Die Verfassung muss von allen politischen Akteuren eingehalten werden

thk. Es war ein harter und mit wenigen Ausnahmen blutiger Kampf, bis im Laufe des 19. Jahrhunderts die bestehenden und sich neu konstituierenden Staaten eine Verfassung erhielten. Die Willkürherrscher des Absolutismus (L’État c’est moi!) verteidigten ihre Macht mit Zähnen und Klauen. Es brauchte einen langen Atem, bis dieser Kampf erfolgreich beendet war und die Menschen sich in zunehmendem Masse Rechtsicherheit ertrotzt hatten. Eine unglaubliche Errungenschaft.

Die Verfassung, die die Form des Staates und dessen rechtliche Basis definiert, bildet die Grundlage eines geordneten und friedlichen Zusammenlebens und soll verhindern, dass diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen – auch wenn sie gewählt worden sind – schalten und walten können, wie es ihnen gerade sinnvoll erscheint. Die Verfassung gilt für alle gleichermassen und kann nicht von denjenigen, die gerade die Regierung stellen, geändert und nach ihrem Gutdünken umgekrempelt werden. Der Philosoph der Aufklärung Jean-Jacques Rousseau sprach schon vor über 200 Jahren vom «Gesellschaftsvertrag», der vom Souverän, dem Volk, angenommen werden muss. Eine Verfassung ist aber nicht etwas Statisches, man kann, darf und muss sie unter Umständen verändern, aber dazu braucht es in den parlamentarischen Demokratien in der Regel eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten. In der Schweiz verlangt eine Verfassungsänderung immer eine Volksabstimmung. Verfassungen haben sich als tragfähige Grundlage des modernen Staates erwiesen. Umso mehr erstaunt es, dass in letzter Zeit Verstösse gegen die Verfassung immer häufiger von der Politik riskiert und teilweise widerstandslos in Kauf genommen werden. 

Im folgenden Interview macht alt Bundesrichter Professor Dr. Karl Spühler darauf aufmerksam, dass mit dem Covid-19-Gesetz, über das wir am 28. November abstimmen, mehrere Artikel der Bundesverfassung massiv verletzt werden. Es ist erschreckend, wie wenig Widerstand in den Medien zu finden ist, deren Aufgabe es ist, gerade solche Missstände und Willkürlichkeiten der Politik zu untersuchen und publik zu machen. Doch es regt sich ungewöhnlich wenig im journalistischen «Blätterwald». 

Zum Glück kennt die Schweiz kein Verfassungsgericht. Es gibt keine «juristische Elite», die über die Einhaltung der Verfassung wacht. Dank des Referendums- und Initiativrechts gilt das Volk als der oberste Hüter der Verfassung und kann an der Urne Gesetzen, die die Verfassung verletzen, den Garaus machen. Am 28. November hat das Schweizer Volk die nächste Gelegenheit dazu.

Im Windschatten von Corona arbeitet die Politik weiter, und man ist gut beraten, Entwicklungen genau zu beobachten. Die Verfassung als zu achtende Richtschnur oder Leitplanke scheint nicht mehr für jeden und jede in der Politik Engagierten selbstverständlich zu sein. So lässt die Idee der Militärdepartementsvorsteherin, Bundesrätin Viola Amherd, aufhorchen. Sie möchte eine Zusammenarbeit mit dem «europäischen» Aufrüstungsprojekt Pesco. Was sich hinter dem kryptischen Begriff verbirgt, entzaubert der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko im Interview in dieser Ausgabe (S. 8). 

Sucht man auf der Homepage des Departements nach einer Pressemitteilung über dieses Ansinnen oder nach Informationen über die Organisation, geht man leer aus. Dank der «NZZ» vom 9. Oktober hat man überhaupt davon erfahren. Dass Bundesrätin Amherd bereits an einem Nato-Treffen in Brüssel (?!) war und sich laut «NZZ» über eine Zusammenarbeit mit Pesco dahingehend äusserte, «man prüfe derzeit, welche Beteiligungsmöglichkeiten es als Drittstaat gebe und inwieweit diese im  Interesse der Schweiz seien», zeigt, wie weit die Bemühungen bereits gediehen sind. Eine Anbindung an ein militärisches Projekt der EU im Verbund mit der Nato – die «Süddeutsche Zeitung» vom 6. Mai 2021 titelte denn auch «Die USA beteiligen sich am EU-Militärprojekt» – wirft doch ganz konkret die Frage nach der Neutralität auf. Gemäss Bundesverfassung Artikel 185 Absatz 1 hat der Bundesrat hier eine ganz klare Richtschnur: «Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.» Glaubt Bundesrätin Amherd, wenn ihr Kollege Berset die Verfassung übergeht, stehe ihr das auch zu? Eine gefährliche Entwicklung, die man nicht einfach so geschehen lassen darf. Es kann nicht sein, dass die Verfassung zur Makulatur eines immer selbstherrlicher agierenden Bundesrat verkommt.

Grundlegend und erhellend ist in diesem Zusammenhang das Interview mit dem Historiker Oliver Zimmer auf Seite 10. 

«Das Covid-19-Gesetz ist ganz klar ein Verfassungsbruch»

Interview mit alt Bundesrichter Professor Dr. Karl Spühler

Professor Dr. Karl Spühler (Bild zvg)
Professor Dr. Karl Spühler (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Herr alt Bundesrichter Spühler, Sie kritisieren das Covid-19-Gesetz, über das wir am 28.November abstimmen als nicht verfassungskonform.

alt Bundesrichter K. Spühler Ja, das stimmt, es gibt einige Verfassungsartikel, die durch dieses Gesetz tatsächlich verletzt werden.

Welche Artikel sind das?

Das sind die Artikel 8 und 10 sowie Artikel 164 der Bundesverfassung, die unsere Freiheitsrechte garantieren.

 

Inwiefern wird der Artikel8 der Bundesverfassung durch das Covid-19-Gesetz verletzt?

Der Artikel  hält, insbesondere im Absatz 2, ganz klar fest, dass niemand diskriminiert werden darf aufgrund seiner religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugung. 

Dieses Recht wird mit dem Covid-19-Gesetz verletzt?

Im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist das ganz eindeutig. Wenn man an das Zertifikat gewisse Sonderrechte knüpft, sind diejenigen, die im Besitz des Zertifikats sind, privilegiert. Das heisst, diejenigen, die aus oben genannten Gründen sich nicht impfen lassen wollen und durch die Verfassung geschützt sind, werden durch das Gesetz von einem Teil des öffentlichen Lebens ausgeschlossen. Das ist ganz klar ein Verfassungsbruch. Mit der Einführung des Covid-Zertifikats, das im Covid-19-Gesetz festgeschrieben ist, findet ganz klar eine Diskriminierung und damit eine Verletzung des Artikels 8 statt. Ich habe ein Zertifikat, aber ich kenne sehr viele Menschen, die nicht geimpft sind und darum kein Zertifikat besitzen. Sie sind dadurch in ihren Freiheitsrechten stark eingeschränkt.

Genau das verbietet aber der Artikel8, Absatz2 der Bundesverfassung.

Ich habe zwei Kollegen, beide sind Ärzte, sie möchten sich nicht impfen lassen und können so weder in ein Restaurant noch an sonst irgendeine öffentliche Veranstaltung. Eine mir bekannte Tierärztin will sich aus weltanschaulichen Gründen nicht impfen lassen. Ihr ist der Zugang zu politischen Veranstaltungen verwehrt. Das ist in meinen Augen eine klare Diskriminierung. Das sind jetzt drei exemplarische Fälle, ich kenne aber noch viele Personen, denen es so ergeht.

