Helvetia, quo vadis?

Gedanken zum bevorstehenden Nationalfeiertag

von Thomas Kaiser

(Bild zvg)
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Wenn wir am 1. August den Nationalfeiertag der Schweiz feiern, werden landauf, landab gewichtige Reden gehalten über das Wesen der Schweiz, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Je nach politischer Couleur werden die Bürgerinnen und Bürger auf neue Zeiten eingeschworen, dass man offen sein müsse gegenüber Veränderungen und trotz allem Besinnen auf traditionelle Werte sich neuen Entwicklungen nicht verschliessen solle oder dass man nicht vergessen dürfe, und das ist wesentlich, was die Vorväter erkämpft haben und welch grossartiges Land mit seinem direktdemokratischen System wir besitzen, dem wir unbedingt Sorge tragen müssen.

Alles hat seine Berechtigung, und doch, wenn wir die politischen Auseinandersetzungen der letzten Wochen und Monate Revue passieren lassen, stellt sich dringender denn je die Frage: Helvetia, quo vadis?

Die Antwort auf diese Frage dürfen, müssen und können wir nicht dem Bundesrat oder unseren Parlamentarierinnen und Parlamentariern überlassen, sondern als Schweizer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger hat jede und jeder die Möglichkeit, an der politischen Ausgestaltung und damit an der Zukunft der Schweiz mitzuwirken. Wenn Bundesrat Ignazio Cassis, und damit ist er nicht der einzige, seine Ambitionen auf einen Bundesratssitz damit begründet, dass er «Freude am Gestalten» habe, dann darf das nicht das einzige Motiv sein. Aufgabe der Politik ist es, den Willen der Bürgerinnen und Bürger zu erfassen und in eine politische Form zu giessen. Der eigene Gestaltungsspielraum ist sicher vorhanden, aber nicht wesentlich, ausser man sieht seine Aufgabe nicht als eine demokratische.

Die schönen Reden zum 1. August werden uns also kaum eine Antwort auf die Frage, «Helvetia, quo vadis?» geben, denn auch hier gilt: Wir schauen den Menschen nicht auf den Mund, sondern auf die Hände.

Ein Blick in die Geschichtsbücher

Um im Ansatz eine Antwort auf diese zentrale Frage zu finden, hilft ein Blick in die Geschichtsbücher. Denn nichts braucht es nötiger, als sich darüber im klaren zu sein, was unser Land ausmacht und wie wir unsere Besonderheiten wahren können, ohne sie irgendeinem wirtschaftlichen Gewinn- oder persönlichen Machtstreben zu opfern. Aber dazu muss man sich der Besonderheiten bewusst sein.

Der Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 ging eine Auseinandersetzung um wesentliche staatspolitische und souveränitätsrechtliche Aspekte voraus. Der Widerstand des sogenannten Sonderbundes gegen einen Gesamtstaat nährte sich aus den Bedenken, dass die Souveränität der Kantone durch den Bundesstaat eingeschränkt werde. Dass die einzelnen Kantone bis zu diesem Zeitpunkt unabhängige Staaten gewesen waren, die von der eigenen Verfassung über eine eigene Armee bis hin zur eigenen Währung hoheitliche Aufgaben selbst regelten, lässt sich bis heute an Begriffen wie Staatssteuer für Kantonssteuer oder Staatsrat für das Amt eines Regierungsmitgliedes im Kanton und anderen Bezeichnungen erkennen. Ein Bundesstaat würde diese Rechte und Freiheiten einschränken.

Napoleons Staat von oben scheiterte

Als Napoleon mit dem Ansinnen, einen schweizerischen Gesamtstaat von oben nach unten zu kreieren, kläglich scheiterte, gab er sein Unterfangen auf. Auch bei der Gründung des Bundesstaates 1848 brauchte es viel Fingerspitzengefühl. War der Widerstand des Sonderbundes gegen einen mächtigen Gesamtstaat mit militärischer Übermacht besiegt worden, musste man jetzt bei den unterlegenen Kantonen das Vertrauen in einen gemeinsamen Staat aufbauen. Dass dies gelungen ist, spricht für das diplomatische und menschliche Geschick der verschiedenen Verhandlungsführer. Ein wesentlicher Grund, dass die Kantone der Gründung, wenn auch teilweise widerwillig, zustimmten, war der nur geringe Verlust an kantonaler Souveränität. Durch das Zweikammersystem, das den kleinen Kantonen ebenfalls eine Vertretung im Parlament ermöglichte, wurde die Übermacht der grossen Kantone eingeschränkt.

Dieser Föderalismus, gepaart mit einer weitreichenden Gemeindeautonomie und der politischen Gestaltungsmöglichkeit durch die direkte Demokratie, schreibt bis heute die Erfolgsgeschichte des Schweizer Bundesstaates.

Mitsprache der Bevölkerung verhindert Schlimmeres

Zwar wurde im Laufe der Jahrzehnte seit der Gründung des Bundesstaates seine Kompetenz immer weiter ausgebaut und im entsprechenden Mass die Souveränität der Kantone eingeschränkt, doch durch die Einführung der Volksrechte wie Referendum und Initiative, also der direkten Mitsprache der Bevölkerung, konnte bisher Schlimmeres verhindert werden. Dennoch versucht der Bund in vielen Fällen, die Aufgaben von oben nach unten zu delegieren, und verletzt damit das Subsidiaritätsprinzip, das gerade in die entgegengesetzte Richtung weist. Es ist eine ständige Auseinandersetzung mit den staatspolitischen Fragen. Diese mussten die Wegbereiter der direkten Demokratie ebenfalls führen, wollten sie die Mitsprache in politischen Angelegenheiten erlangen und aufrechterhalten.

Heute, 170 Jahre nach der Gründung des Bundesstaates und über 100 Jahre nach Einführung der Volksrechte, stehen wir interessanterweise wieder vor den gleichen Fragen wie damals. Wie können wir verhindern, dass die Freiheitsrechte geschmälert, die Souveränität eingeschränkt und damit die Autonomie beschnitten wird? Was die Menschen im vorletzten Jahrhundert erkämpft haben, scheint heute in weiten Kreisen der Politik nicht mehr zentral zu sein.

«Unser Staatswesen ist von unten nach oben aufgebaut»

Die Schweizer Regierung will mit der EU einen Rahmenvertrag abschliessen, der im Endeffekt ein Unterwerfen der Schweiz unter die Rechtsprechung und damit unter die Politik der EU verlangt. Zwar gibt es von linker Seite Widerstand, doch nicht wegen des Verlusts an Souveränität, die scheint man für einen wie auch immer gestalteten Internationalismus – in der EU vor allem ein enthemmter Neoliberalismus (vgl. Interview Andrej Hunko, S. 5) – opfern zu wollen, sondern wegen des möglichen Wegfalls flankierender Massnahmen zum Schutz einheimischer Arbeitskräfte. Auch wenn durch den Widerstand der Gewerkschaften eine Verzögerung im Prozess entstanden ist, hält die Landesregierung an ihrem Ziel fest, möglichst bald einen Rahmenvertrag abzuschliessen. Bundesrat Ignazio Cassis, der vor seiner Wahl versprochen hatte, in den Beziehungen zur EU den «Reset-Knopf» drücken zu wollen, ohne eigentlich klar zu definieren, was er damit meinte, strebt mit ungeheurer Energie eine weitere Annäherung an die EU an. In einem Interview in «Zeitgeschehen im Fokus» vom 2. Oktober 2017 vor seiner Wahl in den Bundesrat betonte er: «Unser Staatswesen ist von unten nach oben aufgebaut. Also ‹bottom up›, wenn man es ‹modern› ausdrücken will […] Sie ist föderalistisch, von unten nach oben aufgebaut und direktdemokratisch. Hätten wir diese Elemente nicht im Fokus unseres Interesses, wage ich zu bezweifeln, dass die Menschen in der Schweiz noch in Frieden zusammenleben könnten.» Cassis erklärte in dem Interview eindrücklich, dass ein friedliches Zusammenleben in der Schweiz möglich ist und Kriege verhindert werden konnten, «weil jeder Kanton eine grosse Autonomie, jede Gemeinde sowie jede Bürgerin und jeder Bürger eine grosse Freiheit besitzen und wir als Staat neutral sind.» Hat er das alles bereits vergessen oder waren die Aussagen politisches Kalkül?

