«Wollen Sie einen europäischen Krieg riskieren?»

Warnende Worte des tschechischen Staatspräsidenten Miloš Zeman an die Adresse der Ukraine – Poroschenko heizt die Stimmung an

von Thomas Kaiser, Strassburg

Die Krise in der Ukraine hat auch in der Herbst-Session der Parlamentarischen Versammlung des Europarats die Abgeordneten beschäftigt, da diese direkt davon betroffen ist. Die Russische Föderation, der wegen der Krim-Krise das Stimmrecht seit April 2014 in diesem Gremium verwehrt wurde, blieb ihm daher fern. Dieses Jahr hat sie ihren Austritt aus dem Ministerrat erklärt und als konsequente Folge die Beitragszahlungen eingestellt, die doch immerhin 10% des Gesamtbudgets ausmachen – kein geringer Betrag.

Das Ausbleiben Russlands muss als logische Konsequenz der Stimmung, die gegenüber dem Land herrscht, verstanden werden. Doch trotz aller Kritik an Russland mehren sich die Stimmen, die einen anderen Weg einschlagen möchten. Dazu gehört auch der tschechische Staatspräsident Miloš Zeman, der in einer Ansprache vor der Parlamentarischen Versammlung intensiv auf die Situation Russlands und der Ukraine eingegangen ist. Auf die Frage eines Abgeordneten, was er von den Sanktionen gegen Russ­land halte, sprach er sich dezidiert gegen die Sanktionen aus, weil sie nichts nützten und zu einer Bruchlinie zwischen Russland und dem Rest  Europas geführt hätten. Er zitierte einen Artikel aus «DIE WELT», der aussagt, dass die Europäische Union wegen der Sanktionen sehr schlecht wegkomme, Russland aber  keinen besonderen Schaden habe. Es sei keine «win-win-Situation, sondern eine lose-lose-Situation». Er warnte deutlich davor, Russland weiter zu isolieren: «Man kann die europäische Kultur nicht von der russischen trennen.» Er ordnete dem Europarat eine spezielle Rolle bei der «Stärkung der Freundschaft zwischen den europäischen Staaten» zu.

Einen europäischen Krieg verhindern

Präsident Zeman verwies auf Charles de Gaulle, für den sich der europäische Kontinent «vom Atlantik bis zum Ural» erstreckte. Deshalb plädierte er für die Wiederaufnahme des Dialogs mit Russland und somit für dessen Rückkehr in die Parlamentarische Versammlung. Auf die Frage eines ukrainischen Parlamentariers, was der Europarat und die internationale Gemeinschaft im Fall der Krim tun könne, antwortete er unumwunden: «Wollen Sie einen europäischen Krieg riskieren? (…) Ja, wenn es einen Dialog zwischen Russland und der Ukraine gäbe, so denke ich – meine persönliche Sichtweise –, dass es möglich wäre, eine finanzielle Kompensation für die Krim oder in Naturalien zu geben, wobei ich an Gas und Öl denke. (...) Wir versuchen, einen europäischen Krieg zu verhindern, und gleichzeitig entschädigen wir die Ukraine.» Im weiteren Verlauf der Diskussion liess er sich trotz der Vielzahl von Fragen, die sich auch auf das Verhältnis zu Russland bezogen, nicht beirren und blieb bei einer einzig relevanten Linie: «Demokratie ist Diskussion. Lasst uns diskutieren.» 

Loslösung des Kosovo «keine angemessene Lösung»

Präsident Zeman bestand auch darauf, dass man die Krim-Frage nicht isoliert von der Kosovo-Frage sehen kann. Für ihn ist die Loslösung des Kosovo «keine angemessene Lösung, denn es geschah gegen die Resolution der Uno über die territoriale Integrität Serbiens. Ein Standard ist beim Kosovo angewandt worden und ein anderer, genau das Gegenteil, soll bei der Krim gelten.»

Mit dieser letzten Stellungnahme machte er auf die doppelten Standards aufmerksam, die international oft angewandt werden. Bei der Sezession des Kosovo standen die USA Pate, denn sie wollten unter keinen Umständen ihre illegal auf serbischem Boden errichtete Luftwaffenbasis «Camp Bondsteel» verlieren und sicherten sich damit ein langfristiges Standbein auf dem Balkan in unmittelbarer Nähe zu Russland. Mit der Unterstützung der Sezession des Kosovo, die George W. Bush massgeblich vorangetrieben hatte, ging dieser geostrategische Plan auf. 

Poroschenko: Ausgleich mit Russland nicht akzeptabel

Die wohl überlegten und am Friedenserhalt in Europa orientierten Worte Miloš Zemans, bekamen am nächsten Tag in der Rede des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko eine martialische Antwort. Seine Rede dauerte 40 Minuten, und man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, einer Filibuster-Rede zuhören zu müssen. Poroschenko nutzte das Forum, um unmissverständlich klar zu machen, dass Europa zusammenstehen müsse, um gegen Russland vorzugehen. Eine Verhandlungslösung kommt für ihn nicht in Frage. Ohne Miloš Zeman zu erwähnen, kritisierte er seinen Dialogansatz, und dass ein Ausgleich mit Russland nicht akzeptabel sei. Als einer der reichsten Oligarchen in der Ukraine liess er verlauten: «Nebenbei bemerkt, wir verkaufen und kaufen die Krim nicht, es ist keine Frage des Geldes, des Gases, Öls oder was auch immer.» Ein erneutes Referendum auf der Krim schliesst Poroschenko aus: «Es ist unmöglich, ein Referendum unter den Kanonenrohren der russischen Panzer abzuhalten. Das wäre kein Referendum und hätte nichts mit Demokratie zu tun.» Sein Versprechen von 2014, den Dialog mit allen zu führen, war wohl nur Propaganda, und auf die Frage, wie es darum stehe, antwortete Poroschenko auch wenig überzeugend: «Können Sie sich irgendeinen Dialog in dem besetzten Gebiet vorstellen? Die einzige Vorbedingung für den Dialog ist der Rückzug der russischen Truppen.» Bis heute dementiert die russische Regierung, Truppen in den Ostprovinzen der Ukraine stationiert zu haben. Ist es also nur ein Vorwand, um den Druck auf Russland aufrecht zu erhalten?

Minsker Abkommen verlangt Verfassungsreform

Einseitig bemühte der ukrainische Präsident das Minsker Abkommen und warf den Russen vor, dieses bis heute nicht eingehalten zu haben. In Tat und Wahrheit ist es so, dass das Minsker Abkommen 13 Punkte beinhaltet, die sowohl von den Separatisten als auch von der Ukraine wichtige Schritte verlangen. Hierbei ist die Krim kein Thema. Eine ganz wichtige Forderung ist neben anderen im Punkt 11 enthalten. Dieser verlangt «Durchführung einer Verfassungsreform in der Ukraine und Inkrafttreten einer neuen Verfassung bis Ende 2015.» Dabei geht es um eine Dezentralisierung, die mit den Vertretern dieser Gebiete [in der Ostukraine, Anm. d. Red.] abgestimmt werden soll. Der Dialog muss also an erster Stelle stehen. Auch ist die Ukraine verpflichtet, Söldner des Landes zu verweisen, genauso wie die Separatisten aufgefordert werden, ausländische Soldaten auszuweisen, beides unter der Kontrolle der OSZE. In einigen Punkten ist ein Dialog zwischen der ukrainischen Regierung und den Separatisten verlangt, der von Poroschenko kategorisch abgelehnt wird.

Der ukrainische Staatschef hat die Chance verpasst, sich als Staatsmann zu präsentieren und zu einem ehrlichen Dialog mit allen Konfliktparteien aufzurufen. Wenn es zu einer langfristigen Lösung der Ukraine-Krise kommen soll, dann geht das nur im Dialog. Doch scheint Poroschenko eine potente Macht hinter sich zu wissen, sonst hätte er solche Töne kaum angeschlagen. Denn ein militärischer Schlagabtausch mit Russland wäre für die Ukraine Selbstmord, aber für andere – neben strategischen Überlegungen – ein gutes Geschäft.