Sie haben vorhin noch Artikel 10 BV erwähnt, der ebenfalls durch das Covid-19-Gesetz verletzt wird. 

Der Artikel 10 Absatz 2 garantiert die persönliche Freiheit. Das heisst im Klartext: Jeder ist frei, sich impfen zu lassen oder nicht. Jeder trägt dafür selbst die Verantwortung. Zum anderen garantiert der Artikel 10 Absatz 2 auch die körperliche Integrität und Unversehrtheit sowie auch die Bewegungsfreiheit. Wenn man sich impfen lassen muss, um an einer öffentlichen Veranstaltung teilnehmen zu können, ist das ein Verstoss gegen diese Bestimmungen.

Artikel164 ist durch das Gesetz ebenfalls verletzt. Können Sie kurz erklären warum?

Der Artikel besagt, dass die verfassungsmässigen Rechte in den Gesetzen festgehalten werden. Das Covid-19-Gesetz ist nichts anders als eine Delegation des Verordnungsrechts an die Exekutive, sagt aber weder etwas über die Einschränkung der verfassungsmässigen Rechte noch über Rechte und Pflichten der Personen aus. Auch ist darin keine Impfpflicht festgehalten – also ein klarer Verstoss gegen Artikel 164.

Das heisst, das Covid-19-Gesetz gibt dem Bundesrat grossen Spielraum in der Umsetzung?

Ja, und das ist eben gesetzeswidrig.

Herr alt Bundesrichter Spühler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Art. 8 Rechtsgleichheit

¹ Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

² Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebens­form, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. […]

Quelle: www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_8

 

Art. 10 Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit

¹ Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die Todesstrafe ist verboten.

² Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. […]

Quelle: www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_10

 

Art. 164 Gesetzgebung

¹ Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form des Bundesgeset­zes zu erlassen. Dazu gehören insbesondere die grundlegenden Bestimmungen über:

a. die Ausübung der politischen Rechte;

b. die Einschränkungen verfassungsmässiger Rechte;

c. die Rechte und Pflichten von Personen;

d. den Kreis der Abgabepflichtigen sowie den Gegenstand und die Bemessung von Abgaben;

e. die Aufgaben und die Leistungen des Bundes;

f. die Verpflichtungen der Kantone bei der Umsetzung und beim Vollzug des Bundesrechts;

g. die Organisation und das Verfahren der Bundesbehörden.

[…]

Quelle: www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_164

Staatliche Beihilfe für die Pflegeberufe?

von Reinhard Koradi

Am 28. November werden die Schweizer Stimmberechtigten über die Pflegeinitiative «Für eine starke Pflege» abstimmen. Lanciert wurde die Initiative vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. Wenn ein Berufsverband für seine Anliegen die Unterstützung des Schweizer Volkes mittels einer Initiative einfordert, dann kann etwas nicht mehr in Ordnung sein.

Die Initianten begründen ihre Offensive, indem sie festhalten, dass die Qualität der Pflege in der Schweiz gefährdet sei, zurzeit 11 000 Stellen in der Pflege unbesetzt seien und es bis 2029 weitere 70 000 neue Pflegende brauche. Alarmierend sei zudem die Tatsache, dass 4 Pflegende von 10 ihren Beruf frühzeitig verlassen. Mit der Annahme der Pflegeinitiative könne die Pflegequalität in der Schweiz gesichert werden, so die Initianten. 

Die Initiative verfolgt drei Ziele

Ausbildung forcieren
Es brauche eine Ausbildungsoffensive, um eine genügend grosse Anzahl Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen.  Bund und Kantone sollen in die Ausbildung investieren und dafür sorgen, dass die Ausbildungslöhne erhöht werden.

Berufsausstiege verhindern
Durch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sollen Berufsausstiege verhindert werden. Es brauche eine verlässliche Zeit- und Dienstplanung, familienfreundliche Strukturen und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Weiter müsse der Lohn den hohen Anforderungen und der grossen Belastung entsprechen.

Pflegequalität sichern
Um die Pflegequalität zu sichern, brauche es genügend Pflegepersonal. So sollen Richtwerte betreffend die Anzahl Pflegefachkräfte je Abteilung eingeführt und die Voraussetzungen für eine ausreichende Finanzierung der Pflegeleistungen geschaffen werden.

Hohe Zustimmung sehr wahrscheinlich

Wohl nur wenige werden sich diesen Forderungen entgegenstellen. Die Corona-Pandemie hat sicher vielen die Augen geöffnet und den Notstand in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sichtbar gemacht. Die Versorgungssicherheit und die Qualität im Gesundheitswesen dürften daher in der Bevölkerung auf sehr grosse Zustimmung stossen. Die Frage sei allerdings erlaubt: Können mehr ausgebildete Fachkräfte, bessere Arbeitsbedingungen und ausreichende Finanzierung der Pflegeleistungen die Qualität im Gesundheitswesen nachhaltig verbessern? Aufgrund meiner Beobachtungen und Erfahrungen kann ich diese Frage nur teilweise mit Ja beantworten. Die Gründe, wie in vielen anderen Berufen, liegen tiefer. Einerseits ist es die Entfremdung von der Kernaufgabe durch den Moloch Administration, andererseits sind es aber auch die andauernden Reformschritte, und die damit verbundene Kritik an der bisherigen Praxis im Berufsalltag, die verunsichern und die Attraktivität der Pflegeberufe beeinträchtigen. Mit der Digitalisierung schleicht sich zudem ein unerträglicher Kontrollwahn in viele Berufsfelder ein, der die Arbeitenden nicht nur entmündigt, sondern auch im Berufsstolz verletzt. Mir ist der Satz bekannt: «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.» Aber zu viel Kontrolle demotiviert, nagt am Selbstbewusstsein und untergräbt damit auch die Freude an der Arbeit. Ein eindeutiges Ja zur Pflegeinitiative mag zwar die Lage etwas beruhigen, die Probleme jedoch nur teilweise aus der Welt schaffen. 

Von der Ökonomisierung der Grundversorgung Abstand nehmen

Durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens sind Versorgungsengpässe entstanden, die letztlich die Beschäftigten, getreu dem Sprichwort «den Letzten beissen die Hunde», vor allem das Pflegepersonal auszubaden haben. Der andauernde «Kampf» gegen die Kostenexplosion führt zu Stress, zu mehr Administration und hinterlässt ein falsches Bild über das Gesundheitswesen. Die Kostenfrage beherrscht die Diskussion und führt damit unweigerlich zur Suche nach Sparpotenzialen. Wie in sämtlichen Bereichen stehen bei dieser Suche immer die Personalkosten im Zentrum. Der Nutzen, den eine intakte Versorgung im Gesundheitswesen für die gesamte Bevölkerung schafft, wird durch die Fokussierung auf die Kosten beinahe vollständig ausgeblendet. Das fehlende Bewusstsein über den immateriellen Wert einer intakten Gesundheitsversorgung schafft ein verzerrtes Bild. Anstelle zufriedener und von Krankheiten genesener Menschen stehen Statistiken über höhere Kosten und steigende Krankenkassenprämien im Fokus der Öffentlichkeit. Man mag zwar in besonderen Situationen dem Pflegepersonal applaudieren, und Menschen verabschieden sich dankbar von denen, die ihnen beim Genesungsprozess geholfen haben, aber in der Öffentlichkeit prägt die fehlende Wirtschaftlichkeit das Bild über das Gesundheitswesen in der Schweiz. 

Falsche Vorstellungen vom Gesundheitswesen? 

