«Der Iran will keinen Krieg, sondern eine friedliche zivile Entwicklung»

«Man würde gerne glauben, die USA und Israel seien Demokratien und für den Frieden – die Realität ist eine andere»

Interview mit der freien Journalistin und Nahost-Expertin Karin Leukefeld

Karin Leukefeld (Bild thk)
Karin Leukefeld (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wer kann Israel von seinem verheerenden Kriegskurs abhalten?

Karin Leukefeld Am 26. September sind wir am Morgen aufgewacht mit Nachrichten aus New York, dass am Rande des Uno-Gipfeltreffens sich die Staaten zusammengefunden und den Vorschlag eines dreiwöchigen Waffenstillstands zwischen Israel und der Hisbollah eingebracht haben, damit Raum für Diplomatie geschaffen werden kann. Die libanesische Regierung hat mit Zustimmung der Hisbollah zugesagt, sofern Israel zustimme. Die Erklärung ist auch vom Aussenministerium in Berlin verschickt worden, das sie ebenfalls unterschrieben hat. Kaum hatte sie den Weg in die Medien gefunden, kam die Reaktion aus Tel Aviv, dass die Regierung Netan­yahu dieses Ansinnen zurückweise. Der Aussenminister sagte, es werde keinen Waffenstillstand im Norden geben. Der Krieg gegen die Terrororganisation Hisbollah werde bis zum Sieg zu Ende geführt. Nicht einmal dieser Aufforderung auch verbündeter Staaten kommt Israel nach.

Hatten wir diese Antwort nicht schon öfters gehört?

Ja, das ist ein Muster, das wir seit einem Jahr sehen. Es gab Vorschläge von den Unterhändlern der Hamas, Ägyptens und Katars, der USA – an ihrer Seite Deutschland, beide die grössten Waffenlieferanten Israels – doch keiner dieser Vorschläge hat Israel zum Einlenken gebracht. Seit nahezu einem Jahr wird alles von Netan­yahu in letzter Minute blockiert, ausser im November letzten Jahres, als er einem Waffenstillstand für eine Woche, ausgehandelt von Ägypten und Katar, zustimmte. Und die Hisbollah, die ja den Norden Israels beschoss, um einen Waffenstillstand zu erreichen, stellte den Beschuss ein. Hundert israelische Geiseln wurden damals freigelassen und etwa die dreifache Zahl an palästinensischen Gefangenen, Kinder, Frauen und Kranke. Das war der einzige Erfolg, den es in vielen Verhandlungen gegeben hat. Selbst Diplomaten sagen, dass die israelische Regierung, insbesondere Netan­yahu, im letzten Moment das Verhandlungsergebnis mit immer neuen Forderungen blockiert. Das haben sogar die Teilnehmer der israelischen Verhandlungsdelegation bestätigt. Das sind Leute des Geheimdiensts aus den USA, aus Israel, Katar und Ägypten. Der gesamte Vorgang, dass man sich trifft, miteinander verhandelt, nach einem Kompromiss sucht, wird am Schluss von Israel, von Netanyahu, torpediert. 

Wie kann das sein, dass das Land und seine Regierung so viel Macht haben?

Netanyahu führt die USA vor. Biden ist in einer Zwickmühle, weil gerade Wahlkampf ist und die Demokraten mit den Republikanern gemäss Umfragen gleichauf sind. Sie machen immer wieder Versprechungen, dass sie bei den Verhandlungen in Gaza kurz vor einem Durchbruch seien. Auch Amos Hochstein, Präsidentenberater von Joe Biden, pendelte immer wieder zwischen Israel und Beirut. Nichts ist dabei herausgekommen. 

Können die USA nicht vernünftig verhandeln, oder wollen sie das gar nicht? 

Sie liefern Waffen an Israel, obwohl sie ständig humanitäre Hilfe für den Gaza-Streifen, einen Waffenstillstand und Verhandlungen fordern. Sie haben einen Dreiphasenplan vorgelegt, der sogar in eine Uno-Sicherheitsratsresolution gegossen wurde, und alle im Sicherheitsrat waren sich einig. Netanyahu sagte jedoch nein. Inzwischen gibt es viele Stimmen in der arabischen Welt, in den Medien, in den Kolumnen, in Analysen, die sagen, die USA seien kein zuverlässiger Verhandlungspartner, weil sie auf der einen Seite sagen, Israel müsse die Waffen schweigen lassen, und auf der anderen Seite ihnen nonstop Waffen liefern. Viele Länder nehmen die USA nicht mehr ernst, denn sie spielen ein doppeltes Spiel. Für die Öffentlichkeit sprechen sie von Verhandlungen und Waffenstillstand, aber gleichzeitig hatten sie zum Beispiel, was konkret den Libanon betrifft, sowohl Kenntnis von diesem «Massenangriff auf elektronische Geräte als auch von den massiven Luftangriffen, die seit zwei Wochen den Libanon erschüttern. Über den Beginn der Offensive waren sie informiert und gaben – zumindest indirekt – grünes Licht. Die Sprachregelung ist, man habe es zur Kenntnis genommen, ohne zuzustimmen.

Woher weiss man das?

Das ist hartnäckigem Nachfragen von Journalisten zu verdanken. Dadurch kommt die Doppelbödigkeit der US-Administration irgendwann ans Tageslicht. Nach dem Beginn der Luftangriffe gab es eine Pressekonferenz, bei der der Sprecher des Pentagons verschiedene Telefonate zwischen den Verteidigungsministern der USA und Israels einräumte. Sowohl an dem Dienstag, als der erste Angriff erfolgte, gab es am Nachmittag ein Gespräch als auch etwas später. Der Sprecher des Pentagon räumte ein, man sei informiert worden, dass eine militärische Operation bevorstehe. Aus  dem, was der Sprecher des Pentagon durchblicken liess, ging nicht hervor, dass man ihnen konkret gesagt habe, was Israel machen werde, wohl nur, dass eine militärische Operation bevorstehe. Ob sie jetzt genau wussten, was Israel vorhatte, weiss man natürlich nicht, aber man kann davon ausgehen, dass der Sprecher an einer Pressekonferenz kaum alles erzählen wird, was sich im Hintergrund abgespielt hatte. Wenn man fragt, wer Israel stoppen kann, muss man eher nach dem Ausschlussprinzip vorgehen und fragen, wer Israel nicht stoppen kann oder will. 

Die USA scheinen es nicht zu sein. Wie muss man sich diese Absprachen vorstellen?

Da gibt es die Gespräche, die die Verteidigungsminister führen. Dazu kommt, dass beide Länder auf untergeordneter Ebene, der sogenannten Operationsebene, eng verbunden sind. Die Minister sprechen für die Öffentlichkeit, aber die eigentlichen Absprachen werden auf anderen Ebenen getroffen. Das bedeutet aber auch, dass amerikanische Spezialkräfte sich innerhalb der israelischen Armee bewegen, natürlich mit Zustimmung des verantwortlichen Ministers. Das hat unter anderem seinen Grund, weil es sich um komplizierte Waffensysteme made in USA handelt. Auch laufen diese ganzen Operationen in Gaza bereits in Kooperation. Manchmal öffnet sich ein Fenster, zum Beispiel als vier Geiseln befreit wurden. Bei dieser Aktion wurden 200 Menschen getötet. Dabei war eine US-amerikanische Spezialeinheit – ein Kommando für Geiselbefreiung – mit im Einsatz. Da gibt es eine ganz enge Kooperation.  Sie waren vor Ort. Wenn so etwas durchgeführt wird, dann sitzen sie auch zusammen in einem Operationsraum. Dass es bei den USA eine Verantwortlichkeit für das gibt, was das israelische Militär macht, steht ausser Zweifel. Man würde immer noch gerne glauben, die Länder seien doch Demokratien und für den Frieden – aber die Realität ist eine andere. 

Man staunt auch über die mangelnde Empörung über die Pager-Attacke.

Ich habe mit einem KI-Experten gesprochen und ihm die Frage gestellt, wie es sein kann, dass Israel eine Operation wie die im Libanon mit Tausenden von Verletzten durchführt, und der Westen das nicht verurteilt. Die Bundesregierung hat das nicht verurteilt. Dieser Experte äusserte sich dahingehend, dass sie nichts dazu sage, weil sie in Zukunft diese Waffen auch benutzen wolle. Das war eine persönliche Vermutung, aber von einem gut informierten Experten.

Wenn diese neue Art von wahllosen Attacken auf Menschen, die elektronische Geräte mit sich führen, nicht geahndet wird, dann werden dadurch neue Massstäbe gesetzt, so dass andere Staaten oder nicht staatliche Akteure diese Methode auch übernehmen könnten. Der libanesische Aussenminister hat dazu gesagt: «Wenn das nicht verurteilt wird, werden andere auch so vorgehen. Was noch geschieht, ist, dass unsere Gesellschaften gegenüber solch einer brutalen Tat empfindungslos werden.» 

Wenn man sich in die Forschung der Rüstungsindustrie einmal einliest, dann sieht man, dass sie in dieser Entwicklung förmlich nach vorne rennt. Israel ist bekannt dafür, dass es auch im Auftrag der EU bestimmte Systeme für Drohnen entwickelt. Man muss sich die Frage stellen, ob das, was Israel mit seiner barbarischen Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen und im Libanon macht, vielleicht sogar eine Art Testfeld für bestimmte militärische Vorgehensweisen und Waffensysteme eröffnet. Auf einer Waffenmesse, die ich einmal besuchte, um dort Aufnahmen für einen Film über den Irak zu machen, konnte man sehen, wie anwesende Unternehmen ihre Waffensysteme vorstellten und damit warben, wo man die Waffen bereits in Kriegen erfolgreich eingesetzt hatte.  

Netanyahus Ziel, wie er selbst bei jeder Gelegenheit wiederholt, ist die Zerstörung der Hamas, was nach fast einem Jahr Krieg und über 41 800 Toten (Stand 4. 10. 2024) und Tausenden von Vermissten und Verletzten nicht gelungen ist. Jetzt sehen wir, was im Libanon geschieht, wo Israel offenbar das gleiche Ziel gegen die Hisbollah hat und mit denselben Methoden vorgeht. Warum macht Netanyahu den gleichen Fehler noch einmal?
Auch wenn er in der Öffentlichkeit etwas anderes sagt, wird er wissen, dass diese Strategie nicht aufgeht, auch wenn die israelische Armee den Generalsekretär der Hisbollah Hassan Nasrallah bei einem massiven Bombardement in Beirut getötet hat.