«Alles unterstützen, was zu einer Befriedung der Situation beiträgt»

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestags

Andrej Hunko (Bild thk)
Andrej Hunko (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In seiner Rede hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sich als glühender Demokrat und Verteidiger der Menschenrechte, aber als Opfer russischer Aggression präsentiert. Teilen Sie diese Einschätzung?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Nicht im Geringsten. Die heutige Rede hat uns dies erschreckend vor Augen geführt. Es war eine einzige antirussische Kriegsrede, das muss man sehr deutlich sagen. Die Vorstellung, die er präsentiert hat, ist die eines militärischen Sieges als Voraussetzung für irgendwelche Verhandlungen. Auf das zweite Minsker Abkommen, das eine friedliche Lösung ermöglichen würde, ist er in seinem 40minütigen Auftaktstatement eigentlich nicht eingegangen. Ich war im Mai 2014 Wahlbeobachter für den Europarat bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Diese waren umstritten, denn der gewaltsame Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch war verfassungswidrig. Trotzdem habe ich mich dort hinbegeben, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Damals wurde Poroschenko als Friedenskandidat dargestellt, als derjenige, der eine friedliche Lösung im Donbass anstrebe. Das war genau in dieser heissen Phase dort. Er sei auch derjenige, der in den Osten des Landes reisen würde, um mit den sogenannten Separatisten zu verhandeln. Ein Präsident für alle Ukrainer. Heute sehen wir, dass sich davon nichts bewahrheitet hat.

Sie erwähnten einen militärischen Sieg. Was würde das konkret bedeuten?

Beispielsweise, dass die Idee eines erneuten Referendums über den Status der Krim erst in Frage käme, wenn sie wieder in die Ukraine eingegliedert wäre. Hier muss man dazudenken: nach einer militärischen Rückeroberung. Das ist sehr besorgniserregend. Jeder weiss, wenn man die Debatte in Russland verfolgt sowie dessen Sicherheitsinteressen miteinbezieht, wird es die Krim freiwillig kaum zurückgeben, egal wie man das beurteilt. Das heisst, nur ein militärischer Akt wäre hier der Weg, was so viel bedeutet, den grossen Krieg mit Russland in Kauf zu nehmen, was äusserst beängstigend ist.

Sie haben das Sicherheitsinteresse Russlands erwähnt. Inwieweit wäre das tangiert, wenn Russland die Krim jetzt doch zurückgäbe?

Das geht nicht so einfach. Wir haben einmal die Ebene der Sicherheitsinteressen, die ich gerade angesprochen habe. Der eigentliche sicherheitspolitische Grund für die russische Reaktion auf den Putsch in der Ukraine vom Februar 2014 lag in der Absicht, einen Nato-Beitritt der Ukraine zu verhindern. Es handelte sich ja nicht um eine Bewegung gegen Korruption, sondern der Umsturz war eindeutig gegen Russland gerichtet. Als Teil der Osterweiterung wäre dann die Nato bis an die russische Grenze gekommen. Zum andern wollte Russland die Schwarzmeerflotte schützen, die auf der Krim stationiert ist.

Was war das strategische Ziel der Nato?

Die Russen von der Krim zu vertreiben, um dort selbst einen Flottenstützpunkt zu errichten. Es ist bekannt, in welcher Dimension die USA diese Protest-Bewegung unterstützt hat, bis hin zu den fünf Milliarden US-Dollar, die die USA in den Regime-Change in der Ukraine investiert hatten. Das war das offizielle Statement von Victoria Nuland. Letztlich ging es den USA darum, den Einfluss in der Ukraine auszudehnen und die Schwarzmeerflotte anzugreifen.

Dann ist das Verhalten Russlands eine Reaktion auf diese Strategie?

Der rechtlich umstrittene Prozess der Abspaltung der Krim und die nachher erfolgte Aufnahme in die Russische Föderation können nur unter diesem sicherheitspolitischen Aspekt verstanden werden. Das ist so elementar im Genom der russischen Verteidigungslogik verankert, daran wird unterhalb eines grossen Krieges nichts zu rütteln sein. Ich hatte im Dezember letzten Jahres in New York den Anfang des Jahres verstorbenen Uno-Botschafter Russlands, Witali Tschurkin, gefragt, ob auf der Krim ein erneutes Referendum unter internationaler Aufsicht durchgeführt werden könnte. Seine Antwort war klar: «Das Kapitel ist abgeschlossen, darüber rede ich nicht mehr.» Das ist die russische Haltung. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die Mehrheit der Menschen auf der Krim mit dem aktuellen Status zufrieden ist. Die Vorstellung Poroschenkos, erst die Krim zurückzuerobern und dann ein Referendum durchzuführen, heisst nichts anderes als Krieg und geht völlig an der Realität vorbei.

Wie ist denn die Lage zum jetzigen Zeitpunkt? Konnten Sie sich ein Bild darüber machen?

Es ist ausserordentlich schwierig, in die Krisengebiete zu reisen. Es gibt für Abgeordnete oder Journalisten fast keine Möglichkeit, sich an Ort und Stelle zu informieren, ohne auf der einen oder anderen Seite Regeln zu verletzen. Es gibt kaum einen anderen Staat, der so hart reagiert wie die Ukraine. Es gibt viele «frozen conflicts», wir haben Transnistrien, Südossetien, Abchasien, Berg-Karabach, Nordzypern. Die Ukraine ist hier ganz extrem. Ich bin auf der schwarzen Liste und mir drohen fünf Jahre Gefängnis, wenn ich in die Ukraine reise.

Was haben Sie denn verbrochen?

Ich hatte Medikamente in ein Krankenhaus im Donbass gebracht und war sozusagen von der falschen Seite eingereist, also über Russland und nicht über die Ukraine. Allerdings war dies die einzige Möglichkeit. Kürzlich hat die deutsche Musikgruppe Scooter auf der Krim ein Konzert gegeben. Sie ist dort wohl populär und unter dem Aspekt der Völkerverständigung ist sie auf die Halbinsel gereist. Sie wird jetzt von der Ukraine mit acht Jahren Gefängnis bedroht. Die ukrainische Botschaft hat versucht, Konzerte dieser Band in Deutschland zu verhindern. Die Ukraine versucht sich – und das wurde in der Rede Poroschenkos ganz deutlich – als Frontstaat eines gemeinsamen europäischen Krieges gegen Russland zu positionieren. Diplomatisch ist sie in den einzelnen Staaten extrem aktiv, um Abweichler von dieser Linie zum Schweigen zu bringen. 

Wenn wir das mit der Rede des tschechischen Staatspräsidenten Miloš Zeman von gestern vergleichen, ist das eine ganz andere Haltung.

Ja, das sind hier die beiden Ansätze: Wenn man einen Weltkrieg will, dann muss man die Krim zum Gegenstand machen, und wenn man keinen Weltkrieg will, dann muss man überlegen, wie man das deeskalieren, wie man das herunterfahren kann. Präsident Zeman hat hier vorgeschlagen, über Entschädigungszahlungen oder andere Formen zu einem Ausgleich zu kommen. Das hat Poroschenko deutlichst zurückgewiesen. Es ist schon interessant, dass der reichste Oligarch der Ukraine in seiner Rede ausführt, dass Geld keine Rolle spiele und man nicht käuflich sei.

Sehen Sie eine Möglichkeit, wie man diesen Konflikt in ruhigere Bahnen führen kann, und wie man verhindern kann, dass es zu einem grossen Krieg kommt?