Warum sollen Renditen erwirtschaftet werden, wo es doch nicht um Geld, sondern um die Gesundheit der Menschen geht? Es gibt nun einmal Bereiche, wo der Markt nicht spielen kann, weil Gesundheit wie viele andere Bereiche kein käufliches Gut ist, sondern eine Lebensnotwendigkeit. So ist es auch bei den Nahrungsmitteln (Landwirtschaft), Bildung (Schulen), und Sicherheit (Polizei, Militär). In all diesen Betätigungsfeldern hat der Mensch und nicht der Profit im Mittelpunkt zu stehen. Je schneller wir unsere Perspektiven auf das Wohl des Menschen ausrichten, desto rascher wird das Berufsethos durch den geschaffenen immateriellen Mehrwert ansteigen und entsprechend die Freude am Beruf und an der Arbeit neu wecken.

Die Kernaufgabe ins Zentrum rücken

Wie bereits oben angedeutet, ist die Entfremdung von der Kernaufgabe ein ernstzunehmender Motivationskiller. Von ausgebildeten Fachpflegerinnen hörte ich die Aussage: «Ich habe meinen Beruf gewählt, weil ich kranken Menschen helfen will. Nun bin ich ständig am Computer und beschäftige mich mit Tabellen und anderen administrativen Tätigkeiten.» 

Wenn es um die Forderung «zurück zur Kernaufgabe» geht, möchte ich das Augenmerk auch auf das Bildungswesen lenken. Der Lehrerberuf erfährt durch Digitalisierung und Schulreformen ein ähnliches Schicksal. Den Schülern etwas beizubringen, mit den Kindern etwas zu entwickeln, ihnen etwas fürs spätere Leben mitzugeben, das ist doch die wahre Motivation eines Pädagogen. Und was geschieht? Der Computer ersetzt den Lehrer, selbstorganisiertes Lernen entmündigt ihn und schickt den Schüler in den Dschungel digitaler Suchmaschinen. Es dürfte wohl noch andere Berufsfelder geben, in denen eine Entfremdung von den eigentlichen Aufgaben vorangetrieben wird. Es gibt jedoch eine natürliche Grenze. Überall dort, wo der Mensch auf den Menschen angewiesen ist, scheitern Maschinen. Diese Grenzen sollten wir respektieren und entsprechend handeln. Sinn gebende Arbeit hat sehr viel mit Menschlichkeit zu tun. Schaffen wir wieder den nötigen Raum, damit das Menschsein nicht weiter durch Maschinen verdrängt wird. 

Grenzen der Digitalisierung erkennen

Der Computer hat bereits sämtliche Lebensbereiche für sich erobert. Viele Funktionen, die uns die digitale Welt bietet, sind willkommene Helfer. Aber mehr sollten sie nicht werden. Die Möglichkeiten der Digitalisierung scheinen beinahe unbegrenzt zu sein. Sie sind dann wohl auch der Anreiz für die enorme Ausweitung der Anwendungsgebiete. Eine Ausweitung, die auch schädlich sein kann. Die Grenzen für den Eroberungszug derå Digitalisierung sollen nicht die Möglichkeiten der Digitalisierung, sondern die wahren menschlichen Bedürfnisse sein. 

Was ist zu tun?

Mein Forderungskatalog ist eindeutig: Um die Situation zu verbessern – und ich gehe nun über die Pflegeberufe hinaus – braucht es eine Bildungsoffensive, die Talente erkennt und fördert, attraktive Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten, eine auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmte und nicht profitorientierte Organisationsform, eine bewusste Fokussierung auf die Kernaufgaben, eine Werthaltung, die den Menschen in den Mittelpunkt rückt und eine eindeutige Einordnung der Digitalisierung als Hilfsmittel. Der Staat mag da eine gewisse Führungsrolle übernehmen, vor allem, indem er den Reformdruck auf ein erträgliches Mass zurücknimmt und auf unnötige administrative Kontrollinstanzen verzichtet. Eine nachhaltige Zukunftssicherung im weitesten Sinne wird es jedoch nur geben, wenn sich die Menschen selbst wieder verstärkt für sinngebende Formen des Zusammenlebens einsetzen. 

Leserbrief

Lassen wir uns nicht auseinanderdividieren!

Bundesrat Parmelin forderte neulich uns alle auf, darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam wieder aus der Corona-Krise kommen können. – Da muss aber auch eine Stimmung geschaffen werden, die die dazu notwendige Diskussion mit der Bevölkerung zulässt.

Wenn man aber die Menschen bezwingt – wie das heute geschieht – oder sich über andere Lösungsansätze lächerlich macht, weil sie dem globalen Kapital nicht passen, dient das der Volksgesundheit nicht. Es fehlt das Wohlwollen, die Freude am Gegenüber und seinem individuellen Denken. Warum wird das Impfen zum Dogma, wenn es doch unzählige andere Wege gibt? Seit wann heisst «wissenschaftlich arbeiten», nur einen Weg zuzulassen und mögliche Alternativen zu unterdrücken?

Sorgen wir dafür, dass der unabhängigen wissenschaftlichen Forschung zum Durchbruch verholfen wird und die Meinungsfreiheit von uns allen wieder respektiert wird. Lassen wir es nicht zu, dass wir gegeneinander ausgespielt werden. Wir alle sind gefragt!

«Divide et impera» hat noch nie zu menschenwürdigen Verhältnissen geführt.

Ulrich Meister, Menziken

 

«Der verbrecherische Krieg gegen das afghanische Volk kann nie und nimmer mit dem Angriff auf das World Trade Center gerechtfertigt werden»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger 

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Der Abzug der USA aus Afghanistan war in den Medien eine zeitlang das alles beherrschende Thema. Jetzt ist es völlig still geworden. Worüber aber gar niemand sprach, ist das Desaster, das während der 20 Jahre dauernden Besatzung angerichtet wurde, und über die kolossalen Schäden, die die USA und ihre Verbündeten hinterlassen haben.

Prof. Dr. Alfred de Zayas Genau das muss ein Thema werden. Die Bevölkerung Afghanistans hat unter der Besatzung der USA und der Nato enorm gelitten und leidet weiter, weil die Infrastruktur des Landes zerstört worden ist und die Wirtschaft einschliesslich der Agrarwirtschaft als Folge des Krieges am Boden liegt. Das ganze Vorgehen steht nicht im Einklang mit dem Völkerrecht. Man spricht international von einem «wrongful act». Der verlangt, dass Reparationsleistungen für all diese Zerstörungen zu erbringen sind. Deshalb braucht es dringend eine juristische Aufarbeitung. Das betrifft einige Staaten, die dort militärische Aktionen durchgeführt haben, die nicht legal waren. 

Hat der Angriff auf Afghanistan und der nachfolgende Krieg jemals eine völkerrechtliche Legitimität gehabt?

Völkerrechtlich betrachtet sind die Erklärungen und Versuche der Nato, die Intervention zu legitimieren, äusserst unzulänglich. Die einzige Möglichkeit, um eine militärische Intervention durchzuführen, verlangt ein klares Mandat des Uno-Sicherheitsrats, das einen solchen Angriff ohne Veto der ständigen und mit einer Mehrheit der nichtständigen Mitglieder genehmigen kann. Dieses Mandat hat es so nicht gegeben. Eine andere Möglichkeit, Gewalt anzuwenden, die im Einklang mit Artikel 2(4) der Uno-Charta steht, ist das Recht auf Selbstverteidigung, das im Artikel 51 der Uno-Charta verankert ist. Es besagt: Wenn ein Staat angegriffen wurde, dann darf der attackierte Staat diesen einen Angriff zurückwerfen. Allerdings nur vorübergehend, bis sich der Sicherheitsrat der Angelegenheit annimmt. Dabei müssen Ursache und Folge genau untersucht sowie das Prinzip der Verhältnismässigkeit respektiert werden. Wenn wir uns die Fakten genau ansehen, dann ist der Angriff auf New York nicht von einem Staat durchgeführt worden, sondern von einer Gruppe von Islamisten, Fanatikern aus Saudi-Arabien. Auf alle Fälle nicht von Afghanistan. Der verbrecherische 20jährige Krieg gegen das afghanische Volk kann nie und nimmer mit dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 gerechtfertigt werden.

