Berufsweltmeisterschaften in Abu Dhabi – die Bedeutung der guten Berufsbildung in der Schweiz

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschaftler

Überall konnte man es lesen: Die Schweizer Mannschaft hat an den Berufsweltmeisterschaften in Abu Dhabi 20 Medaillen erobert, davon 11 goldene. Sie erreichte damit den zweiten Platz hinter den Chinesen. Laut Medienchef Roland Hirsbrunner war die Konkurrenz enorm, vor allem aus den asiatischen Ländern. Diese bereiten ihre Teilnehmer zum Teil während ein bis zwei Jahren speziell auf diese Wettbewerbe vor. Darum ist der Schweizer Erfolg umso mehr zu gewichten, denn unsere Landsleute sind Lehrlinge, die sich auf privater Basis zumeist neben ihrem Beruf auf diesen Wettbewerb vorbereitet haben.

(Bild courtesy of WorldSkills International)

 

Im Gegensatz zu anderen Jahren wurden die Aufgabenstellungen dieses Jahr erst kurzfristig bekanntgegeben. Niemand konnte sich darum speziell vorbereiten, was Berufsleute bevorteilte, die ein breites Wissen und Können mitgebracht hatten. Das waren vor allem die jungen Erwachsenen aus der Schweiz. Sie besassen auf Grund ihrer Ausbildung in ihren Lehrbetrieben ein gefestigtes, breit abgestütztes Wissen, das sie unmittelbar und vor allem flexibel anwenden konnten. Die Ergebnisse in Abu Dhabi haben einmal mehr gezeigt, wie gut unser duales Berufsbildungssystem in der Schweiz ist. Die Lehrlinge erhalten in ihrer Lehre fachliche Grundlagen und erarbeiten sich in den Berufsschulen die für die tägliche Arbeit wichtigen theoretischen Kenntnisse. Um dieses System beneiden uns verständlicherweise viele Länder. Immer wieder kommen darum Delegationen aus den USA, aus Grossbritannien und anderen Staaten, um unser System zu studieren. Wir können auf diese Errungenschaft wirklich stolz sein und müssen sie unbedingt erhalten. Umso unverständlicher ist es, dass gewisse Kreise in der Schweiz immer wieder versuchen, das duale System abzuschaffen und die Ausbildung der Jugend zu akademisieren. Sie verweisen z. B. auf Deutschland, das einen viel höheren Anteil an Jugendlichen hat, die mit dem Abi­tur abschliessen. Sie erwähnen dabei meist nicht, dass dafür der Anteil arbeitsloser Jugendlicher in Deutschland wesentlich höher ist, nämlich bei etwa 6 %, nicht eingerechnet dabei ist die Billiglohnarbeit, die viele junge Erwachsene in Deutschland annehmen müssen. Da wird mit Löhnen von 8 Euro pro Stunde gerechnet! 

Tiefe Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz

Unser duales System ist einer der Gründe für die tiefe Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. Sie ist hier halb so gross wie in Deutschland und dauert meist nicht lange, weil junge Menschen mit einer abgeschlossenen Berufslehre bei uns begehrt sind und anständige Löhne bekommen. In Deutschland gilt die Berufslehre wegen der Akademisierungswelle denn auch als Karrieresackgasse. Auf diesem Hintergrund erstaunt das schlechte Abschneiden Deutschlands am Berufswettbewerb in Abu Dhabi nicht: Deutschland hat eine zehnmal grössere Einwohnerzahl als die Schweiz und erreichte gerade einmal drei Medaillen. Bei uns hat die Berufslehre dagegen einen hohen Stellenwert und ist auch die Grundlage für weiterführende Schulung in den einzelnen Branchen. Nach der Lehre sind auch der Erwerb der Berufsmaturität und der Einstieg in eine Fachhochschule möglich. 

Aktuelle Schulreformen benachteiligen zukünftige Lehrlinge

Die Beobachter an den diesjährigen «World Skills» sind sich aber einig: In Zukunft werden die asiatischen Vertreter die Nase vorne haben. Wir dürfen uns darum nicht auf den Lorbeeren ausruhen und müssen die Anstrengungen ­verstärken, Schüler mit guten Grundlagen in die Lehrbetriebe zu schicken. Mit den aktuellen Schulreformen werden aber gerade die Schülerinnen und Schüler benachteiligt, die bis heute eine Lehre gemacht haben. Wenn Lehrer ihre Kinder nicht mehr unterrichten, anleiten, korrigieren und erziehen dürfen, sondern als sogenannte Lernbegleiter auftreten müssen, wird gerade diese Gruppe von Kindern benachteiligt. Von ihren Elternhäusern bereits gut vorbereitete Kinder kommen mit allen Lernformen mehr oder weniger zurecht, auch wenn sie, auf sich alleine gestellt, die ganze Zeit vor einem Computer sitzen, der ihnen die nächsten Lernschritte vorgibt. Nicht aber der Hauptharst der Schülerinnen und Schüler. Sie werden in ihren Leistungen zurückfallen auf das bescheidene Niveau, das wir schon aus den angelsächsischen Schulen kennen. Besonders in den Gebieten, die an den diesjährigen Weltmeisterschaften gefordert waren, nämlich beim breit gefächerten Grundlagenwissen, werden wir gegenüber den asiatischen Ländern nicht mehr bestehen. Die aktuellen Schulreformen, insbesondere der Lehrplan 21, haben ihren Ursprung in den angelsächsischen Ländern und wurden von der OECD, einer Wirtschaftsorganisation, vorgegeben und von gewissen Politikern in der Schweiz am Volk vorbei eingeführt. Sie sind rein wirtschaftlich und nicht mehr allgemeinbildend orientiert. Die asiatischen Staaten werden diese bildungsfeindlichen, falschen Theorien sicher nicht übernehmen!

Leider scheint auch die Mehrheit unserer Bundesräte die Bedeutung einer guten Berufsbildung nicht wirklich zu erfassen. Bundesrat Schneider-Ammann hat kürzlich einen Kredit über 30 Millionen Franken für die im Jahre 2021 in Basel stattfindende Berufsweltmeisterschaft beantragt. Der Gesamtbundesrat sagte dazu nein, weshalb die Meisterschaft nicht in Basel stattfinden kann. Dafür hat der gleiche Bundesrat eine Milliarde Franken (!) bewilligt für eine Kandidatur der olympischen Winterspiele. Während die Weltmeisterschaften der Berufe sehr sinnvoll sind und die Teilnehmer höchste Anerkennung verdienen, setzt der Bundesrat auf die Olympiade, bekanntermassen eine Veranstaltung, bei der es um Macht, Korruption, Doping usw. geht, sicher aber nicht um das Wohl der Jugend. Die Frage stellt sich, worum es eigentlich der Mehrheit unserer Bundesräte geht.

Duale Berufsbildung – «Theorie und Praxis sind ineinander verschmolzen»

Interview mit Nationalrat Jakob Büchler

Nationalrat Jakob Büchler, CVP / SG (Bild thk)
Nationalrat Jakob Büchler, CVP / SG (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung messen Sie der Berufsbildung und unserem Berufsbildungssystem zu?

Nationalrat Jakob Büchler Unsere Berufsbildung ist zentral und sehr wichtig, denn es geht darum, unsere gewerblichen Berufe weiter im Land zu fördern und aufrechtzuerhalten. Unser System, das sogenannte duale System, hat den grossen Vorteil, dass theoretische und praktische Ausbildung parallel verlaufen. Der Lehrling bekommt eine Lehrstelle, lernt dort von Grund auf das Praktische und befasst sich begleitend auch mit der Theorie. So wird er auf zwei Schienen zum Abschluss geführt. Das ist eine Stärke unserer Schweiz.