Wenn der Rahmenvertrag umgesetzt werden soll, dann werden diese Grundsätze verletzt. Den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind demokratische Mitbestimmung und Mitgestaltung, wie sie jedem Schweizer Bürger und jeder Schweizer Bürgerin offen stehen, unbekannt und unvorstellbar. Dass jedes Bundesgesetz grundsätzlich dem Referendum unterstellt ist und mit 50 000 Unterschriften zu einer Volksabstimmung gebracht werden kann, ist auf unserer Erde einmalig, ganz abgesehen vom Initiativrecht, das auf allen drei Stufen, Gemeinde, Kanton und Bund, existiert. Jede politische Annäherung der Schweiz an die EU hat eine Einschränkung dieser Volksrechte zur Folge. Das britische Parlament muss nach dem Brexit Tausende von Gesetzen, die via EU verabschiedet und vom Parlament umgesetzt worden sind, wieder in britisches Recht giessen. Man kann sich vorstellen, was das für unser Land bedeuten würde. Das Volk würde bei vielen Gesetzesänderungen nicht mehr gefragt werden. Wer schon einmal für ein Referendum Unterschriften gesammelt hat, weiss, was das bedeutet. Wenn mit einer näheren Anbindung immer mehr Gesetze von der EU bestimmt werden, wird es kaum möglich sein, alle zur Abstimmung vors Volk zu bringen. So wird mit der Zeit vieles in Brüssel entschieden und selbstredend in der Schweiz übernommen, wenn wir Bürgerinnen und Bürger uns nicht dagegen wehren und uns ganz klar dagegenstellen.

Im Glanze des Imperiums stehen?

Friedrich Schiller hat in seinem grossen Drama Wilhelm Tell vor über 200 Jahren bereits diesen Widerspruch zwischen Selbstbestimmung und Anbiederung an die Macht thematisiert. In der Figur des Ulrich von Rudenz hat Schiller genau den Menschen dargestellt, der meint, mit der Zeit gehen und sich der Macht andienen zu müssen, um im Glanze des Imperiums zu stehen. «Ja, ich verberg es nicht – in tiefer Seele schmerzt mich der Spott der Fremdlinge, die uns den Bauernadel schelten – Nicht ertrag ichs, indes die edle Jugend rings umher sich Ehre sammelt unter Habsburgs Fahnen»  Der Macht sich anzudienen und die Anerkennung dafür zu erheischen, sind ihm näher, als für die Rechte des Volkes zu kämpfen. «Und bei gemeinem Tagewerk den Lenz verlieren – Anderswo geschehen Taten, eine Welt des Ruhms bewegt sich glänzend jenseits dieser Berge» Dass Ulrich von Rudenz am Schluss zur Vernunft kommt und sich für Land und Leute einsetzt, ist Schillers fester Überzeugung geschuldet. Er war im tiefsten Innern von der Wandelbarkeit des Menschen überzeugt. Verstand und emotionale Erlebnisse veranlassen Ulrich von Rudenz, die Dinge realistisch zu sehen, und führen zu einem Wandel. Und unser Bundesrat?

Was können wir daraus lernen?

Auch wenn die Lage noch so schwierig erscheint, es gibt immer eine Lösung, die den Menschen in unserem Land gerecht wird. Wenn wir die Macht und das eigene Prestige über das Allgemeinwohl stellen, dann verraten wir die Grundsätze unseres Staatswesens. Es kann Zeiten geben, in denen wir unseren Gürtel enger schnallen müssen. Wenn wir dafür unsere Freiheit und Unabhängigkeit wahren können, haben wir langfristig mehr gewonnen, als aus kurzfristigem Gewinn- und persönlichem Machtstreben faule Kompromisse einzugehen.

Die Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität sind nicht gottgegeben, sondern jede Generation hat die Aufgabe, «im Hinblick auf die Arglist der Zeit» sich dafür einzusetzen, um das zu erhalten, was der Schweiz jahrzehntelangen Frieden und Freiheit ermöglicht hat. Auf die Frage, «Helvetia, quo vadis?», gibt es nur eine Antwort: Dorthin, wo wir als Bürger es zulassen. Auf uns kommt es letztlich an.

Fake News

«Zugang zu pluralistischen Informationen gewährleisten und eine offene, demokratische Debatte anstossen»

von Völkerrechtsprofessor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Genf

Alfred de Zayas (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)

«Fake News» bzw. Fälschung, Verdrehung und Schwindel der Tagesentwicklungen in der Berichterstattung sind ein weit verbreitetes Phänomen – nicht nur in Europa und den Vereinigten Staaten, sondern überall auf der Welt. «Fake News» werden von Regierungen, «unabhängigen Journalisten» mit eigener Agenda, privaten Medien, sozialen Medien, Klatsch und Tratsch ausgeheckt und verbreitet. So entsteht «fragmentierte Wahrheit», und niemand weiss genau, was Wahrheit ist, jeder klammert sich an seine eigenen Ansichten und weigert sich, alternative Versionen der Fakten in Betracht zu ziehen. Wir leben halt in einer intransigenten, polarisierten Gesellschaft. 

Lügen- und Lückenpresse

Nur widerwillig werden wir anerkennen, dass es schon immer «fake news» gab, mit dem Unterschied, dass in der Vergangenheit nur Regierungen gefälschte Nachrichten lieferten, nur Staatsorgane die öffentliche Meinung erfolgreich manipulieren konnten, während heute jeder mit Zugang zum Internet sich einschalten kann. Gewiss liefern die privaten und semi-privaten Medien wie z. B. BBC, CNN, Fox, «New York Times», «Washington Post», «Times», Deutsche Welle, «Die Zeit», «Der Spiegel», «El Pais», «El Mundo», RT, Telesur, CCTV, Aljazeera auch «fake news» und bewusst unvollständige Berichtserstattung. Wie wir wohl wissen, geht es nicht nur um die «Lügenpresse», sondern um die «Lückenpresse». Ausserdem reicht manchmal eine falsche Schlagzeile oder Überschrift, um einen gesamten Artikel als bewusste Desinformation einzusetzen.

Gefälschte Geschichte

Dies wiederum hat zu einer «fake history» (gefälschte Geschichte) geführt, die in den stetigen Strom gefälschter Nachrichten einfliesst. Hinzu kommt, dass je länger die Ereignisse zurückliegen, umso weniger kann man die gefälschte Geschichte korrigieren, denn die Zeitzeugen sind weg und die Dokumente abhandengekommen, vernichtet oder zumindest unvollständig und dadurch nur teilweise zuverlässig. Somit werden die Karikaturen der Geschichte zementiert, und so gehen sie in die Geschichtsbücher ein. In meinen 50 Jahren als kritischer Leser und unabhängiger Beobachter habe ich die Erfahrung gemacht, dass jedes Mal, wenn ich meine eigene Forschung in den Archiven betreibe, jedes Mal, wenn ich ausserhalb des «Mainstreams» wandere, begreife ich, dass die Darstellungen, die ich von Geschichtsbüchern kenne, weit entfernt sind von der «Wahrheit» und einer gründlichen Revision bedürfen. 

Bewusst falsche Auslegung des Rechts

Aber warum redet eigentlich niemand über «fake law» (gefälschte Gesetze bzw. bewusste falsche Auslegung des Rechts)? In der Tat «erfinden» Politiker und Journalisten häufig Gesetze und behaupten, dass das, was manche Lobby- oder Interessengruppen als Gesetz geltend machen, tatsächlich rechtskräftig sei, so als könnten Gesetze und gesetzliche Verpflichtungen spontan entstehen, ohne die Ausarbeitung, Verhandlung und Verabschiedung von Gesetzen, von völkerrechtlichen Verträgen, ohne einen spezifischen legislativen Akt oder Ratifizierung durch ein Parlament. Wir müssen uns vor der losen Verwendung von Rechtsbegriffen hüten, die die Autorität und Glaubwürdigkeit der Gesetze untergräbt. Politiker wollen Sanktionen verhängen und sie als rechtsmässig erklären. Im Völkerrecht sind aber unilaterale Sanktionen nicht erlaubt (nur Sanktionen durch den Sicherheitsrat sind legal – und auch da nicht alle!). Nationale Gesetze dürfen eben nicht extra-territorial eingesetzt werden, denn dies verletzt die Souveränität der anderen Staaten. Dabei geht es um die Impunität [Straffreiheit] eines Staates für seine völkerrechtswidrigen Handlungen, und nicht um die Entstehung neuer völkerrechtlicher Normen. Man muss auch gegen die bewusste Irreführung der sogenannten R2P Doktrin bzw. der Responsibility to Protect [Schutzverantwortung eines Staates] gewappnet sein, denn R2P ist keine völkerrechtliche Doktrin, sondern lediglich eine unverbindliche Resolution der Generalversammlung aus dem Jahre 2005, die bereits in einer Debatte im Juli 2009 in der Generalversammlung selbst weitgehendst entmachtet und vom damaligen Präsidenten der Generalversammlung, Miguel d’Escotto Brockmann, abgelehnt wurde. Tatsächlich kann R2P niemals die verbindliche Verpflichtung im Artikel 2(4) der Uno-Charta aufheben, die als jus cogens das Gewaltverbot festschreibt.