Ich glaube, hier ist die Rolle von Deutschland ganz wichtig. Solche Leute wie Poroschenko werden erst dann zurückrudern, wenn ihnen ein anderer Wind ins Gesicht bläst, aus Deutschland, aber auch aus anderen westlichen Ländern. Die USA haben leider ein Interesse, das zuzuspitzen. In Deutschland hingegen ist die ganze Lage nicht unumstritten. Im Moment laufen in Deutschland Koalitionsverhandlungen, an denen die Linke bekanntermassen nicht teilnimmt, und es wird eine Rolle spielen, wer Aussenminister wird. Ich bin sicher kein Freund der FDP, aber Christian Lindner hat vor einigen Wochen gesagt, dass man die Krim als «dauerhaftes Provisorium» ansehen und auf anderen Ebenen zusammenarbeiten sollte, was nichts anderes bedeutet, als den Konflikt einzufrieren. Ich habe das unterstützt. Es wäre mir lieber, wenn sich beim künftigen Aussenminister eine solche Haltung finden liesse, als diejenige, die wir von Poroschenko vorgeführt bekommen haben. Die Situation ist verfahren.

Wenn die Politik nicht mehr weiterkommt, dann braucht es die Bevölkerung …

Ja. Das ist ganz wichtig. Diese ­zivilgesellschaftlichen Kooperationen spielen hier eine bedeutende Rolle, auch wenn eine Technoband, was nicht mein Musikstil ist, dort hinreist, dann hat das verbindende Funktion. Das ist zu unterstützen, auch der Austausch durch Städtepartnerschaften. Das deutsch-russische Forum, in dem ich jetzt Mitglied bin, fördert solche Bestrebungen sehr. Das sind alles Dinge, die man unbedingt machen muss, aber eine schnelle Lösung auf der internationalen Ebene sehe ich im Moment nicht.

Wie sehen Sie die Rolle von Präsident Donald Trump?

Die Obama-Administration und auch Hillary Clinton waren hier ganz klar der aggressivere Teil. Trump hat sich erst einmal zurückgehalten. Aber er ist nicht einer, der sich der Friedenspolitik und der internationalen Diplomatie verpflichtet fühlt. Das ist spätestens seit dem Abschuss der Tomahawks auf Syrien und seinen wiederholten völkerrechtswidrigen Äusserungen zu Nordkorea, dass man es auslöschen würde – nur schon die Androhung ist völkerrechtlich verboten – klar. Ich weiss nicht, wer in den US-Regierungskreisen treibt und wer der Getriebene ist, aber man sollte von Trump nichts erwarten. Etwas tun können sicher die Bürgerinnen und Bürger, aber man muss auch auf der politischen Ebene weiterarbeiten, besonders auch in Bezug auf das Ende der Sanktionen, hier im Europarat, aber auch auf der Ebene der EU. Man muss einen sanften Einstieg zum Ausstieg aus den Sanktionen einleiten, und die Rede von Präsident Zeman, der sich dezidiert für ein Ende der Sanktionen ausgesprochen hat, zeigt, dass der Druck langsam steigt. Wir werden alles unterstützen, was zu einer Befriedung der Situation beiträgt.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

«Es ist schlicht verantwortungslos, Drogen zu legalisieren und dadurch zu verharmlosen»

Interview mit Nationalrätin Verena Herzog

Nationalrätin Verena Herzog, SVP/TG (Bild thk)
Nationalrätin Verena Herzog, SVP/TG (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Es gibt verschiedene Bestrebungen zur sogenannten Entkriminalisierung von Cannabis, was nichts anderes bedeutet als eine Legalisierung mit allen Konsequenzen. Sie wehren sich dagegen. Warum?

Nationalrätin Verena Herzog Eine Legalisierung sowie auch eine staatliche Abgabe von Cannabis kämen einer Banalisierung und Verharmlosung dieser Droge gleich. Eine glaubwürdige Prävention würde torpediert oder gar verunmöglicht. Für Schulen würde es noch schwieriger, ein Verbot durchzusetzen. Und es ist klar: Da es heute als cool gilt zu kiffen, würden im Falle einer Legalisierung noch mehr Jugendliche Cannabis ausprobieren wollen, vor allem auch jene Rechtschaffenen, die jetzt durch Strafen abgeschreckt sind und deshalb die Finger davon lassen. Dabei steht fest, dass Cannabis in der Pubertät besonders problematisch ist, da die Hirnentwicklung des Menschen erst im Alter von ca. 25 Jahren abgeschlossen ist, und das Cannabinoid-System darin eine wichtige Rolle spielt. THC (Tetrahydrocannabinol) kann in die neuralen Umbauprozesse eingreifen und das Gehirn schädigen. Regelmässiger Cannabiskonsum ist meist begleitet von Konzentrationsschwierigkeiten, Antriebslosigkeit und Gleichgültigkeit und kann eine Kettenreaktion mit weitreichenden Folgen für die weitere Entwicklung des Jugendlichen auslösen. 

Wenn man nur das hört, kann doch eine Politik der Legalisierung nicht in Frage kommen...

Ja, das Abhängigkeitspotenzial von Cannabis wird massiv unterschätzt. Wie Studien zeigen, ist das Suchtpotenzial von Cannabis ähnlich hoch wie bei Alkohol, etwa 10 %. Von denjenigen, die bereits als Jugendliche kiffen, werden gar 17 % abhängig. Besonders brisant ist der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum im Jugendalter und der Entwicklung einer schizophrenen Psychose, die das weitere Leben einschneidend verändern kann. Zahlreiche Studien auf diesem Gebiet zeigen, dass die Verbindung zwischen Cannabiskonsum und einem erhöhten Schizophrenierisiko eine ursächliche ist. Eine internationale, randomisierte Langzeitstudie von 2016, mit epidemiologische Daten aus über 40 Jahren, mit Beteiligung von Forschenden des Universitätsspitals Lausanne bestätigt, dass bei Jugendlichen mit Cannabiskonsum das Schizophrenierisiko um 37% erhöht ist. Das ist eine sehr hohe Zahl. Statt einer  verantwortungslosen Legalisierung müssen beim Drogensüchtigen Entzug und Drogenfreiheit angestrebt werden, zu Gunsten der Süchtigen, zu Gunsten der Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft und um die massiven Folgekosten von Süchtigen, die in der IV landen und ein Leben lang am Sozialtropf hängen, zu reduzieren.

Was heisst das für einen Jugendlichen, der in die Abhängigkeit gerät?

In meinem Bekanntenkreis habe ich das konkret erlebt, und das hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, gegen die Verharmlosung von Cannabis anzukämpfen. Junge, normal intelligente Menschen, die aber schon früh regelmässig gekifft und dadurch oft auch den Alkoholkonsum nicht im Griff hatten, haben ihren herkömmlichen Freundeskreis verloren. Sie sind schliesslich in der psychiatrischen Klinik gelandet, konnten ihre Lehre nicht abschliessen oder haben das Studium abgebrochen. Und vor allem schafften sie nie mehr den Anschluss in die normale Arbeitswelt. Solche Lebensgeschichten gibt es viele. Das Leben ist verpfuscht, bevor es überhaupt richtig beginnt. Das dürfen wir doch nicht zulassen!

Was haben solche Menschen für Perspektiven?

Drogensüchtige Menschen altern extrem schnell und sind nicht in der Lage, ihr Leben selbständig zu bestreiten, geschweige zu finanzieren. Dafür werden Sozialprogramme zur Verfügung gestellt, und das dafür benötigte Geld fehlt dann zum Beispiel im Bildungsbereich. Über die Kosten spricht man nicht. Es handelt sich um Menschen, die keinen positiven Beitrag mehr in der Gesellschaft leisten können und ihr Leben lang auf staatliche Hilfe angewiesen sind, auf Kosten derjenigen, die ihr Leben lang arbeiten und einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. 