Warum sehen Sie darin einen Vorteil?

Eine gewerbliche Ausbildung ergibt ein sehr breit abgestütztes Wissen. Theorie und Praxis sind ineinander verschmolzen, und das ist unser grosser Vorteil. Verglichen mit dem Ausland haben wir hier einen enormen Vorsprung. Nicht zuletzt sieht man das an den tollen Ergebnissen bei der Berufsweltmeisterschaft in Abu Dhabi, bei der die Schweiz 20 Medaillen, davon 11 goldene, geholt hat.

Wie sieht die Ausbildung in anderen Ländern aus?

Ich habe mit einem Kollegen in Schweden gesprochen. Der hat mir erzählt, wenn bei ihm ein Sanitärinstallateur anfängt, dann ist der zwar an der Mittel- und Hochschule gewesen, aber hat noch nie eine Rohrzange in der Hand gehabt. Das heisst, er hat zwar ein sehr gutes theoretisches Wissen, aber hat noch nie mit dem Werkzeug arbeiten müssen. Er weiss nicht, ob ein Gewinde links- oder rechtsherum geht. Das sind zwar einzelne Aspekte, die aber sehr wichtig sind. Deshalb muss man die duale Bildung unbedingt aufrechterhalten.

In der letzten Zeit kann man den Trend beobachten, dass man überall Werbung macht für eine höhere Ausbildung, die zum Teil vom Bund finanziert wird. Was heisst das für das Gewerbe, wenn die Entwicklung weiter in diese Richtung geht? 

Es zeichnet sich leider jetzt schon ab, dass wir in einzelnen handwerklichen Berufen zu wenig Lehrlinge haben. Die Klassengrössen sind so zusammengeschrumpft, dass man Klassen teilweise über weite Distanzen zusammenführen muss, weil zu wenig Lehrlinge vorhanden sind. Gerade der Metzger, der Bäcker, aber auch der Schreiner und der Sanitärinstallateur brauchen Lehrlinge nicht zuletzt auch, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Lehrlinge auszubilden ist immer ein gutes Image für den Betrieb selber. Das zeigt auch, dass man sich mit den Fragen der Ausbildung befasst. Lehrlinge auszubilden ist auch ein Stück Opfersymmetrie. Man muss sich dafür zur Verfügung stellen, man muss sich Zeit dafür nehmen, damit man die jungen Menschen auf den Weg bringen kann. Ich habe selbst als Landwirt 15 Lehrlinge ausgebildet.

Was hat das für Eindrücke bei Ihnen hinterlassen?

Es ist eine sehr schöne Aufgabe. Sie nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, und es ist wichtig, dass man sich die Zeit einräumt, vor allem auch, um sich mit dem Lehrling abzugeben. Es darf nicht so sein, dass man dem Lehrling sagt: «Da ist die Werkbank, jetzt kannst du mal anfangen.» Man muss ihm jeden Arbeitsschritt zeigen und wie der richtige Ablauf ist. Das Anrecht darauf hat er auch, wenn er eine Lehre macht. Er muss erfahren, wie die Arbeit richtig vorwärtsgeht. Das verlangt viel Zeit, aber es ist eine sehr befriedigende Aufgabe. 

Inwieweit ist die Lehrlingsausbildung, so wie Sie sie betrieben haben, auch eine Stütze für unseren Mittelstand und damit für unsere Gesellschaft?

Ich sehe hier ganz klar einen Zusammenhang auch für unser Staatswesen. Der Mittelstand ist eigentlich die Stütze unserer Wirtschaft und unserer Demokratie. Die gewerblichen Berufe sind zum Teil Zulieferer unserer Industrie. Sie sind in dem grossen Getriebe ein ganz wichtiges Zahnrad. Den Mittelstand müssen wir unbedingt aufrechterhalten, damit unsere Arbeitsplätze auch weiterhin dezentral angeboten werden können. Die Grosskonzerne lassen sich in der Nähe der Städte nieder. Ein gewerblicher Unternehmer ist eher in den Dörfern zu finden und ist damit nahe am Geschehen, z. B. in der Bauwirtschaft. Das hat grosse Vorteile. Der Mittelstand muss von uns gestützt werden, andernfalls verlieren wir einen ganz wichtigen Pfeiler unserer Wirtschaft und Gesellschaft, was wir kaum ausgleichen könnten. 

Inwieweit hat der Mittelstand hier eine wichtige Funktion?

Die politische Arbeit in den Gemeinden, die direkte Demokratie kann nur mit einem gesunden Mittelstand aufrechterhalten werden. Wenn nur noch die grossen Konzerne im Land existieren, dann verlieren wir unsere politische, aber auch unsere wirtschaftliche Freiheit. Dann wird alles von den Konzernen diktiert. Die demokratische Mitsprache ist dann nur noch an einem sehr kleinen Ort. Aber trotz diesem Trend haben wir noch einen Vorsprung gegenüber dem Ausland. Dem müssen wir Sorge tragen, denn der Trend ist heute: Zuerst an die Uni oder an andere Hochschulen, dann kannst du dich entscheiden, was du werden willst. Das ist ein Trend, den ich nicht unterstützen kann.

Warum ist das immer mehr der Trend? Ist das ein Mangel an Verantwortungsgefühl? Man will nicht in jungen Jahren schon Verantwortung übernehmen müssen, oder wo sehen Sie die Ursachen?

Es ist ein Trend bei vielen. Ich gehe mal an die Kanti und dann vielleicht an die Uni, dann schaue ich mal, was mir zusagt. Natürlich sagen viele, man sollte eine ausgezeichnete theoretische Ausbildung haben. Da ist gar nichts dagegen einzuwenden, die hat ebenfalls ihre Berechtigung. Aber es muss parallel das praktische Wissen angeboten werden. Wenn jemand im IT-Bereich in Richtung Programmierer geht, dann ist das etwas anderes, als wenn er ein Metzger oder ein Schreiner wird. Das kann man kaum vergleichen. Aber es braucht diese Berufe alle, und damit die Lehrlinge gut ausgebildet sind, muss Theorie und Praxis miteinander verschmelzen. 

Was könnte man tun, damit die handwerklichen und gewerblichen Berufe wieder mehr an Bedeutung gewinnen, dass Metzger, Zimmermann, Maurer usw. als wertvolle Berufe wahrgenommen werden – was sie zweifelsohne sind –, die unsere Gesellschaft auch unbedingt braucht und die gleichwertig gegenüber akademischen, IT- oder sonst welchen Trend-Berufen sind? 

Wir müssen den jungen Menschen aufzeigen, was eigentlich hinter jedem einzelnen Beruf steckt. Man müsste den Jugendlichen in einer Einführungswoche oder einer Schnupperlehre schmackhaft machen, was für abwechslungsreiche Arbeiten all diese Berufe beinhalten. Solche Veranstaltungen können jungen Menschen neue Perspektiven eröffnen. Damit bekommen sie einen weiteren Horizont, als wenn sie nur in der Kantonsschule gesessen sind. Man muss die Jugendlichen an die Berufslehre heranführen und ihnen aufzeigen, was auf sie zukommt. Was beinhaltet der Beruf des Polymechanikers eigentlich? Wenn ich weiss, was alles dahintersteht, dann wäre dieser Beruf vielleicht eine echte Alternative zum Gymi. 