Die Presse spricht bei wirtschaftlichen Migranten von «Flüchtlingen», obwohl diese nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, und nicht jede Person, die ausserhalb ihres Staates ist, hat Anspruch auf Asyl. Täglich schafft die Presse ihr eigenes «fake law». Im Völkerrecht darf ein Staat illegale Migranten ausweisen, denn der Staat hat das Recht und die Verpflichtung, den sozialen Frieden im Lande zu gewährleisten, die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen, gegebenenfalls durch die Schliessung der Grenze, denn die Einreise in einen Staat gehört zur Ontologie des Staates und ist Sache der Souveränitätslehre. Es gibt keine völkerrechtliche Norm, die einen souveränen Staat verpflichtet, seine Grenzen zu öffnen. Und dennoch, viel Übertreibung und politische Agitation spielen sich in dieser pseudo-legalen Arena ab, viel politische Erpressung wird auf der Grundlage von falschen «Gesetzen» und Interpretationen praktiziert, viel Pseudo-Recht wird vom Normalbürger tatsächlich geglaubt. 

Machtpolitik versus Demokratie

Allzuoft sehen wir uns mit einer Kombination aus gefälschten Nachrichten, gefälschter Geschichte und gefälschtem Gesetz konfrontiert, einem sehr giftigen Cocktail für jede Demokratie. Leider ist das gefälschte Gesetz zu einer Lieblingswaffe von Demagogen, falschen «Experten» und «Diplomaten» geworden, die genüsslich etwas betreiben, was man als «fake diplomacy» bezeichnen kann, da es nicht darum geht, eine vernünftige Verhandlungslösung zu erreichen, sondern um Punkte zu erzielen in der Gladiatorenarena der Machtpolitik, mit der pflichtgemässen Absprache ausverkaufter und launenhafter Medien. So setzt sich das Säbelrasseln fort, und viele machen dabei Vermögen, denn nichts ist so lukrativ wie das Waffengeschäft. 

Schliesslich gibt es sogar «fake democracy», bzw. Demokratie ohne Volkssouveränität. Nur die direkte oder semi-direkte Demokratie entspricht dem Willen des Demos. Die sogenannte «partizipative» Demokratie ist selten demokratisch, denn die «Partizipation» bzw. die aktive «Teilnahme» des Demos fehlt. Die Eliten bzw. die Machthaber formulieren die Optionen, und das Volk darf nur über diese vorbestimmten Optionen entscheiden. Der Demos kann insofern nur «teilnehmen», indem er zwischen Option A oder B wählen kann. Ohne Initiativrecht und Referenden, ohne Diskussion über die Themen und ihre Konsequenzen, ohne authentische Konsultationen sind solche «Wahlen» nur Fake-Wahlen, eine Maskerade, eine Simulation. Dann gibt es die sogenannte «Repräsentative Demokratie», die noch weniger partizipativ ist, denn das Volk kann nicht einmal zwischen konkreten Optionen wählen, sondern nur zwischen Personen, die sie im Parlament repräsentieren sollten. Aber wer sind diese Personen? Meistens Produkte der politischen Parteien, die eine Art «closed shop» darstellen. Es werden also Namen vorgeschlagen, die ein «Programm» haben, meistens ein Sammelsurium von Zielen ohne Logik, eine ziemlich giftige Brühe, und man muss vieles hinnehmen, was man nicht will. Schlimmer noch: Repräsentieren bedeutet vertreten, aber wie oft vertreten uns unsere Politiker? Meistens tun sie, was die Leute, die sie finanziert haben, befehlen, nämlich die Lobbies, der militärisch-industrielle-finanzielle Komplex und die Wall Street. Die «Repräsentanten» repräsentieren eben nicht. Und warum nicht? Einfach – es geht um Machterhaltung, Privilegien, Status quo. Kurt Tucholsky wird diese Bemerkung zugeschrieben: «Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.» Und so ist es in vielen Ländern, wo die Wahlen ein Volkssport für Mannschaft A oder Mannschaft B sind – solange die Interessen der Grossen nicht berührt werden. Die Machthaber in den meisten Ländern sind keine Demokraten und wurden nie vom Ethos der Demokratie inspiriert. Im Gegenteil. Sie leiden weiterhin an «Demophobie» – die Angst vor dem Demos. Und trotzdem missbrauchen sie jeden Tag den Begriff «Demokratie» – als jenes magische Wort, das alles und wiederum nichts bedeutet. Was ist Demokratie? Nicht der Status quo, nicht Kapitalismus oder Neoliberalismus, sondern aktive Volkssouveränität, Initiativrecht, Referenden, Transparenz, Rechenschaftspflicht.

Fragen – hinterfragen –
diskutieren

Gibt es eine Lösung zum Phänomen der «Fake News»? Demagogen würden ein orwellsches «Wahrheitsministerium» etablieren, andere würden «Fake News» (aber nur unbequeme «Fake News») kriminalisieren, wiederum andere würden so tun, als ob sie die Fakten und Meinungen mit Hilfe von selbst erstellten Tools filterten, um festzustellen, was wahr ist und was nicht. Aber wirklich! Niemand braucht diese Art von Inquisition und Zensur, weil weder die Regierungen noch der private Sektor die Wächter der Wahrheit sein können. Die einzige Lösung besteht darin, den Zugang zu pluralistischen Informationen zu gewährleisten und eine offene, demokratische Debatte anzustossen. Die Gesellschaft muss auf allen Ebenen mehr Transparenz fordern und proaktiv nach der Wahrheit suchen, indem sie mehrere Quellen konsultiert und eine neue Synthese macht, die keine «aufgedeckte Wahrheit» oder «unveränderliche Wahrheit» sein wird, sondern eine sich ständig entwickelnde Wahrheit, die die Komplexität und Nuancen der Realität vor Ort beinhaltet. Tatsächlich liegt die Wahrheit nicht allein in den allgemeinen Vorstellungen, sondern auch in den Nuancen.

Wir werden mit «fake news», «fake history», «fake law», fake diplomacy» und «fake democracy» noch lange leben müssen. Wichtig aber: Wir müssen proaktiv die Wahrheit suchen, wir müssen fragen und hinterfragen, diskutieren, stets mit einem Sinn für Gerechtigkeit und Verhältnismässigkeit – was die Griechen in Delphos schon kannten. Παν μέτρον άριστον [Alles mit Mass].

«Die Fluchtursachen nicht aus den Augen verlieren»

«Es sind die Kriege, die die Menschen in die Flucht treiben»

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestags und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats beschäftigte sich in der Sommersession mit der Lage der Flüchtlinge, besonders in Syrien. Der italienische Parlamentsabgeordnete Manlio di Stefano präsentierte einen erschütternden Bericht über das Flüchtlingselend in Syrien und den angrenzenden Staaten, Irak, Jordanien, Libanon und Türkei. Die Zahlen sind unvorstellbar: 3,6 Millionen Flüchtlinge leben in der Türkei, 2,7 Millionen in Jordanien, 1,8 Millionen im Libanon und knapp 300 000 im Irak. Für die Länder eine Herkulesaufgabe, mit dieser Flut von Flüchtlingen fertig zu werden. 

In Jordanien und im Libanon, beides eher kleine Länder, beträgt der Flüchtlingsanteil ungefähr 30% der Bevölkerung. Der Berichterstatter erwähnte auch, dass die Region schon seit Jahrzehnten mit der Flüchtlingsproblematik konfrontiert sei, was bereits mit der Gründung des Staates Israels begonnen hatte und aufgrund verschiedener Kriege sich bis heute fortsetzt. Erwähnt sei hier auch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA unter Präsident George W. Bush gegen den Irak, der 2003 eine riesige Flüchtlingswelle ausgelöst hatte und bis heute 15 Jahre später immer noch zu intern Vertriebenen führt.  

Neben dem Krieg in Syrien ist auch der Krieg im Jemen erwähnt, der ebenfalls Flüchtlingsströme ausgelöst hat. Die Menschen dort leben unter katastrophalen Bedingungen und werden zwischen den Fronten zerrieben. Die von Saudi-Arabien mit Unterstützung der USA angeführte Koalition betreibt einen regelrechten Vernichtungskrieg gegen die politische Opposition im Land, ohne auf die Zivilbevölkerung Rücksicht zu nehmen. Auch hier ist die Lage verheerend und verlangt wie in Syrien dringend nach einer Verhandlungslösung.

