwechslung und in der direkten Beziehung zwischen Lehrer und Schülern.

Wie lernt man Verbformen auswendig – und zwar so, dass der Spass dabei nicht auf der Strecke und die Verbformen im Gedächtnis bleiben? Eine gute Möglichkeit ist das sogenannte Chorsprechen: Der Lehrer sagt's vor – möglichst mit einem gewissen Rhythmus versehen – die Klasse spricht nach.:«Sum - es - est - sumus - estis - sunt» (ich bin, du bist, er, sie, es …). Den Schülerinnen und Schülern macht das Aufsagen sichtlich Spass, und nach ungefähr 10 Minuten kann jeder und jede diese Konjugation auswendig aufsagen. Am nächsten Morgen beginnt der Lehrer: «Sum» und sofort setzt die ganze Klasse fröhlich die Reihe fort. Das wird in der Woche darauf und auch später immer wieder in den Unterricht eingebaut. Keine Schülerin und kein Schüler wird jemals diese Formen wieder vergessen!

Nach dieser kurzen Betrachtung aus der Praxis des Lateinunterrichts, die zeigt, dass Lateinlernen durchaus Freude bereitet, und dazu noch hilft, den Alltag besser zu verstehen, soll nun auch der Sinn und Zweck des Lateinlernens theoretisch untermauert werden.

Latein als Teil einer breiten Allgemeinbildung

Das Nachdenken über die Bedeutung des Lateinlernens im Rahmen des gymnasialen Bildungsgangs bringt uns zum Themenkomplex «Allgemeinbildung», der auch für unser modernes Gymnasium die Grundlage bildet. In der Broschüre «Gymnasiale Maturität», herausgegeben von der Bildungsdirektion des Kantons Zürich, liest man:

«Das Gymnasium ist der richtige Weg, wenn junge Menschen eine breite Allgemeinbildung erwerben und später einmal an einer Hochschule studieren möchten.» (S. 3)

Zu dieser «breiten Allgemeinbildung», die früher einmal «humanistische Bildung» hiess, gehört Latein als «Basissprache» Europas. Lateinische Texte aus einem Zeitraum von über 2000 Jahren beschäftigen sich mit Themen aus allen wesentlichen Bereichen menschlichen Kulturschaffens. Die Auseinandersetzung mit Texten aus der zeitlich und räumlich weit entfernten Antike ist der Mühe wert, denn dadurch lernen unsere Jugendlichen, die Gegenwart kritisch zu betrachten und Lösungsansätze für aktuelle Probleme und für Herausforderungen in der Zukunft zu entwickeln. Die positiven Wirkungen dieser Auseinandersetzung auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler ist nicht hoch genug einzuschätzen und steht im Einklang mit den Ausführungen in der Broschüre der Bildungsdirektion. Dort heisst es: 

«Die Mittelschule ist eine Denk- und Persönlichkeitsschule. Sie stellt hohe Ansprüche an ihre Schülerinnen und Schüler, aber auch an sich selbst. Ziel ist das Erreichen der allgemeinen Hochschulreife für Ausbildungen an Hochschulen und Fachhochschulen – darüber hinaus bietet der Weg dorthin ein breites Spektrum an Möglichkeiten, die der persönlichen Entwicklung junger Menschen förderlich sind. (…) Die Erkenntnis, dass der Erwerb von Wissen nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch die Grundlage für unabhängiges, kritisches Denken ist, weist ihnen den Weg zu einem Selbstverständnis, das ihr Leben nachhaltig beeinflusst». (S. 5)

Textbezogene Arbeitsweise fördert problemlösendes Denken

Zentraler Punkt des Lateinunterrichts ist die textbezogene Arbeitsweise, die den systematischen und kritischen Umgang mit Informationen lehrt. Damit werden Grundlagen für Studium und Forschung gelegt, die in den höheren Klassen vertieft werden.