Herr Nationalrat Büchler, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Wie die OECD in die Souveränität der Staaten eingreift 

von Thomas Kaiser, Strassburg

In der Herbstsession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats stand ein Bericht über die Aktivitäten der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)* auf der Traktandenliste. Den Bericht1 verfasst hatte der Schweizer Nationalrat Alfred Heer, der darin drei Themenbereiche untersuchte.

Der erste Punkt beschäftigt sich mit den makroökonomischen Aussichten für die Jahre 2017-2018, wie sie von der OECD analysiert wurden. Sie hält dabei fest, dass die wirtschaftliche Erholung in der OECD-Zone «sehr langsam, stagnierend und fragil» sei und «eine kleinste negative Erschütterung einen neuen Konjunkturabschwung auslösen könnte». Das heisst, die Gesamtwirtschaft steht trotz riesiger Börsengewinne nach wie vor auf tönernen Füssen, und es braucht wenig, um den Wirtschaftskoloss ins Wanken zu bringen, natürlich mit verheerenden Auswirkungen auf alle beteiligten Volkswirtschaften. Interessant ist auch, dass das erwartete Wirtschaftswachstum in den nicht OECD-Ländern grösser sein wird als das der Euro- und der OECD-Zone. «Im Juni 2017 betrug das erwartete Wachstum 2,1 % für die OECD-Zone, 1,8 % für die Eurozone und 4,6 % für die nicht OECD-Länder.»

Exorbitante Verschuldung einzelner Staaten

Ein weiterer Aspekt des Berichts beschäftigt sich mit Steuerangelegenheiten. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008, deren Auswirkungen bis heute
zu spüren sind, haben wir eine extreme Geldmengenausweitung. Man geht davon aus, dass ­z. B. im Euroraum 2000 Milliarden Euro für die Rettung von Banken ausgegeben wurden, dazu kommt eine exorbitante Verschuldung einzelner Staaten. So belaufen sich die Staatsschulden z. B. der USA auf rund 20 000 Milliarden Dollar. Viele Staaten brauchen dringend Geld und versuchen, es im In- und Ausland einzutreiben. Das war der Anlass, die Steuergesetze einzelner erfolgreicher Staaten zu attackieren. Die OECD war massgeblich daran beteiligt, Länder mit einem liberaleren Steuersystem an die Kandare zu nehmen. Das hat nicht nur die Schweiz zu spüren bekommen, der man von Seiten der OECD willkürlich mit «grauen oder schwarzen Listen» gedroht hatte, sondern auch Österreich, Liechtenstein, Luxemburg und weitere Staaten. Dabei ist nicht zu vergessen, dass echte Steueroasen wie die Cayman Islands oder Delaware (USA) nach wie vor unbehelligt sind.

USA halten sich nicht an den Automatischen Informationsaustausch (AIA)

Nach Auffassung des Berichterstatters sehe die OECD Fortschritte beim AIA. «Dank grösserer Transparenz» sei die internationale Steuerhinterziehung besser zu bekämpfen. Welchen Erfolg der AIA wirklich bringt, wird die Zukunft weisen. Dabei hebt Alfred Heer hervor, dass die USA als grösster Finanzplatz in der Welt, «bis heute das Abkommen über den AIA nicht ratifiziert haben und die Regeln über wirtschaftliches Eigentum, die in Übereinstimmung mit der OECD stehen, nicht einhalten.» Das bedeutet, dass die USA sich selbst nicht an die Regeln halten, aber auf andere Staaten losgehen, die sich ebenfalls so verhalten. «Die USA haben ihre eigenen Regeln über den Informationsaustausch, die sich bedauerlicherweise nicht auf dem Standard bewegen, wie ihn die OECD festgesetzt hat.» Auch geht Heer nicht davon aus, dass die USA in Zukunft den Standard der OECD übernehmen werden.

Steuerkonstrukte der Konzerne verhindern

Neben dem AIA soll mit dem «Base Erosion and Profit Shifting» (BEPS) weltweit gegen Gewinnverschiebungen multinationaler Konzerne vorgegangen werden. Dabei geht es um die Frage, wo Steuern von multinationalen Konzernen bezahlt werden sollen. Nach der OECD sollten Steuern dort bezahlt werden, «wo das Geld verdient wird». Kritische Worte findet der Berichterstatter, wenn es um die Steuerkonstruktionen multinationaler Konzerne geht: «Allerdings, künstliche Konstruktionen, die entwickelt werden, um Steuern zu umgehen, müssen verhindert werden.»

Problem der Jugendarbeitslosigkeit

Der dritte Aspekt dreht sich um die Verbindung zwischen wirtschaftlicher Ungleichheit und Wachstum sowie um die Jugendarbeitslosigkeit in den OECD-Ländern. Dabei hält die OECD fest, dass junge Menschen überproportional von der Rezession betroffen waren. So habe sich die Jugendarbeitslosigkeit in der OECD-Zone von 12,1 % im Jahre 2007 auf 17,3 % während der Krise erhöht, was eine doppelt so grosse Erhöhung gegenüber der Erwachsenenarbeitslosigkeit bedeute. Zwar sei sie nachher schneller wieder gefallen, aber mit 13,4 % ist sie bis heute immer noch höher als vor der Krise. Besonders hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit in den Ländern, die während der Bankenkrise besonders stark betroffen waren. «Die Jugendarbeitslosigkeit ist immer noch 10 Prozentpunkte höher als vor der Krise in Spanien, Griechenland, Irland und Italien…»

Duales Bildungssystem wäre eine Lösung

Die Empfehlungen der OECD zur Lösung der Jugendarbeitslosigkeit sind unzureichend. Mit keinem Wort wird das duale Bildungssystem, wie es in der Schweiz, Österreich und auch Deutschland existiert, gewürdigt. Die duale Berufs­­ausbildung, die ein Miteinander von Theorie und Praxis ermöglicht, hat entschieden zu einer niedrigen Jugendarbeitslosenrate beigetragen. Doch stattdessen empfiehlt die OECD: «Die Investition in menschliches Kapital sollte während der frühen Kindheit beginnen…» und beruft sich dabei auf eine Pisa-Studie. Eine weitere Idee beinhaltet «das frühe Verlassen der Schule zu bekämpfen». Auch wird die Chancengleichheit «von benachteiligten und nicht benachteiligten Studenten» empfohlen, um einen hohen akademischen Erfolg zu erzielen. 

Am Ende geht es der OECD um folgendes: «Bildung und Kompetenzen sind der Schlüssel zur Förderung der sozialen Mobilität und lassen eine Gesellschaft entstehen, die mehr prosperiert und fairer ist, weil integrativer.» Ob das wirklich zu einer Verbesserung und Senkung der Jugendarbeitslosigkeit führen wird, scheint doch eher fraglich. 

Kritische Töne

Die Aktivität der OECD im Bereich der Steuern hat auch kritische Töne hervorgerufen, die vor allem den Verlust staatlicher Souveränität und der Freiheit, die Art der Besteuerung selbst zu bestimmen, beklagen, vor allem auch deshalb, weil die USA als grösste Wirtschaftsmacht innerhalb der OECD sich an keine dieser Regeln hält.

1 http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-DocDetails-en.asp?FileID=24123&lang=en

* In der OECD sind über dreissig Staaten assoziiert. Sie ist die Nachfolgeorganisation der OEEC, die bereits 1948 kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde, um die Leistungen aus dem Marshall-Plan in Europa zu überwachen. Unter den 35 Mitgliedstaaten sind nahezu alle europäischen Staaten mit Ausnahme einiger osteuropäischer Staaten wie z. B. Russland oder Weissrussland. Selbst asiatische Staaten wie Japan und Südkorea gehören der Staatengruppe an, ebenso Israel und lateinamerikanische Staaten wie Chile oder Mexiko. Kanada und die USA sind Gründungsmitglieder.