Viele Beobachter, Analysten, Militärs – auch in Israel – sagen, dass Netanyahu kein anderes Ziel habe, als den Krieg in die Länge zu ziehen. Die israelische Armee hat auch die Möglichkeiten dazu. Warum? Weil die USA sie bis zu den Haarspitzen bewaffnet haben und unterstützen. Israel hat nun zwei Bataillone mit Reservisten einberufen. Netanyahu glaubt auch, wenn Donald Trump an der Regierung sei, würde er mehr Unterstützung bekommen, oder er rechnet zumindest damit, was nicht auszuschliessen ist. Sollte das so sein, wird es zu einer Auseinandersetzung mit dem Iran kommen. Der Iran hat schon auf die Ermordung von Nasrallah mit einem grossen Raketenangriff auf Israel reagiert. Netanyahu will jetzt zurückschlagen – man muss mit einem regionalen Krieg rechnen. Genau das scheint auch das Ziel Netanyahus zu sein, Krieg gegen den Iran, an dem sich die USA – zur Verteidigung Israels und der eigenen US-Interessen – beteiligen sollen. Der Tod von Nasrallah biete die «Chance auf eine regionale Neuordnung», so Netanyahu. Er meint: mit den arabischen Golfstaaten gegen Iran. Das ist ganz auf der Linie westlicher Politiker. Jürgen Hardt, der aussenpolitische Sprecher der CDU, sagte kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, Deutschland müsse dafür sorgen, dass Saudi-Arabien mit Israel und weiteren Golfstaaten im Kampf gegen den Iran zusammenkomme. Und Wolfgang Ischinger, langjähriger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, sagte im Interview mit dem gleichen Sender, Israel kämpfe für eine «regionale Neuordnung», was auch im westlichen Interesse sei. Es geht also um Krieg im Interesse der Geopolitik.

Das ist genau das, was Iran nicht will. Er will keinen Krieg, sondern eine friedliche zivile Entwicklung in der Region. Der Iran kritisiert vor allem die USA und manche europäischen Länder, die in der Region die Kontrolle übernehmen wollten. Das führe zu Konflikten und Kriegen – sie sollten gehen, sie sollten die Region verlassen. Der Iran ist mit China und Russland verbündet, um sich im Fall von Angriffen wehren zu können, und will so einen grossen regionalen Krieg verhindern. Iran, Russland, China und andere Staaten streben eine andere Weltordnung an, allerdings keinen Krieg. Wenn man die regionale und internationale Perspektive einnimmt, ist zu sehen, dass die Region keine Kriege will, sondern politische Kooperation und Wiederaufbau. Israel will durch die Kriege seine Position stärken, nicht politisch, aber es bekommt offensichtlich von den westlichen Staaten so grosse Unterstützung dafür, dass es sich auch irgendwie lohnt. Israel hat natürlich auch Verluste durch den Krieg und Abwanderungen von Firmen und der Bevölkerung. Das wird man wahrscheinlich kalkuliert haben. Wenn es tatsächlich einen Waffenstillstand gibt, kann man nachher wieder aufbauen. Für mich stehen die Zeichen eher auf einer Ausweitung und einem langen Krieg, nicht nur im Libanon und Gaza, sondern auch gegen Syrien und Irak. Bemerkenswert ist eine gemeinsame Erklärung von Ägypten, Jordanien und Irak, dass man Israel zwingen muss, diesen Krieg zu beenden. Und interessant ist auch, dass gerade jetzt der iranische Präsident an einem Treffen des Asien- Kooperationsdialogs (ACD) in Doha teilgenommen hat, dem 35 Staaten in Asien angehören. Auch wenn diese Staaten den westlichen Block zu nichts drängen können, ist es doch wichtig, dass man spricht, dass man einen regionalen Dialog mit seinen direkten Nachbarn führt. Das ist die Linie des Iran. Das ist eine grundsätzliche Voraussetzung für strategische Sicherheit in der Region.

Wie könnte das gelingen?

Der Uno-Sicherheitsrat hat die Möglichkeit und angesichts dessen, was geschieht, auch die Pflicht, Strafmassnahmen gegen Israel zu verhängen: Androhung einer militärischen Intervention (Kapitel VII der Uno-Charta), militärische oder wirtschaftliche Sanktionen – es gibt eine Reihe von Strafmassnahmen, denen Israel sich beugen müsste. Dazu wäre aber eine Einigkeit im Sicherheitsrat nötig, die aber mit der Position von Frankreich, Grossbritannien und den USA auf der einen sowie Russland und China auf der anderen Seite nicht zu erreichen ist. Letztere werden für das Scheitern im Sicherheitsrat verantwortlich gemacht. Dazu gehört natürlich auch die mediale Darstellung, besonders in den Ländern, die den Krieg unterstützen. 

Wenn Israel gegen all diese Länder in der Region Krieg führen will, wie soll das gehen? 

Die USA haben Flugzeugträger losgeschickt. Der eine ist im Arabischen Golf, der andere soll jetzt ins Mittelmeer fahren. Zusätzlich haben sie die Truppenstärke erhöht. Offiziell sind jetzt 40 000 Soldaten in der Region auf verschiedenen Stützpunkten, und sie haben diese Zahl nochmals erhöht. Sollten die USA tatsächlich in die Auseinandersetzung militärisch eingreifen, wird dort vieles «in die Luft fliegen». 

Wenn die USA eingriffen, wären sie in zwei Kriege verwickelt, die möglicherweise lange andauern könnten. Als eigentlicher Feind der USA gilt China. Die USA haben doch auch limitierte Kapazitäten? 

Deshalb brauchen sie die Unterstützung der Nato. Deshalb brauchen sie das Geld der arabischen Golfstaaten. Man kann im Moment zusehen, wie die USA vorgehen. Die arabischen Golfstaaten, die sich auf der einen Seite den BRICS-Staaten angeschlossen haben, bei der Shanghai Kooperation mitmachen, Vereinbarungen mit China haben, die werden jetzt von Washington abgeworben, vor allem die Arabischen Emirate, Katar und Saudi-Arabien haben Angebote für Sonderverträge von den USA bekommen. Dabei handelt es sich um Visumserleichterungen, neue Rüstungssysteme für Saudi-Arabien und einen speziellen Status als militärische Partner. Mit solchen Angeboten versuchen die USA, die Länder gegen Iran und gegen China auf ihre Seite zu ziehen. China und BRICS arbeiten anders. Im Oktober findet der BRICS-Gipfel statt, da wird man sehen, was diskutiert wird. Die Organisation arbeitet nicht mit Militarisierung, sondern mit Kooperation im Bereich der Wirtschaft und des Handels, auch um ein Gegengewicht zum Dollar zu schaffen. 

Es gab doch unter Vermittlung von China eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Ist es bei dieser Entwicklung den USA noch möglich, Saudi-Arabien auf ihre Seite zu ziehen? 

Die Golfstaaten werden sich wahrscheinlich weder auf die eine noch auf die andere Seite ziehen lassen. Bei den Vereinigten Arabischen Emiraten ist es eher unsicher. Sie haben sehr enge Beziehungen zu Israel, Katar und Saudi-Arabien und suchen nach einer gewissen Unabhängigkeit. Der saudische Aussenminister legte am Rande der Uno-Vollversammlung einen Plan vor, wie die Zwei-Staatenlösung zwischen Israel und Palästina erreicht werden soll. Es geht um eine Globale Allianz, die Mitte September der Organisation für Islamische Kooperation und der Arabischen Liga vorgeschlagen wurde. Sie wird von europäischen Staaten unterstützt. Die Saudis bekommen Angebote von China. China ist der grösste Abnehmer für das Öl aus Saudi-Arabien. China bezahlt gut und schnell. Es hat im Entwicklungsbereich andere Angebote, als es die Amerikaner haben. Saudi-Arabien liess verlauten, dass es keine Zusammenarbeit mit Israel geben werde, solange es keinen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 mit Ostjerusalem als Hauptstadt gibt. Das ist im Augenblick die Position, die muslimische und arabische Staaten betonen. 

Dann scheint das wohl eher Wunschdenken der USA zu sein …

Die USA versuchen, weitere Bündnispartner, wie die Franzosen und die Deutschen zu finden, um ihre Pläne für die Region mit Israel zu erreichen. Bei dem vorhin erwähnten Gespräch mit dem CDU-Politiker hiess es dann, Deutschland müsse mit Israel enger kooperieren und solle überlegen, ob die Bundeswehr nicht Israel schützen könne. In gewisser Weise entspricht das auch dem Vorschlag der deutschen Aussenministerin, sich an einer Schutztruppe in Gaza, die Schutz für Israel sichern soll, zu beteiligen.

Nach Aussagen von Antony Blinken darf sich Israel im Kampf gegen die Hisbollah auf das Selbstverteidigungsrecht berufen. Die offizielle Darstellung lautet, dass die Hisbollah Israel mit Raketen angegriffen und provoziert habe und sich Israel nur selbst verteidige. Wie ist das zu sehen?

Man kann immer nur darauf hinweisen, dass die «Blaue Linie» von 2006 bis 2023 weitgehend ruhig war. Israel hat eine Mauer gebaut und einen Zaun gezogen und versucht, die Vegetation entlang der «Blauen Linie» durch Feuer oder Umpflügen zu zerstören. Israel baute Lausch- und Überwachungsanlagen. Das führte nicht zu schweren militärischen Konflikten, bei denen Tote zu beklagen waren. Im Gegenteil, von libanesischer Seite hat man begonnen, vieles, was 2006 zerstört wurde, wieder aufzubauen. 

Nach der Operation am 7. Oktober stellte sich die Hisbollah als Verbündeter die Frage, was zu tun ist, um Gaza, die Palästinenser und die Hamas zu unterstützen. Die Hisbollah war und ist nicht an einem grossen Krieg interessiert. Sie hat sich entschieden, die militärische Infrastruktur der Israelis anzugreifen, um sie zu schwächen, damit Israel die Kapazitäten, die es im Norden gibt, nicht gegen Gaza einsetzen kann. Der nun von Israel ermordete Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, hat immer wieder erklärt, man werde das sofort beenden, wenn es einen Waffenstillstand in Gaza gebe. Ich sagte ja schon, als es im November 2023 diesen einwöchigen Waffenstillstand gab, war die «Blaue Linie» ruhig, die Hisbollah hat sich an den Waffenstillstand gehalten. Dieser Umstand kommt in den hiesigen Analysen kaum vor. Aber selbst die Unterhändler gingen darauf ein und sagen bis heute, die Front gegen den Libanon beruhigt sich, wenn es in Gaza einen Waffenstillstand gibt. Das heisst, man hat die Ankündigung der Hisbollah ernst genommen. Vorletzte Woche hat Nasrallah das nochmals wiederholt: «Mit diesem Pager-Angriff sind wir schwer getroffen worden, und dennoch werden wir die Unterstützungsfront für Gaza fortsetzen. Sie hört in dem Moment auf, wenn es einen Waffenstillstand in Gaza gibt.» Dabei hat er Netanyahu und Gallant direkt angesprochen. Als Antwort wurde er ermordet.

Welche Bedeutung hat die Hisbollah im Libanon?

Wer den Libanon kennt und ohne Scheuklappen das Land anschaut, der weiss, dass diese Organisation sozial, politisch und wirtschaftlich eine tragende Säule der ganzen Gesellschaft ist. Der Libanon hat grosse politische und wirtschaftliche Probleme, aber die Unterstützung, die es von der Hisbollah im Bereich von Schulen, Krankenhäusern, aber auch wirtschaftlich gibt, wird von anderen Parteien nicht geleistet. Die Hisbollah ist mit vielen Sitzen im libanesischen Parlament vertreten und wird nicht nur von den Schiiten gewählt. Man spricht immer von einer schiitischen Miliz, das ist so nicht richtig. Es gibt Kooperation mit Christen, Sunniten, Drusen. Wenn man den Libanon in diese Schablonen zwängt, dann passen diese Vorurteile. Aber das ist nicht die Realität. 