Die Parlamentarische Versammlung verabschiedete nach einer engagierten Debatte eine Resolution, die neben verschiedenen Aspekten ein Engagement für eine Verhandlungslösung in Syrien und im Jemen verlangt sowie verstärkte Unterstützung zur Bewältigung des Flüchtlingselends, besonders in den angrenzenden Ländern. 

Im folgenden Interview mit dem deutschen Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko geht es vor allem um die Ursachen des Flüchtlings­elends und welche Rolle die Industrienationen dabei spielen.

Zeitgeschehen im Fokus Die Debatte im Europarat hat sich mit den Auswirkungen der Kriege im Nahen Osten beschäftigt und hat Zahlen von Flüchtlingen genannt, die in die Nachbarländer von Syrien geflohen sind und dort Aufnahme gefunden haben. Wie schätzen Sie die aktuelle Flüchtlingssituation ein? 

Andrej Hunko Es gibt natürlich grosse Unterschiede, was die Flüchtlinge angeht. Die grosse Welle von Flüchtlingen aus Syrien war 2015. Was Deutschland anbetrifft, gehen die Zahlen massiv zurück. Dennoch hat man in der politischen Diskussion im Moment den Eindruck, dass die Medien nur noch ein Thema interessiert, obwohl wir gerade in Deutschland viel wichtigere Themen hätten. Es gibt deswegen beinahe eine Regierungskrise zwischen CDU und CSU.

Was sind die Gründe hinter diesem akuten Flüchtlingsproblem?

Das ist etwas, was wir immer sagen: Man muss die Frage nach den Ursachen stellen. Darüber spricht aber niemand mehr. Wir haben im letzten Interview (vgl. «Zeitgeschehen im Fokus», Nr. 12) über die Bildung der neuen Interventionstruppen in der EU gesprochen. Es sind die Kriege, die die Menschen in die Flucht treiben. Das sind doch die Hauptursachen für das Flüchtlingselend. Dazu kommen die katastrophalen Lebensbedingungen und die grassierende Armut.

Was wäre also zu tun?

Man müsste ernsthaft beginnen, über die Fluchtursachen zu sprechen. Was thematisiert wird, das sind die Schlepper, aber sie sind nur ein Symptom. Warum verlassen die Menschen ihre Heimat? Das hat unter anderem auch mit der EU-Politik in Afrika zu tun, mit dem Neoliberalismus, der die Märkte in diesen Ländern zerstört, oder wenn im Rahmen des Landgrabbing die Bauern vertrieben werden. Das muss jetzt auf die Tagesordnung gesetzt werden. Ein anderer Aspekt ist die Instrumentalisierung von Flüchtlingen.

Was müssen wir uns darunter konkret vorstellen?

Ich konnte das in der Türkei gut beobachten: Ich habe Flüchtlingslager an der türkisch-syrischen Grenze besucht. Es waren zwei Lager à 3000 Leute. Was ich beobachten konnte, war eine Sunnitisierung der Flüchtlinge.

Was heisst «Sunnitisierung»?

Die Flüchtlinge waren religiös und ethnisch unterschiedlich. Es fanden in den Lagern religiöse Zeremonien statt. Auf meine Frage, ob das denn alles Sunniten seien, bekam ich zur Antwort, dass sie zu 100 % Sunniten seien. Das ist allerdings stark zu bezweifeln. Dazu lief in den Flüchtlingslagern ständig Propaganda: Der böse Assad und der gute Erdoğan. Man nutzt die Flüchtlinge für eigene Ambitionen, instrumentalisiert sie für politische Zwecke.

Haben Sie das überall so beobachtet?

In ein Flüchtlingslager in der Nähe von Reyhanlı wurde ich nicht hineingelassen. Ich hatte verlässliche Information, dass über dieses Flüchtlingslager Waffenlieferungen an die Al Nusra oder andere islamistische Gruppen durchgeführt wurden. Der Leiter eines Lagers, in das ich Zutritt bekam, hat mir das ebenfalls bestätigt. Das ist eine klare Instrumentalisierung der Flüchtlingspolitik. 

Haben Sie auch davon gehört, dass man mit der Ansiedlung von Flüchtlingen die demographische Struktur ändern will?

Ja, genau das geschieht. Man siedelt Flüchtlinge in Gebieten an, die mehrheitlich von Aleviten oder Kurden bewohnt sind, um dort die Bevölkerungsmehrheiten zu verschieben. Das ist ein Vorgehen, das unerträglich und klar völkerrechtswidrig ist. Man nutzt das Leid der Menschen für politische Zwecke. Man muss bei der Flüchtlingspolitik genau hinschauen, in welchem Interesse gehandelt wird. In der Türkei ist das ziemlich offensichtlich. 

Wie beurteilen Sie die Flüchtlingsproblematik für Deutschland?

Wenn wir die Flüchtlingszahlen auf Deutschland herunterrechnen, dann kommt ein Flüchtling auf 80 Deutsche. Das ist noch kein grosses Problem. Wir haben im Europarat über Länder gesprochen wie Libanon oder Jordanien. Deshalb würde ich das in Deutschland auch nicht unbedingt zu hoch hängen. Deutschland ist ein reiches Land. Wenn man entsprechende Gelder sinnvoll einsetzt und die Voraussetzung dafür schafft, dass die Integration gelingt, sollte das möglich sein. 

Was sind die Voraussetzungen dafür?

Das bedeutet natürlich, dass von der Bundesregierung soziale Massnahmen gegen die Konkurrenz im Niedriglohnsektor oder auf dem Wohnungsmarkt unternommen werden müssen. Das ist ein reales Problem, vor dem viele Menschen stehen. In ärmeren Schichten sind sie darüber verständlicherweise zusätzlich bedrückt. Es gibt hier natürlich Möglichkeiten, das zu steuern und sozialpolitisch einzugreifen. Aber wir dürfen die eigentlichen Fluchtursachen nicht aus den Augen verlieren.

Ja, darüber spricht eigentlich niemand so richtig.

Hier fehlt meines Erachtens die Sensibilität. Teilweise herrscht eine äusserst problematische Sichtweise, die unterstellt, die Menschen gingen eben auf Wanderschaft, das sei doch toll. Flucht ist kein Vergnügen. Natürlich gibt es auch andere Beweggründe, und es können auch Kriminelle darunter sein, aber die meisten Menschen fliehen aus der Not heraus. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass man die Fluchtursachen angehen muss und nicht die Flucht bejubeln. 

Was müsste denn getan werden, damit die Menschen in ihren Ländern bleiben?

Als allererstes müssen die laufenden Kriege beendet werden. Die wichtigsten Regionen sind aktuell der Irak, Syrien, Jemen und Süd-Sudan, also alles Regionen, in denen die destruktive westliche Aussenpolitik dazu beiträgt, dass die staatlichen bzw. öffentlichen Strukturen zerstört werden und Milizen eine Kriegsökonomie etablieren. Allein in Jordanien, Libanon und der Türkei leben laut ­UNHCR etwa 6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Eigentlich muss die EU sofort massiv in den Wiederaufbau des Landes investieren.

Es bräuchte eine nachhaltige Entwicklungspolitik...

Wir brauchen eine angemessene Entwicklungszusammenarbeit, die mit einer Änderung der Wirtschaftsordnung einhergeht. Es hilft nichts, ein bisschen Entwicklungshilfe zu betreiben, wenn man gleichzeitig die regionalen Märkte und die dort bestehenden Volkswirtschaften zerstört. Man hält die Länder dadurch klein, damit sie nicht zu Konkurrenten der Industrienationen werden. Das ist eine Art von Wirtschaftskolonialismus. Dieses Phänomen sehen wir sogar innerhalb der EU.

Wie wirkt sich diese neokoloniale Politik aus?

Das sieht man an der De-Industrialisierung in Ost- und Südeuropa, ich denke etwa an Italien. Die gegenwärtigen Strukturen der EU begünstigen diesen Prozess, auch auf dem Balkan. Dort sollen die Länder für eine Annäherung an die EU aktuell bestimmte Reformen einleiten, die eine eigenständige Ökonomie weiter zerstören. Diese Volkswirtschaften sollen nur für den Tourismus zur Verfügung stehen und für Investments internationaler Konzerne günstige Bedingungen schaffen. 

Das bietet keine Perspektive für eine eigene und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Ein dramatisches aktuelles Beispiel ist auch die Ukraine. Durch das Assoziierungsabkommen mit der EU wird dort noch ein böses Erwachen stattfinden. Das Land wird jetzt praktisch verkauft: Die EU erzwingt die Öffnung von bisher geschützten Bereichen für westliche Investoren, etwa der Land- und Forstwirtschaft, aber auch im Energiesektor. 