«Die USA haben die schlimmsten Steueroasen der Welt»

Interview mit the Right Honerable the Lord Blencathra, Mitglied des House of Lords, Great Britain

The Right Honerable the Lord Blencathra (Bild thk)
The Right Honerable the Lord Blencathra (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie die Position der OECD in Steuerfragen?

The Right Honerable the Lord Blencathra Die OECD-Agenda, die gegenwärtig glücklicherweise von den G20 abgelehnt wird, treibt eine Vereinheitlichung und Zusammenarbeit in Steuerfragen in allen Staaten voran, zusammen mit einer von der OECD betriebenen Sanktionsgewalt, die Strafzölle verhängen kann. Wenn wir dem nicht gewählten Bürokratenhaufen in der OECD – der meiner Meinung nach stark sozialistisch ausgerichtet ist – die Macht geben, Sanktionen zu verhängen und weltweit Zölle zu erheben, wäre das antidemokratisch, und ich denke, es wäre katastrophal für die Weltwirtschaft. 

Was will die OECD mit ihrer Steuerpolitik erreichen und inwieweit betrifft das die Souveränität der einzelnen Staaten?

In gewisser Weise, wenn wir der OECD die Macht verleihen, die sie will, werden zwei grosse Organisationen geschaffen, die mit der Macht ausgestattet sind, jeden in der Welt gerichtlich zu verfolgen, den sie wollen. Auf der einen Seite hätten wir dann die OECD, auf der anderen die Vereinigten Staaten und deren ausführenden Organe, die meines Wissens im Moment Schweizer Bankiers unter internationalen Haftbefehl gestellt haben.

Warum ist das der Fall?

Nicht etwa, weil sie etwas falsch gemacht haben in der Welt, nicht weil sie Kriminelle sind, sondern weil diese Schweizer Banker in den Augen der USA Kriminelle sind, obwohl sie gemäss den Schweizer Gesetzen handeln. Wir können es nicht zulassen, dass die Vereinigten Staaten ihre Gesetzgebung der ganzen Welt aufoktroyieren. Wir können es nicht zulassen, dass die OECD der ganzen Welt ihre Gesetzgebung aufoktroyiert. Souveräne Staaten müssen die Möglichkeit haben, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. 

Ist das Verhalten der USA nicht etwas paradox?

Ich bin in vielerlei Hinsicht eigentlich ein Freund der Vereinigten Staaten bezüglich der Dinge, die sie auf internationaler Ebene tun. Aber wenn es um sogenannte Steuerregimes und sogenannte Steueroasen geht, spielen die Vereinigten Staaten auf der Ebene der Bundesstaaten ein heuchlerisches Spiel. 

Warum beurteilen Sie das so?

Sie verurteilen Steueroasen in anderen Ländern, aber sie verschleiern die Tatsache, dass sie in einzelnen ihrer eigenen Staaten, in Delaware zum Beispiel und Nevada, die weltgrössten Steueroasen geschaffen haben. Es ist möglich, ein Scheinunternehmen in Delaware mit kriminellen Geldern zu etablieren, mit Terror-Geld, ohne jegliche staatliche Kontrolle. Ich glaube, in Delaware sind mehr kriminelle Organisationen mit Scheinfirmen registriert als nahezu in jedem anderen Land der Welt. Natürlich sagen die Vereinigten Staaten auf präsidialer und auch auf Bundesebene, wir missbilligen Luxemburg, Liechtenstein, die Cay­man-Islands, Marokko und alle diese bösen Länder, aber unter dem Schirm ihrer eigenen staatlichen Gesetzgebung haben sie die schlimmsten Steuerparadiese der Welt. 

Lord Blencathra, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

 

«Die Schweiz muss selbstbewusster auftreten»

Interview mit Nationalrat Thomas Müller 

Nationalrat Thomas Müller, SVP / SG (Bild thk)
Nationalrat Thomas Müller, SVP / SG (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Steuerharmonisierung, wie sie von der OECD gefordert wird, bedeutet doch, dass der einzelne Staat nicht mehr über seine Steuerpolitik selbst entscheiden kann. Ist das letztlich nicht ein Verlust der staatlichen Souveränität?  

Nationalrat Thomas Müller Ganz klar, wobei wir uns vermutlich rasch einig sind, dass jene Staaten, die international ganz bewusst zur Steuerumgehung einladen, keinen Schutz ihres Handelns verdienen. Der politische Mainstream geht aber viel weiter: Er will auch den anständigen Steuerwettbewerb verbieten. Ich meine damit jenen Wettbewerb, bei dem einzelne Staaten sich selbst ganz bewusst Beschränkungen bezüglich Ausgaben und Gesetzgebung auferlegen, damit sie mit weniger Steuern auskommen und auf diese Weise einen Standortvorteil schaffen. Das passt jenen nicht, die ihre Staatsausgaben Jahr für Jahr fast grenzenlos anwachsen lassen und einen entsprechend hohen Steuerbedarf haben. Sie holen sich ihr Geld über zwei Stossrichtungen, zum einen durch Verbot von Steuerwettbewerb und zum andern durch Kontrolle ihrer Bürger. Es ist ja kein Zufall, dass ausgerechnet jene Staaten, die Steuerwettbewerb für schlecht halten, auch die Abschaffung oder Einschränkung des Bargeldverkehrs anstreben. Dabei wird das Schlagwort der Steuerehrlichkeit bloss vorgeschoben. In Wirklichkeit und in der Zielsetzung geht es darum, Unternehmen und Privatpersonen in Bezug auf jede Einnahme und Ausgabe durchsichtig zu machen, um möglichst viele Lebensvorgänge besteuern zu können. Da frage ich mich, ob die Politik noch für die Bürger da ist oder ob die Herrschenden die Bürger vor allem als Zahlende verstehen. 

Welche Staaten sind hier vor allem aktiv?

Wenn Sie die Landkarte anschauen, sind es vor allem die Staaten, die hoch verschuldet sind und viel Geld ausgeben. Das Ganze hat System: Man holt sich dort Geld, wo es am leichtesten zu holen ist, das heisst bei jenen, die nachgeben oder sich nicht wehren oder wehren können.

Was bei der ganzen Auseinandersetzung auffällt, ist, dass die Einzigartigkeit des Schweizer Staatsmodells nicht thematisiert wird. Das Vertrauen in den Bürger, der sich selbst als Teil des Staates versteht, ist in der Schweiz aussergewöhnlich gross. Aber man fragt sich, warum die offizielle Schweiz nicht mehr Gewicht darauf legt und sich stattdessen den oktroyierten Normen unterwirft.

Ja, wir haben es in der Vergangenheit verpasst, auf der internationalen Bühne das System Schweiz überzeugend darzulegen. Wenn ich am Rande von Sitzungen des Europarates Mitgliedern aus anderen Staaten sage, dass in schweizerischen Gemeinden die Stimmberechtigten oder die Gemeindeparlamente jährlich die Ausgaben und die zur Finanzierung erforderlichen Steuern beschliessen, stosse ich oft auf ungläubiges Staunen. Diese Möglichkeit der direkten Mitwirkung führt dazu, dass sich die Bürger als Teil des Staates verstehen. Das ist in den meisten anderen Ländern viel weniger ausgeprägt. Wo Bürger den Staat vor allem als Steuereintreiber verstehen, werden sie umgekehrt jede Möglichkeit nutzen, dem Staat Geld nicht abzuliefern. Das Ganze erklärt, weshalb die Steuerehrlichkeit in der Schweiz als hoch eingeschätzt wird. Selbstverständlich wird es schwierig, die bisherigen Veränderungen der OECD rückgängig zu machen. Aber ich hätte mir gewünscht, dass die Schweiz bei Beschlüssen der OECD auch einmal von dem ihr zustehenden Vetorecht Gebrauch gemacht hätte. 