Ist es nicht so, dass Israel in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ständig den libanesischen und syrischen Luftraum verletzt hat?

Ja, es hat den Luftraum Libanons genutzt, um Angriffe gegen Syrien zu fliegen, was gegen das Völkerrecht verstösst. Israel macht ständig Überflüge auch mit Drohnen und beobachtet das Land. Die Telefone werden abgehört. In Mobiltelefone hackt es sich bei Journalisten oder bei humanitären Arbeitern mit der Software Pegasus ein. Man kann es drehen und wenden, wie man will, Israel respektiert die Souveränität anderer Staaten nicht. 

Was bedeutet das für die libanesische Bevölkerung, die tagtäglich mit diesen Vorgängen konfrontiert ist?

Ich habe viele Freunde und Bekannte im Libanon, die mich aktuell mit schrecklichen Bildern versorgen, selbst sehr beunruhigt sind und unter grossem Stress stehen. Für die Jugendlichen bedeutet das, dass sie nicht zur Schule gehen können. Die Universitäten sind auch geschlossen und werden als Notunterkünfte gebraucht. Junge Menschen, die Prüfungen an der Universität hätten oder die sich auf das Abitur vorbereiten, haben keinen Unterricht, müssen ihre Wohnorte verlassen und sind in einer völlig unsicheren Situation. Manche sind bei Verwandten untergekommen, manche haben mit Hilfe ihrer Verwandtschaft, die im Ausland lebt, Häuser oder Ferienwohnungen in den libanesischen Bergen oder im Norden gemietet. Bei einem Bekannten wohnen 15 Leute an einem Ort, eine Familie mit ihren Kindern, Geschwistern, Onkeln und Tanten. Mit Hilfe von Verwandten konnten sie zwei grosse Wohnungen in den libanesischen Bergen mieten, um erst einmal zur Ruhe zu kommen. Die wenigsten haben diese Möglichkeit, wenn sie keine Angehörigen haben, die ihnen weiterhelfen können. Auch hat der Staat bisher den Weizen mit Hilfe des Welternährungsprogramms subventioniert. Das Programm ist ausgelaufen und die finanzielle Unterstützung für Weizen und Brot ist aufgehoben. In dieser Krisensituation wird nun auch noch das Brot teurer. Die Subventionen für Medikamente sind schon lange aufgehoben. Durch die Angriffe sind die Krankenhäuser völlig überlastet. Hilfe bekommt der Libanon von Iran und Irak. Syrien hat Verletzte und mehr als 100 000 Flüchtlinge aufgenommen – auch Syrer, die im Libanon Schutz vor dem Krieg in Syrien gesucht hatten. Nun hat Israel die Strasse zu dem wichtigsten Grenzübergang Al Masnaa bombardiert und unbrauchbar gemacht.

Das ist doch eine menschliche Katastrophe, und der Westen schweigt. Wo führt das hin? 

Natürlich weiss niemand, wie es weitergehen soll, weil die Angriffe nicht nur im Norden stattfinden. Es sind schon über 100 syrische Flüchtlinge bei der Bombardierung der Bekaa-Ebene umgekommen, wo viele Flüchtlingslager sind. 

Beirut wird Nacht für Nacht bombardiert mit den schwersten 2000 Pfund-Bomben, mit weissem Phosphor werden vor allem die südlichen Wohnviertel von Beirut in Schutt und Asche gelegt und der Boden wird verseucht. Gigantische Feuerbälle und Wolken liegen über den Wohnvierteln, es ist eine dramatische Situation. Jetzt kommt der Winter, die Regenzeit, für die vertriebenen Menschen wird das Leben zur Katastrophe. 

Wird der am Dienstag begonnene Einmarsch Israels in den Libanon ein zweites Gaza werden?

Das ist das Ziel Israels. Die Aufrufe zur Evakuierung – angeblich zum Schutz der Bevölkerung – gleichen dem Vorgehen der israelischen Armee in Gaza. Nicht nur die Bewohner im Südlibanon auch die Bewohner der Dörfer um Tyros, die ganze Stadt Nabatieh und die Bewohner der südlichen Vororte von Beirut wurden von Israel aufgefordert, die Gebiete zu verlassen. Die Begründung ist, in den Gebäuden befänden sich Hisbollah-Zentralen, die Israel bombardieren werde. Damit folgt die israelische Armee dem Angriffsmuster in Gaza, wo seit einem Jahr Angriffe auf zivile Infrastruktur, Schulen, Kliniken, Notunterkünfte damit begründet werden, dass sich dort Hamas-Kommandozentralen befänden. Belege dafür gibt es ebenso wenig, wie für die Angaben der israelischen Armee, dass sich in den libanesischen Dörfern und Häusern, die von Israel angegriffen werden, Hisbollah-Waffen und Abschussrampen befänden. Tatsächlich aber wird die Zivilbevölkerung in ihren Häusern, auf den Strassen angegriffen. Ziel der Angriffe sind nicht Kämpfer, sondern Menschen, ungeschützte Familien, Kinder, Alte, Kranke.

Zu der angeblichen Bodenoffensive ist zu sagen, dass der Versuch eines militärischen Einmarsches entlang der «Blauen Linie», die Libanon und den Norden Israels trennt, gescheitert ist. Die israelischen Soldaten wurden von der Hisbollah abgewehrt. Am Fatima-Tor und bei Maroun a-Ras liessen die israelischen Truppen Panzer zurück, mindestens 20 Soldaten wurden getötet und mehr als 30 Soldaten wurden – auch nach Angaben der israelischen Armee – verletzt. Die israelische Seite spricht von 250 getöteten Hisbollahkämpfern in vier Tagen. Tatsache ist, dass die Hisbollah täglich 100 Raketen und mehr in den Norden Israels feuert. Sirenenalarm prägt den Alltag der Israelis, die in Bunker laufen oder das Land verlassen.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Gedanken zum Frieden

Präambel der Uno-Charta

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, 

• künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,

• unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen,

• Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

• den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in grösserer Freiheit zu fördern,

und für diese Zwecke

• Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,

• unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,

• Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und

• internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.

zif. Wer Mitglied der Uno ist, hat sich mit den Grundsätzen, die in der Präambel der Charta festgehalten sind, einverstanden erklärt und sich verpflichtet, diese zu beachten und zu fördern.
Jeder bewaffnete Konflikt fordert Menschenleben und führt bei den Hinterbliebenen auf beiden Seiten zu Trauer, Schmerz und Verzweiflung.Nur friedliche Lösungen im Sinne des Geistes der Uno-Charta, der Menschenrechte sowie des humanitären Völkerrechts geben Hoffnung.

veröffentlicht am 10. Oktober 2024

«Interoperabilität» – oder wie die Schweiz «kriegstauglich» gemacht werden soll

Zwei Initiativen wollen die Souveränität und die Neutralität der Schweiz zurückholen

von Thomas Kaiser

Ereignisse wie am 11. September 2001, am 24. Februar 2022 oder am 7. Oktober 2023, die uns aufgrund permanenter Wiederholungen durch die Medien förmlich ins Gedächtnis gebrannt worden sind, ermöglichen, politische Veränderungen durchzusetzen, die schon lange in der Warteschlaufe ausharren.

Im Windschatten des 24. Februars 2022 konnten besonders im Bereich des Militärs und der Verteidigung Entwicklungen vorangetrieben werden: verstärkte Anlehnung an Nato und EU, unverhältnismässige Erhöhung des Militärbudgets, Verlassen des Wegs der Neutralität und anderes mehr. Die innen- und aussenpolitischen Auswirkungen sind evident.

Nach dem 24. Februar konnte Bundesrätin und Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), Viola Amherd, auf einer Welle der Hysterie und der von den Medien geschürten Kriegs­angst beginnen, ihren Plan einer verstärkten Anlehnung an internationale Militärorganisationen umzusetzen. Russ­land als Aggressor gab eine gute Projek­tionsfläche, um sowohl in der Aufrüstung als auch in der Kooperation mit Nato und EU voranzuschreiten. Das beschworene Szenario, dass Putin das Baltikum, Polen und weitere osteuropäische Staaten ins Visier nehmen könnte, wenn er denn die Ukraine niedergerungen hat, geistert bis heute in den Köpfen von Politikern und Medienschaffenden herum. Diese Stimmung bereitete den Nährboden für die Vision, die russische Armee könnte im schlimmsten Fall bis an die Schweizer Grenze oder darüber hinaus vorrücken. So äusserte sich Ständerat Werner Salzmann in der Samstagsrundschau vom 8. Juni.Auch wenn er sicher kein Befürworter eines Nato-Anschlusses ist und  sinnvoller Weise die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz stärken will, gibt er dennoch all denjenigen eine Steilvorlage, die behaupten, dass sich die Schweiz nicht mehr alleine verteidigen könne. Doch auch diejenigen, die der Meinung sind, nur eine engere Kooperation mit der Nato bringe der Schweiz den nötigen Schutz, sind wohl Opfer der Kriegshysterie.

Putin ante portas?

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Putin erreicht seine aktuellen Kriegsziele, Zerstörung von militärischem Potenzial der Ukraine und die vier von Russland anerkannten autonomen Republiken im Süden und Osten der Ukraine vollständig unter die Kontrolle Russlands zu bringen, was in den nächsten Wochen aller Voraussicht nach der Fall sein wird. Gestärkt durch den Sieg bekommt Putin Hunger auf noch mehr. Wie in verschiedenen Medien zu vernehmen ist, beanspruche er die gesamte Ukraine. Will er vollenden, was nach westlicher Geschichtsschreibung Stalin nicht gelungen ist, nämlich ganz Europa zu unterwerfen? Erobert er das Baltikum und nachher Polen? Marschiert er nach Westen, um seinen von der Nato beschworenen Plan in die Tat umzusetzen?² Wenn jetzt tatsächlich seine Armeen bis an die Schweizer Grenze vorstiessen, hätte er die Nato bereits besiegt, was ebenfalls unrealistisch ist. Alle Länder, die Putin hätte durchqueren müssen, bevor er an der Schweizer Grenze stünde, sind Nato-Staaten, mit Ausnahme von Österreich. Damit hätte das Bündnis für kollektive Sicherheit völlig versagt. Würde also der Schweiz eine Zusammenarbeit mit der Nato und der Nato mit der Schweiz bei einem Angriff Russlands helfen? Unwahrscheinlich. Die Schweiz muss selbst eine der Realität angepasste eigenständige Verteidigung aufbauen anstatt mit Bündnispartnern zu kooperieren, die anscheinend zu schwach sind, um Russland standzuhalten.

Neben militärischem Potenzial war und ist die beste Verteidigung für die Schweiz immer noch die Neutralität. Wenn der Bundesrat so argumentiert, dass sich die Schweiz vor einem russischen Angriff schützen müsse, und daher vermehrte Rüstungsanstrengungen nötig seien, die auf die Nato ausgerichtet sind, hat das mit einer realen Bedrohung und der Verteidigung des Territoriums wenig zu tun. Dass sich die Schweiz entsprechend einer realistischen Einschätzung einer Bedrohungslage autonom verteidigen kann, soll damit nicht in Frage gestellt werden. Die stärkste Waffe der Schweiz aber ist die immerwährende bewaffnete Neutralität. Der grösste Schweizer Beitrag zum Frieden ist, Vermittlungen zwischen verfeindeten Staaten anzubieten und sich  in einem Konflikt nicht auf die Seite einer Kriegspartei zu stellen. 