Man hat also keine nationale Wirtschaft mehr, sondern es existieren nur noch internationale Konglomerate, die die Menschen in den Produktionsländern zu niedrigen Löhnen anstellen. 

Genau. Dazu verlangen die Unternehmen eine gewisse Rechtssicherheit in diesen Staaten. Man achtet darauf, dass die hergestellt wird, etwa unter den Stichworten «Good Governance» oder «Korruptionsbekämpfung». Der «Doing Business Index» bringt die Staaten in eine Rangliste, die beschreibt, wo internationale Unternehmen am besten investieren können. Das ist Neoliberalismus pur. Dieses Herangehen führt teilweise zu heftigen politischen Reaktionen, die uns dann nicht gefallen. Es fördert das Aufkommen eines verstärkten Nationalismus.

Länder, die sich dagegen wehren, haben es schwer?

Das ist mir in Kirgistan besonders drastisch aufgefallen. Das ist eine ehemalige Sowjetrepublik, ein armes Land. Aber Kirgistan hat eine parlamentarische Demokratie entwickelt, während in den anderen Staaten Zentralasiens vornehmlich autoritäre Regime regieren. Kirgistan ist beim Europarat assoziiert, in der sogenannten «Partnership for Democracy». 

Was ist das Ziel dieser «Partnerschaft für Demokratie»?

Darin sind Staaten vertreten, die eine parlamentarische Demokratie besitzen und den Europarat nutzen wollen, um die demokratische Entwicklung in ihrem Land zu fördern. 

Im Rahmen des Europarats habe ich dieses Land besucht. Es gibt dort eine Goldmine, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einer kanadischen Bergbaufirma für einen Apfel und ein Ei aufgekauft und in der Folge ausgeplündert wurde. Daraufhin gab es im kirgisischen Parlament einen einstimmigen Beschluss, dass der Staat Kirgistan einen Anteil an dieser Ausplünderung haben möchte. 

Das ist doch vernünftig, aber stösst sicher auf Widerstand...

Genau: Im Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» wurde diese Forderung als nationalistisch bezeichnet. Wenn sich Länder oder Parlamente gegen die nackte Ausbeutung wehren, werden sie als «nationalistisch» im Sinne von chauvinistisch abqualifiziert. 

Wird in Deutschland so die Debatte geführt?

Ja, zumindest in der öffentlichen Debatte, wie sie Politik und Medien präsentieren, sollen den Menschen zwei Alternativen gezeigt werden: Der neoliberale Kosmopolitismus, ausgestattet mit Freiheitsrechten, und auf der anderen Seite ein dumpfer reaktionärer Nationalismus. Dazwischen müsse man sich entscheiden. Gegen diese Vereinfachung wehrt sich die Linke. Wir sind gegen die neoliberale Globalisierung und unterstützen die demokratischen Bestrebungen in Kirgistan. Die nationalen Interessen mit Chauvinismus zu vergleichen trifft den Kern der Sache nicht.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Wissenschaftliche Analyse der Völkerrechtsbrüche im Syrienkonflikt

von Hanspeter Bucher

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (WD) bilden eine Institution, die es dem einzelnen Bundestagsabgeordneten ermöglicht, sich unabhängig von der Regierung und deren Ministerien unparteiisch zu bestimmten Themen zu informieren (siehe Kasten). Sie sollen so den Wissensvorsprung der Regierung gegenüber den Volksvertretern verringern helfen und deren Handeln und deren Verlautbarungen einer wissenschaftlichen Beurteilung unterziehen. Zudem stellen sie auch neutrale Informationen und Analysen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Seit 2011 leitet der Journalist und promovierte Theologe Guido Heinen die Wissenschaftlichen Dienste mit rund 65 Mitarbeitern.

In letzter Zeit haben nun die Bundestagsabgeordneten H. Hänsel und Alexander S. Neu (Die Linke) die Wissenschaftlichen Dienste beauftragt, wissenschaftliche Gutachten zur Entwicklung in Syrien zu erstellen. Zum einen ging es um «Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien», die von Deutschland unterstützt worden sind. Zum anderen handelte es sich um eine Anfrage bezüglich der «Völkerrechtlichen Bewertung der russischen, amerikanischen und israelischen Beteiligung am Syrienkonflikt.»

Beurteilung des Militärschlages vom 14. April 2018¹

Die Resultate des Gutachtens sind eindeutig und lassen mit ihrer Rückschau auf vergangene völkerrechtswidrige Handlungen keine Zweifel offen:

«In ihrer völkerrechtlichen Bewertung unterscheiden sich die jüngsten Luftangriffe der Alliierten gegen syrische Chemiewaffeneinrichtungen vom 14. April 2018 nicht grundsätzlich von jenem Militärschlag, den die USA bereits im April 2017 im Alleingang gegen die syrische Luftwaffenbasis Schairat geführt hatte; auch die Militäroperation 2017 ist im Ergebnis einhellig als völkerrechtswidrig bezeichnet worden. In beiden Fällen wurden Parallelen zur Kosovo-Intervention von 1999 gezogen. Die völkerrechtliche Diskussion über die Frage einer potentiellen militärischen Reaktion auf Giftgaseinsätze in Syrien reicht bis ins Jahr 2013 zurück, als der damalige US-Präsident Obama für den Fall des Überschreitens der ‹roten Linie› militärische Vergeltungsschläge angedroht hatte. Die völkerrechtliche Literatur sowie die deutsche Presse haben den jüngsten Militärschlag der Alliierten gegen Syrien einhellig als völkerrechtswidrig qualifiziert.» (S. 5)

Die WD verurteilen dazu die von den Aggressoren vorgebrachten Argumente unmissverständlich als «willkürliche Moral», mit der seit der Nato-Intervention im Kosovo versucht wird, das völkerrechtliche Gewaltverbot auszuhebeln und der Gewalt Tür und Tor zu öffnen. Mit dem Fake-Slogan «Humanitäre Intervention» wurden die schlimmsten Kriege vom Zaune gebrochen und mit riesigen Lügengebäuden gerechtfertigt. Das Resultat liegt auf der Hand: verwüstete Länder (Failed States) allenthalben, Millionen von Toten und Verwundeten, unermessliche Flüchtlingsströme und sogar die skrupellose Rechtfertigung von Folter. Allein das erklärte Recht des stärkeren Kriegtreibers soll gelten und die über Jahrhunderte gewachsenen Konventionen zerstören. Es gibt kaum eine Regierung im Westen, die den Rückfall unserer abendländischen Kultur hinter den Westfälischen Frieden unmissverständlich gestoppt hätte. Schon 1999 rechtfertigte z. B. der damalige deutsche Aussenminister Josef Fischer mit dem Ausruf «Nie wieder Auschwitz!» den ersten Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Schwur «Nie wieder Krieg!» wurde zugleich schmählich aus der Welt geschafft. Die Regierung hat dabei das eigene Volk mit Geschichten von erfundenen Greueltaten der Serben belogen, obwohl sie aufgrund der Informationen ihres eigenen Geheimdienstes anderweitig informiert war. So beruht die ganze Grausamkeit auf einer willkürlichen Unmoral, die mit Lügen, verwirrenden Begriffen, welche kaum aufgeklärt werden, operiert. Ich bevorzuge in diesem Zusammenhang den Begriff Unmoral an Stelle von Moral. Moral ist positiv besetzt.

Die WD schreiben: «Wie bereits im Fall der Kosovo-Intervention 1999 lässt sich festhalten, dass völkerrechtswidriges Handeln nicht dadurch ‹geheilt› wird, dass es moralisch legitim ist. Aus der Legitimität staatlichen Handelns erwächst nicht automatisch dessen Legalität.» (S. 9)

Das Fazit des Gutachtens lautet demnach: Der von Deutschland unterstützte Militärschlag war völkerrechtswidrig. Die von den USA geführte Koalition mit Gross­britannien und Frankreich beging ein Kriegsverbrechen.

«Der Einsatz militärischer Gewalt gegen einen Staat, um die Verletzung einer internationalen Konvention durch diesen Staat zu ahnden, stellt einen Verstoss gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 Uno-Charta) dar. Dies bestätigen wichtige Judikate und Beschlüsse internationaler Institutionen.» (S. 7)

Mit der «Verletzung einer internationalen Konvention durch diesen Staat» ist ein Giftgaseinsatz der Syrer gemeint, der nach Aussagen der USA stattgefunden haben soll. Bis heute ist weder geklärt, wo es sich um Gasangriffe gehandelt hat, noch wer die allfälligen Täter waren. Die Alliierten beschuldigten Syrien, ohne dabei stichhaltige Beweise darzulegen. Allein die Behauptung hat ihnen genügt, um die Angriffe zu starten. Hätte Syrien tatsächlich Giftgas eingesetzt, müsste auch dann der alliierte Angriff als völkerrechtswidrig taxiert werden. Das Gericht, das weltweit solche Untaten ahnden kann, ist – international anerkannt – allein in Händen der Uno und nicht bei den unverhohlen willkürlich handelnden amerikanischen, französischen, britischen oder deutschen Staatslenkern.