Dann war der Angriff auf Afghanistan reine Willkür?

Schlimmer noch! Im Völkerrecht besteht das Recht auf Asyl. Es war nicht einmal sicher, aber es schien, als ob sich Osama bin Laden dort aufhalte. Die USA haben verlangt, dass Afghanistan ihn ausliefern solle. Afghanistan ist ein souveräner Staat. Er hat von den USA Beweise für bin Ladens Verstrickung in die Anschläge vom 11. September verlangt und in Aussicht gestellt, diese Indizien von seinen Gerichten beurteilen zu lassen. Sollte sich eine Beteiligung herausstellen, würden sie ihn ausliefern. Die USA haben die Antwort Afghanistans ignoriert und begonnen, das Land zu bombardieren. Das ist ein Verbrechen und ist auf gar keinen Fall im Einklang mit dem Völkerrecht. Alles, was daraufhin folgte, ist somit auch nicht durch das Völkerrecht gestützt. Wenn der Anfang dieser Auseinandersetzung schon so «vergiftet» ist und sich ausserhalb jeglicher Legitimität befindet, dann liegt die Verantwortung einzig und allein bei demjenigen, der den Krieg begonnen hat: bei den USA.

«Die Bevölkerung Afghanistans hat unter der Besatzung der USA und der Nato enorm gelitten und leidet weiter, weil die Infrastruktur des Landes zerstört worden ist und die Wirtschaft einschliesslich der Agrarwirtschaft als Folge des Krieges am Boden liegt.» (Bild ©Meysam Azarneshin - stock.adobe.com) 

 

Dafür muss man sie doch belangen. Die Menschenleben, die der Krieg gefordert hat, die massiven Zerstörungen – muss das nicht alles beglichen werden?

Da die USA die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) nicht anerkennen, kann man sie nicht ohne weiteres vor den IGH bringen. Anfänglich hatten die USA die Erklärung gemäss Artikel 36 des Statuts des IGH abgegeben und somit die Jurisdiktion des IGH allgemein anerkannt. Von Ronald Reagan wurde die Anerkennung im Jahre 1985 aufgehoben. Seit diesem Datum haben die USA diesem Gerichtshof keine Anerkennung mehr gezollt.

Was bedeutet das jetzt in Bezug auf Afghanistan?

Afghanistan könnte keinen Prozess am IGH gegen die USA eröffnen, denn es hat gegenüber den USA keine Befugnis dazu. Die einzige Methode, die USA zu belangen – und ich denke, das wäre durchaus möglich – ist, wenn man die Völkermordskonvention als Rechtsgrundlage für die Strafverfolgung nehmen würde und hier insbesondere den Artikel 9 der Konvention, der besagt, dass der IGH Jurisdiktion bzw. Kompetenz besitzt, jeden Rechtsstreit über die Auslegung der Völkermordskonvention zu untersuchen. In Hinblick auf die Vernichtungspolitik der Nato in Afghanistan steht die Frage im Raum, ob Völkermord im Sinne des Artikels 2 der Völkermordkonvention begangen wurde. Wenn Srebenica im Jugoslawienkrieg als Völkermord anerkannt worden ist, dann gewiss die Bombardierung von Zivilisten in Afghanistan.

Wie könnte man das begründen?

Gemäss Artikel 2 der Völkermordkonvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (d) Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind.

Welche Ereignisse würden diese Straftaten berühren?

Man könnte zum Beispiel alle Drohnenangriffe nehmen, die schätzungsweise 100 000 oder mehr Zivilisten getötet haben. Damit hat man der Bevölkerung Bedingungen aufgezwungen, die zum Tod führten. Sie wurden in Angst und Schrecken versetzt; z. B. auf dem Feld zu arbeiten war mit der ständigen Bedrohung verbunden, durch einen Drohnenangriff getötet zu werden. Das hat konkrete Folgen für die Versorgungslage im Land, wenn die Bauern aus Angst ihre Felder nicht mehr vollständig bewirtschaften. Durch den Belagerungszustand hat die medizinische Versorgung massiv gelitten, was verheerende Auswirkung auf die Lebenserwartung der Menschen hat. Auch der Einsatz von abgereichertem Uran hat langfristige verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen. Das müsste alles genauer untersucht werden.

Erfüllt das den Tatbestand des Völkermordes?

Ich gehe nicht davon aus, dass das eine Verurteilung wegen Völkermords zur Folge haben wird, denn man muss die «Absicht» beweisen. Sicher sind es Verbrechen gegen die Menschheit, aber Völkermord ist weitreichender. Aber der Fall kann einmal behandelt werden. Wenn alle Fakten auf den Tisch kommen, wird es klar, dass hier massive Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen worden sind. Eine Verletzung der Haager und Genfer Konventionen hat automatisch eine Verpflichtung zur Wiedergutmachung zur Folge. Auf diese Weise könnte man vom Internationalen Gerichtshof ein Urteil bekommen, das eine Verpflichtung zur Kompensation begründen würde.

Welche Staaten haben die Erklärung des Internationalen Gerichtshofs unterzeichnet?

73 Staaten haben diese Erklärung gemäss Artikel 36 des Statuts des IGH abgegeben¹, darunter auch Nato-Staaten z. B. Deutschland, Grossbritannien (seit 2017), Polen, Italien, Spanien, Holland, sogar Australien usw., die diese Erklärung unterzeichnet haben. Sie kann man alle belangen. Und die Möglichkeit der Rechtsprechung wäre ihnen gegenüber gegeben. In dem Fall wäre es nicht mehr notwendig, die Völkermordkonvention zu bemühen.

Das heisst, die Nato-Mitglieder, die die Erklärung unterschrieben haben und am Krieg in Afghanistan beteiligt waren, könnten belangt werden?

Ja, alle, die an den Verbrechen beteiligt waren. Aber nicht alle Nato-Mitglieder haben sich direkt daran beteiligt. Australien z. B. hat riesige Kriegsverbrechen begangen, manches war in der Presse zumindest ansatzweise zu lesen. Auch Polen, Deutschland und weitere Nato-Mitglieder haben die Rechtsprechung des IGH grundsätzlich anerkannt. Weil diese Staaten in Afghanistan Kriegsverbrechen begangen haben, besteht auch eine Verpflichtung zur Reparation. Man könnte also Deutschland belangen.

Es gibt also mit dem Verstoss gegen die Völkermordkonvention eine Möglichkeit, die USA zur Rechenschaft zu ziehen, auch wenn sie die Deklaration des IGH nicht unterzeichnet haben?

Ja! Dabei geht es aber nicht in erster Linie darum, einen Prozess gegen die USA zu gewinnen. Sondern was nötig ist, ist, dass die Verbrechen auf den Tisch kommen, dass die Dinge an die Öffentlichkeit kommen. Denn über die Verbrechen, die die USA begangen haben, lesen und hören wir nichts, weder in der «NZZ» noch in der «FAZ», noch in der «New York Times», noch in der «Washington Post», noch bei der BBC. Das wird nirgends thematisiert, und man müsste es aber unbedingt zur Diskussion stellen, damit die Medien nicht nur das veröffentlichen, was die Eliten wollen, und der Rest einfach ignoriert wird. Es gibt nicht nur eine Lügenpresse. Es gibt auch die Lückenpresse, die ganze Bereiche ausklammert. Wir leben mitten in einem Informationskrieg.

Neben dem IGH gibt es noch den Internationalen Strafgerichtshof. Inwiefern müsste dieser aktiv werden?