Ein häufig gehörtes Argument besagt, dass Cannabis durch das Verbot erst interessant würde. Was sagen Sie dazu?

Wenn wir so argumentieren, dann können gleich alle Verbote aufgehoben werden. Dann sind Geschwindigkeitsbegrenzungen zum Beispiel in gefährlichen Kurven oder innerorts sinnlos, denn man würde dann erst recht zu schnell fahren. Mag sein, dass es auf manche Menschen, vor allem im jugendlichen Alter, einen gewissen Reiz hat, Verbote zu übertreten. Aber deswegen kann man doch nicht auf Gesetze verzichten. Ein anderes Argument, und das ist viel zutreffender, heisst, je einfacher etwas zugänglich ist, umso eher wird es konsumiert. Das ist doch einleuchtend. Und ich finde es dramatisch, wie das bereits heute in Schulen am Rand von Pausenplätzen abläuft. Wie das aussehen würde bei einer Legalisierung, kann man sich leicht vorstellen. Cannabis würde ja aus gesundheitlichen Überlegungen erst für die mindestens 18jährigen legalisiert. Folglich würden Dealer vor allem die Jüngeren anpeilen oder Cannabis mit höherem THC-Gehalt anpreisen.

Wenn einer bereits süchtig ist, sollte man ihm nicht den Zugang zum Suchtmittel erleichtern?

Sowohl bei Cannabis als auch bei härteren Drogen gibt es nur einen Weg: mit dem Süchtigen das Gespräch zu suchen und ihm aufzuzeigen, was die Folgen sind, wenn er sein soziales Umfeld, die Lehrstelle oder den Arbeitsplatz verliert und am Schluss im Sozialwesen landet. Es gibt für mich nur eins, und das bestätigt jeder ehemalige Drogensüchtige: fachliche Beratung, Drogenentzug und dann vor allem: Lass' die Finger davon!

Wie hilft man denn einem Süchtigen, der sich entschieden hat aufzuhören?

Man muss ihm Unterstützung geben, dass er den schwierigen Ausstieg aus der Sucht schafft. Es gibt auch gute Programme in öffentlichen und privaten Spitälern, stationär, teilstationär oder ambulant. Bis jetzt gute Erfolge hat z. B. die ANR-Methode (ANR: Accelerated Neuroregulation = beschleunigte Regulierung des Nervensystems) im Spital Interlaken, ein Programm mit einer 1-Jahreserfolgsquote von 65 %. Bis jetzt war der Schweizerische Nationalfond (SNF) leider nicht bereit, eine wissenschaftliche Studie zu diesem erfolgversprechenden Programm finanziell zu unterstützen. Stattdessen wurden vom SNF für einen regulierten Cannabis-Verkauf in Apotheken bereits 720 000 Franken gesprochen und dies sogar, bevor ein diesbezügliches Gesuch vom Bundesrat bewilligt wurde. Es ist schlicht verantwortungslos, Drogen zu legalisieren und dadurch zu verharmlosen. Das würde einen ganzen Rattenschwanz nach sich ziehen.

Was wäre dieser Rattenschwanz?

Den Schweizer Wohlstand haben unsere Vorfahren durch hohe Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Präzision hart erarbeitet. Mit Cannabis und anderen Drogen wird dies alles vernichtet. Dazu kommen die gesundheitlichen Schädigungen, z. B. der Lunge, des Hirns oder durch Cannabis ausgelöste Psychosen und Schizophrenie. Der Anteil der Invaliditätskosten für psychisch kranke Jugendliche steigt Jahr für Jahr. Es kann nicht sein, dass man einen Stoff, der so verheerende Wirkung auf Körper und Geist haben kann, legalisiert. 

Ein immer wieder ins Feld geführtes Argument ist, dass man mit der Legalisierung von Suchtstoffen den Schwarzmarkt austrocknen würde, weil dann das Monopol beim Staat liegt. 

Dass dieses Argument leider nicht stimmt, zeigt Colorado. Der Marktanteil hat nach der Legalisierung um 17 % pro Jahr zugenommen, und der Schwarzmarkt florierte weiter. Die Dealer, und das wagt ja wohl niemand zu bezweifeln, sind genug gerissen und finden sofort einen anderen Weg, z. B. Cannabis mit höherem THC-Gehalt zu verkaufen, neue Drogen zu kreieren, die eine noch stärkere Wirkung haben. Dazu kommt, dass immer jüngere Menschen in die Sucht geholt werden, das fängt ja bereits mit 12 oder 13 Jahren an.

Warum haben wir immer wieder diese Diskussion? Was steckt hinter dem Bestreben, diese Drogen, und es ist nicht nur das Cannabis, zu legalisieren und damit den Zugang zu erleichtern?

Es sind zwei Gründe. Zum einen ist es ein Abbild unserer Spassgesellschaft. Man will überall dabei sein, banalisiert alles und leistet sich alles. Der Hauptgrund ist jedoch das verlockende Milliardengeschäft, das hier dahintersteckt. Es gibt verschiedene Konzerne, vor allem in den USA, die damit das grosse Geld machen wollen. Bei uns wittern die Bauern ein neues Geschäft. Besonders verwerflich ist, dass Coop CBD-Zigaretten (CBD = Cannabidiol) verkauft und damit auch auf Kosten der Jugend ein Geschäft macht. Nebst dem, dass durch diese Hanfzigaretten noch mehr Jugendliche so cool und unbedacht ihre Lunge schädigen, fehlen Langzeitstudien über die Wirkungen von CBD-Hanf. Die klinische Forschung von CBD steckt noch in den Kinderschuhen. 

Coop beruft sich darauf, dass man diese erst ab 18 bekommt. 

Das ist doch Augenwischerei. Es ist ein Leichtes, vom über 18jährigen Kollegen einen solchen Glimmstengel zu ergattern. Es gibt Onlineplattformen und schlussendlich den Drogenschwarzmarkt. Jeder riecht das grosse Geld, auf Kosten unserer Gesundheit, auf Kosten unserer Jugend und letztlich auf Kosten unserer Gesellschaft, die wache und interessierte Menschen braucht, damit sie in unserer Gesellschaft eine tragende Rolle übernehmen können. Verheerend ist auch die Kombination von Cannabis und Alkohol. Das Aggressionspotential wird erhöht. Wer mehrere CBD-Hanfzigaretten geraucht hat, verfügt auch über einen problematischen THC-Gehalt im Körper. Das Gefahrenpotenzial durch Konzentrationsmangel ist gross, sowohl bei der Arbeit als auch im Strassenverkehr. Eigentlich benötigen wir junge Menschen, die im Beruf bestehen können und nicht benebelt durch die Welt laufen oder gar fahren.

Gesundheit ist doch heute ein Wert. Es gibt Kampagnen, Krankenkassen fördern es, wenn ihre Kunden Sport treiben und sich gesund ernähren. Gegen das Rauchen hat man Kampagnen geführt, die mitgeholfen haben, dass es weniger Raucher gibt. Wie sieht das heute aus?

Ja, das ist so. Man gibt Millionen von Franken für Kampagnen gegen das Rauchen aus, aber Cannabis wird vernachlässigt. Nur schöne Broschüren reichen nicht. Das ist für mich auch ein Widerspruch; für die Gesundheit gibt man alles aus, aber die Gefahren von Cannabis oder anderen Suchtstoffen nimmt man nicht ernst, man bagatellisiert oder verniedlicht sie und verschliesst die Augen vor der Zukunft. Es gibt nur eine Lösung: Drogenverbot, Prävention, die den Namen verdient, und Strafverfolgung. Der Ausstieg aus den Drogen muss das Ziel sein, kein erbärmliches Leben mit Drogen auf Rezept oder aus staatlichen Abgabestellen. Das ist menschenunwürdig.