«Völkerrechtliche Bewertung der russischen, amerikanischen und israelischen Beteiligung am Syrienkonflikt»²

Seit Beginn des Syrienkonflikts im Jahre 2011 intervenieren zahlreiche Staaten und nichtstaatliche Gruppen in Syrien. Manche sprechen deshalb auch von einem Stellvertreterkrieg. Die Gründe für eine Beteiligung am Konflikt sind vielfältig; «völkerrechtliche Rechtfertigungen seitens der beteiligten Staaten gibt es indes nicht immer» (S. 4), heisst es im Gutachten. Also auch hier militärische Interventionen oftmals begründet mit haltlosen, unmoralischen Rechtfertigungen unter Missachtung des Völkerrechts.

Zur Rolle Russlands

Russland ist offiziell seit September 2015 mit Einverständnis des Assad-Regimes am Syrienkonflikt beteiligt. «Erklärtes Ziel des russischen Militäreinsatzes ist die Stabilisierung des Assad-Regimes» (S. 4), was zur militärischen Überlegenheit Syriens geführt habe. «Als Ausdruck territorialer Souveränität ist es jedem Staat gestattet, die Stationierung fremder Truppen auf eigenem Hoheitsgebiet zuzulassen. Ein Verstoss gegen das Gewaltverbot liegt insofern nicht vor» (S. 5), so das Gutachten.

Es handle sich damit um eine sogenannte «Intervention auf Einladung».

«Nach der im Völkerrecht vorherrschenden Auffassung ist eine solche Intervention im Ausgangspunkt zulässig und verstösst nicht gegen das in Art. 2 Nr. 4 Uno-Charta verankerte Gewaltverbot. Hiervon gehen namentlich der Internationale Gerichtshof und die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen aus.» (S. 5) Vor diesem Hintergrund wird die russische Präsenz in Syrien in der Völkerrechtswissenschaft als rechtmässig erachtet. Schliesslich wird bemerkt, dass die Assad-Regierung auch «völkerrechtlich befugt war, Russland um Unterstützung zu bitten.» (S. 6)

Das Vorgehen der USA

Die Intervention der USA in Syrien lasse sich in zwei Phasen unterteilen:

«Das ursprüngliche Ziel der US-Intervention in Syrien bestand zunächst darin, das Assad-Regime zu bekämpfen. Bereits seit dem Jahr 2012 unterstützen die USA ihre Verbündeten dabei, syrische Gruppierungen wie die Freie Syrische Armee mit Waffen zu beliefern. Eigene Waffenlieferungen der USA wurden später aufgedeckt. Zeitweise bildeten US-Soldaten auch syrische Rebellengruppen militärisch aus.» (S. 6)

Dazu verweisen die WD auf Parallelen zum Nicaragua-Urteil des Internationalen Gerichtshof (IGH). Der IGH «hatte im Nicaragua-Urteil anerkannt, dass die Bewaffnung und Ausbildung paramilitärischer Kräfte einen Verstoss gegen das Gewaltverbot darstellt. So verhält es sich auch mit der Bewaffnung und Ausbildung der syrischen Rebellengruppen durch die USA seit 2012.» (S. 8) (In Nicaragua waren es auch die USA, die in den 80er-Jahren in grossem Stil die Contra-Rebellengruppe militärisch aufrüsteten und trainierten mit dem Ziel, die Somoza-Diktatur wieder zu errichten. Auf diesen Bezug verweisen die WD.)

Später, seit Ende 2014, hat die Bekämpfung des «Islamischen Staates» (IS) im Rahmen der internationalen Anti-IS-Allianz im Vordergrund gestanden. «Bereits im Jahr 2014 begannen die USA damit, Luftschläge gegen den ‹IS› in Syrien zu verüben.» (S. 7) Bis zu diesem Zeitpunkt haben die USA einen reinen Stellvertreterkrieg organisiert. Im April 2016 habe es erste Berichte von US-Militäreinheiten auf syrischem Boden gegeben. «Zurzeit sind wohl etwa 2 000 US-Einsatzkräfte in Syrien präsent. Der russische Aussenminister geht von zehn US-Basen in Syrien aus.» (S. 7)

Die Bekämpfung der Assad-Regierung sei demgegenüber in den Hintergrund getreten, da diese ebenfalls gegen den IS vorgehe.

Als Teil der internationalen «Anti-IS-Allianz» in Syrien berufen sich die USA auf das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 Uno-Charta. Dafür fehlt jedoch im Falle von nicht staatlichen Akteuren wie dem IS die rechtliche Grundlage. Die Aktionen dieser Gruppen müssten einem Staat zugerechnet werden können, was bei der Regierung Syriens schon gar nicht zutrifft, weil diese «selbst den ‹IS› bekämpft». (S. 9)

Dann gaben die USA eine weitere Rechtfertigung für ihr illegales Handeln: Nach der sogenannten «unable and unwilling»-Doktrin solle es bereits genügen, «wenn der Staat, von dem aus Terroristen agieren, nicht in der Lage oder nicht willens ist, terroristisches Handeln zu unterbinden» (S. 9), um selber militärisch einzugreifen. «Die völkergewohnheitsrechtliche Geltung dieser Doktrin ist jedoch bislang nicht gesichert» (S. 9), so das klare Verdikt der WD. Mit der Niederlage des IS hat sich zudem das Recht auf Selbstverteidigung gegen nicht staatliche Akteure erübrigt, und die USA müssten ihre Basen abbrechen und Syrien sofort verlassen. Auch im Kampf gegen den IS handelten die USA also entgegen international anerkanntem Recht.

Im April 2017 fand, wie im Gutachten beschrieben, der erste direkte Militärschlag der USA in Syrien statt.

Das Verhalten Israels

Die WD berichten: «Im Syrienkonflikt sieht sich Israel nicht als Konfliktpartei. Gleichwohl hat Israel 2013 ‹rote Linien› verkündet, bei deren Überschreitung es sich zu (militärischen) Reaktionen genötigt sähe: Zum einen, wenn Waffen an die Hisbollah-Miliz im Libanon geliefert würden; zum anderen bei einem ‹Überschwappen› (‹spillover›) des Konflikts auf israelisches Territorium.» (S. 10)

«Als Rechtfertigung für Israels Militärschläge in Syrien wird vielfach auf das Recht zur Selbstverteidigung rekurriert, insbesondere auf die Rechtsfigur der ‹anticipatory self-defense›. Völkerrechtlich ist anerkannt, dass sich ein Staat auf das Selbstverteidigungsrecht berufen kann, sobald ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Es kann einem Staat nicht zugemutet werden, einen Angriff erst abzuwarten, um sich anschliessend zu verteidigen.» (S. 11)

«Richten sich die israelischen Militärschläge gegen syrische Stellungen, muss ebenfalls gesondert dargelegt werden, dass eine unmittelbar bevorstehende Bedrohung für Israel durch das Assad-Regime besteht. Völkerrechtlich problematisch ist insofern, dass Israel syrische Stellungen angreift, um gegen den Iran vorzugehen. Inwiefern solche Angriffe erforderlich sind, um einen unmittelbar bevorstehenden Angriff abzuwehren, kann aufgrund unzureichender Informationen über die Hintergründe nicht abschliessend beurteilt werden. So schwieg Israel etwa zu dem Vorwurf, eine syrische Militärbasis im April 2018 angegriffen zu haben.» (S. 13)

Die WD kommen zum Schluss: «Die Bewertung der israelischen Angriffe gegen syrische und iranische Stellungen sowie die Hisbollah erweist sich als völkerrechtlich problematisch Die Faktenlage ist in vielen Fällen nicht hinreichend geklärt. Hinzu kommt, dass die völkerrechtlich vorgebrachten Rechtfertigungsgründe zum Teil umstritten sind. […]

Unübersehbar verfolgen die Nachbarstaaten Syriens geo-strategische Interessen in der Region und nutzen die prekäre Situation eines (zeitweise) zerfallenden Staates (failing state) für ihre Zwecke aus. Vor allem das Selbstverteidigungsrecht wird dabei nicht selten ‹vorgeschoben›, um die Verfolgung von politischen Interessen völkerrechtlich zu legitimieren.» (S. 13)

¹ Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien. Berlin 2018. www.bundestag.de/blob/551344/f8055ab0bba0ced333ebcd8478e74e4e/wd-2-048-18-pdf-data.pdf
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2 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages:  Völkerrechtliche Bewertung der russischen, amerikanischen und israelischen Beteiligung am Syrienkonflikt. Berlin 2018. www.bundestag.de/blob/563850/05f6dec762a939978c22a132ee680b9a/wd-2-029-18-pdf-data.pdf
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Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags

«Die Wissenschaftlichen Dienste bearbeiten jedoch nicht nur Aufträge von Abgeordneten, sondern widmen sich auch Themen, die auf der künftigen politischen Agenda stehen könnten. Die Ergebnisse werden als ‹Aktive Informationen› auf der Internet-Seite des Deutschen Bundestages veröffentlicht. Durch ausgewählte Arbeiten wollen die Wissenschaftlichen Dienste auch die Öffentlichkeit informieren und die unterschiedlichsten Themen in einen aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhang stellen. Die Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages wieder, sondern liegen in der fachlichen Verantwortung des jeweiligen Fachbereichs. Die Wissenschaftlichen Dienste arbeiten parteipolitisch neutral und sachlich objektiv.» 