Die Frage der Wiedergutmachung ist eine zivilrechtliche Frage, während Kriegsverbrechen vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) behandelt werden müssen. Seit 2019 hat dort eine Untersuchung zur Lage in Afghanistan begonnen. In der «Asia Times»² habe ich zusammen mit Adriel Kasonta einen Artikel über die Kriegsverbrechen der USA und deren mangelhafte Aufarbeitung verfasst. Im ICC war vor allem die ehemalige Chef-Anklägerin Fatou Bensouda aktiv und hat trotz grössten Protesten der USA eine Untersuchung eingeleitet. 

Wird die Untersuchung weitergeführt? 

Der neue Chefankläger, ein Engländer mit pakistanischen Wurzeln, Karim Khan, hat verlauten lassen, dass er die Verbrechen der Taliban weiterverfolgen wird, aber nicht die Verbrechen der USA. Damit wird die Glaubwürdigkeit dieses Gerichts völlig in Frage gestellt. Was ist das für ein Gericht, das so selektiv vorgeht? Das ist reine Willkür und eine einzige Enttäuschung. Wie soll so Respekt vor dieser Institution entstehen? Das geschieht doch nicht automatisch. Dasselbe Problem haben wir mit einem Hochkommissar für Menschenrechte oder einem Sonderberichterstatter der Uno, die nicht unabhängig die Dinge betrachten, sondern irgendwie von den Grossmächten abhängig sind. Der Titel eines solchen Amtes verleiht noch keine Glaubwürdigkeit, sondern allein wie gehandelt wird. Die Art und Weise, wie ein bestimmtes Amt umgesetzt wird, ist entscheidend. Das entscheidet über die Glaubwürdigkeit. Wenn man so agiert wie der Chefankläger im Internationalen Strafgerichtshof, dann hat man die Kredibilität des gesamten Systems verwirkt. 

Warum hat Khan so eine Wende gegenüber seiner Vorgängerin gemacht?

Ganz offensichtlich ist dieser Mann genau von jenem Land abhängig, das ihm seinen Posten verschafft hat. Man bedenke, dass Kriegsverbrechen von britischen Soldaten in Afghanistan begangen wurden – Verbrechen, die Khan nicht untersuchen will.  Ausserdem weiss er, dass die Presse dermassen kontrolliert ist, dass er bei seiner Haltung nichts zu befürchten hat. Niemand wird ihn zur Rechenschaft ziehen. Nur die alternative Presse, die wird fragen, was hier eigentlich gespielt wird. Aber die grossen Medien werden diese Frage nicht stellen. Man hätte nach dem Entscheid des Chefanklägers sofort seinen Rücktritt verlangen müssen. Aber kein Mensch hat das verlangt. Wo bleibt die Empörung für diesen Schritt? Die Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht hätte das sofort verurteilen müssen. Wo bleiben alle diese Leute, die hier Stellung beziehen müssen?

Wie ist das Vorgehen der USA und der sogenannten Koalition der Willigen im Irak-Krieg zu beurteilen?

Im Irak ist es hundertprozentig klar, dass der Angriff vom 20. März 2003 ein massiver Völkerrechtsbruch war. Eigentlich eine Revolte gegen das Völkerrecht durch 43 Staaten, alle Uno-Mitgliedsstaaten. Es war ein Aufstand gegen die Uno-Charta und Artikel 2(4) bei völliger Straflosigkeit. Atemberaubend. Sogar der damalige Generalsekretär der Uno, Kofi Annan, hat den Krieg im Irak mehrfach als illegal bezeichnet. Er hat das in diplomatischer Sprache getan, indem er sagte, dass der Angriff nicht im Einklang mit der Uno-Charta stehe. Wenn sich der Irak wie Afghanistan auf die Völkermordkonvention stützen würde und so argumentierte, dass das, was die USA und ihre Verbündeten im Land angerichtet haben, nach der Definition des Artikels 2 der Völkermordkonvention Völkermord sei, dann müsste es automatisch zu einer Auslegung vor dem IGH kommen.

Welche Möglichkeiten bestehen, damit ein Fall vor dem IGH verhandelt wird?

So wie im Fall Afghanistans wäre die erste Möglichkeit über den Uno-Sicherheitsrat. Aber das ist aussichtslos, denn die USA können das mit ihrem Veto zu Fall bringen, was sie auch sicher tun würden. Oben haben wir gesehen, dass Artikel 9 der Völkermordkonvention den IGH ermächtigt, einen Fall zu untersuchen, wenn eine Auslegung der Völkermordkonvention notwendig ist, z. B. wenn festgestellt werden sollte, ob eine bestimmte Handlung als Völkermord einzustufen ist oder nicht. Auf diese Weise könnte der IGH die Verbrechen von Staaten wie die USA untersuchen, obwohl diese Staaten die Erklärung gemäss Artikel 36 des Statuts nicht abgegeben haben. Oder als drittes kann natürlich jeder Staat einwilligen, dass er einer Untersuchung stattgibt, weil er überzeugt ist, rechtmässig gehandelt zu haben. Im Fall Iraks und Libyens wäre die Völkermordkonvention sicher anwendbar.

Wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass Verbrechen im Sinne des Völkermords begangen wurden, dann hätte das auch die Zahlung von Wiedergutmachung zur Folge.

Das ist die automatische Konsequenz. Es gibt eine Bestimmung im zwingenden Völkerrecht: «Ubi ius, ibi remedium», was so viel bedeutet, «dort, wo Recht gesprochen wird, sind auch Wiedergutmachungen zu leisten.» Dieses Prinzip geht zurück auf das Völkergewohnheitsrecht. Der Fall, der in diesem Zusammenhang immer zitiert wird, ist der Chorzów-Factory-Case von 1928 des ständigen Gerichtshofs für Völkerrecht. Das war der Vorgänger des Internationalen Gerichtshofs. Dabei ging es um eine Verletzung des Minderheitenschutzabkommens durch Polen gegenüber der deutschstämmigen Minderheit im Land. Polen hat das quasi zugegeben: «Okay, wir haben es verletzt.» Aber so ein Eingeständnis hat Konsequenzen. Die Verletzung des Völkerrechts führt automatisch zu Wiedergutmachungsleistungen. Es gibt keinen Völkerrechtsbruch, der nicht am Schluss Konsequenzen nach sich zieht. Allerdings haben wir keinen effektiven Durchsetzungsmechanismus, – darum Impunität.

Nach Ihren Ausführungen kann man den Schluss ziehen, dass es nicht aussichtslos ist, die Staaten für ihr schändliches Tun zu belangen.

Das ist richtig. Es gibt im Völkerrecht verschiedene Möglichkeiten, einen Staat für seine (Kriegs-)Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Es muss ein internationaler Druck aufgebaut werden, aber auch im jeweiligen Land selbst muss ein Druck auf die Regierung entstehen, damit ein Verfahren eingeleitet werden kann, um allfällige Kriegsverbrechen aufzudecken. Wie oben gesagt, muss man darüber reden. Schweigen ist falsch – qui tacet, consentire videtur –, wenn wir schweigen, werden wir zu Komplizen der Verbrechen.  Darum, auch wenn wir die Kriegsverbrecher heute nicht bestrafen können, wird die Geschichte die Schurken letztlich verdammen. Darum brauchen wir die Fakten, die Beweise, die Videos von Wikileaks – und unsere berechtigte Empörung.