Wer war damals für diese Fragen in der Landesregierung zuständig?

Die entscheidende Entwicklung begann, als Bundesrätin Eveline Widmer Schlumpf Finanzministerin war. Es mag sein, dass der Druck von einzelnen Staaten damals hoch war, aber unsere Verhandlungsdelegationen haben zu oft nachgegeben. Die Drohung, auf «schwarze Listen» gesetzt zu werden, hatte ihre Wirkung. Wir müssen uns fragen, ob unsere Diplomatenausbildung noch zeitgemäss ist. Wir  brauchen wieder Leute, die auch einmal «Nein» sagen, selbst wenn danach Steine fliegen.

Diese grauen und schwarzen Listen sind mit dem Völkerrecht nicht vereinbar?

Aus meiner Sicht nicht. Es sind demokratisch nicht oder wenig legitimierte internationale Organisationen wie die OECD, die für sich in Anspruch nehmen, Völkerrecht zu schreiben. Grosse Mühe habe ich, wenn sich die Schweiz von Leuten Vorschriften machen lässt, die früher selbst aktiv internationalen Steuerwettbewerb betrieben haben. Ein Beispiel ist EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der als ehemaliger Ministerpräsident von Luxemburg ganz andere Standpunkte vertreten hatte als heute.

Interessant scheint mir auch, dass die Staaten, die am lautesten wegen der sogenannten Steueroasen geschrien, solche meistens selbst betrieben haben, wenn wir nur an die britischen Virgin Islands oder Delaware in den USA denken…

… Bundesrat Ueli Maurer hat in der Debatte während der Herbstsession, als es um den automatischen Informationsaustausch mit 41 Staaten ging, mit erfrischender Offenheit gesagt, dass es bei den USA vor allem eine Frage der Macht sei. Ob das gut oder schlecht ist, sei einmal dahingestellt, aber die USA seien so gross, dass sie für sich das Recht herausnähmen, zu tun und zu lassen, was sie wollten. Sie wollen alle Informationen von uns, geben selbst aber keine. 

Was wäre passiert, wenn die Schweiz sich auf den Standpunkt gestellt hätte, das machen wir nicht mit, wir bleiben bei unserem System?

Das wissen wir im Grunde nicht. Ein Beispiel ist die Zuwanderungsinitiative. Niemand weiss, was wirklich passiert wäre, wenn wir sie im Wortlaut umgesetzt hätten. Im Mainstream der schweizerischen Politik ist die Unsitte aufgekommen, dass wir stets zuerst überlegen, was die Gegenseite uns antun könnte. Solche virtuellen Szenarien führen dazu, dass unsere Vertreter am Verhandlungstisch lieber nachgeben, statt die eigenen Interessen hart zu vertreten. Unsere Diplomatie ist auf Harmonie getrimmt. Das Gegenüber weiss das und kann ruhig abwarten, bis wir uns anpassen.

Können wir das nicht auch bei unserer Bundesregierung feststellen?

Es wäre unfair, das auf einzelne Personen zu beziehen. Die ganze Bundesverwaltung scheint mir in internationalen Geschäften zu sehr auf Harmonie ausgerichtet. Ich hatte im Rahmen des Automatischen Informationsaustausches zusammen mit zwei Kollegen aus dem Nationalrat eine Besprechung mit einem leitenden Diplomaten. Der sagte uns gleich zu Beginn, dass die Schweiz gar nicht anders handeln könne, als einfach mitzumachen. Mit dieser Einstellung holt man in einer Verhandlung nichts mehr heraus. Die Schweiz muss selbstbewusster auftreten und einen Konflikt und eine Unstimmigkeit einmal aushalten, sonst hat der «Gegner» leichtes Spiel. 

Herr Nationalrat Müller, ich danke Ihnen für das Gespräch 

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

«Nationalstaatlicher Handlungsrahmen muss erhalten bleiben»

Interview mit Christoph Wenaweser, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender der Finanzkommission, Liechtenstein

Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser (Bild thk)
Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Inwieweit diktiert die OECD den souveränen Staaten was sie zu tun haben?

Landtagsabgeordneter Christoph Wenaweser Ein gewisses level playing field muss hergestellt werden. Dieses level playing field hat dann aber auch für alle Staaten in gleichem Masse verbindlich zu sein. Dennoch kann ein frühzeitiges oder zumindest rechtzeitiges Umsetzen dieses level playing field in die nationale Gesetzgebung einen positiven Wettbewerbsfaktor darstellen. In dem Sinn unterstützt Liechtenstein die Bemühungen der OECD und der G20 im Rahmen von BEPS. Ein erstes Umsetzungspaket ist bereits durchs Parlament. Allerdings, und so habe ich das bei der OECD-Debatte an der Oktobersession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats auch gesagt, muss trotz allem ein nationalstaatlicher Handlungsrahmen erhalten bleiben.

Wie kann dieser aufrechterhalten werden?

Die internationalen Vorgaben lassen in der Regel einen limitierten Spielraum, den es im Einzelfall auszuloten und konsequent zu nutzen gilt. Ich halte nichts vom vielzitierten, übereifrigen Erfüllungsgehorsam oder Musterschülertum.

Wie sehen Sie es hier mit der demokratischen Legitimation z.  B. in der OECD, wenn Experten den Staaten letztlich Vorgaben machen?

Experten beziehen ihre Daseinsberechtigung aus der laufenden Weiterentwicklung bestehender oder dem Ersinnen neuer Vorgaben, nicht nur bei der OECD. Entscheiden tun aber nicht sie, sondern die den internationalen Organisationen und Verträgen beitretenden Mitgliedstaaten. Mit einem Beitritt verpflichtet man sich in der Folge und in der Konsequenz auch, Normen und Regulative anzuerkennen. Eigentlich müssten Sie fragen, wer den Experten sagt, wann es genug ist. Das Ganze internationale Regulativ scheint sich zu perpetuieren. Aber nur wer mit am Verhandlungstisch sitzt, kann auch Einfluss zu nehmen versuchen.

Woran denken Sie dabei?

Zum Beispiel an den EWR-Beitritt des Fürstentums Liechtenstein im Jahr 1995. Das war für Liechtenstein ein letztendlich richtiger Volksentscheid.  Auch wenn gelegentlich die eine oder andere Kröte zu schlucken ist, überwiegen doch letztlich die Vorteile dieser Lösung. Wirtschaft und Bevölkerung stehen gemäss einer Umfrage aus Anlass der 20-jährigen Mitgliedschaft im vorletzten Jahr weiterhin hinter dieser Entscheidung. Ebenso deutlich wird aber gleichzeitig die hypothetische Frage nach einem EU-Beitritt als Alternative verneint.

Kommt das Ganze nicht einem Verlust an staatlicher Souveränität gleich?