Frau Nationalrätin Herzog, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

Ärztlich verordnete Opioide führen in den USA zu einem massiven Anstieg an Drogentoten

sl. Laut einem Bericht der Zeitung «Le Temps» vom 3.  September 2017 sind 2016 mehr als 65 000 Amerikaner an einer Überdosis gestorben, und zwar der grösste Teil an Opioiden, die von Ärzten zu grosszügig verordnet worden waren. Es handelt sich dabei um extrem starke, abhängig machende Schmerzmittel, die normalerweise nur zur Linderung massiver Schmerzen bei Tumorerkrankungen oder im Endstadium einer schweren Krankheit verabreicht werden. 

Seit 1999 verschreiben amerikanische Ärzte jedoch Opioide auch an Patienten mit chronischen Schmerzen bei Arthrose oder Rückenproblemen. Oft ist das der Anfang einer tödlichen Spirale, die bis zur Einnahme von Heroin führt. Die Zahlen sind erschreckend: 2015 haben Opioide und Heroin mehr als 33 000 Opfer gefordert, die an einer Überdosis gestorben sind, das sind 15 % mehr als 2014. Seit 1999 sind 300 000 Amerikaner an Opioiden gestorben. Laut der «America Society of Addiction Medecine» sind 2 bis 3 Millionen Amerikaner davon abhängig. Die jährlichen Kosten belaufen sich auf rund 78,5 Milliarden Dollar.

Chris Christie, Gouverneur von New Jersey, scheut sich nicht, folgenden Vergleich anzustellen: «Die Opioide fordern alle drei Wochen genauso viele Tote wie der 11. September 2001.» Laut «Le Temps» ist in West-Virginia die Situation besonders dramatisch. Jedes fünfte Baby, das im Hauptspital von Huntington zur Welt kommt, ist schon während der Schwangerschaft mit der Droge in Kontakt gekommen.

Das Ausmass der Katastrophe ist nicht zuletzt so gross, weil die Opioide Sprungbrett zum viel billigeren Heroin sind. Eine Studie von 2013 zeigt, dass von denjenigen, die in jenem Jahr Heroin konsumierten, 3/4 über ärztlich verordnete Opioide dazu gekommen waren. 

Anfangs August beauftragte nun der amerikanische Justizminister Jeff Sessions 12 Staatsanwälte mit der landesweiten Verfolgung von Ärzten und Apothekern, die Opioide illegal verschreiben und vertreiben. Bereits am 3.  August sind in der Nähe von Los Angeles 12 Personen gefasst worden. Sie hatten 7 Scheinkliniken geführt, die illegal 2 Millionen Beutel mit Opioiden in Umlauf gebracht hatten. Modus operandi: Sie besorgten sich die Opioide mittels Verordnungen, die von korrupten Ärzten ausgestellt worden waren oder die sie ihrer Identität beraubt hatten. Aufgrund von Tonbandaufnahmen eines Telefongesprächs weiss man, dass der Chef der Bande «Maserati Mike» einem Arzt das Angebot gemacht hat, «ohne einen Finger zu rühren 20 000 Franken verdienen zu können». Die so beschafften Opioide wurden dann auf dem Schwarzmarkt in Umlauf gebracht und umgesetzt. Ende August ist der Arzt Kostenko zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er abhängigen Patienten Oxycodone, eines der auf dem Schwarzmarkt sehr gesuchten Opioide, verschrieben hatte. Zwei sind an einer Überdosis gestorben. Er zeigte keinerlei Skrupel bei der Ausstellung der Verordnungen: er unterzeichnete an einem einzigen Tag bis zu 365 Verordnungen für 250 Patienten, Patienten, die er zum Teil nie gesehen hatte.

Gemäss «Le Temps» bezeichnete Donald Trump am 10.  August die Opioid-Krise als nationalen Notstand und versprach umfangreiche Finanzmittel zu deren Bekämpfung.

Der Bericht zeigt klar, dass es eine Illusion ist, mittels ärztlicher Abgabe von Drogen den Schwarzmarkt austrocknen zu können.

Quelle: Valérie de Graffenried: Opioïdes, l'hécatombe américaine. In: «Le Temps» vom 3. September 2017 

www.letemps.ch/sciences/2017/09/03/opioides-lhecatombe-americaine

Braucht es Lehrer oder Lernbegleiter in unseren Schulen?

von Dr. Alfred Burger

Seit den Diskussionen um den neuen Lehrplan 21 ist bekannt geworden, dass in den Schulen nicht mehr Lehrer gefragt sind, sondern Lernbegleiter. Dieser Begriff orientiert sich wie der gesamte neue Lehrplan an angelsächsischen Vorbildern. Dort wird der neue Lehrer «facilitator» genannt, was man als Vermittler, Moderator übersetzen kann.

Heute weiss man, warum keine Lehrer im herkömmlichen Sinne mehr gebraucht werden. Die Arbeit der Lehrer sollen intelligente Computerprogramme übernehmen. Sie führen die Kinder individuell durch den Stoff, sie kontrollieren, geben ihnen die ihrem individuellen Stand entsprechende Aufgabenstellung vor und liefern am Schluss den entsprechenden Test. Darum musste der Schulstoff – wie im Lehrplan 21 vorgegeben – auch in Hunderte von Kompetenzen und Teilkompetenzen aufgeteilt werden. Nur diese kann der Computer erfassen. Komplexere Zusammenhänge beim Lernprozess kann er gar nicht verstehen. Der Lehrer hat allenfalls noch die Aufgabe, unterstützend einzugreifen, Programme vielleicht wieder zum Laufen zu bringen und vor allem die unzähligen Daten zu ordnen und zu sichten. Vergleichbar etwa mit einem Aktuar innerhalb eines bürokratischen Ablaufs. Diese Vorstellung von Schule und Lernen in der Schule ist absurd. Das kann niemals funktionieren – aber gewisse Wirtschaftszweige werden sich daran eine goldene Nase verdienen – und eine Generation von Kindern und Jugendlichen wird dabei verheizt und um ihre Chancen im Leben gebracht.

Die Bedeutung des Lehrers

Die Bedeutung des Lehrers ist immens – im guten wie auch im schlechten Sinn. Er hat ungemein viel in der Hand, wie und ob sich seine Kinder entwickeln oder eben nicht; in den allermeisten Fällen sind sich die Lehrer ihrer Bedeutung nicht bewusst, schon wegen der heutigen miserablen Ausbildung nicht. Die Lehrer werden heute für einen «Job» ausgebildet, die Kinder sollen von den Lehrern verwaltet, nicht mehr unterrichtet oder gar erzogen werden. Damit nimmt man diesem Beruf den Kern weg. Die Lehrer wären aber von ihrer Aufgabe her Erzieher und Wissensvermittler. Sie hätten die Aufgabe, die Arbeit der Eltern in Zusammenarbeit mit ihnen fortzusetzen und die Kinder in eine grössere Gemeinschaft einzuführen, ihnen die Welt zu zeigen und sie auf das Erlernen eines Berufes vorzubereiten. Ob das wohl die Aufgabe eines Animators ist? Wohl kaum. Gerade heute, wo wir sehen, dass Kinder aus verschiedensten Gründen oft Mühe haben, sich in einer Klassengemeinschaft zurechtzufinden und sich beispielsweise mit Gewalt durchzusetzen versuchen, bräuchte es Lehrer, die den Kindern eine sichere Orientierung geben, wie sie sozial und stofflich vorankommen können. Lehrer, die spüren, wann ein Kind innerlich aufgibt und wissen, wie man die unterschiedlichen Charaktere ins Boot holen kann. Lehrer, die aus vereinzelten Kindern eine Klassengemeinschaft formen können und die wissen, wie man eine Klassengemeinschaft einsetzen kann, um einem Kind zu helfen oder auch ihm Grenzen aufzuzeigen, wenn es die Tendenz hat, sich über andere hinwegzusetzen. Für die Kinder ist der Stoff manchmal recht trocken – da braucht es pädagogisches Feuer, um sie zu begeistern, da braucht es Freude an den Kindern, Mut und Zuversicht, dass man gemeinsam schon zum Ziel kommen wird. Für die Kinder ist es manchmal nicht einfach, etwas zu machen, das sie von ihrem Stand her noch nicht recht nachvollziehen können. Da braucht es didaktisches Können und viel Einfühlungsvermögen, da braucht es differenzierte Herangehensweisen, da kaum ein Kind lernt wie das andere. Die Kinder reagieren auch einmal ganz unangepasst, wenn man sie vor Anforderungen stellt. Da braucht es manchmal auch ein klares Wort und vor allem viel Humor. Die Liste könnte man endlos verlängern. Etwas kommt aber schnell zum Ausdruck: Der Lehrerberuf ist ungemein spannend und interessant. Er bringt die Lehrer auch persönlich weiter, sie lernen Kinder aus allen möglichen Kulturen und mit unterschiedlichsten Denkweisen kennen, der Horizont erweitert sich und vor allem kann man viel persönliche Genugtuung erfahren – wie wohl in keinem anderen Beruf.