Herr Professor de Zayas, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ www.icj-cij.org/en/declarations

² asiatimes.com/2021/10/probe-all-war-crimes-in-afghanistan-no-exceptions/

Pesco – für weltweite Militäreinsätze

«Das Ganze ist ein militärisches Projekt, das auf permanenter Aufrüstung basiert»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, MdB DIE LINKE

Andrej Hunko, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was ist Pesco, an dem sich unsere Vorsteherin des Verteidigungsdepartements beteiligen will?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Pesco steht für «permanent structured cooperation», auf Deutsch «ständige strukturierte Zusammenarbeit». Das hört sich zunächst ganz gut an, wird aber weitestgehend militärisch definiert, d. h. Zusammenarbeit im militärischen Sektor. 

Seit wann gibt es das?

Das wurde mit dem Lissabon- Vertrag 2009 eingeführt und beinhaltet die Möglichkeit, für einen Teil der EU-Staaten militärisch voranzuschreiten. Das bedeutet, die militärischen Provokationen zu verstärken mit gemeinsamen Übungen und gemeinsamen Beschaffungsprojekten etc. DIE LINKE hat damals gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt und gegen die angestrebte Militarisierung geklagt. Ich war damals als Mitarbeiter eines Abgeordneten im Europaparlament, von 2007 bis 2009, zu der Zeit, als das entwickelt wurde. Ich war auch im zuständigen Sicherheits- und Verteidigungsausschuss, dem SEDE, Security and Defence, und habe die Diskussionen hautnah mitbekommen. 

So richtig bekannt ist das eigentlich nicht. 

Ja, das hat auch erst einmal eine Zeitlang geruht. Der Lissabon-Vertrag trat 2009 in Kraft. Vor vier Jahren haben dann 25 von 27 EU-Staaten beschlossen, Pesco zu aktivieren, um eine gemeinsame Militärunion zu schaffen, was letztlich die Vorstufe einer europäischen Armee bedeutet. Zwei Staaten haben nicht mitgemacht, das waren Dänemark und Malta.  

Warum die beiden Staaten nicht?

Das geschah aus nationalen Zwängen heraus, die es gegeben hatte, so durften sie sich nicht daran beteiligen. Man war überrascht, dass es gelungen ist, dermassen viele Staaten daran zu beteiligen. Auch Staaten, von denen man es nicht erwartet hat, wie z. B. Irland oder Zypern haben sich dieser Initiative angeschlossen. 

Was macht denn dieses Pesco konkret?

Darin ist eine permanente Aufrüstung festgehalten. Die Staaten müssen jedes Jahr ihre Ausgaben für das Militär erhöhen und führen eine verstärkte Zusammenarbeit in Rüstungsprojekten. Begründet wird das immer damit, dass man nicht so viele unterschiedliche Waffensysteme entwickeln wolle. Man wolle Synergien schaffen etc. Das klingt zunächst noch ganz vernünftig, aber eigentlich müsste es darum gehen, weniger zu rüsten bzw. langfristig abzurüsten. Aber es geht in eine ganz andere Richtung, die Militärausgaben sollen jedes Jahr steigen. 

Wie geschieht das?

Es gibt diverse kleinere Übungs- und Beschaffungsprojekte zwischen den verschiedenen Staaten. Im Endeffekt geht es um ein automatisiertes Aufrüstungsprojekt mit dem Ziel der Bildung einer europäischen Armee. Dieses Projekt wird schmackhaft gemacht, indem man argumentiert, dadurch von der Nato unabhängiger zu werden. 

Dieses Argument hört man auch in der Schweiz. Es sei etwas Europäisches.

Das ist Augenwischerei. Es gibt eine ganz enge Verzahnung zwischen der Nato und der EU, auch Pesco und Nato sind sehr eng miteinander verzahnt. Pesco wird auch nicht als Alternative aufgebaut. Man sagt zwar, man wolle von den USA unabhängiger werden, aber es geht nur darum, dieses Projekt besser zu verkaufen. DIE LINKE kritisiert das, seit Pesco im Lissabon-Vertrag festgelegt ist, weil es ganz klar ein Militarisierungsprojekt ist. Das führt zu einer Militarisierung der EU, die sich ursprünglich immer als ziviles Projekt verkauft hat. Z. B. sollen keine militärischen Güter aus dem EU-Haushalt bezahlt werden. 

Was soll dann die Aufgabe dieser Pesco sein? Verteidigung der Grenzen oder Verteidigung der Sicherheit der EU am Hindukusch? Mit anderen Worten Out-of-Area-Einsätze?

Offiziell soll sie eingebettet sein in die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP). Aber die konkrete Praxis sieht ja so aus, dass es um weltweite Militäreinsätze geht. Der Angriff auf Afghanistan wurde mit der Verteidigung der USA begründet. In Deutschland propagierte der ehemalige Verteidigungsminister Struck die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch. Die ganze Welt wird sozusagen zum Gebiet erklärt, in dem sich die einzelnen Staaten «verteidigen» sollen. Es geht in erste Linie nicht um Verteidigung, sondern um weltweite Interventionsfähigkeit und -tätigkeit. 

In der Schweiz stösst es immer auf Widerstand, wenn man das Land militärisch anbinden will, deshalb argumentiert das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport damit, dass es interessante «zivile Projekte» gebe, an denen sich die Schweiz beteiligen könnte. Ist das so?

Ich will es nicht ausschliessen, dass es dabei auch Bereiche gibt, die zivil sind. Aber es ist ganz klar, Pesco beinhaltet zwei Bedingungen. Erstens, die Mitgliedstaaten müssen ihre militärischen Fähigkeiten weiterentwickeln, was an der tatsächlichen Aufrüstung gemessen wird. Dabei geht es um die Summe, die die Staaten dafür ausgeben und die konkrete Anzahl von Waffen. Zusätzlich sollten die Staaten in die Lage kommen, durch schnelle Eingreiftruppen – Battlegroups genannt – in 5 bis 30 Tagen weltweit einsatzfähig zu sein. Das Ganze ist ein militärisches Projekt. Dass es in solchen militärischen Projekten auch zivile Aufgaben gibt, die für sich genommen selbst sinnvoll sein können, will ich nicht ausschliessen. Der Einsatz der Bundeswehr bei der Flutkatastrophe vom letzten Sommer ist ja nicht zu kritisieren, wenn in der konkreten Situation Hilfe geleistet wird. Letztlich ist es aber die falsche Struktur, denn dafür gibt es eigentlich das Technische Hilfswerk. Da gibt es Helikoptertrainings, die man vielleicht auch zivil einsetzen kann, das kann schon sein. Es geht aber vor allem darum, die Akzeptanz zu stärken, denn Pesco ist ein militärisches Projekt, das auf permanenter Aufrüstung basiert.

Also keine Option für die Schweiz?

Ich kann nur davor warnen, dass die Schweiz daran teilnimmt. Sie sollte ihre Neutralität und dadurch bestehende Vermittlungsmöglichkeiten pflegen. Für mich war die Situation in Georgien sehr beeindruckend. Als ich während einer Wahlbeobachtung im Land war, habe ich erfahren, dass die gesamte diplomatische Kommunikation zwischen Russland und Georgien über die Schweizer Botschaft läuft. So etwas geht natürlich nur, wenn man als neutraler Staat wahrgenommen wird, und das ist etwas sehr Wichtiges. In einer zunehmend polarisierten Welt braucht es glaubwürdige Vermittler, die helfen können, Gräben zu überwinden und Konflikte zu entschärfen. Die Schweiz wäre so ein Land, wenn sie ihre Neutralität nicht leichtfertig verspielt. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Hoheit über die eigene Gesetzgebung und Rechtsprechung behalten 

«Mit der Annahme des Rahmenabkommens wäre dies in gewichtigen Teilen nicht mehr der Fall gewesen»

Interview mit Professor Dr. Oliver Zimmer*

Professor Oliver Zimmer (Bild thk)
Professor Oliver Zimmer (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie demokratisch ist die EU?