Überall dort, wo man sich nach seinen eigenen Möglichkeiten und durch den Volkswillen legitimiert in Form von Mitgliedschaften zu Wertegemeinschaften sowie zu gemeinsamen Problemlösungen bekennt, erlebt die staatliche Souveränität oder sagen wir besser die staatliche Entscheidungsfreiheit ihre Einschränkungen. Die damit verbundenen Abwägungen muss jeder Staat für sich selbst treffen. Der Gang ins Off ist aber definitiv keine souveränitätssichernde Variante, auf jeden Fall nicht für Kleinstaaten. 

Herr Landtagsabgeordneter Wenaweser, vielen Dank für das Gespräch.  

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

Was ist eine bäuerliche Landwirtschaft?

von Reinhard Koradi

Eine bäuerliche Landwirtschaft muss nicht zwingend aus kleinen Strukturen bestehen. Die Grösse eines Bauernhofes an sich ist kein massgebendes Kriterium bei der Definition von bäuerlicher Landwirtschaft. Die Initiative für Ernährungssouveränität schlägt daher vor, in der Verfassung eine erweiterte Definition für «bäuerliche Landwirtschaft» zu verwenden: «einheimische, bäuerliche Landwirtschaft, die einträglich und vielfältig ist». Diese Formulierung beinhaltet eine lokale Verankerung, eine gewisse Autonomie der Landwirtschaft, eine Kreislaufwirtschaft sowie den Erhalt eines Teils der Wertschöpfung in den ersten Stufen der Produktionskette. 

Mit der eidgenössischen Volksinitiative «Für Ernährungssouveränität. Die Landwirtschaft betrifft uns alle» verfolgen die Initianten die Umsetzung ihrer Vorstellungen über die «bäuerliche Landwirtschaft». Sie fordern vom Bund die Förderung der einheimischen bäuerlichen Landwirtschaft, die einträglich und vielfältig ist, gesunde Lebensmittel produziert und den gesellschaftlichen und ökologischen Erwartungen der Bevölkerung gerecht wird. Zudem soll die Versorgung mit überwiegend einheimischen Lebens- und Futtermitteln gewährleistet sein, deren Produktion die natürlichen Ressourcen schont.

Eine reelle Zukunftschance

Die Initiative setzt an verschiedenen agrarpolitisch entscheidenden Punkten an, um der bäuerlichen Landwirtschaft eine reelle Zukunfts­chance zu geben. Sie fordert strukturelle Massnahmen, tangiert auch das für die Landwirtschaft existenzielle Patentrecht, will eine natürliche und ökologisch verantwortbare Produktion fördern (Verzicht auf genveränderte Organismen), versucht die Marktdominanz auf der Abnehmerseite auszugleichen und die Landwirte mit einem grösseren Anteil an der Wertschöpfungskette teilhaben zu lassen. 

Bei den strukturellen Massnahmen stossen wir auf einen sozialen und beschäftigungspolitischen Ansatz. Wegen des massiven Preisdrucks auf Inlandprodukte sind die Arbeitsbedingungen auf den Bauernhöfen (Erntearbeiter) nicht selten unter dem für die Schweiz üblichen Niveau. Für die Arbeitnehmer in der Landwirtschaft sollen daher schweizweit einheitliche und sozial gerechtere Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden. Zusätzlich möchte man die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen erhöhen (Arbeitsplätze schaffen) und gleichzeitig die Strukturvielfalt fördern. Zu den strukturellen Massnahmen gehören ausserdem die Erhaltung der Anbauflächen, insbesondere der Fruchtfolgeflächen, und zwar in Bezug auf Umfang und Qualität.

Naturgerechte Lebensmittelproduktion

Den Absichten der Agrarmultis, einen rigorosen Patentschutz aufzubauen, wirken die Initianten mit der Forderung entgegen, dass Bäuerinnen und Bauern das Recht haben müssen, Saatgut zu nutzen, zu vermehren, auszutauschen und auch auf den Markt zu bringen. Die naturgerechte Lebensmittelproduktion und die Qualitätssicherung werden über die Ablehnung des Einsatzes von genetisch veränderten Organismen, von Pflanzen und Tieren, die mit Hilfe moderner Technologien entstanden sind, durchgesetzt. Gleichzeitig wird gefordert, dass die Einfuhr ausländischer Produkte, die nicht den schweizerischen Bestimmungen entsprechen, durch Zölle oder gar Einfuhrverbote eingeschränkt werden können.

Direktvermarktung und Verarbeitung

Ein zentraler Punkt der Initiative ist es, der monopolähnlichen Position der Grossabnehmer auf der Nachfrageseite (Nachfragemacht) ein Gegengewicht entgegenzustellen. Die Marktposition der bäuerlichen Landwirtschaft soll durch die vom Bund geförderte Schaffung von bäuerlichen Organisationen gestärkt werden, die die Abstimmung des Angebots auf die Nachfrage erleichtern und die Markttransparenz verbessern, um letztlich den Bauern (Produzenten) zu ermöglichen, einen gerechten Preis für ihre Produkte (existenzsicherndes Einkommen) zu generieren. Weiter soll durch Direktvermarktung und Verarbeitung den Bauern ermöglicht werden, für sich und den Konsumenten Mehrwert zu schaffen. Dazu sollen durch den Bund regionale Verarbeitungslager und Absatzstrukturen gefördert werden (Infrastruktur für die Selbstvermarktung).

Import von billigeren Lebensmitteln abfedern

Weiter wird der Bund aufgefordert, durch entsprechende Informationen über Produktion und Verarbeitung von einheimischen wie importierten Lebensmitteln Transparenz zu schaffen. Er soll ermächtigt werden, unabhängig von internationalen Normen eigene Qualitätsstandards festzulegen. Schliesslich wird die Initiative durch handelspolitische Massnahmen abgerundet. Mit einem wirksamen Grenzschutz soll der Preisdruck auf die einheimischen Produzenten durch den Import von billigeren Lebensmitteln abgefedert werden. Dazu sollen auf den Importen Zölle erhoben und die Einfuhrmengen durch eine entsprechende Quotenregelung gesteuert werden. Vor einem ruinösen Preiswettbewerb geschützt werden sollen aber nicht nur einheimische Landwirte, sondern auch ausländische Bauern, indem für Ausfuhren von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln aus der Schweiz keine Subventionen mehr ausbezahlt werden.

Würdigung der Initiative

Meiner Meinung nach zeigen die Initianten viel Mut, aber auch Verantwortungsbewusstsein. Mit der Initiative «Ernährungssouveränität» greifen sie ein Thema auf, dass weit über die Landwirtschaft hinausgeht. Sie setzen eine Diskussion in Gang, die wir längst hätten führen müssen. Es geht um die entscheidende Frage: Was für eine Wirtschaft wollen wir? Die moderne Welt dreht sich nur noch ums Geld – ohne Rücksicht auf die Opfer –und derer gibt es viele. Das Kapital hat die Politik verdrängt und den Platz besetzt, der der Politik und damit den Bürgern souveräner Staaten gehört. Es gibt daher einiges wieder in eine menschenwürdige Ordnung zu bringen. Warum nicht, indem wir in einem ersten Schritt der Landwirtschaft, unseren Bauern und damit der Ernährungssouveränität in unserem Land eine reelle Chance für die Zukunft geben?