Schweizer Teilnahme an PESCO

Doch Bundesrätin Viola Amherd verfolgt einen anderen Plan, nämlich in militärischen Belangen eng mit EU und Nato zusammenzuarbeiten. Das ist kein Resultat von Russlands «militärischer Sonderoperation», sondern der Plan stand schon vorher auf ihrer Agenda: «Amherd signalisierte das grundsätzliche Interesse an PESCO bereits im Oktober 2021, ein halbes Jahr vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Das Departement setzt also um, was die Chefin längst angekündigt hat.»3 Dazu bot sich in der Kriegsstimmung eine günstige Gelegenheit.

Was sich hinter der Abkürzung PESCO (Permanent Structured Cooperation, deutsch: Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, kurz SSZ) verbirgt, lässt sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Was soll eine «Ständige Strukturierte Zusammenarbeit» für die Schweiz bedeuten? Das VBS gibt darüber Auskunft: «PESCO Permanent Structured Cooperation stellt einen bedeutenden Schritt für die europäische Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung dar, da erstmalig verbindliche Absprachen getroffen wurden. PESCO ist eine der wichtigsten Verteidigungsinitiativen der EU und wurde in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt. 25 von 27 EU-Mitgliedstaaten beteiligen sich an ihr und den Projekten, mit denen die Verpflichtungen umgesetzt werden.»⁴ Der Bundesrat erteilte an seiner Sitzung vom 21. August Viola Amherd grünes Licht für die Teilnahme der Schweiz an zwei Projekten der PESCO. Die beiden Projekte «Military Mobility» und «Cyber Ranges Federation» eröffnen der Schweiz die Möglichkeit, die internationale militärische Zusammenarbeit weiterzuentwickeln und auszubauen.⁵

Mit der Ukraine gegen Cyberangriffe

Es geht darum, bei der Abwehr von Cyberangriffen mit anderen Teilnehmerstaaten zu kooperieren, was die Schweiz bereits tut. Sie hat im Rahmen von PESCO bereits Übungen mit der Ukraine in der Cyberabwehr absolviert. So titelte der «Blick» am 25. August: «Schweizer trainierten mit Cyberkriegern aus der Ukraine» und stellt zu Recht die Frage: «Ist das mit der Neutralität vereinbar?» Tatsächlich übten «Armeeangehörige in Tallinn, im Nato-Kompetenzzentrum für Cyber-Abwehr, den digitalen Krieg. Unter den Teilnehmern: Spezialisten aus Kiew.»6 Da man heute den Cyber-Krieg als eine Form von Kriegshandlungen betrachtet, die das Militär trainieren muss, macht die Schweiz mit einer Kriegspartei ein «Manöver» und arbeitet in einer der «Truppengattungen» eng mit ihr zusammen. Im Grunde genommen bedeutet das, es werden Schweizer Truppen nach Estland geschickt, damit sie bei einem Manöver, an dem auch die Ukraine teilnimmt, den Ernstfall üben können.Das zweite Projekt, die «Military Mobility», das der Bundesrat genehmigt hat, gilt auch für den Kriegsfall. «Military Mobility dient der Vereinfachung, Standardisierung und Beschleunigung von Verfahren sowie der Modernisierung von (Verkehrs-)Infrastruktur, um Truppen und Material in Europa schneller grenzüberschreitend verlegen zu können.»⁷ Die teilnahme der Schweiz ist ein klarer Verstoss gegen das V. Haager Abkommen, Kapitel 1: Rechte und Pflichten der neutralen Mächte, Artikel 2. Darin heisst es: «Es ist den Kriegführenden untersagt, Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen.»⁸ Bundesrätin Amherd scheint das nicht zu stören, denn sie macht vorwärts, auch in Bezug auf die Nato-Anbindung. Die Zeit, dieses Ziel umzusetzen, scheint, günstig: «Aufgeschreckt durch den Ukraine-Krieg hat sich der Bundesrat die weitere Nato-Annäherung zum Ziel gesetzt. Der Krieg habe gezeigt, wie wichtig die internationale Zusammenarbeit ist, begründete Amherd …».⁹

Von der PfP zum Gipfeltreffen des Nordatlantikrats

Ein kleiner Rückblick legt nahe, dass die neutrale Schweiz nach dem Ende des Kalten Kriegs einen Weg Richtung Nato eingeschlagen hat. Seit 1996 ist sie Mitglied der Nato-Unterorganisation Partnership for Peace (PfP), die zum Ziel hat, Nicht-Nato-Staaten für einen Vollbeitritt anzuwerben. Die Bedenken, dass damit der Grundstein für eine engere Zusammenarbeit mit der Nato gelegt ist und die Neutralität tangiert wird, sind als Fantasie abgetan worden. Die Mehrheit des Parlaments und der Bundesrat sahen darin einen unbedenklichen Schritt, da man nach dem Ende des Kalten Kriegs eine erneute militärische Auseinandersetzung  für unwahrscheinlich hielt. Um so unsinniger war der Beitritt. Dennoch hat man die Armee sukzessive weiter der Nato angepasst, insbesondere die Armeereform von 2003 (Armee XXI), arbeitete auf eine verstärkte Anpassung an die Nato hin. Dem folgten weitere Schritte wie zum Beispiel die Teilnahme an der Interoperabilitätsplattform der Nato.10

Ein Jahr nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs gehörte ein Bundesratsmitglied zu den Geladenen des Gipfeltreffens des Nordatlantikrats vom 22. Februar 2023. «Mit Bundesrätin Viola Amherd nahm zum ersten Mal überhaupt die Spitze des Schweizer Verteidigungsdepartements an einem Treffen des Nordatlantikratsteil, also jenes Gremiums am Nato-Hauptsitz in Brüssel, in dem die Vertreter und Vertreterinnen der 30 Nato-Staaten die wichtigsten Beschlüsse fassen.»11 Damals waren es noch 30 Staaten, inzwischen sind Schweden und Finnland hinzugekommen.

Schweizer Armee trainiert verstärkt mit Nato-Staaten

Im Jahr 2024 ist die Schweiz im Rahmen der Nato an mehreren Übungen dabei. Am 14. Februar legte der Bundesrat in seiner Sitzung unter anderem fest: «Für 2024 sind insgesamt 24 Ausbildungsaktivitäten vorgesehen. davon sechs Übungen im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden (PfP). 18 Ausbildungsaktivitäten sind auf bilateraler Ebene mit ausgewählten Staaten geplant, hiervon werden voraussichtlich vier in der Schweiz und 14 im Ausland stattfinden.»12 Ein wichtiges Ziel innerhalb der internationalen Kooperation im militärischen Bereich ist die Interoperabilität: «In Hinblick auf die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee ist die internationale Zusammenarbeit von besonderer Bedeutung. Ausbildungsaktivitäten mit internationalen Partnern fördern den Wissens- und Erfahrungsaustausch und geben der Schweizer Armee Vergleichsmöglichkeiten, um die eigenen Fähigkeiten und Prozesse zu überprüfen und die Interoperabilität zu steigern. Zudem eröffnet die internationale Kooperation Zugang zu Trainingsmöglichkeiten, die so unter anderem aufgrund umweltbedingter Einschränkungen in der Schweiz nicht möglich wären, beispielsweise für Übungen der Luftwaffe in grösseren Formationen. Im Gegenzug kann die Schweizer Armee anderen Staaten Ausbildungsinfrastrukturen sowie spezifisches Fachwissen (zum Beispiel Simulatoren oder Ausbildungen im Hochgebirge) zur Verfügung stellen.»13

Der hier verwendete Begriff der «Interoperabilität» war im Zusammenhang mit der Armeereform Armee XXI ein häufig gehörtes Argument. Worum es dabei konkret geht und was es für die Schweiz bedeuten soll, wurde dem Volk nie erklärt, aber es beeindruckte, wenn dieses Wort verwendet wurde. Heute feiert die Propagierung der Interoperabilität eine Renaissance. 

Armee verstärkt auf Nato ausrichten

Eine Motion der Grünliberalen Partei beauftragte den Bundesrat, «die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, damit alle Einsatztruppen der Schweizer Armee, insbesondere das Heer, mit den Truppen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der Nato interoperabel sind.»14 In der Begründung der Motion heisst es: «Im Bereich der Sicherheit müssen wir die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und der Nato verstärken, aber gleichzeitig unsere Neutralität wahren. […] Die Lösung für eine schnelle Integration ist Interoperabilität, und zwar in dem Sinne, dass die Armee so organisiert, ausgebildet und geführt werden muss, dass sie an Operationen von und mit der Nato oder den Truppen der EU-Mitgliedsländer teilnehmen kann.» Auch hier taucht die «Interoperabilität» auf und ist schon etwas konkreter formuliert. Dass der Anhang «unsere Neutralität wahren» ein Feigenblatt ist, dürfte nur unschwer zu erkennen sein.

Erhellend ist die Antwort des Bundesrates, der interessanterweise die Motion mit der Begründung ablehnt, es sei bereits alles in der Motion Geforderte erfüllt und diese daher obsolet. Viola Amherd erklärte unter anderem: «Die Ausrichtung der Armee auf die Zusammenarbeit mit Partnern im Inland wie mit ausländischen Streitkräften, insbesondere der Nachbarstaaten, ist seit Jahren eine Priorität der sicherheitspolitischen Strategie des Bundesrats. Auch der sicherheitspolitische Bericht 2021 legt als eines der neun Ziele der nächsten Jahre die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit fest und betont die Bedeutung der militärischen Zusammenarbeitsfähigkeit15

Out of Area-Einsätze der Schweiz?

Es erstaunt bei Amherds Agenda nicht, dass die Armee nicht mehr als erstes auf die Verteidigung des eigenen Territoriums ausgerichtet ist, sondern auf die Zusammenarbeit mit ausländischen Streitkräften. Man versucht seit dem Ukraine-Krieg, der Schweizer Bevölkerung einzubläuen, dass das eigene Land unter Umständen auch mit «out of area»-Einsätzen verteidigt werden muss, so wie es seinerzeit der deutsche Verteidigungsminister Peter Struck formulierte: «Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt», und heute in der Ukraine.16 Ist das alles mit der Schweizer Bundesverfassung (BV) zu vereinbaren? Unter Artikel 58 Absatz 2 der BV hat die Armee folgenden Auftrag: «Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Das Gesetz kann weitere Aufgaben vorsehen17 Bekanntlich gibt es kein Gesetz, das der Schweizer Armee erlaubt, im Verbund mit anderen Staaten oder Militärbündnissen das Land zu verteidigen – nichts von militärischer Interoperabilität. Denn sie «bezieht sich auf die Fähigkeit von Streitkräften verschiedener Staaten, gemeinsam zu operieren und effektiv zusammenzuarbeiten, obwohl sie möglicherweise unterschiedliche nationale, technische und operationelle Standards haben. Sie stellt sicher, dass Streitkräfte aus verschiedenen Ländern oder Organisationen (z. B. Nato) in der Lage sind, ihre Ausrüstung, Verfahren, Kommunikationssysteme und taktischen Ansätze so zu koordinieren, dass gemeinsame Missionen erfolgreich durchgeführt werden können.», so ein hochrangiger Offizier. Heisst im Klartext, sich militärisch so weit zu homogenisieren, dass man zusammen Krieg führen kann.