Die Beschäftigung mit lateinischen Texten verlangt Genauigkeit und zwingt zu gründlichem Arbeiten. Beim Übersetzen wird man belohnt, wenn man eine gewisse Hartnäckigkeit entwickelt. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler ein methodisch sinnvolles Vorgehen, probieren aus, kombinieren und finden Lösungen auf alle sprachlichen Probleme, die sich stellen. Dem vielbeklagten Mangel an Konzentrationsfähigkeit tritt der Lateinunterricht damit ganz grundsätzlich entgegen. Er verlangt Konzentrationsfähigkeit, fördert sie aber auch entscheidend. Für unsere Schülerinnen und Schüler erweist sich dies als Chance, ein Gegenmittel zur Oberflächlichkeit medialer Reizüberflutung zu bekommen. Das ist dringend nötig, denn der intensive Konsum elektronischer Medien führt auf Nebengeleise und lenkt ab und behindert eine vertiefte Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens, die die Jugendlichen zu Persönlichkeiten reifen lassen.

Stärkung der muttersprachlichen Kompetenz

Ein weiterer guter Grund, Latein zu lernen, ist die Tatsache, dass durch das Übersetzen aus dem Latein die Kompetenz in der deutschen Sprache gestärkt wird. Denn es ist ein grosser Unterschied, ob ich mit dem mir eigenen Wortschatz einen Aufsatz schreibe oder gezwungen bin, Gedanken eines anderen, die mir zunächst fremd sind, ins Deutsche zu übertragen und verständlich zu machen – eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe! Das Bewältigen solcher Aufgaben stärkt das Selbstvertrauen der Jugendlichen und befähigt sie, Ausdauer und Durchhaltevermögen zu entwickeln, wenn einmal Schwierigkeiten zu überwinden sind.

Grosse Vorteile beim Erlernen von Fremdsprachen

Durch die Auseinandersetzung mit Sprachstrukturen, dem Wortschatz, der in sehr vielen modernen Sprachen weiterlebt, und durch das Erwerben analytischer Fähigkeiten ist für Lateinkundige eine sehr gute Basis gelegt, und es wird ein leichtes sein, weitere Fremdsprachen zu erlernen.

Zurück ins Klassenzimmer

In einer höheren Klasse wird die Aeneis, das römische National­epos, behandelt. Der Dichter Vergil (ca. 70 – 19 v. Chr.) setzt seinen Helden Aeneas immer wieder schwierigen Situationen aus. So verliebt sich dieser in Dido, die Königin von Karthago, und bleibt bei ihr, anstatt seinen Schicksalsauftrag zu erfüllen und nach Italien zu segeln. Diese klassische Konfliktsituation zwischen Pflicht und Neigung führt zu einer intensiven Diskussion mit der Klasse, die die Schülerinnen und Schüler durch Beispiele aus ihrem eigenen Erleben bereichern.

Viel später, bei einem Klassentreffen zehn Jahre nach der Matur, kommen die ehemaligen Schüler auf den Lateinunterricht zu sprechen: «Die Geschichte mit Pflicht und Neigung ‹verfolgt› uns bis heute. In entsprechenden Situationen kommt uns Aeneas in den Sinn, und wir überlegen, wie eine vernünftige Lösung aussähe», meinten einige aus der Runde.

Vergil hat bereits vor über 2000 Jahren deutlich gemacht, dass es Grundfragen des Lebens gibt, die von jedem einzelnen und immer wieder aufs neue nach einer Antwort verlangen. Die jungen Menschen haben in der Auseinandersetzung mit diesem antiken Text eine Orientierung für ihr eigenes Leben bekommen, und gleichzeitig wurde eine Verbindung mit ihren eigenen historischen und kulturellen Wurzeln hergestellt.

¹ «Seid gegrüsst, Schüler!»

² «Sei gegrüsst, Lehrer!»

Ein Plädoyer für die direktdemokratische Schweiz

Das Schweizer Referendums-, Initiativ- und Petitionsrecht in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufnehmen

von Susanne Lienhard

Die Schweiz hat allen Grund, stolz zu sein. Sie verfügt über die besten Universitäten Europas, über ein ausgezeichnetes Bildungswesen, das mit der dualen Berufsbildung eine echte Alternative zur akademischen Laufbahn bietet. 

Sie zählt bezüglich Innovation weltweit zu den Leadern und weist prozentual zur Bevölkerung am meisten Nobelpreisträger auf.

Sie ist ein kleines gastfreundliches Land, das einen gut integrierten Ausländeranteil von rund 25 % aufweist (Frankreich, Italien, England 7 % und Deutschland 9 %), verschiedene Religionsgemeinschaften beherbergt und 4 Landessprachen hat. 