Mehr Wertschätzung für die Arbeit der Bauern 

von Reinhard Koradi

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber ohne Brot gibt es überhaupt kein Leben. Die Arbeit der Bauern ist überlebenswichtig, und trotzdem wächst die Kritik gegenüber der Landwirtschaft respektive deren Produktionsmethoden in unserem Land. Jüngstes Beispiel ist die Lancierung der Volksinitiative «Für gesundes Wasser». Niemand hat Einwände, wenn es um den Schutz unserer Wasserreserven und der Qualität des Trinkwassers geht. Hinter dem Begehren stehen aber Umweltaktivisten für die Landwirte «Giftbauern» sind, weil sie Pestizide für den Pflanzenschutz einsetzen und ihre Wiesen mit «Gülle» düngen. Die Schweizer Bauern haben längst die notwendigen Konsequenzen gezogen, um die natürlichen Ressourcen nachhaltig zu schonen, bilden diese doch die entscheidenden Produktionsfaktoren für die gesamte Lebensmittelproduktion. Die Initianten schliessen sich mit ihren Forderungen den Kreisen an, die, unter welchen Vorwänden auch immer, der Landwirtschaft in der Schweiz die Existenzgrundlagen entziehen wollen.

Warum diese Ignoranz bezüglich der naturgegebenen Kreisläufe? Boden, Luft, Wasser sind natürliche Produktionsfaktoren, die wir Menschen nutzen müssen, um uns zu ernähren und unser Leben sicher zu gestalten. Auch andere Branchen gründen ihr Überleben auf der Nutzung natürlicher Ressourcen. Nicht selten treiben sie sogar Raubbau und zerstören die naturgegebenen Lebensgrundlagen, doch die Kritik an diesen Branchen kommt eher verhalten. Die ungleichen Ellen, mit denen gemessen wird, lassen den Verdacht aufkommen, dass die Kreise, die sich auf die Landwirtschaft eingeschossen haben, entweder als Wohlstandskinder den Blick für das Wesentliche und die natürlichen Produktionsmechanismen verloren haben oder in der Sache selbst nicht ehrlich sind.

Der Angriff auf die Bauern respektive auf die Inlandproduktion von Lebensmitteln ist in jeder Hinsicht ungerechtfertigt. Vor allem in unseren Breitengraden mit den vielen Familienbetrieben ist die Verantwortung und die Sorgfaltspflicht gegenüber Umwelt, Natur und Tier über Generationen hinweg gepflegt und weiterentwickelt worden. Würden alle Menschen gleich den Bauern mit demselben Respekt gegenüber der Natur denken und handeln, dann wären möglicherweise zahlreiche Schäden und Krankheiten in unserer Pflanzen- und Tierwelt gar nie aufgetreten respektive in die Schweiz eingeschleppt worden. 

Die Bauernfamilien stärken

Die Landwirtschaft in der Schweiz, aber auch in Europa, litt in den vergangenen Jahren immer mehr unter dem Preisdruck durch Billigst­importe. Die gesamte Branche wurde in einen ruinösen Preiskampf verwickelt. Die Folge davon ist die «industrielle Landwirtschaft». Grössenwachstum und Produktivitätssteigerung boten sich für viele Landwirte als Überlebensstrategie an, um sich über Wasser zu halten. Der Bauernhof als Industriebetrieb stützt sich auf riesengrosse Flächen, Monokulturen, Agrochemie und Leistungsförderung durch genetische Mutationen oder andere Mittel. Das Doping in der Agrarwirtschaft hat sich längst durchgesetzt, weil die Agrarmultis den Agrarmarkt von den vorgelagerten bis zu nachgelagerten Stufen immer fester in den Griff bekommen.

Für die Schweizer Bauern ist der Ausweg in die industrielle Landwirtschaft schon aus topographischen, aber auch klimatischen Gründen nur beschränkt möglich. Das bedeutet allerdings, dass sie sich gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten in den weltweit führenden Agrarstaaten wie USA, Kanada, Neuseeland und Australien bezüglich Steigerung der Produktion und Produktivität in einem existenzbedrohenden Nachteil befinden. Dem durch die industriellen Produktionsmethoden generierten Vorteil im Preiswettbewerb kann der Schweizer Landwirt nichts entgegensetzen. Sein Wettbewerbsvorteil liegt in einer überlegenen Qualität und in der Natürlichkeit der Produkte. Dazu kommen viel kürzere Logistikwege, die aus umweltpolitischen Überlegungen ebenfalls als Vorteil gegenüber der Importware gebührend gewichtet werden müssten.

Die Schweizer Bauern stärken

Die Umweltaktivisten, die der Schweizerischen Landwirtschaft den Kampf angesagt haben, sollten ihre «Prügelknaben» nicht im Inland, sondern im Ausland suchen. Statt die Lebensmittelproduktion im Inland mit allen Mitteln zu verteufeln, müssten sie alles daransetzen – sofern ihr Anliegen ehrlich ist – die Schweizer Bauern mit ihren Familien zu stärken und ihnen neben zukunftssichernden Produktpreisen auch die Förderung der inländischen Lebensmittelproduktion mit vollen Kräften zu sichern.

Die Zeit ist nämlich längst reif, dem Bauernstand die Bedeutung wieder beizumessen, die er verdient. Nicht Landschaftsgärtner, sondern Produzenten von Lebensmitteln sollen sie sein, um der Schweizer Bevölkerung eine ausreichende, qualitativ hochstehende und natürliche Ernährung zu ermöglichen. Dies im Interesse des inneren Zusammenhalts und unserer Unabhängigkeit.

Der Lehrerberuf – «einzigartig und erfüllend»

«Wie schön es sein kann, für einen anderen da zu sein»

von Daniela Waigel, Schulleiterin 

Wurden Sie auch schon gefragt, was Sie von Beruf sind? Schenkte man Ihnen dann ein mitleidiges Lächeln, als Sie sagten, was Sie arbeiten?

Mir schon. Ich bin nämlich Lehrerin. Kaum jemand beneidet mich um diesen Beruf. Vielmehr höre ich Sätze wie: «Oh, das ist sicher nicht einfach in der heutigen Zeit», «Das könnte ich nie», «Dazu hätte ich keine Nerven», «Mit den heutigen Kindern ist das sicher sehr anstrengend.» Ich denke für mich: «Ja, das braucht Nerven, und manchmal ist es tatsächlich schwierig und anstrengend.» Würde ich meinen Beruf auf dieses Konzentrat reduzieren, würde ich wahrscheinlich nicht mehr unterrichten.

Doch es sind hunderte von anderen Punkten, die meinen Beruf so einzigartig und erfüllend machen. Es sind die kleineren und grösseren Fortschritte im schulischen Alltag mit den Kindern.

Es sind die Geschichten von Conni, Lukas, Jonas und wie sie alle heissen. Mit ihnen teilte ich ein paar Jahre ihrer Schulzeit. Ich erlebte sie, wie sie gekommen sind:

Conni: Schon im Kindergarten abgestempelt als partiell geistig und körperlich behindert. Von Spezialisten empfohlen, am besten gar nicht von Hand sondern gleich mit dem PC schreiben zu lernen, da ihre Feinmotorik so etwas nie werde leisten können.

Lukas: Von den Mitschülern gehänselt, weil er so herrlich darauf einstieg. In der Klasse der Clown und dafür im Lernen weit hintendrein. Schulisch wie sozial entmutigt und strukturlos. Innert Sekunden von null auf hundert – von Fachleuten eingeschätzt als Knabe mit geringer Frustrationstoleranz und Impulskontrolle.

Jonas: Er kroch anfangs nur auf dem Boden herum und sprach fast nur in Ein- und Zweiwortsätzen. Er erspürte alles mit seiner Nase und ordnete es ein in – «schönes Gefühl» oder «nicht schön». Er fühlte sich blitzschnell angegriffen – ein Blick, ein Wort konnte genügen, und er zog sich zurück in seine eigene Welt. Oder er explodierte. Seine Mutter war drogenabhängig. Jonas war dabei, als sie ihren Mann erwürgen wollte. Wen wundert's, dass er anders war als andere Gleichaltrige?