Quelle: www.bundestag.de/wissenschaftlichedienste

Wir wollen weder Mogelpackungen noch Lockvögel 

Gedanken zur AHV-Sanierung und Steuerreform

von Reinhard Koradi

Was bei Migros und Coop zur Regel geworden ist, hat in der Politik nichts zu suchen. Billig­angebote, Prämien oder Doppelpackungen mit Mengenrabatt sollen Kunden dazu bringen, ihre Einkaufstaschen mit Dingen zu füllen, die sie eigentlich gar nicht wollen. Dahinter steckt eine Verkaufspsychologie, die darauf abzielt, die Vernunft auszuschalten und die Menschen dazu zu verführen, Dinge zu akzeptieren (kaufen), die sie weder wollen noch brauchen. Das System funktioniert und lässt die Kassen bei den Gross­verteilern klingeln. Das weckt Gelüste zum Beispiel bei der Exekutive und der Verwaltung. Um den Willen der Behörden dem Volk schmackhaft zu machen, verkommen Abstimmungsvorlagen immer mehr zu Lockvögeln oder Mogelpackungen.

Klarheit ist die Grundlage des Vertrauens

Die direkte Demokratie wird grundsätzlich vom Respekt vor dem Volkswillen und dem Vertrauen in die politischen Gremien und Strukturen getragen. Respekt vor dem Volkswillen heisst, Volksentscheidungen unvoreingenommen zu akzeptieren und den Bürger als oberste Instanz sowie seine Urteilsfähigkeit vorbehaltslos anzuerkennen. Vertrauen setzt Transparenz, Ehrlichkeit und Offenheit voraus. Klare Verhältnisse sind die Grundlage eines stabilen Vertrauens. In der Sache selbst braucht es Klarheit, was unter anderem verbietet, Inhalte miteinander zu vermischen, die sich fremd sind. Die Einheit der Materie darf bei politischen Entscheidungsfindungen nie verletzt werden. Nur so können die Bürger sachgerecht entscheiden.

Werden diese Grundbedingungen der direkten Demokratie verletzt, verkommt sie zu einer «Volksbefragung» mit dem Ziel, den Willen der Obrigkeit durch das Volk durchwinken zu lassen. Es ist Aufgabe der Bürger und der Legislative (Parlament), für die Voraussetzungen und die Funktionsfähigkeit der direkten Demokratie zu kämpfen und zu diesem Kampf gehört die Unverletzbarkeit der Einheit der Materie.

Dass dieser Kampf dringendst aufgenommen werden muss, zeigen die Entwicklungen in den letzten Jahren. Immer öfter verletzen die Bundesbehörden die Einheit der Materie. Offensichtlich glauben diese, dem Stimmberechtigten Zückerchen verteilen zu müssen, damit diese die vermeintliche Kröte schlucken. Solche «Kreuzgeschäfte» sind Ausdruck des fehlenden Respektes vor dem Bürger und grenzen an Bestechung. Jüngste Beispiele sind die Steuerreform 2017 und die Revision der AHV. 

AHV und Steuerpolitik passen nicht in ein Mischpaket

Bei der Steuerreform (Unternehmenssteuer) werden Stimmbürger mit dem Versprechen geködert, dass aus der Bundeskasse für jeden verlorenen Steuerfranken ein Franken in den AHV-Fond fliessen soll. Die berechtigten Befürchtungen der Bürger, dass die Reduktion des Steuersatzes für Unternehmen zu erheblichen Steuerausfällen führen werde, sollen durch dieses Versprechen vom Tisch gewischt werden. Tatsache wird aber sein, dass den Gemeinden und Kantonen finanzielle Mittel entzogen werden, die konsequenterweise nur über massive Einsparungen (weniger Unterhalt der Infrastruktur, Gebührenerhöhungen usw.) oder die Erhöhung der direkten Steuern bei den Privatpersonen ausgeglichen werden können. Und woher holt der Bund das Geld für die AHV? Doch auch nur durch Sparmassnahmen oder über die Erhöhung der direkten Bundessteuer. Eine saubere Abstimmungsvorlage müsste doch aufzeigen, welche Lücken in den Kassen der Gemeinden und Kantone entstehen und wie sie ausgeglichen werden. Die AHV und die öffentlichen Haushalte stehen in keinem direkten Zusammenhang, es sei denn, man wirft alles in ein und denselben Topf und hofft, dass sich Probleme von selbst lösen. Hier werden zwei derart unterschiedliche Dossiers in einem Paket zusammengeschnürt, dass man die Vorlage gerade wegen dieser Mogelpackung zurückweisen muss. 

Lockvogel und Griff in die Steuerkiste

Nicht weniger korrupt ist die Vorlage zur Revision der Altersvorsorge. Die AHV soll in finanziellen Nöten stecken. Argumentiert wird mit der Überalterung der Bevölkerung und der zu hohen Beitragslast der aktiven Bevölkerung. Die Rentner würden auf Kosten der Jungen ein unbeschwertes Leben führen, so der Vorwurf. Wer die Geschichte der AHV kennt, weiss, dass dieses Sozialwerk erstens einmalig ist und zweitens schon immer so angelegt war, dass die arbeitende Bevölkerung und die Arbeitgeber solidarisch für die Kosten der Renten der nicht mehr im Arbeitsleben stehenden Bevölkerung aufkommen. Tatsache ist, dass heute und in Zukunft immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner Beiträge zahlen werden. Tatsache ist aber auch, dass ungeachtet der aktuellen Wirtschafts- und Lebenssituation jede Generation die Renten für die vorhergehende Generation finanzierte. Zu Beginn der öffentlichen Altersvorsorge wurden sogar Renten finanziert, ohne Beitragszahlungen der Rentenbezüger. Die AHV ist und soll ein Generationenprojekt bleiben, und zwar ganz einfach, weil dies der lebendige Beweis für generationenübergreifende Solidarität ist und damit typisch schweizerisch. Eine Revision der AHV muss auf dieser Grundlage aufbauen und sich an der Entstehungsgeschichte der Altersvorsorge orientieren.

Die Funktionäre in Bern haben wohl das Vertrauen in den Generationenvertrag verloren. Oder wollen sie dieses sogar bewusst untergraben? Zudem sind sie wirtschaftshörig und suchen daher mit Akribie nach Möglichkeiten, die Wirtschaft von der sozialen Verantwortung zu befreien. Auch dies eine sehr unschweizerische Tendenz, die einmal mehr den sozia­len Frieden und damit den inneren Zusammenhalt zerstört.

Eine ehrliche und sachgerechte Vorlage zur Sanierung der Altersvorsorge hat an zwei Ebenen anzusetzen, auf der Einnahmen- und auf der Ausgabenseite. Die Einnahmen müssen erhöht und die Ausgaben gekürzt werden. So einfach ist das. Mit der Erhöhung des Rentenalters für Frauen (Anpassung an das Rentenalter der Männer) oder sogar generell für alle und die Erhöhung der AHV-Beiträge durch Arbeitgeber und -nehmer könnte das gesuchte finanzielle Gleichgewicht hergestellt werden. Doch weit gefehlt, der Bundesrat schnürt ein Päckchen – einmal mehr eine Mogelpackung –, die nicht hält, was sie verspricht. Den Frauen soll die Erhöhung des Rentenalters durch eine «Zulage auf ihre Renten» schmackhaft gemacht werden, und die Einnahmen sollen nicht über höhere Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden. Die Stimmbürgerinnen ködert der Bundesrat mit einem Lockvogel und durch den Griff in die Steuerkiste wird die Einheit der Materie verletzt. AHV und Mehrwertsteuer stehen in keinem Zusammenhang, sind sich daher fremd und können nicht verkoppelt werden. Das ist reine Willkür und widerspricht allen Grundsätzen einer sachgerechten Sanierung oder Revision.