Bildungsindustrie – ein Milliardenmarkt

Leider haben Vertreter aus der Wirtschaft, beispielsweise aus der OECD, begonnen, in der Schule einen Dienstleistungsbetrieb zu sehen, der auch einmal Profit abwerfen könnte – so wie sie das mit Spitälern, Eisenbahnen, Post, Telecom usw. gemacht haben und weiter machen. Dazu musste unsere Volksschule eben umgebaut werden; der ehemals freieste und schönste Beruf soll zu einem Verwaltungsberuf heruntergebrochen werden. Dazu hat man in der Schweiz der Bevölkerung zuerst den Einfluss auf die Schule weggenommen, hat die Schulen den Bildungsdirektionen unterstellt und so einen Zugriff von oben über die Schulleiter auf jeden einzelnen Lehrer geschaffen. Mit dem Lehrplan 21 und der Einführung der Kompetenzorientierung ist nun das Tor geöffnet, damit private Firmen Bildungsaufgaben in der öffentlichen Schule übernehmen. In der Schweiz ist das noch Zukunftsmusik, auch wenn da und dort schon private Firmen ihre Software an Schulen liefern. In den USA, Schweden und anderen Ländern werden bereits heute Millionen von Kindern von privaten Firmen beschult. In der Bildungsindustrie öffnet sich ein Markt, in dem es um Milliarden von Dollars geht.

Da hat ein Lehrer, dem es in erster Linie um das Wohl seiner einzelnen Kinder geht, keinen Platz mehr. Es geht nur noch um Effizienz, Wettbewerb und Profit. Ein solches Schulmodell passt vielleicht auf die USA, wo die Elite diesen Schulen gar nicht ausgesetzt wird – diese wird nämlich in privaten Institutionen bis hinauf in die Universitäten mit bewährten Methoden und mit guten Lehrern und Professoren unterrichtet. Für den grossen Rest bleiben eine sehr dürftige Bildung und sehr eintönige Arbeitsbereiche, die mit unserer Arbeitswelt wenig zu haben. Auch für die Amerikaner ist ihr Bildungssystem eine Katastrophe, aber für die Schweiz mit ihrem anspruchsvollen dualen System sind die sich im Anlauf befindlichen Änderungen im Bildungssystem völlig untauglich.

Die einheimische Landwirtschaft als Garant für Ernährungssouveränität

von Reinhard Koradi

Die Stimmberechtigten in der Schweiz haben sich mit beeindruckender Mehrheit für die Ernährungssicherheit ausgesprochen. Knapp 80 Prozent der Bürger, die ihre Stimme an der Urne abgaben, sagten Ja zum Gegenvorschlag zur Initiative «Ernährungssicherheit» vom Schweizerischen Bauernverband. Was dieses Ja wirklich wert ist, werden wir spätestens bei der Umsetzung des Verfassungsauftrages sehen.

Tatsache ist, dass mit der Annahme des Gegenvorschlages der «freie Markt» als Vorsorgeinstitution für die einheimische Lebensmittelversorgung einen festen Platz in der Verfassung bekommen hat. Die einen interpretieren diese freihandelstaugliche Lösung als Türöffner für den uneingeschränkten Freihandel ohne Agrarschutz, die anderen glauben, damit ein Instrument in der Hand zu haben, um die Qualitäts- und Produktionsstandards auch bei importierten Agrarprodukten geltend machen zu können. Wie schwer es ist, im Agrarbereich wirkungsvolle Schutzmechanismen aufzuziehen, zeigte die Debatte über die Fair-Food-Initiative der Grünen in der Herbstsession des Nationalrats. Die Mehrheit der Parlamentarier hegte zwar Sympathien für das Anliegen, erachtete die Initiative aber als zu radikal und im Widerspruch zu internationalen Verpflichtungen. Dabei verlangt die Initiative «Für gesunde sowie umweltfreundlich und fair hergestellte Lebensmittel» nicht mehr, als dass für importierte Lebensmittel die gleich hohen Anforderungen an die Qualität, Produktions- und Arbeitsbedingungen wie bei den einheimischen Produkten gelten sollen. Damit soll verhindert werden, dass die auf einheimischem Boden produzierten Agrarprodukte weiter durch Billigstware aus dem Ausland in einen ruinösen Verdrängungswettbewerb verwickelt werden. Die Entwicklung in der schweizerischen Landwirtschaft deckt ja den angerichteten Schaden durch eine auf die internationale Preiswettbewerbsfähigkeit ausgerichtete schweizerische Agrarpolitik deutlich auf.

Freihandel im Agrarbereich zerstört Grundvoraussetzung für Ernährungssouveränität

Die auf den Freihandel ausgerichtete Politik treibt die einheimischen Landwirte in eine existenzbedrohende Krise, da den Schweizer Bauern eine nicht kostendeckende Preispolitik aufgezwungen wird. Dies ohne Rücksicht auf die erheblichen Kostenvorteile der im Ausland angesiedelten landwirtschaftlichen Betriebe. Im Ausland können die Bauern aufgrund von Grössenvorteilen1 weit günstiger produzieren, als dies in der Schweiz möglich ist. Dies führt so weit, dass Befürworter einer allein auf ökonomische Prinzipien ausgerichteten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung die ­Lebensmittelproduktion für die Schweizer Bevölkerung grundsätzlich ins Ausland auslagern möchten. Eine Grundhaltung, die sich zusehends in der aktuellen Agrarpolitik niederschlägt. Verfolgt diese doch eine Zielrichtung, die den Strukturwandel2 und die Ablösung der Lebensmittelproduktion durch die Landschaftspflege3 fördert. Mit der Begründung, die Lebensmittelversorgung wäre über den freien Markt für die Konsumenten weit günstiger und durch den Wegfall der bäuerlichen Familienbetriebe würden sich Wirtschaftszweige mit weit höheren Renditen ausweiten, werden die einheimischen Bauern mit ihren Familien zur Aufgabe ihrer Existenz getrieben. Durch den Verlust dieser Bauernhöfe geht nicht nur sehr viel Wissen verloren, ebenso schwer oder sogar noch schwerer wiegen die nicht mehr korrigierbaren Schäden am Fundament unserer Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln. Eine Entwicklung, die sich nicht länger mit der Forderung nach Marktöffnung und dem blinden Vertrauen auf den «freien Markt» schönreden lässt. Mit ihrer überwältigenden Zustimmung zur Ernährungssicherheit haben die Bürger (die sich nicht auf die Rolle von Konsumenten einschränken lassen wollen) klar ausgedrückt: Sie fordern einen möglichst hohen Eigenversorgungsgrad mit einheimischen Lebensmitteln, weil sie die staats- und sicherheitspolitischen sowie die sozialen Konsequenzen einer vernachlässigten Inlandproduktion weit höher gewichten als mögliche Gewinnperspektiven einer einseitig auf wirtschaftliche Interessen ausgerichteten Gesellschaftsordnung.