Nationalrat versucht, Amherd zu bremsen

Doch ungebremst kommt Frau Amherd nicht voran. Sie wollte noch weiter gehen und gemäss ihrer Agenda durchsetzen, dass die Armee an Übungen im Rahmen von Artikel 5 des Nato-Vertrags teilnimmt. Dieser besagt: «Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffes jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechtes der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, […]».18 Doch das Parlament entschied anders und folgte einer Motion der Sicherheitspolitischen Kommission (Sik-N). «Der Nationalrat will der Schweizer Armee die Teilnahme an Übungen verbieten, bei denen die Nato den sogenannten Bündnisfall trainiert. Für den Rat würde die Teilnahme der Schweizer Armee an solchen Übungen faktisch die Aufgabe der Schweizer Neutralität bedeuten.»19 Bedauerlicherweise war der Ständerat anderer Meinung. Es wäre an der Zeit, dass das Parlament sich Viola Amherd in den Weg stellt, damit die Schweiz auf keinen Fall zur Kriegspartei in einem bewaffneten Konflikt wird.

Widerstand regt sich

Da die Stossrichtung des Bundesrats unübersehbar ist, regt sich immer mehr Widerstand im Land, je länger der Krieg in der Ukraine andauert und je deutlicher wird, dass alles, was uns die etablierten Medien und die Politik über den Ukraine-Krieg vorgesetzt haben, häufig wenig bis gar nichts mit der Realität zu tun hat. Manche Medien finden einen Spin, der selbst die Niederlage zu einem Erfolg werden lässt.

Widersprüche in den Medien fördern den Widerstand

Besonders zu Beginn des Krieges bis zum Scheitern der ukrainischen Offensive im Sommer 2023 galt das Narrativ, mit westlichen Waffen wird die Ukraine Russland aus dem Land werfen. Die Ukraine hat das Potenzial dazu: «Russland verliert den Krieg in der Ukraine. Russische Soldaten verlassen ihre Panzer aus Angst und fliehen. Die Offensive steckt fest, die Soldaten sind demotiviert, es fehlt an Treibstoff, an Nahrung. Ein krasses Beispiel für den desolaten Zustand der russischen Armee ist die Verpflegung. Die ganze Welt staunte, als man Bilder zu sehen bekam von 2015 abgelaufenen Feldrationen, die getötete und gefangengenommene Soldaten auf sich trugen. Putins Armee muss marodieren, um nicht zu verhungern. All das besagt, dass die neue Armee Russlands die alte Sowjetarmee geblieben ist, die Armee der Hungrigen20 Wie kann eine Armee von Versagern bis an die Schweizer Grenze vordringen? Die Widersprüche häufen sich, da der Krieg einen ganz anderen Verlauf nimmt als einen von der Mehrheit der Medien und von Politikern prognostizierten Sieg der Ukraine. In einem Artikel vom 2. Oktober mit dem Titel «Bittere Niederlage für die Ukraine: Die Stadt Wuhledar fällt den Russen in die Hände» zeichnet die NZZ ein düsteres, aber wohl realistisches Bild, da die Ukraine kaum noch in der Lage ist, dem russischen Vormarsch etwas entgegenzuhalten: «Wuhledar hat als Ort keine grosse strategische Bedeutung, da hier keine wichtigen Verkehrsachsen verlaufen und für die Truppen Moskaus der Weg ins Landesinnere nun nicht automatisch offen ist. Aber die Niederlage ist nur schon deshalb ein schwerer Schlag, weil damit ein Symbol der ukrainischen Widerstandskraft verschwindet. Dass die Verteidiger nach zweieinhalb Jahren aufgeben mussten, passt ins Gesamtbild einer Armee, die in den vergangenen Monaten an vielen Frontabschnitten laufend Terrain räumen musste, unter sinkender Kampfstärke leidet und kein Rezept gegen die vernichtenden russischen Gleitbomben gefunden hat.»21

Politische Initiativen für den Frieden

Politische Initiativen wie die Neutralitätsinitiative leisten einen entscheidenden Beitrag zum Frieden. Sollte sie an der Urne angenommen werden, bringt sie der Schweiz die Neutralität zurück, die seit dem Wiener Kongress völkerrechtlich anerkannt ist. Ihren Beitrag für den Frieden kann sie so wieder leisten, indem sie zwischen verfeindeten Staaten die Rolle als neutraler Mediator einnehmen kann. Pseudoverhandlungen wie das peinliche Theater auf dem Bürgenstock, das vor allem den Egos von Bundesrat Cassis und Bundesrätin Amherd dienen sollte, sind ohne Wirkung, solange die Schweiz eine Kriegspartei unterstützt. Durch ihr undiplomatisches Verhalten und die freiwillige Übernahme der Sanktionen gegen Russ­land hat sie sich als Vermittlerin selbst aus dem Rennen genommen. Das muss dringend korrigiert werden.

Auch die neu lancierte «Kompass-Initiative», die verlangt, dass alle Verträge mit der EU Volk und Ständen zur Genehmigung vorgelegt werden sollen, klingt interessant und verspricht eine lebhafte Auseinandersetzung.22 Und das ist es, was unser Land dringend braucht. Eine ehrliche öffentliche Auseinandersetzung über alle Fragen, die die Schweiz im Inneren und Äusseren betreffen. Das Referendum für alle Verträge mit der EU einzuführen ist eines direktdemokratischen Staates würdig. Nur wenn die Bevölkerung mitentscheiden kann, wird die Schweiz wieder über ihr eigenes Schicksal bestimmen können. 

1 www.srf.ch/audio/samstagsrundschau/greift-ihr-sicherheitsverstaendnis-zu-kurz-werner-salzmann?id=12603317

2 www.nzz.ch/international/europa-und-die-russische-bedrohung-was-hat-putin-als-naechstes-vor-ld.1828729 

3 www.nzz.ch/schweiz/die-europa-politikerin-amherd-versucht-die-militaerische-annaeherung-an-die-eu-ld.1842670 

4 www.vbs.admin.ch/de/nsb?id=102126

5 www.vbs.admin.ch/de/nsb?id=102126 

6 www.blick.ch/politik/nato-uebung-in-estland-schweizer-trainierten-mit-cyberkriegern-aus-der-ukraine-id20068319.html

7 www.bmvg.de/de/themen/sicherheitspolitik/gsvp-sicherheits-verteidigungspolitik-eu/military-mobility-pesco-projekt-264014 

8 https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/26/499_376_481/de

9 www.blick.ch/politik/stopp-fuer-nato-annaeherung-sicherheitspolitiker-wollen-amherd-bremsen-id19453961.html

10 www.parlament.ch/rm/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20163896

11 www.srf.ch/news/schweiz/treffen-amherd-stoltenberg-schweiz-und-nato-wo-ein-wille-ist-ist-nicht-immer-ein-weg

12 www.vbs.admin.ch/de/nsb?id=100029

13 www.vbs.admin.ch/de/nsb?id=100029 

14 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20223560

15 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20223560

16 www.nzz.ch/meinung/unsere-sicherheit-wird-im-donbass-verteidigt-ld.1782085

17 www.fedlex.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/1999/404/20240101/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-1999-404-20240101-de-pdf-a-2.pdf 

18 www.bmvg.de/de/aktuelles/gemeinsam-entscheiden-artikel-4-und-5-des-nato-vertrages-5572746

19 www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2024/20240613183820825194158159026_bsd161.aspx

20 www.nzz.ch/feuilleton/ukraine-krieg-die-russischen-soldaten-kaempfen-ohne-moral-ld.1675803

21 www.nzz.ch/international/ukraine-mit-dem-fall-von-wuhledar-ist-ein-widerstandssymbol-in-russischer-hand-ld.1851109

22 kompasseuropa.ch/kompass-initiative/

veröffentlicht am 10. Oktober 2024

Exzeptionalismus und Völkerrecht

von Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger*

Der Exzeptionalismus ist Ausdruck des animus dominandi [Machtstreben] mächtiger Nationen, die sich weigern, sich den etablierten Regeln des menschlichen Zusammenlebens zu unterwerfen, und die das Völkergewohnheitsrecht ablehnen. Stattdessen erfinden diese Akteure nach Belieben neue Regeln und geben vor, dass ihre sagenumwobene «regelbasierte internationale Ordnung» irgendwie legitim ist, und in gewissem Sinne die Uno-Charta ersetzt. Eine kürzlich von Professor Jeffrey Sachs (Columbia University) für den Uno-Zukunftsgipfel erstellte Studie zeigt einen Index, in dem Barbados an erster und die Vereinigten Staaten an letzter Stelle auf der Liste der Länder stehen,¹ die geneigt sind, die Uno-Grundsätze und die internationale Solidarität in die Tat umzusetzen

Ein naher Verwandter des Exzeptionalismus ist der Chauvinismus, der manchmal fälschlicherweise als Patriotismus bezeichnet wird, um ihn schmackhafter zu machen, ja sogar edel klingen zu lassen, obwohl das offensichtliche Ungleichgewicht uns ein leichtes Unbehagen bereitet. Der Exzeptionalismus ist bisher erfolgreich gewesen, weil seine Opfer kaum über die Macht verfügen, sich ihm wirksam zu widersetzen: Schwächere Länder sind Erpressungsopfer, die sich vor militärischen und anderen Interventionen fürchten. Der Exzeptionalismus ist eine Manifestation jener alten Regel, an die wir uns aus dem Melianischen Dialog in Thukydides' Peloponnesischem Krieg erinnern: «Die Starken tun, was sie wollen, und die Schwachen ertragen, was sie müssen.»³ Dies spiegelt auch das lateinische Sprichwort «quod licet Iovi, non licet bovi» wider – was Jupiter erlaubt ist, ist uns Rindern nicht erlaubt.

Im Laufe der Geschichte haben Assyrer, Perser, Ägypter, Griechen, Römer, Mongolen, Spanier und Briten ungestraft «Macht ist Recht» praktiziert. Im 21. Jahrhundert sind es vor allem die USA, ihre Nato-Vasallen und Israel, die mit Unterstützung und Komplizenschaft der Mainstream-Medien dieses Prinzip anwenden. Durch Öffentlichkeitsarbeit und unerbittliche Propaganda ist es gelungen, viele davon zu überzeugen, dass Exzeptionalismus und militanter Interventionismus in Ordnung sind. Diese Auffassung herrscht im «kollektiven Westen» vor, aber die globale Mehrheit in Lateinamerika, Afrika und Asien scheint mit den Pastellfarben des US-Wohlwollens nicht einverstanden zu sein. Es entsteht allmählich eine neue, multipolare Welt.