Professor Dr. Oliver Zimmer Das hängt davon ab, wie man Demokratie definiert. In der Schweiz haben wir eine partizipatorische Demokratie, die der Bevölkerung weitgehende politische Mitbestimmung erlaubt. In der EU existiert Demokratie nur auf der Ebene der Nationalstaaten. Auf der institutionellen Ebene der EU, also im EU-Parlament, besteht nur eine limitierte Form von Demokratie. Es gibt dort so etwas wie ein Diskussionsrecht. Debattieren dürfen die Abgeordneten, aber sonst haben sie kaum Gestaltungsmöglichkeiten. Aber ich denke, das ist auch gar nicht vorgesehen. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat das in diversen Interviews immer wieder gesagt, dass das Demokratische für die geistigen Väter der EG keineswegs im Zentrum stand. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Die EU ist keine demokratische Organisation.

Warum ist das so?

Eigentlich ist sie der Epistokratie verpflichtet: der Idee des Philosophenstaates, in dem eine kleine Minderheit von Weisen regiert. Es gibt überlegene Institutionen und den Europäischen Gerichtshof, die die Politik im wesentlichen bestimmen. Demokratie ist an einem sehr kleinen Ort, das muss klar sein, sonst ist man naiv. Unter dieser Voraussetzung ist die Inkompatibilität mit der Schweiz offensichtlich.

Das ist interessant, denn in politischen Kreisen versucht man die EU, immer als demokratisches, der Schweiz sehr ähnliches «Projekt» zu verkaufen. Wie müsste die EU sein, wenn sie denn demokratisch wäre?

Demokratisch wäre sie dann, wenn sie dezentral funktionieren würde, und als eine Konföderation gestaltet, in der die demokratische Mitbestimmung der Bevölkerung garantiert wäre. Sie ist aber von der Struktur und den Ambitionen her bundesstaatlich, auch wenn das manche Staatsrechtler nicht wahrhaben wollen. Doch mit dem Euro und der Personenfreizügigkeit hat man sichtbar bereits bundesstaatliche Elemente eingeführt. Demokratisch würde sie werden, wenn man viel mehr Subsidiarität und viel mehr Autonomie den Staaten erlauben würde. Und zwar nicht nur im Diskurs, denn Subsidiarität ist in der EU eigentlich reine Semantik, [denn praktizierte Subsidiarität gibt es dort nicht]. Man müsste das Gebilde dezentralisieren.

Welche Bedeutung hat der EuGH in der EU?

Der EuGH spielt eine zentrale Rolle. Das war von Anfang an so geplant. Das Selbstverständnis als Rechtsgemeinschaft bedeutet, dass sich die EU schwergewichtig über das Recht definiert, das vom Gericht auch überwacht wird. Will man das genauer verstehen, hilft das Gutachten von Daniel Thürer an den Bundesrat aus dem Jahre 2011. Er beschreibt darin, dass das Gericht – von den Verträgen her so festgelegt – immer das letzte Wort hat. Die Vorstellung, man hätte unter diesen Umständen einen Spielraum, wenn es um die Auslegung von EU-Recht geht, ist entweder Wunschdenken oder Augenwischerei. 

Das scheinen verschiedene Exponenten in der Politik nicht wahrhaben zu wollen.

Das muss man aber zur Kenntnis nehmen, sonst hat man ein unrealistisches Bild von der EU. Sie versteht sich als Gemeinschaft, die sich stark über das Recht definiert. Dabei sind das keine Gesetze wie in einer gewöhnlichen parlamentarischen Demokratie, es sind eher Regeln und Regulative, die zur Anwendung kommen. Daher hat das Gericht eine zentrale Bedeutung. Als Vorbild galt wahrscheinlich die US-amerikanische Gerichtsbarkeit. In der Schweiz kann das Bundesgericht das Parlament darauf hinweisen, dass bei einem Gesetz etwas nicht ganz der Verfassung entspricht. Dann gibt es darüber eine Diskussion, und das Parlament kann am Ende darüber entscheiden, was es damit machen will. 

Wie ist das in den USA?

Dort kann das Oberste Gericht ein Gesetz vollständig verwerfen bzw. streichen. Das ist doch ganz anders als bei uns in der Schweiz. Das scheint mir das Vorbild in der EU zu sein. Von der ganzen Grundhaltung her besteht in der EU ein grosses Misstrauen bei den politischen Eliten gegenüber einem Volksentscheid. Das kann man nicht wegdiskutieren. Für mich ist das zu wenig demokratisch. Aber ich kann verstehen, dass man aus gewissen historischen Erfahrungen heraus, z. B. in Deutschland, dieses System präferiert hat. Das bürgerliche Element wird ausgeschaltet, und dann bekommt das Gericht eine grosse Bedeutung. 

Die Naivität, die Sie erwähnt haben, wie manche Politiker Richtung EU schielen, ist augenfällig. Warum gibt es bei manchen immer noch einen so starken Zug nach Brüssel?

Das wird viele Gründe haben. Ein Grund ist sicher Wunschdenken. Natürlich gibt es bei gewissen politischen Akteuren auch Augenwischerei. Daneben spielt mangelndes Wissen, was die EU-Institutionen betrifft, eine grosse Rolle. 

Wichtige Abkommen wie das Rahmenabkommen werden nicht gelesen. Man hat sich nicht mit der EU befasst. Aber wenn ein Politiker das Rahmenabkommen und den EU-Beitritt der Schweiz will, dann ist es sehr schwierig, ehrlich zu sein und zu sagen, die Gerichte in der EU sind dominant. Das können sie in der Schweiz nicht gut verkaufen. Also macht man gute Stimmung und lässt die Menschen im Glauben, dass man schon zu einer Lösung komme, die nicht so schlecht für unser Land sei. Zusätzlich gibt es noch ein neutrales Schiedsgericht, da kann uns gar nichts passieren. 

Das klingt auch noch gut …

Ja, und ist uns aus der Geschichte der Schweiz vertraut, aus der Zeit der Tagsatzung. Man sitzt beieinander und handelt miteinander aus, was für alle die beste Lösung sein könnte. 

Wie sehen Sie die Zukunft der Schweiz nach der Zurückweisung des Rahmenvertrags? Wird das Land in Schwierigkeiten kommen?

Nach dem Nein zum EWR 1992 hat der niederländische EU-Kommissar Andriessen gesagt: «Mit der Schweiz wird es nie bilaterale Verhandlungen geben.» Was ist passiert? Natürlich sind wir heute nahezu 30 Jahre weiter, aber die Zukunft zu gestalten bedeutet, die Gegenwart zu analysieren. Man muss die Probleme nüchtern analysieren. Es bestehen gegenseitige Interessen. Als Transitland spielt die Schweiz eine grosse Rolle. Auch in der Energiefrage ist es nicht nur so, dass die Schweiz Schwierigkeiten hat, und rundherum ist alles in bester Ordnung. Auch die EU-Länder stehen bezüglich Stromversorgung vor grossen Herausforderungen.

Was ist denn die Ursache für diese Schwierigkeiten?

Das hängt insbesondere mit der neuen, grünen Agenda zusammen. Und für viele stellt sich die Frage, wie sie ihren Energiebedarf decken können. Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das vor dieser Frage steht. In dem Sinne gibt es nur eines: sektorielle Abkommen und man muss überlegen, wie man diese ausgestalten will. Aber die Beurteilung, dass das eine Katastrophe sei, wenn man keinen Rahmen hat, ist falsch. Man muss sich aber wappnen, weil die Befürworter diese Register wieder ziehen werden. An einer Veranstaltung waren kürzlich Parlamentarier aus der Schweiz, die auch Kontakte zu EU-Parlamentariern haben. Sie erzählten, dass die EU-Politiker immer davon sprächen, dass es zu den Verträgen noch ein Dach brauche. Aber denen muss man doch sagen: Es gibt kein Dach, der Vertrag ist vom Tisch! Man muss jetzt schauen, wie es sinnvoll weitergehen kann. Deswegen bricht die Welt nicht zusammen. 