Sie hat mit einer Arbeitslosenquote von 2,4 % bei den Erwachsenen und den 15 bis 24-Jährigen die Arbeitslosigkeit fast besiegt.¹ Zum Vergleich: in Frankreich beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 20,4 %, in Italien 31,6 % und in Spanien 34,3%.²

Sie hat die letzte Finanzkrise so gut überstanden wie kein anderes europäisches Land und sogar die Staatsschulden noch reduziert.  

Sie ist ein kleines Land mit hoher Bevölkerungsdichte, das über keinerlei Bodenschätze verfügt und seinen Bewohnern dennoch Wohlstand und ein hohes Mass an Freiheit garantiert. 

Sie ist ein Land, das auf dem freiwilligen Zusammenschluss von 26 unabhängigen Staaten, den Kantonen, basiert. Die rund 2200 Gemeinden geniessen einen hohen Grad an Autonomie, und der Bund soll nur Aufgaben übernehmen, die die Kantone und Gemeinden nicht selber ­lösen können (Subsidiaritätsprinzip).

Sie ist ein Land, in dem die Bürger alle drei Monate die Möglichkeit haben, auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene falls nötig, die Verfassung und die Gesetze anzupassen, zu ändern und zu ergänzen. Jeder Bürger hat das Recht, das Referendum gegen vom Parlament verabschiedete Gesetze zu ergreifen oder eine Volksinitiative zu lancieren, mit der eine Verfassungsänderung erwirkt werden kann.

Direkte Demokratie bringt Stabilität

Der Schweizer Historiker François Garçon*, der an der Pariser Université 1 lehrt, wirft in der Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» vom 14. November deshalb die Frage auf, ob es «in einer Zeit, wo sich mitten in Europa, unerwartete, wenn nicht gar höchst beunruhigende antiliberale oder partizipativ genannte Demokratieformen manifestieren, (…) nicht an der Zeit wäre, die Welt wissen zu lassen, dass es unter den rund 200 Staaten auf diesem Planeten ein Land mit 8,5 Millionen Einwohnern gibt, wo die Bürger ohne Aufruhr, nur mit Stift und Papier, das Recht haben, sich wirkungsvoll gegen vom Parlament verabschiedete Gesetze zu wehren oder gar welche zu initiieren, wenn ihre Abgeordneten mit deren Ausarbeitung zögern oder vorsichtshalber lieber woanders hinschauen.»³ 

Weltweit einmalige Volksrechte

François Garçon hat sich intensiv mit dem Schweizer Modell auseinandergesetzt und ist der ­festen Überzeugung, dass dieses hoch entwickelte politische System, das dem Bürger auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene maximale Mitgestaltungsmöglichkeiten bietet, für die politische, soziale und finanzielle Stabilität der Schweiz und den Wohlstand ihrer Bürger massgeblich verantwortlich ist. 

Er fragt sich zu Recht, weshalb das Schweizer Referendums-, Ini­tiativ- und Petitionsrecht, die es nirgends auf der Welt in dieser fein ausgearbeiteten Form gibt, nicht schon längst in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen worden ist. Dieses Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972 ist aus dem revolutionären Gedanken entstanden, Natur- und Kulturgüter von aussergewöhnlichem universellem Wert unter die Obhut der gesamten Menschheit zu stellen. 

Den Schweizer Volksrechten gebührt dieser Schutz allemal in ­einer Welt, wo Autokraten die demokratischen Instrumente miss­brauchen, wo die Parlamente sich darauf beschränken, «Auffanggefäss» für die hinter verschlossenen Türen getroffenen Beschlüsse der Exekutive zu sein, wo falsche Versprechungen, Manipulation und Demagogie auch in sogenannt demokratischen Staaten an der Tagesordnung sind. 

Der Schutz der Unesco alleine reicht jedoch nicht. Wir Schweizerinnen und Schweizer müssen diese einmaligen Volksrechte auch wahrnehmen und uns gegen Bestrebungen, sie zu beschneiden, wehren. Dies unabhängig davon, ob diese Einschränkungen von innen oder von aussen über «internationale Vereinbarungen», zu denen wir Bürgerinnen und Bürger gar nie gefragt worden sind, verfügt werden. 

 

¹ Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, https://www.amstat.ch/v2/index.jsp?lang=de, Oktober 2018

² https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/jugendarbeitslosigkeit-in-europa/

³ François Garçon: Inscrivons les droit référendaires au patrimoine de l’humanité! in: «Le Temps» vom 14.11.2018

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