Der Geist des Exzeptionalismus durchdringt die westliche Gesellschaft und zeigt sich in vielem, was unsere Politiker, Akademiker und Journalisten sagen und tun. So erinnern wir uns an die Aussage von US-Aussenministerin Madeleine Albright, die Vereinigten Staaten seien die «unverzichtbare Nation».⁴ Man erinnert sich auch an ein Interview, in dem sie die Ansicht vertrat, dass der Tod von 500 000 irakischen Kindern (UNICEF-Schätzungen) «es wert war» («it was worth it»), weil das Endziel, Saddam Hussein zu entmachten, erreicht werden sollte.⁵ Der Zweck heiligt die Mittel. Ihr Ansatz ist nicht allzu weit entfernt von den eigennützigen Aussagen George W. Bushs vor, während und nach dem Irak-Krieg oder von Donald Trumps pompösem «Make America Great Again»-Slogan (MAGA) oder von Aussenminister Mike Pompeos jubelndem Eingeständnis: «Wir haben gelogen, wir haben betrogen, wir haben gestohlen».⁶ Auf einer noch niedrigeren moralischen Ebene ist Hillary Clintons Kommentar zur Ermordung von Mohammar Gaddafi anzusiedeln: «Wir kamen, wir sahen, er starb.»⁷ Das war Hybris in Reinkultur.

Der Exzeptionalismus gedeiht im Universum des amerikanischen Solipsismus: Nur wir sind wichtig.  In gewisser Weise erinnert diese Weltanschauung an eine calvinistische Tradition, die von den Puritanern im 17. Jahrhundert nach Massachusetts gebracht wurde.⁸ Die frommen Pilger sahen sich selbst als die «Auserwählten», die dazu bestimmt waren, die nordamerikanischen Gebiete als ihr rechtmässiges Erbe zu besetzen, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, als Nachfolger des alten Jerusalem, der Stadt auf dem Hügel.⁹ Sie bereiteten die Bühne für den muskelbepackten amerikanischen Exzeptionalismus späterer Jahrhunderte, wie er in der Monroe-Doktrin proklamiert und in der Geopolitik des Manifest Destiny umgesetzt wurde.10 Diese mentale Disposition ermöglichte die Enteignung und ethnische Säuberung Nordamerikas von seinen Ureinwohnern, den Algonquins, Crees, Cherokees, Dakotas, Hopi, Irokesen, Lakotas, Mohawks, Navajos, Pequots, Seminolen, Sioux, Squamish usw., die einst 10 Millionen Menschen zählten und Ende des 19. Jahrhunderts auf 300 000 abgenommen hatten.11

Nur wenige Amerikaner waren bereit, das Ausmass dieser Tragödie zu ermessen, die Martin Luther King Jr. zu Recht als «Völkermord» bezeichnete. Im Jahr 1964, vier Jahre vor seiner Ermordung, veröffentlichte er ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel «Why We Can't Wait».12 Auf Seite 141 lesen wir: «Unsere Nation wurde in einen Völkermord hineingeboren, als sie sich die Doktrin zu eigen machte, dass der ursprüngliche Amerikaner, der Indianer, eine minderwertige Ethnie sei. Noch bevor eine grosse Zahl von Schwarzen (negroes) an unseren Küsten lebte, hatte die Narbe des Rassenhasses bereits die koloniale Gesellschaft entstellt. Vom 16. Jahrhundert an floss Blut in den Kämpfen um die Vorherrschaft der Rassen. Wir sind vielleicht die einzige Nation, die im Rahmen ihrer nationalen Politik versucht hat, ihre einheimische Bevölkerung auszurotten. Darüber hinaus haben wir diese tragische Erfahrung zu einem edlen Kreuzzug erhoben. In der Tat haben wir es bis heute nicht geschafft, diese schändliche Episode zu verurteilen oder Reue zu empfinden. Unsere Literatur, unsere Filme, unsere Dramen, unsere Folklore verherrlichen sie alle.»13 Auch das war eine Form des amerikanischen Exzeptionalismus.

Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Menschenrechten

Das Völkerrecht und die Menschenrechte sind eng miteinander verbunden und verstärken sich gegenseitig. Wenn also das Völkerrecht ungestraft verletzt wird, leidet das gesamte System einschliesslich der Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte. Die ungleiche, willkürliche Anwendung des Völkerrechts bedeutet, dass einige Menschen nicht in vollem Umfang durch das Gesetz geschützt sind, zurückgelassen werden, während andere Privilegien geniessen; sie zementiert eine Herrenmensch-Philosophie und bedeutet eine spezielle und eindeutige Verletzung des grundlegendsten Prinzips der Menschenrechte: die Gleichheit aller Menschen.

Der Exzeptionalismus verletzt die Würde des Einzelnen, wenn das Gesetz einige begünstigt, andere aber ausbeutet, unterdrückt und verfolgt. Er verstösst gegen Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in dem es heisst: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»14

Der Exzeptionalismus verstösst auch gegen Artikel 26 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR): «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, besonders wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.»15

Der Missbrauch des Völkerrechts durch den Exzeptionalismus bestätigt das imperiale Vorrecht, in den Krieg zu ziehen und Präventivschläge gegen potenzielle Feinde zu führen. Er spiegelt die pseudoreligiöse und pseudowissenschaftliche Philosophie der Überlegenheit wider. Um dieser Ächtung entgegenzuwirken, legt der IPBPR in Artikel 20 fest: «(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.

(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten16 Es überrascht nicht, dass die meisten Länder des «kollektiven Westens» Vorbehalte gegenüber dem IPBPR geäussert haben, die besagen, dass sie Artikel 20 nicht akzeptieren würden.

Dieser animus dominandi verstösst auch gegen Artikel 4 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1965:  «Die Vertragsstaaten verurteilen jede Propaganda und alle Organisationen, die auf Ideen oder Theorien hinsichtlich der Überlegenheit einer Rasse oder einer Personengruppe bestimmter Hautfarbe oder Volkszugehörigkeit beruhen oder die irgendeine Form von Rassenhass und Rassendiskriminierung zu rechtfertigen oder zu fördern suchen; sie verpflichten sich, unmittelbare und positive Massnahmen zu treffen, um jedes Aufreizen zur Rassendiskriminierung und alle rassisch diskriminierenden Handlungen auszumerzen …»17 In ähnlicher Weise wird das Übereinkommen von 1973 über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid verletzt18 – nicht nur in Südafrika vor der Befreiung durch Nelson Mandela, sondern auch heute in Israel unter Benjamin Netanyahu.

In diesem Zusammenhang ist es auch angebracht, an die Worte am Anfang der US-Unabhängigkeitserklärung von 1776 zu erinnern: «Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden sind …».19 Im gleichen Sinne heisst es in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, deren Artikel 1 lautet «Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.»20

Wie wirkt sich nun die Doktrin des Exzeptionalismus in der nationalen und internationalen Praxis auf diesen allumfassenden Grundsatz der Gleichheit aus? In einem am 11. September 2013 in der New York Times veröffentlichten Meinungsartikel äusserte Wladimir Putin seine Besorgnis: «Es ist äusserst gefährlich, Menschen zu ermutigen, sich selbst als aussergewöhnlich zu betrachten, unabhängig von der Motivation … Wir sind alle unterschiedlich, aber wenn wir um den Segen des Herrn bitten, dürfen wir nicht vergessen, dass Gott uns alle gleich geschaffen hat.»21

Exzeptionalismus und das Risiko einer nuklearen Konfrontation

Der Exzeptionalismus birgt viele Gefahren in sich. Insbesondere im Nuklearzeitalter kann die narzisstische Vorstellung, aussergewöhnlich zu sein, unsere Wahrnehmung trüben, uns dazu verleiten, die Denkweise anderer falsch einzuschätzen, und so unsere Risikobewertung beeinträchtigen. Länder, die den Exzeptionalismus praktizieren, legen traditionell eine naive Nonchalance in Bezug auf das, was sie sagen und tun, an den Tag. Sie lieben das Glücksspiel. Sie gehen für sich und andere Risiken ein. Sie provozieren und erwarten, dass die andere Seite nicht reagiert, dass die Provokation «absorbiert» wird.

Leider steht im Atomzeitalter nicht nur die Sicherheit des exzeptionistischen Provokateurs auf dem Spiel, sondern das Schicksal der gesamten Menschheit. Die USA und die Nato-Staaten, insbesondere das Vereinigte Königreich, spielen seit Jahren ein Vabanquespiel, und sie glauben offenbar, dass sie dies unbegrenzt tun können. Obwohl allen klar sein sollte, dass niemand eine nukleare Konfrontation überleben wird, spielen die USA, das Vereinigte Königreich und einige Nato-Länder weiter mit dem Feuer und eskalieren den Krieg in der Ukraine in unverantwortlicher Weise, anstatt nach Wegen zu suchen, den Konflikt durch Diplomatie und Verhandlungen zu beenden. Dies ist ein weiterer Grund, warum sich die globale Mehrheit in Lateinamerika, Afrika und Asien mehr Gehör verschaffen muss, denn wenn sich die Nato wie in der Vergangenheit verkalkuliert, werden die Folgen von allen Bewohnern unseres Planeten getragen werden.

In der Uno besteht Konsens darüber, dass Atomwaffen niemals eingesetzt werden dürfen. Bereits 1995 verabschiedete der Sicherheitsrat die Resolution 98422 und verlängerte den Atomwaffensperrvertrag auf unbestimmte Zeit.23 Im Jahr 2004 verabschiedete der Sicherheitsrat die Resolution 1540, mit der alle Staaten verbindlich verpflichtet wurden, innerstaatliche Kontrollen einzuführen, um die Verbreitung von Kernwaffen zu verhindern.

Am 30. November 2022 beschloss die Resolution 2663, «dass der ‹1540-Ausschuss› sowohl nach fünf Jahren als auch vor der Verlängerung seines Mandats umfassende Überprüfungen des Standes der Durchführung der Resolution 1540 (2004) vornehmen wird, so auch durch die Abhaltung offener Konsultationen des Ausschusses in New York …», und forderte die Staaten auf, «bei der Durchführung der Resolution 1540 (2004) die Entwicklung der Verbreitungsgefahren und die raschen Fortschritte in Wissenschaft und Technologie zu berücksichtigen».24 Inzwischen ist am 22. Januar 2021 der Uno-Vertrag über das Verbot von Kernwaffen in Kraft getreten,25 aber die USA, das Vereinigte Königreich, Russland, China und Israel sind keine Vertragsstaaten.

Lippenbekenntnisse zum Völkerrecht sind einfach. Jeder äussert sie. Aber können wir uns darauf verlassen, dass eine dysfunktionale Uno die Welt vor riskanten Vabanque-Politikern schützt?

Die Uno konnte nicht verhindern, dass die Nato gegen das Verbot der Gewaltanwendung (Artikel 2 Absatz 4 der Uno-Charta) verstiess und 1999 Jugoslawien bombardierte und dessen territoriale Integrität unter Vorspiegelung falscher Tatsachen und völlig ungestraft zerstörte.

Im Jahr 2003 stellten die USA wiederum unter dem nachweislich falschen Vorwand «Massenvernichtungswaffen», die berüchtigte «Koalition der Willigen» zusammen, um in den Irak einzumarschieren und ihn zu verwüsten, nur um den bereits 1991 begonnenen Angriff auf die irakische Bevölkerung und die Ausplünderung seiner Ressourcen zu vollenden.26 Der Krieg von 2003, den Uno-Generalsekretär Kofi Annan als «illegalen Krieg» verurteilte,27 stellte eine Rebellion gegen das Völkerrecht und die Uno-Charta durch eine beträchtliche Anzahl von Staaten dar, die sich angeblich der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten verpflichtet fühlen. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen.