Landwirtschaft trifft den Lebensnerv

Verlieren die Bauern ihre Existenz, dann ist das viel mehr als der Verlust eines Wirtschaftszweiges. Die Produktion von Lebensmitteln lässt sich nicht so einfach in Billigst-Produktionsländer auslagern, wie es in andern Wirtschaftszweigen möglich ist. Wollen wir als souveräner Staat unabhängig und frei bleiben, dann geht es primär darum, die Grundlagen dieser Souveränität und Freiheit zu pflegen und weiter zu entwickeln. Ohne einen möglichst hohen Eigenversorgungsgrad mit Lebensmitteln verfallen wir der Abhängigkeit von Dritten. Der «freie Markt» wird dann die Bedingungen, die Mengen und Qualität der Produkte diktieren und auch klar definieren, ob und welche Produkte in welcher Qualität überhaupt in die Schweiz ausgeführt werden sollen. Bei allfälligen Versorgungsengpässen oder politischen Irritationen könnte die Exportbereitschaft der Lieferländer sehr schnell von politischen Zusagen und Unterwürfigkeit der Schweiz abhängig werden. Damit wir uns richtig verstehen, hinter dem «freien Markt» stehen Akteure mit handfesten machtpolitischen und anderen Interessen. Wirkliche Freiheit gibt es nur, wenn es gelingt, sich durch Eigenleistung von der Abhängigkeit Dritter zu befreien. Diesen Grundsatz zur Eigenleistung sollten wir übrigens auf alle Gebiete übertragen, die das Fundament unserer Unabhängigkeit bilden. 

Den Weltagrarbericht endlich ernst nehmen

Im Jahr 2008 haben über 400 Wissenschaftler den Weltagrarbericht herausgegeben. In diesem Bericht geht es um den Kampf gegen Hunger und Armut und damit um den Schutz des Lebens in all seinen Formen. Er wurde unter der Federführung der Weltbank und der Welternährungsorganisation (FAO) erstellt und ist eine umfassende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation und der wichtigsten Herausforderungen in der Landwirtschaft sowie eine Untersuchung darüber, was getan werden muss, damit die Landwirtschaft dauerhaft die Ernährung der Weltbevölkerung sichern kann. Die Schlussfolgerungen sind eindeutig: «So wie bisher kann es nicht weitergehen.» Im Kampf gegen Hunger und Armut weisen kleinräumige Produktions- und Verteilstrukturen, die auf einheimischen bäuerlichen Familienbetrieben basieren, das grösste Erfolgspotenzial auf. Der bisherige Ansatz, über die industrielle Landwirtschaft Produktivitätsfortschritte zu generieren, hat die hohen Erwartungen nicht erfüllt. Im Weltagrarbericht wird dann auch die «Ernährungssouveränität» als Ausweg aus der Versorgungsmisere empfohlen. Mit Bezug auf die Landarbeiterbewegung «la Via Campesina» (der bäuerliche Weg) wird das Recht für Menschen und Staaten gefordert, ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitik selbst und demokratisch zu bestimmen. Armut und Hunger sollen lokal bekämpft werden. Dazu braucht es eine lokal und regional angepasste Landwirtschaft sowie einen aktiven Schutz von Märkten und kleinbäuerlichen Strukturen. Nur so kann die Landwirtschaft angepasst auf die Auswirkung des Klimawandels optimal reagieren und die Ernährung der Bevölkerung sichern.

Die Botschaft ist unmissverständlich, doch noch immer dominiert der globale Ansatz den angeblichen Kampf gegen Hunger und Armut. Agrochemie, Saatgutmonopole mit deren marktverzerrenden Konsequenzen4 und einer vernichtenden Überflutung der einheimischen Produzenten mit subventionierten Billigst-Agrarprodukten in den weniger entwickelten Ländern prägen das Bild. Mit dem Resultat, dass das Menschenrecht auf eine genügende Nahrungsmittelversorgung für alle Menschen mit gesunden Lebensmitteln für viele noch immer unerreichbar scheint. Doch auch in den reichen westlichen Industrieländern beobachten wir das Phänomen, dass sich die Schere zwischen Reich und Arm weiter öffnet und immer mehr Menschen in die Armutsfalle tappen. Eine Entwicklung, die uns längst vor die Frage stellen müsste: Was läuft hier falsch? Treibt der globale Markt und die dahinterstehenden Glaubenssätze die grosse Mehrheit der Menschheit zu Gunsten der Gewinnmaximierung einer Minderheit ins Verderben?

Machbarer Weg für die Schweiz

Durch den Weltagrarbericht werden wir zum Umdenken aufgefordert. Was in diesem Bericht zur Landwirtschaft ausgesagt wird, könnte sehr wohl auch auf andere Zukunftsfragen übertragen werden. Gerade mit Bezug auf die hektischen Aktivitäten rund um den beschworenen Klimawandel wäre ein pragmatischer Weg, wie er hier mit der kleinräumigen und weniger auf Wachstums- und Produktivitätssteigerung ausgerichteten (Wirtschafts-) und Agrarpolitik konkretisiert wird, weit zielführender als die meist wenig transparenten Agenden, die unter dem Titel «Klimawandel» in Umlauf gebracht werden. 

Uniterre-Initiative «Ernährungssouveränität»

Mit der Initiative «Ernährungssouveränität» stellt Uniterre5 einen ernstzunehmenden und einen zukunftsfähigen Weg für eine Agrarpolitik der Schweiz zur Diskussion, der sehr wohl auch für andere Länder vorbildlich sein könnte. Grundlage dieser Initiative ist der Glaube an die Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft und zwar, weil bei einer ehrlichen Analyse festgestellt werden muss, dass die stetige Industrialisierung die Landwirtschaft in eine Sackgasse führt. (siehe Weltagrarbericht)

Mit ihrer Initiative verfolgt Uniterre einen weit umfassenderen Ansatz als dies mit der kürzlich vom Volk angenommenen Vorlage zur Ernährungssicherheit der Fall war. Für die Diskussion und die Meinungsbildung zur «Ernährungssouveränitäts-Initiative» ist es daher entscheidend, den Begriff «Ernährungssouveränität» über die Landwirtschaft respektive über den Tellerrand hinaus zu definieren. Aus meiner Sicht geht es um eine grundlegende gesellschaftspolitische und damit auch sozial- und wirtschaftspolitische Perspektive für unser Land. Wollen wir weiterhin alles dem ökonomischen Prinzip der Wirtschaftlichkeit und der Rendite unterstellen oder gibt es Werte wie Souveränität, Solidarität, Selbstbestimmung, Lebensqualität, die wir über das Wirtschaftswachstum, internationale Preiswettbewerbsfähigkeit und die Profitgier stellen müssten? Eine zentrale Frage, die auch mit Blick auf die Vergänglichkeit materieller Werte und Errungenschaften diskutiert werden muss. (Wirtschafts-, Finanzkrise, Staatsverschuldung und andere Konfliktherde.)

Die Diskussion um die Ernährungssouveränität darf daher nicht mit Argumenten abgeblockt werden: Geht nicht, widerspricht den internationalen Verpflichtungen der Schweiz, schadet dem Wirtschaftsstandort, bremst unseren Wohlstand, ist freihandelsfeindlich und schadet der Exportindustrie usw. – auch nicht mit dem Argument, wir haben die Versorgungssicherheit ja nun in der Verfassung verankert. Gerade auf der Grundlage des eindeutigen Volks-Ja zur Ernährungssicherheit, drängt sich dieser Meinungsbildungsprozess auf. Eine gründliche und ehrliche Auseinandersetzung ist angesagt, geht es doch um die souveräne, selbstbestimmte Gestaltung unserer Zukunft.