Mündige Bürger brauchen keine sachfremden Lockvögel, keine «Gschänkli». Sie entscheiden aufgrund von sachlichen Argumenten und politischen Überzeugungen. Die Politik, Dinge miteinander zu verbinden, die nichts Gemeinsames haben, führt zur Unfähigkeit, Probleme direkt anzugehen und zu lösen, sie verfälscht die Entscheidungen, führt zu Diskriminierung und Ungerechtigkeiten, erschwert die Konsensfindung und begünstigt diejenigen, die anderen überlegen sind. Die Demokratie verkommt zu einem unwürdigen Tauschhandel und wird letztlich durch Zentralismus und Anordnung von oben ausgebremst. Und das wollen wir Bürger nicht! 

«Dann frage ich halt die Eltern!»

von Carl Bossard*

Fragen sind das Vorzimmer des Verstehens. Heute aber dürfen Schulkinder ihre Lehrerin oft kaum mehr fragen. So will es ein neues Paradigma. Ein Zwischenruf. 

Unerwartetes vernimmt, wer Kinderärzte¹ reden hört oder mit Schulpsychologinnen und Sozialpädagogen spricht: Sie behandeln in ihrer Praxis immer mehr Kinder mit psychosomatischen Problemen wie Bauchweh und chronischen Kopfschmerzen. Schülerinnen und Schüler leiden vermehrt unter Schulangst, manche zeigen ein auffälliges Verhalten. Die jungen Patienten leiden zunehmend an Beschwerden, für die es keine somatische Lesart gibt.²

Die Kinder werden zu Einzelkämpfern

Die Fachleute diagnostizieren drei Ursachenfelder: Neben dem gesellschaftlich-sozialen Druck sowie familiären Notsituationen sind es auch schulische Gründe. So berichtet eine Ärztin: «Ich habe miterlebt, wie sich Kinder in der dritten Klasse selbständig den Rechenstoff erarbeiten sollten. Am Montag präsentierte die Lehrerin eine kurze Einführung ins neue Rechenthema; dann mussten die Kinder den Rest der Woche in den Rechenlektionen und bei den Hausaufgaben allein an ihrem Dossier arbeiten.»

Als Lerncoach verteilt die Lehrerin individuelle Lerninhalte. Und genau gleich sieht es in den Fächern Deutsch und Realien aus. Wochenpläne und Arbeitsblätter müssen es richten.

Für Fragen bis zu zwanzig Minuten anstehen

Selbständig soll alles erfolgen – und allein. Das Lernen mutiert vom gemeinschaftlichen Prozess zur Einzel­aktivität. Eine Klassengemeinschaft entsteht kaum. Vor allem mittelstarke und leistungsschwächere Schüler sind damit überfordert. Sie geraten unter leistungsmässigen und psychischen Druck.

Dazu kommt etwas Weiteres: Tauchen bei der Planarbeit Probleme und Fragen auf, sind primär Klassenkameraden zu konsultieren, die «Experten», wie sie heissen. Mit ihnen soll das betreffende Kind die Thematik diskutieren. Will es die Lehrerin um Rat bitten, muss es anstehen – falls das möglich ist. Bis es an die Reihe kommt, dauert es manchmal bis zu zwanzig Minuten, so die Ärztin. Da verwundert der Ausruf nicht: «Dann frage ich halt die Eltern zu Hause!»

Wirkmächtiges Bildungsnarrativ

Kinder müssen heute selbständig lernen; sie sind ihre eigenen Lernmanager. Selbstorientiertes, selbstorganisiertes Lernen SOL nennt sich die Reformdevise. Dahinter steht das Bildungsziel der Selbstregulation. Der Begriff hat eine hohe pädagogische Akzeptanz und ist momentan vielerorts die dominante Unterrichtsform. SOL wurde zu einer Art methodischer Erlösungsformel; entwickelt hat sich ein wahrer Heilsglaube an die Macht dieser Praktik. Ob man dereinst von einem pädagogischen Kunstfehler reden wird? Es wäre nicht das erste Mal, dass nachträglich in Verdacht gerät, was vorerst wie ein Zauberwort wirkte.

Denn bis heute gibt es keinerlei empirischen Belege, dass diese Methode zu einer besseren Unterrichtsqualität führen würde. Im Gegenteil. Ohne hohe Schüleraktivität mittels intensiver Lehrersteuerung, regelmässigen Lernkontrollen und entsprechendem Feedback ist keine hohe Lernwirksamkeit zu erzielen. Darin sind sich die renommierten Bildungsforscher einig.

Autonomie ist Ziel, nicht Voraussetzung

Lernen geht nur übers Selbst; es lernt nur, wer selber lernen will. Auch in diesem Prinzip stimmen die Wissenschaftler überein. Dieses Wollen steht aber nicht immer am Anfang. Autonomie ist nicht die Voraussetzung von Unterricht und Erziehung; Autonomie ist das Ziel.³ Warum? Bei jungen Menschen sind die Emotionskontrolle und damit die Selbstdisziplin noch nicht fertig ausgebildet, wie der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke immer wieder betont.

«Der Frontalkortex befindet sich noch im Reifungsprozess»⁴ – und damit auch die Konzentrationsfähigkeit. Das hat Folgen. Kinder und Jugendliche lassen sich leicht ablenken. Darum, so Jäncke, sei die Selbstlerneuphorie problematisch.

Dem Ich ein vitales und humanes Vis-à-Vis sein

Lehren und Lernen ist ein intersubjektives Geschehen. Es ist ein Vorgang zwischen Menschen. Und was zwischen Menschen läuft, passiert nicht zuerst von Hirn zu Hirn, sondern von Auge zu Auge, von Ohr zu Ohr, von Sinn zu Sinn. Also körperlich und seelisch. Kinder und Jugendliche brauchen die Anregung; sie müssen emotional berührt sein. Dann springt der berühmte Energiefunken über; sie lassen sich vom Unterrichtsstoff entzünden.

Lehrerinnen und Lehrer müssen darum im persönlichen Kontakt führen. Wie eine Chorleiterin, wie ein Dirigent. «Pädagoge» entspringt dem griechischen paid-agogein, «Kinder führen». Führen, nicht nur betreuen und begleiten – und ihnen dabei Vorbild sein. Und dieses pädagogische Vorbild der Erwachsenen betont auch der Hochschullehrer Lutz Jäncke.

«Entgegenkommende Verhältnisse» schaffen

Jäncke fügt bei: «Kinder müssen sich an die Lehrperson wenden können, wenn sie ein Problem haben.» Genauso verlangt es eine Sequenz im Deutschlehrbuch aus der Reihe «Die Sprachstarken»: «Frage, bis du alles verstanden hast!» Verstehen erfolgt im Dialog. Die Kinder zu Wissen, Können und Haltungen führen und sie zu Verstehenden machen – das ist das Ziel der Schule.

Bildung ist darum ein interaktives Geschehen – mit dem Ziel: Autonomie des Menschen, Mündigkeit des Einzelnen, Souveränität des Individuums. Diese Autonomie ist nicht von Anfang an gegeben; sie entwickelt sich nach und nach. Selbständig zu werden ist ein anspruchsvoller Prozess. Autonomie bildet und bleibt das Ziel eines guten Unterrichts – in einer «Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens, der Geborgenheit, der Fürsorge und des Wohlwollens», wie es John Hattie als grundlegend und (lern-)wirksam erachtet.

Darum müssen Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Klasse für alle Kinder «entgegenkommende Verhältnisse» schaffen, um den deutschen Soziologen Jürgen Habermas zu zitieren. Und dazu gehören auch Fragen an die Lehrerin. Sie entlasten und klären – und sind die Vorstube der Erkenntnis. 

¹ Vgl. Vortragsreihe «Schule & Pädiatrie» des Vereins Ostschweizer Kinderärzte www.kispisg.ch.

² Anja Burri, Kranke Kinderseelen. In: NZZ a.S. vom 29.10.2017, S. 20f.

³ Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007, S. 107.

⁴ Lutz Jäncke: «Vom Hirn zum Lernen». Vortrag an der Universität Zürich im Rahmen «50 Jahre Klett und Balmer Verlag» 
   vom 8.11.2017; 

vgl. Lutz Jäncke: «Ist das Hirn vernünftig? Erkenntnisse eines Neuropsychologen», Verlag Hans Huber, Bern 2015, S. 239.

Quelle: www.journal21.ch vom 2.7.2018

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