Vergessen wir nicht, dass Harry Truman im August 1945, als Japan den Krieg im Pazifik bereits verloren hatte und die USA von Japan in keiner Weise existenziell bedroht waren, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki befahl. In ihrer einzigartigen Hybris verlangten die USA von Japan die «bedingungslose Kapitulation» und würden nichts Geringeres akzeptieren, obwohl Japan seit 1944 Friedensbemühungen unternommen hatte.28 Im Einklang mit ihrer Ausnahme-Philosophie beschlossen die USA, die Japaner und ihren Kaiser zu demütigen. Die Atombombe wurde nicht zu einem legitimen militärischen Zweck eingesetzt, sondern eher zu psychologischen Zwecken –, um die Japaner mit Terror zur Unterwerfung zu zwingen und gleichzeitig die Sowjets zu warnen, dass die USA fortan der einzige Hegemon seien und nicht zögern würden, die Atombombe gegen jeden potenziellen Feind einzusetzen – sogar präventiv. Bislang haben nur die USA Atomwaffen im Krieg eingesetzt. Wenn sie es zweimal gegen Japan getan haben, können sie es dann noch einmal tun, dieses Mal gegen Russland und China?29

Im Nuklearzeitalter hat diese Angeberei keine Überzeugungskraft mehr. Die Russen haben mehr nukleare Sprengköpfe als die USA, und sie verfügen auch über Hyperschallraketen, um sie einzusetzen, was die USA nicht haben. Es ist an der Zeit, John F. Kennedys Eröffnungsrede vom 10. Juni 1963 an der American University wieder aufzugreifen: «Vor allem müssen die Atommächte jedoch Konfrontationen abwenden, bei denen ein Gegner nur die Wahl zwischen demütigendem Rückzug und Atomkrieg hat. Würde man im atomaren Zeitalter einen solchen Kurs einschlagen, wäre dies lediglich ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder dafür, dass wir der ganzen Welt den kollektiven Tod wünschen30

Ich fürchte, dass Kennedy in der heutigen Welt der Fake News und manipulierten Narrative, in der gehirngewaschenen Gesellschaft von heute als «Beschwichtigungspolitiker», ja sogar als Verräter beschuldigt werden würde.31 Und doch steht das Schicksal der gesamten Menschheit auf dem Spiel. Was wir wirklich brauchen, ist ein weiterer JFK oder Jimmy Carter im Weissen Haus.

Schlussfolgerung

Es besteht kein Zweifel daran, dass der amerikanische Exzeptionalismus dem Buchstaben und dem Geist der Uno-Charta, der Wiener Erklärung und dem Aktionsprogramm von 1993 sowie zahlreichen Resolutionen der Uno-Generalversammlung – darunter die Resolutionen 2625, 3314 und 60/1 – widerspricht. Unilateralismus ist auch unvereinbar mit vielen Artikeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, das in Artikel 26 vorsieht, dass Verträge nach Treu und Glauben einzuhalten sind: Pacta sunt servanda.  Zu den Verträgen, die eingehalten werden müssen, gehört in erster Linie die Uno-Charta, deren Artikel 103 – die Vorrangsklausel – ihr Vorrang vor allen anderen Verträgen einräumt, einschliesslich des Vertrags der Nato, und der EU-Verträge von Maastricht und Lissabon.

Es gibt eine ganze Reihe Wissenschaftler in den USA, die uns vor der Gefahr der nuklearen Vernichtung gewarnt und die Notwendigkeit der Deeskalation bekräftigt haben. Zu ihnen zählen die Professoren John Mearsheimer, Jeffrey Sachs, Stephen Kinzer und Francis Boyle. Leider sind sie moderne Kassandras. Es ist eine traurige Tatsache, dass Exzeptionalismus und Unilateralismus zur DNA vieler unserer politischen Führer in den USA, dem Vereinigten Königreich, in Frankreich und Deutschland gehören.

Öffentlichkeitsarbeit und Propaganda haben viele davon überzeugt, dass die Nato ein «Verteidigungsbündnis» sei. Doch seit 1991 und der Auflösung des Warschauer Pakts hat die Nato ihre Daseinsberechtigung verloren und sich in eine aggressive Militärmacht verwandelt, deren Aufgabe nicht die Verteidigung ist, sondern die Expansion um der Expansion willen, die Expansion, um andere zu zwingen, sich dem Willen Washingtons und Brüssels zu unterwerfen, eine Organisation, die vorgibt, die Funktionen der Uno übernommen zu haben.

Die Nato-Streitkräfte haben in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien usw. Aggressionen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit begangen, aber die Fake News, die diese Kriege begleiteten, haben sich inzwischen zu einer gefälschten Geschichte entwickelt, und viele glauben der Apologetik der kriminellen Handlungen der Nato. Im wahrsten Sinne des Wortes sollte die Nato als kriminelle Organisation gemäss dem Präzedenzfall des Nürnberger Urteils von 1946 und der Artikel 9 und 10 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs bezeichnet werden (Londoner Abkommen vom 8. August 1945, das ironischerweise zwei Tage nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und einen Tag vor der Vernichtung von Nagasaki verabschiedet wurde).

Regierungsjuristen tragen eine grosse Verantwortung für diese Misere, für diese Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit, denn anstatt die politischen Führer zu beraten, wie man die Uno-Charta und die Urteile des Internationalen Gerichtshofs am besten umsetzt, wie man den Frieden bewahrt, wie man internationale Solidarität praktiziert, suchen sie nach Wegen, wie man sich aus internationalen Verpflichtungen herauswinden kann, wie man Schlupflöcher in Verträgen findet, wie man exzeptionalistische Auslegungen des Völkerrechts formuliert.

Am 21. September 2024 haben wir den Internationalen Tag des Friedens begangen,32 mitten in Kriegen und von der Vernichtung bedroht. Wir sind näher an der nuklearen Apokalypse als je zuvor seit 1945. Die Nato ist ausser Kontrolle geraten. Was wir brauchen, sind ein sofortiger Waffenstillstand und diplomatische Verhandlungen, um die Kriege in der Ukraine, in Israel/Palästina, im Libanon, im Jemen, in Syrien und im Sudan zu beenden. Die globale Mehrheit muss die überholten Paradigmen des Exzeptionalismus und des Unilateralismus resolut ablehnen und die Spiritualität der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederentdecken. Pax optima rerum [Frieden ist das höchste aller Güter]. 

Quelle: https://www.counterpunch.org/2024/09/25/exceptionalism-and-international-law/

Übersetzung Zeitgeschehen im Fokus

¹ www.un.org/en/summit-of-the-future

² impakter.com/the-nations-most-and-least-likely-to-support-un-principles/

³ www.thecollector.com/melian-dialogue-thucydides/

1997-2001.state.gov/statements/1998/980219a.html

www.youtube.com/watch?v=omnskeu-puE

www.youtube.com/watch?v=DPt-zXn05ac

www.youtube.com/watch?v=6DXDU48RHLU

⁸ David Stannard, American Holocaust, Oxford 1992.

⁹ Genesis,9:7.

10 Richard Drinnon, Facing West, University of Oklahoma Press, 1997.

11 Alfred de Zayas, Countering Mainstream Narratives, Clarity Press, Atlanta 2022.

12 Dr. Martin Luther King Jr., Why We Can’t Wait (New York: New American Library, Signet Classics, 2000);

13 de Zayas, Countering Mainstream Narratives, p 54.

14 www.un.org/en/about-us/universal-declaration-of-human-rights

15 www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/international-covenant-civil-and-political-rights

16 Ibid.

17 www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/international-convention-elimination-all-forms-racial

18 www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/Doc.10_International%20Convention%20on%20the%20Suppression%20and%20Punishment%20of%20the%20Crime%20of%20Apartheid.pdf

19 declaration.fas.harvard.edu/resources/text

20 www.elysee.fr/la-presidence/la-declaration-des-droits-de-l-homme-et-du-citoyen

21 www.nytimes.com/2013/09/12/opinion/putin-plea-for-caution-from-russia-on-syria.html

22 en.wikipedia.org/wiki/United_Nations_Security_Council_Resolution_984

23 disarmament.unoda.org/wmd/nuclear/npt/

24 www.documents.un.org/doc/undoc/gen/n22/716/75/pdf/n2271675.pdf

25 www.disarmament.unoda.org/wmd/nuclear/tpnw/

26 Hans Blix, Disarming Iraq, Pantheon, 2004.

27 www.news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/3661134.stm

28 www.jstor.org/stable/2049539

www.cambridge.org/core/journals/journal-of-asian-studies/article/abs/japanese-peace-maneuver-in-19441/1B5B584A53782C211CB28AE71BA3EA56

29 www.foreignpolicy.com/2023/10/27/united-states-middle-east-wars-asia-europe-same-time/

www.foreignaffairs.com/united-states/could-america-win-new-world-war

30 www.counterpunch.org/2022/09/14/natos-death-wish-will-destroy-not-only-europe-but-the-rest-of-the-world-as-well/

NATO’s “Death Wish” Will Destroy Not Only Europe but the Rest of the World as Well

31 www.counterpunch.org/2024/08/09/appeasement-reconsidered/

32 www.internationaldayofpeace.org/

veröffentlicht am 10. Oktober 2024

Gaza-Streifen: Wo können wir noch hin?

von Jamal Al Rozzi

Mein Name ist Jamal Al Rozzi, ich bin seit acht Jahren Geschäftsführer der National Society for Rehabilitation (NSR)*. Bis zum 7. Oktober 2023 führten wir unsere Projekte und Aktivitäten vor Ort wie gewohnt unter den Bedingungen durch, die in Gaza nicht die besten waren, da der Gaza-Streifen unter der Belagerung und Blockade litt, neben den anderen Herausforderungen im Zusammenhang mit Wasser- und Stromknappheit sowie der Zugänglichkeit von Waren, Medikamenten, Hilfsmitteln und vielem mehr.

Als der Krieg begann, mussten wir nach einer Woche aus unseren Häusern im Norden des Gaza-Streifens in den Süden fliehen (ich kam mit meiner Familie in Khan Younis unter), wie viele andere Menschen, die evakuiert wurden, unter Bombardierungen, Tötungen und vielen anderen Operationen, die Strassen, Häuser, Gemeinschaften und Infrastruktur zerstörten. 

Ab diesem Zeitpunkt waren wir von unserem Hauptbüro in Gaza-Stadt getrennt, in dem sich alle unsere Papiere, Stempel, Laptops, Computer, Materialien und Dokumente befanden. Die zweite Woche verbrachten wir damit, unsere Unterkunft von null auf einzurichten (Lebensmittel und Wasser, Kleidung und Grundbedürfnisse), während wir in der dritten Woche begannen, uns umzusehen und zu erkunden, was wir wie tun können. Wir standen vor der ersten Herausforderung neben der Sicherheit: Kommunikation. Wir fanden unsere MitarbeiterInnen nicht mehr, die überall verstreut waren. Es gelang mir, einige Kollegen zu erreichen, die auch in Khan Younis waren, und wir fragten uns: Warum fangen wir nicht an, uns zu bewegen und etwas für die Menschen vor Ort zu tun, die unsere Unterstützung brauchen? Wir dachten, es ist an der Zeit, jetzt etwas zu tun.