1 Topographie ermöglicht grössere Betriebe/industrielle Landwirtschaft), erheblich tiefere ökologische und soziale Anforderungen, geringerer Aufwand für die Vorleistungen (Bodenpreise, Futter- und Düngemittel, Geräte- und Immobilienunterhalt usw.).

2 Reduktion der Betriebe respektive Zusammenführen von kleineren Betrieben in gössere Einheiten

3 Ökologisierung durch Direktzahlungsverordnung, Naturschutz, Naherholungsräume inkl. Naturpärke

4 Verein Croplife mit den multinationalen Agrarunternehmen BASF, Bayer CropScience, Monsanto und Syngenta

5 Bäuerliche Organisation mit Wurzeln in der Westschweiz, inzwischen aber auch in der Deutschschweiz aktiv.

«Ohne gesunde Landwirtschaft keine gesunde Nahrung»

Viehschau im sankt-gallischen Kirchberg

von Thomas Kaiser, Kirchberg

Noch fliesst der Verkehr auf der zentralen Kreuzung zwischen Rathaus und Kirche im sankt-gallischen Dörfchen Kirchberg. Doch bald wird die Szenerie von Kühen und Geissen, angeführt von Bauern und Bäuerinnen mit ihren Familien, beherrscht, und für einmal sind die Tiere die «Herren» der Strasse. Für mehr als eine Stunde hat sich der Strassenverkehr dem langen Zug der Tiere unterzuordnen. Wie jedes Jahr sind auch diesmal viele Eltern mit ihren Kindern unterwegs, um sich das eindrückliche Schauspiel, das Zusammenspiel von Mensch und Tier, nicht entgehen zu lassen. Je weiter die Zeiger der Kirchturmuhr Richtung 8 Uhr rücken, um so mehr Menschen finden sich auf dem Dorfplatz ein. Man kennt sich und wartet, in Gespräche über Persönliches oder die lokale und nationale Politik vertieft, auf den freudigen Augenblick, wenn Braun- und Fleckvieh in erhabener Haltung an ihnen vorüberziehen.

(Bild thk)

Es ist schon ein emotionaler Moment, wenn man von weit her das dumpfe Geläut der Treicheln und Glocken hört, die man eigens für diesen Tag den prächtig geschmückten Tieren um den Hals legt. Der dröhnende Klang kommt immer näher, und die Luft beginnt, förmlich zu vibrieren. Immer mehr Menschen drängen auf den Platz und die Trottoirs links und rechts des Strassenverlaufs sind bald gesäumt von vielen Zuschauern. Endlich erscheint die erste Herde mit auffallend geschmückten, stolzen Kühen und nicht weniger stolzen Bäuerinnen und Bauern, begleitet von ihren Kindern, die tatkräftig die Erwachsenen unterstützen. Die ganze Strassenbreite gehört der Herde und sie bewegt sich, wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, auf die Kreuzung zu. Alle Mitglieder der bäuerlichen Familien sind im Einsatz, damit die Schar zusammenbleibt und dem Leittier in die richtige Richtung folgt. Kaum ist die Kreuzung für zwei, drei Autos freigegeben, hört man schon das Geläut der sich nähernden nächsten «Stallgemeinschaft». 

Feuerwehr sorgt für reibungslosen Ablauf

Aus allen Himmelsrichtungen treffen die Bauern mit ihren Kühen und manche auch mit Geissen ein, so dass die Helfer der freiwilligen Feuerwehr, die den Verkehr regeln, alle Hände voll zu tun haben, um für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. Zwar muss die eine oder andere Schar von Kühen und Geissen ihren zügigen Schritt drosseln und warten, bis die Strasse wieder frei gegeben wird. Aber in der Regel bereitet das Mensch und Tier keine Mühe. Dass die ungeplante Warterei dem einen oder anderen Tier wie Menschen zu lange geht, ist nur allzu verständlich. Man will zum Platz der Tierschau, um dort eine gute Figur zu machen und die eine oder andere Ausscheidung zu gewinnen. Nach 9 Uhr ist die letzte Herde über die Kreuzung marschiert und erreicht bald den grossen Platz der Viehschau. Wenn alle dort sind, beginnt der grosse Anlass mit verschiedenen Programmpunkten, deren Höhepunkt die Miss-Wahlen der schönsten Kühe sind. Nicht zu vergessen die Munis, die ebenfalls einer Bewertung unterzogen werden.

Ohne Bauernstand keine moderne Schweiz

Der Anlass ist ein wichtiger Teil helvetischer Tradition, die hier präsentiert wird, und er erfreut sich bei Jung und Alt grösster Beliebtheit. Aber es wäre zu kurz gegriffen, wenn man das ganze Schauspiel nur mit Folklore abtun würde. Es steckt viel mehr dahinter.

Wer die Geschichte unseres Landes und die Tradition des Genossenschaftswesens kennt, weiss, dass die moderne Schweiz ohne den Bauernstand nie zu dem geworden wäre, was sie heute ist, eine direktdemokratische, föderalistische, freiheitliche Willensnation. Die innere Einstellung und die tiefe Verwurzelung mit dem Land und seinem politischen System spiegeln sich in der aufrechten Haltung des Bauernstandes wider. In Gesprächen auf dem Viehschauplatz hört man, dass die von Bern diktierte Landwirtschaftspolitik kaum Zustimmung erfährt. Der Bauernstand fühlt sich von der Politik im Stich gelassen, und nicht zu unrecht. Um so wichtiger ist es ihm, sich den Bürgerinnen und Bürgern zu präsentieren und ihnen mit der Tierschau zumindest einen kleinen, aber natürlich speziellen Einblick in das bäuerliche Leben zu geben. Ziel dieser Viehschauen ist neben der Prämierung der besten Tiere vor allem eine Verbindung zwischen der bäuerlichen und städtischen Bevölkerung herzustellen: «Wenn wir unseren Bauernstand erhalten wollen, brauchen wir die Unterstützung der Bevölkerung, von der Politik kann man nicht viel erwarten.» Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger muss doch darin liegen, immer mit ausreichenden und gesunden Nahrungsmitteln versorgt zu sein. Doch dazu brauche es Menschen im Land, die auch bereit seien, für Qualität und Sicherheit zu bezahlen.

Fürs Auge ein Genuss und fürs Gemüt etwas sehr Ergreifendes

Die Zahl der Besucher an der Viehschau ist gross. Wer nicht rechtzeitig am Ort ist, kann kaum noch bis zum Ring vordringen, so dicht stehen die Zuschauer und verfolgen die Prämierungen. Es ist schon sehr beeindruckend, wie, abgesehen von einem kontinuierlichen Muhen, die Kühe und Stiere friedlich auf ihren Auftritt warten. Manche Kühe sind etwas eigenwillig, andere lassen sich problemlos führen und folgen den Anweisungen ihrer Meister. Jedes Tier hat seinen eigenen Charakter, es ist wie bei uns Menschen.

Viehschauen sind ein altes Brauchtum, fürs Auge ein Genuss und fürs Gemüt etwas sehr Ergreifendes, aber man muss sich bewussts ein, dass mit solchen Anlässen das unsägliche Bauernsterben nicht beendet wird so wenig wie die fortschreitende Internationalisierung im Agrarbereich. Dazu braucht es verstärkte politische Anstrengungen. Solche Feste können sicher dazu beitragen, dass man sich der Bedeutung und Aufgabe eines gesunden und blühenden Bauernstandes bewusster wird. Aber die bäuerliche Arbeit hat in unserem Bewusstsein einen viel zu kleinen Stellenwert. Wenn niemand mehr für gute Nahrungsmittel sorgt, dann ist es bald schlecht um unsere Existenz bestellt: ohne gesunde Landwirtschaft keine gesunde Nahrung.

Zurück