Mit diesen komplexen Vorgeschichten kommen die Kinder zu uns. Sie sind zwar noch jung mit ihren sieben bis vierzehn Jahren. Doch bei den meisten wurden schon etliche Abklärungen durchgeführt, Diagnosen ausgesprochen, Therapien und Medikamente verordnet und dicke Dossiers angelegt.

Mehr Aufmerksamkeit und klarere Strukturen

Bei vielen Kindern, die zu uns kommen, ist nicht zu übersehen, dass sie sich viel von ihrem Neustart an unserer Schule versprechen. Wir sind eine kleine Privatschule. Wir haben es zu unserer Aufgabe gemacht, Kinder bei uns aufzunehmen, die – aus welchen Gründen auch immer – angewiesen sind auf einen familiären und überschaubaren Rahmen. Meist brauchen sie mehr Aufmerksamkeit und oft auch klarere Strukturen, als es ihnen die öffentliche Schule bieten kann.

Oft fällt auf, dass unsere Neuankömmlinge keine natürliche Ausrichtung auf uns Erwachsenen haben. Sie sind es gewohnt, im Erwachsenen einen Kumpel oder «Diener» zu sehen, der einfach zu manipulieren ist. Diese Kinder haben es in der Schule schwer, sich anleiten und etwas erklären zu lassen. Sie sind es sich schlichtweg nicht gewohnt, dass sie naturgegeben auf der Stufe des Lernenden stehen. Deshalb fällt es ihnen nicht leicht, zuzuhören, nachzumachen, zu üben – eben zu lernen.

Und jetzt ist der Ball bei uns.

Gelingt es uns, sie unvoreingenommen kennenzulernen? Schaffen wir es, ihnen die Zuversicht, die Geduld und das nötige Wohlwollen ehrlich entgegenzubringen? Spüren wir, wo wir ansetzen müssen, um ihnen auf die Beine zu helfen? Finden wir den Schlüssel zu ihnen, so dass sie sich uns gerne anschliessen und an uns orientieren? 

Wenn uns das gelingen soll, müssen wir uns an den Ressourcen respektive den positiven Ansätzen der Kinder orientieren und darauf aufbauen, fein säuberlich und Schritt für Schritt. Nicht in ihren Defiziten herumstochern – die kennen sie schon lange in- und auswendig.

Freude und Zuversicht

Wir richten das Lernen am Anfang so ein, dass Erfolge schnell zu erkennen sind. Manche Kinder strahlen, andere können es kaum glauben, wenn sie sehen, dass sie auch etwas lernen und verstehen können. Mit dieser Freude und Zuversicht geht es weiter. Erste Hürden werden angepeilt und gelernt, kleine Misserfolge zu verkraften. Wenn ein Kind eines Tages vorschlägt, etwas noch als Hausaufgabe zu erledigen, oder wenn es mit seinem Heft kommt und stolz zeigt, wie es am Anfang bei uns geschrieben hat und wie sein Heft jetzt aussieht, dann wissen wir, dass wir auf der richtigen Spur sind, weil sich eine Umkehr anbahnt, und das Kind beginnt, sich neu zu orientieren. «Der Fisch hat angebissen».

Parallel zum schulischen Lernen ist es wichtig, bei den Kindern das Interesse füreinander zu wecken. Das ist nur in der Gemeinschaft möglich.

Nicht nur ihre eigenen Erfolge sollen sie beflügeln. Auch über die Erfolge der anderen können sie sich freuen. Nicht nur das, was sie zu erzählen haben, ist spannend. Auch das, was andere erlebt haben, kann bereichernd sein. Gelingt es uns, die Kinder miteinander zu befreunden, können wir offen über Themen wie «Eifersucht», «Konkurrenz», «Schwächen», «Lernen» etc. sprechen.

Wenn wir eines Tages ein Kind zu einem anderen sagen hören «Oh, das habe ich auch nie gekonnt. Du musst nur dran bleiben. Dann schaffst du das auch.» oder «Wie hast du das gemacht? Kannst du es mir auch einmal zeigen?» oder «Ach lass ihn doch, er ist noch neu hier und weiss es nicht besser.», dann wissen wir auch hier, dass wir auf der richtigen Spur sind.

Es wäre verwegen zu meinen, irgendwann sei der Tag da, an dem alles rund laufe, die Kinder würden lernen wie im Bilderbuch und die geschlossenen Freundschaften seien unerschütterlich. Das sind höchstens Wünsche – die Realität sieht anders aus. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Misserfolge geklärt, Streitigkeiten geschlichtet, Frechheiten richtig gestellt und neue Wege aufgezeigt werden müssen. Und trotzdem kommen wir immer ein kleines Stück weiter. Manchmal dauert es Monate, manchmal Jahre. Die Kinder werden selbstsicherer, mutiger, sozialer und fröhlicher.

Dies zeigt uns 
Conni, die inzwischen ihre Schulzeit erfolgreich abgeschlossen hat und mit einer kaufmännischen Lehre beginnen konnte. Es ist ihr gelungen, sich die Grundlagen des schulischen Wissens anzueignen. Sie wird nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein, sondern schon bald ein selbständiges Leben führen können.

Lukas, der jetzt Klassenbester und Schülervertreter an der Oberstufe ist. Er hat seine Frustrationstoleranz und die Impulskontrolle in den Griff bekommen. Es war harte Arbeit für ihn, aber er hat es geschafft. Und zusätzlich hat er gelernt, wie schön es sein kann, für einen anderen da zu sein und ihm zu helfen. Ein neues Feld hat sich ihm aufgetan: Er hat jetzt Freunde.

Jonas, der mit der inneren Reife eines Kleinkindes zu uns kam. Auch bei ihm gab es mit den Jahren viele positive Anzeichen in seiner Entwicklung, die uns optimistisch stimmten. Er sprach in ganzen Sätzen. Er beteiligte sich an Klassengesprächen. Er meldete sich, wenn er etwas nicht in Ordnung fand und verlangte nach einem Gespräch. Er begann, die Tische nach dem Essen wirklich zu putzen, und wischte nicht in Windeseile alles auf den Boden. Und manchmal, wenn er ganz gut dastehen wollte, forderte er mit einem Blick auf uns Lehrer andere Kinder auf, uns zuzuhören und zu machen, was wir von ihnen wollten. Er ist so lange bei uns geblieben, bis wir ihn mit gutem Gewissen in eine grössere Gemeinschaft weiterziehen lassen konnten.

Von allen diesen kleinen Schritten erfährt ein Aussenstehender kaum etwas. Er weiss nur, dass es in der heutigen Zeit sehr anstrengend ist, Schule zu geben.

Doch mit einem kleinen Schmunzeln weiss ich bei mir: Ich habe den schönsten Beruf, den es gibt.

Solange ich Schule gebe, werde ich mich dafür einsetzen, dass alle Kinder, die uns anvertraut werden, eine positive Entwicklung bei uns machen können. Wir werden sie keinen Versuchen von selbstgesteuertem und eigenmotiviertem Lernen aussetzen, in welchem der Lehrer zum «Animator» oder «Beobachter» degradiert wird. Wir werden bewusst das Ruder in der Hand behalten, weil wir oft genug erlebt haben, dass dies unsere Schützlinge weiterbringt. 

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