Wie nehmen Sie die Stimmung in den Medien in dieser Frage wahr?

Die anfängliche Dramatik ist eigentlich weg, und das finde ich auch realistisch. Es gibt keinen Grund zur Panik. Das heisst nicht, dass die Stimmung nicht wieder aufflammen kann. Aber da muss man Sachlichkeit bewahren: Man gestaltet die Zukunft, indem man die Gegenwart nüchtern analysiert, verschiedene Alternativen abwägt 

Man hört bei den EU-Befürwortern häufig das Argument, dass die Schweiz als föderaler Staat eigentlich gut zu den Strukturen der EU passe, weil sie auch föderalistisch strukturiert sei. 

Den Vergleich kann man so nicht machen, denn die Dynamiken dahinter sind ganz andere. Die Argumentation, die Schweiz sei eine EU im kleinen, ist für die Befürworter offenbar unwiderstehlich. Selbst wenn der Vergleich nicht hinkte – er hinkt aber – selbst dann geht es nicht auf. Die EU ist ein Produkt der Ungeduld. Die Gründerväter wollten den Erfolg dieses Projekts noch miterleben. Die Geschichte ist jedoch kontingent, sie ist nicht planbar. Ich halte es aber nicht für ausgeschlossen, dass die Europäische Union als Staatsgebilde eines Tages entstehen könnte.

Was sind die Voraussetzungen für solch eine Entwicklung?

Es muss eine Solidarität unter den Bürgern der verschiedenen Nationen entstehen. Aber so etwas kann nur über einen langen Zeitraum wachsen. Der Plan, dieses Ziel über die Währung zu erzwingen, war ein Fehler. Jetzt bestehen riesige Probleme. Die ganze Wirtschaftspolitik ist eigentlich eine Währungspolitik in der EU.

Vor kurzem gab es die Meldung, dass Polen über ein Ausscheiden aus der EU nachdenkt. Das Beispiel Grossbritanniens könnte also Schule machen?

Mit dem Austritt Grossbritanniens hat die EU ein Problem. Die osteuropäischen Staaten sind in den Augen der EU-Eliten zivilisatorisch rückständig. Ich sehe das natürlich nicht so, aber in der Haltung der EU gegenüber Osteuropa manifestiert sich diese Einstellung. Der Austritt Grossbritanniens war deswegen so katastrophal, denn hier verfängt dieses Argument nicht. 

Was ist denn an Grossbritannien anders?

Es ist der Staat, der den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, der für den Liberalismus steht. Viele der liberalen Philosophen sind britischer Provenienz. Dieser deviante Fall ist ein enormes Problem für die EU, denn das Schlimmste für sie ist immer die Systemkonkurrenz. Aus dieser Position heraus ist der Brexit für die EU absolut illegitim. Die Schweiz ist jetzt der zweitschlimmste Fall, daher auch die harten Bandagen gegenüber der Schweiz. Der Brexit, das ist schon die grösste Provokation. Aber auch die Schweiz, ein wohlhabendes und modernes Land, kann man schlecht abwerten oder kleinreden, wie man das bei Ländern wie Ungarn oder Polen machen würde. Aus der Sicht der EU kommt die Ablehnung des Rahmenvertrags einer Kränkung gleich. 

In der Schweiz fällt in letzter Zeit, sicher noch gefördert durch die ganzen Covid-Massnahmen, eine regelrechte Regelungswut auf. Alles wird bis ins Detail geregelt, und der Mensch hat immer weniger Spielraum und Freiheit. Die Eigenverantwortung wird zunehmend begrenzt. Beobachten Sie das auch? 

Verglichen mit dem Ausland stehen wir noch ganz gut da. Aber ich sehe auch die Gefahr, dass diese Machtfülle am Ende bestehen bleibt. Wenn die Lage sich verbessert, dann will man tatsächlich auch sehen, dass die Massnahmen verschwinden und nicht irgendwelche Einschränkungen beibehalten werden. Ich sehe auch noch ein grosses Problem in Bezug auf den Datenschutz. Die enorme Ansammlung von Daten während der Pandemie ist sicher ein Problem. 

Was sich in den letzten Jahren immer deutlicher zeigt, und zwar ganz unabhängig von den Covid-Massnahmen, ist ein Trend zu mehr Zentralismus. Das heisst, die Bundesebene wird immer mächtiger und greift mehr und mehr von oben nach unten durch. Föderalismus heisst auf einmal, die Vorgaben aus Bern nach unten durchzusetzen. Wie sehen Sie das?

Ja, das beobachte ich auch so. Bei den Covid-Massnahmen kommt noch dazu, dass die gesprochenen Gelder über den Bund verteilt werden. Dann fangen die Kantone an, die hohle Hand zu machen. Der Föderalismus spielt hier nicht mehr, wie es sonst der Fall ist. Was ich positiv bewerte, ist, dass Kantone unterschiedliche Massnahmen ergriffen und umgesetzt haben. Dabei wurden auch Fehler gemacht, aus denen man lernen konnte. Es ist eine Art Experimentierfeld. 

Die Pandemie spielt dem Zentralismus in die Hände?

Die zunehmende Tendenz zur Zentralisierung ist höchst problematisch. Seit 10, 20 Jahren ist diese immer stärker geworden. Das muss man immer wieder betonen. Die Form der Gewaltenteilung, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene, unsere Steuergesetzgebung, dass das Steuergeld dort ausgegeben wird, wo die Menschen leben, dieses Modell kommt unter Druck. Dabei ist es dieses Modell, das eine bürgernahe Gesellschaft schafft. In England lebe ich in einem Zentralstaat. Hier werden Steuern erhoben, und die Zentralregierung verteilt das Geld nach ihrer eigenen Präferenzen, ohne Eigenkompetenz der Kommunen.

Ein wesentlicher Aspekt, der gegen das Rahmenabkommen sprach, war der so klar erkennbare Verlust an Souveränität. Die Befürworter des Rahmenabkommens versuchten diesen Aspekt immer kleinzureden bzw. als unbedeutend abzutun. 

Die Souveränität eines Staates bedeutet, dass er die Hoheit über die eigene Gesetzgebung und Rechtsprechung hat, und das wäre mit der Annahme des Rahmenabkommens in gewichtigen Teilen nicht mehr der Fall gewesen. Diejenigen, die sagen, Souveränität sei heute nicht mehr wichtig, argumentieren oft, ein so kleines Land wie die Schweiz könne nicht gross Einfluss nehmen, deshalb wäre es doch besser, direkt der EU beizutreten, dann hätte die Schweiz mehr Souveränität. Das ist ein sehr merkwürdiges Argument, um es vorsichtig auszudrücken. Der Kern der Souveränität ist doch die Selbstbestimmung über die eigene Gesetzgebung. Die Schweiz hat hier zusätzlich noch das Initiativ- und Referendumsrecht. Der andere Aspekt ist die Machtfrage. Natürlich besitzen die USA oder auch Grossbritannien aussenpolitisch mehr Handlungsmacht als die Schweiz. Sie können mehr militärische Sicherheit zur Verfügung stellen aufgrund ihrer militärischen Ressourcen. Aber das hat mit Souveränität nichts zu tun. Das ist eine Vermischung unterschiedlicher Bereiche. 

Herr Professor Zimmer, ich danke Ihnen für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? 
ISBN 978-3-906807-21-8 

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