Die NSR verfügte über Notvorräte in Khan Younis und im mittleren Gebiet, die Hilfsmittel, Hygiene-, Ankleide-, Küchen- und Würdepakete enthielten. Also begannen wir in kleinen Gruppen, Materialien aus den Lagern zu nehmen und sie an die Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen in den Unterkünften an verschiedenen Orten zu verteilen. Es war immer gefährlich, sich zu bewegen, da die Bombenangriffe ununterbrochen andauerten.

Meine Familie fragte mich: «Willst du in dieser Situation ‘rausgehen und uns hier zurücklassen?» Ich sagte, dass das, was hier passiert, auch dort passieren könnte, aber wir wenigstens etwas Wertvolles für die Menschen tun können, die jetzt in Not sind. Ich konnte mir nicht vorstellen, es nicht zu tun, und zwar jetzt! Meine Tochter begleitete mich zu einigen der Not­unterkünfte, und sie war schockiert über die Lebensbedingungen der Menschen in den Unterkünften und stellte fest, dass sie selbst noch in einer viel geschützteren Situation lebte. Sie, meine liebe Tochter, hat mich ermutigt, weiterzumachen. 

Ein Freund aus Europa fragte mich, warum wir ohne Standard- Sicherheitsverfahren arbeiteten. Ich sagte: «Wir tun das, was jetzt notwendig ist. Was ist sonst der Wert unserer Existenz? Zumindest in dem Bereich, in dem wir arbeiten, und für die verletzlichsten Personen in unserer Gemeinschaft.» Ich fügte hinzu: «Um ehrlich zu sein, ein Teil von dem, was ich tue, ist für mich, um meine Seele zu schützen und um Energie und inneres Gleichgewicht zu gewinnen, um mich selbst und meine Werte zu respektieren. Das hält mich am Leben!»

Als wir begannen, uns im Feld zu bewegen, schlossen sich uns einige Kollegen an. Wir hatten niemanden gezwungen, sondern sie nur gefragt, ob sie mitmachen wollten. Wir entschieden täglich, ob es möglich war, uns zu bewegen, je nachdem, was wir über die Bodenoperationen hörten. Das Risiko von Luftangriffen blieb immer bestehen. Als erstes kartierten wir die Standorte unserer Mitarbeitenden, unserer Begünstigten und des verfügbaren Materials. Auf diese Weise begannen wir mit der Planung, vor allem der Rehabilitation, der Bereitstellung der verbleibenden Hilfsmittel und der psychosozialen Unterstützung in den Unterkünften und überfüllten Häusern. Das Fehlen eines privaten Raums für die psychosoziale Betreuung war eine zusätzliche Herausforderung.

Im Februar 2023, vor dem Beginn des aktuellen Kriegs: In diesem Haus in Gaza-Stadt wohnt eine Familie mit neun Kindern, von denen eines – heute ist er 18 Jahre alt – nach einem Kopfsprung ins Meer mit einer Paraplegie im Rollstuhl sitzt. Ein behindertengerechtes WC wurde von der NSR bereits eingerichtet. Jetzt wird mit Jamal Al Rozzi überlegt, wie der Eingang zum Hof des Hauses verbessert werden könnte. Zwei der Geschwister schauen interessiert zu. (Bild hhg)

Diese Phase dauerte bis zum Ende des ersten und einzigen Waffenstillstands, der mit einer erneuten Evakuierung von Khan Younis in die Gebiete Rafah und Mawasi endete. Dies schuf neue Hindernisse für die Kommunikation und die Bewegungsfreiheit, aber wir fanden einen Weg, die Arbeit vor Ort fortzusetzen, bis unsere Vorräte fast aufgebraucht waren.

Während der drei Monate hatten wir ein weiteres Problem im Zusammenhang mit Banküberweisungen. Für alle Zahlungen waren zwei Unterschriften erforderlich, aber es war fast unmöglich, die erforderlichen Personen zu erreichen. Unsere Mitarbeitenden erhielten vier Monate lang keine Gehälter. Glücklicherweise konnte dieses Problem dank der Flexibilität unserer Bank gelöst werden. Der Internetzugang war an den meisten Orten unregelmässig.

In der letzten Januarwoche 2024 musste ich mit meiner Familie weiter nach Rafah fliehen, das bereits mit Evakuierten aus dem gesamten Gaza-Streifen überfüllt war. Auch viele unserer Projektteams flüchteten nach Rafah und richteten sich im Korridor einer Organisation, auf dem Markt oder an einem anderen Ort ein, der gut zu erreichen war, um unsere Dienstleistungen erbringen zu können.

Mit der Evakuierung verloren Menschen mit Behinderungen den Grossteil ihres Unterstützungsnetzes und ihrer Hilfsmittel. Wer ein Fahrzeug benutzen konnte, hatte dort fast keinen Platz. Und wer zu Fuss ging, musste auf den zerstörten Strassen die Menschen mit Behinderungen tragen. So oder so, Gehhilfen und Rollstühle blieben zurück – niemand hatte erwartet, dass der Krieg so lange andauern würde.

Die psychologische Situation verschlimmerte sich, da sich die Menschen mit Behinderungen mehr und mehr als Last für alle anderen empfanden. Die Flüchtlingsunterkünfte und Zelte waren nicht für sie geeignet. Sie brauchten viel Unterstützung für alles, wie z. B. Medikamente, Wasser, Lebensmittel, Hygiene, Toiletten unter Tausenden von Evakuierten. Wir bemühten uns, Wege zu finden, um zumindest die schwächsten Menschen mit dem zum Überleben notwendigen Minimum zu versorgen, wobei wir uns auf diejenigen konzentrierten, die keine Familie oder andere Art von Unterstützung hatten.

Im März wurden wir erneut evakuiert, diesmal in das Lager Nuseirat. Ich musste mehrmals nach Rafah gehen, was jeweils drei Stunden dauerte, und ich musste bei Tag zurückkehren. Die Gefahr war nachts grösser, weil wir nicht sehen konnten, was passierte. Auf persönlicher Ebene hinderten mich die fehlenden Transportmöglichkeiten daran, an der Beerdigung von zwei meiner Tanten teilzunehmen, die während des Krieges starben. Es ist sehr schwierig für mich, meinen Verpflichtungen, die unsere Kultur festlegt, nicht nachkommen zu können.

Im April stellte die NSR zwei Teams zusammen, die mit Behinderten, älteren Menschen und Verletzten arbeiteten und medizinische Rehabilitationsdienste wie Physiotherapie, Beschäftigungstherapie, Krankenpflege, psychosoziale Unterstützung und Eingliederung anboten. Unser Team und ich waren viel zu Fuss unterwegs und benutzten Karren. Für eine Internetverbindung mussten wir einige Kilometer laufen, und manchmal dauerte es einige Tage, bis die Nachrichten ankamen. Ausserdem mussten wir wie alle anderen Menschen auch täglich für Nahrung und Wasser sorgen.

Im Februar 2023, vor dem Beginn des aktuellen Kriegs: Die 42-jährige Mutter dieser Familie ist körperlich behindert. Hier wurde das Bad behindertengerecht umgebaut, eine Batterie zur Überbrückung der Stromausfälle installiert sowie ein weisser Tank für die Aufbewahrung des Trinkwassers. «Das Trinkwasser im Tank, das gekauft werden muss, reicht in der Regel für zwei Wochen», so der Vater, der neben Jamal Al Rozzi zu sehen ist. (Bild hhg)

Ende April flohen meine Familie und ich aus familiären Gründen aus dem Gaza-Streifen nach Ägypten. Eine Woche später wurde Rafah City eingenommen und die Grenze geschlossen. Mehr als eine Million Menschen mussten nach Mawasi evakuiert werden, was bedeutete, dass noch mehr Menschen in heissen Plastikzelten lebten und litten. Die Versorgung mit dem Nötigsten kam völlig zum Erliegen. Mit Beginn des Sommers wurde die Hitze in den Zelten zur Hölle, insbesondere für Menschen mit Behinderungen, weil sie die Zelte nicht verlassen konnten. Durch den Wassermangel wurde die Hygiene zu einem ernsten Problem, und es traten neue Hautprobleme auf – eine grosse Katastrophe.

Anfang Mai richtete die NSR ein Rehabilitationszentrum in der Region Dair Al-Balah ein mit multidisziplinären Teams, die neben der Bereitstellung von Medikamenten, Hilfsmitteln, Milch, Hygienesets und Windeln für die vertriebenen Menschen auch medizinische Beratung, Verbände, Physiotherapie und psychosoziale Unterstützung anbieten. Anfang Juni eröffneten wir in Zusammenarbeit mit der Palestinian Medical Relief Society (PMRS) ein Gesundheitszentrum in Gaza-Stadt, das medizinische und gesundheitliche Dienste anbietet. Tausende Menschen waren aufgrund der systematischen Zerstörung der gesamten medizinischen Infrastruktur in Gaza-Stadt und im Norden des Landes in grosser Not. Nach dem Erfolg des Zentrums in Gaza-Stadt eröffneten wir zusammen mit der PMRS ein weiteres Gesundheitszentrum in Khan Younis. Zudem bildeten wir neue Einsatzteams im mittleren Gebiet, um die Menschen in den Zelten und Unterkünften zu versorgen. Unsere Teams leisten grossartige Arbeit unter unmöglichen Bedingungen, während sie – wie alle anderen Menschen im Gaza-Streifen – mit den Herausforderungen des täglichen Lebens konfrontiert sind, einschliesslich der Sicherheitsbedrohungen, der ständigen Evakuierungen und der Bewältigung des täglichen Lebens. Mit den neuen Projekten wurde der Personalbestand der NSR viermal so gross wie vor dem Krieg. Unsere Arbeit wird von internationalen Organisationen wahrgenommen, die nun beginnen, mit uns an Projekten und in Partnerschaft zusammenzuarbeiten. Wir hätten nie gedacht, dass dieser Krieg so lange dauern würde, mit so viel Tod und Zerstörung. Wir wissen nicht, wann er enden wird. Wir werden weiter vor Ort arbeiten und Wege finden, den Menschen zu helfen und Vertrauen in unsere Arbeit aufzubauen. Wir bereiten auch Szenarien und Pläne für das Kriegsende vor, denn wir wissen, dass die Menschen viele Dienstleistungen benötigen werden, angefangen bei Medikamenten, Pflege, medizinischer Rehabilitation und psychosozialer Unterstützung. Am wichtigsten ist es, dass wir unserem Grundsatz treu bleiben: Die Bedürftigen stehen im Mittelpunkt unserer Arbeit.

* Die NSR wurde 1990 in Gaza von
Dr. med. Hedart Neshati gegründet, da
die Übergriffe der israelischen Armee
– Gaza stand damals noch unter israe-
lischer Besatzung – zu teils schweren
Verletzungen führten, die eine me-
dizinische Rehabilitation notwendig
machten. Bis zum 7. Oktober 2023 un-
terstützte die NSR im Gaza-Streifen an
verschiedenen Standorten gemeinde-
basierte Rehabilitationsprogramme.

Aus: Kampagne Olivenöl aus Palästina - extrakt Nr. 39, Herbst 2024

veröffentlicht am 10. Oktober 2024

Zurück