«Die USA betreiben eine Aussenpolitik des permanenten Krieges»

«Die meisten Afghanen haben die Nase voll von ausländischen Interventionen und ständigen Bombardierungen»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas*, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger 

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Die USA haben erneut Soldaten nach Kabul geschickt. Warum?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Schon wieder hat das Pentagon die Realitäten missverstanden und die Kraft der Taliban unterschätzt. Mit dem Sieg der Taliban war eher früher als später zu rechnen – sowie mit Terrorismus. Die USA wollten sich daraus zurückziehen und meinten, sie hätten sechs Monate Zeit, um es komfortabel zu schaffen, d. h. komfortabel für die USA und Nato. Es ist aber anders gekommen.

Warum haben die Taliban das Land so schnell wieder unter Kontrolle gebracht?

Die Taliban hatten die Kraft der Überzeugung und des religiösen Fundamentalismus. Die von den USA unterstützte Regierung hatte keine Wurzeln im afghanischen Volk. Darum ist die US-Niederlage in Afghanistan eigentlich peinlicher als der US-Abzug aus Vietnam im Jahre 1975, denn die Fehler hier sind nicht nur die des Pentagons, sondern auch die der Nato. Allerdings war dieses Debakel vorauszusehen. Die USA, Grossbritannien und die Nato glaubten der eigenen Propaganda. Wie Julius Caesar einst schrieb, «quae volumus, ea credimus libenter» – was wir glauben wollen, das glauben wir gerne. Es kommt noch schlimmer. Mundus vult decipi: Die Welt will betrogen werden. Und solange Menschen Geld daran verdienen können, werden die Lügen und falschen Darstellungen Erfolg haben.

Warum waren die USA überhaupt in Afghanistan?

Wegen geopolitischer Interessen der Nato und, wie sich herausgestellt hat, wegen wichtiger Bodenschätze wie seltene Erden. Es «amüsiert» mich zu lesen, dass Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Nato, noch die alte Lüge wiederholt, dass sie nach Afghanistan gingen, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen.

Das ist doch Unsinn.

Ja, der übliche Quatsch. Es ist genauso falsch wie die Mär, dass die «Koalition der Willigen» wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins im Irak einmarschierten. Im Irak war es das Öl, in Afghanistan sind es die Geopolitik und die speziellen Bodenschätze. Das Resultat ist: Der Hass gegen die USA und die Nato ist so gewachsen, dass möglicherweise mit viel mehr Terrorismus zu rechnen ist. Der Westen hat die Taliban provoziert, und nun steht er vor einem Scherbenhaufen. Die Taliban sind keine Imperialisten, sie kommen nicht nach Amerika, um alle zum Islam zu bekehren; sie leben in einer vom Islam und alten Traditionen beherrschten Welt. Das ist nicht unsere Welt, aber der Westen sollte aufhören, den Mittleren Osten und Asien beherrschen zu wollen. Wenn die USA die Taliban und die restliche afghanische Bevölkerung in Ruhe gelassen hätten, wären wir nicht in dieser misslichen Lage heute. Im Grunde genommen wollen die Afghanen nur in Ruhe gelassen werden. Die Taliban glauben an ihre Sache. Zwar verwenden sie kriminelle Methoden, aber man kann durchaus die Logik verstehen – sie wollen ausländische Interventionen ein für allemal beenden. Die Taliban bekämpften die Sowjets, wie sie die Amerikaner und alle Nato-Truppen bekämpften. Sie haben zwar viele Gegner im Volk – aber auch viele Anhänger.

Warum?

Die meisten Afghanen haben die Nase voll von ausländischen Interventionen und ständigen Bombardierungen. Es gibt das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, das in der Uno-Charta und im Art. 1 des Uno-Pakts über bürgerliche und politische Rechte verankert ist. Die Afghanen – ob Taliban oder andere – haben keine Liebe für Imperialisten – egal ob Briten, Russen, Amerikaner oder die übrigen Europäer, die im Windschatten der USA die Werte des Völkerrechts ebenfalls verraten haben.

Was muss geschehen, damit sich das Land stabilisiert?

Zunächst brauchen die Afghanen Frieden – und die Menschen benötigen internationale Solidarität. Die Uno sollte den Wiederaufbau des Landes fördern und koordinieren. Die Food and Agriculture Organisation (FAO), die Weltgesundheitsorganisation, das Uno Entwicklungsprogramm (UNDP) können viel dazu tun, um die zerstörten Infrastrukturen des Landes aufzubauen, und zwar ohne IWF-Kredite, die stets einen Angriff auf die Souveränität jedes Empfängerlandes bedeuten. Die Botschaften von allen wohlmeinenden Staaten sollten zurück nach Kabul gehen und versuchen, das Land konstruktiv zu unterstützen, aber nicht im kapitalistischen Sinne des Neoliberalismus mit Privatisierungen und «Investitionen» durch das Grosskapital.

Wie könnten die wohlmeinenden Staaten beim Wiederaufbau des Landes helfen?

Nicht nur mit Geld – sondern mit Ehrlichkeit, Respekt und Aufrichtigkeit. Unsere Lügen- und Lückenmedien haben seit mehr als 20 Jahren eine schwarz-weiss Karikatur der Lage in Afghanistan verbreitet. Jene Nato-Staaten, die Afghanistan erbarmungslos bombardierten und Hunderttausende von Zivilisten töteten – vielfach mit Drohnenangriffen – sie schulden Afghanistan Milliarden, Milliarden für den Wiederaufbau, Milliarden als Kompensation. Dabei geht es nicht um Kredite – sondern um völkerrechtlich gebotene Reparationsleistungen. Staaten wie die Schweiz, die sich an den Aggressionen nicht beteiligten und keine «hidden agenda» führen, haben eine gewisse Glaubwürdigkeit und könnten eine Mediations-Rolle ausüben.

Die Taliban haben vorgeschlagen, für die Bildung einer Regierung alle Kräfte im Land miteinzubeziehen. Was halten Sie von dieser Idee?

Wir müssen warten und sehen. Vielleicht möchten sie das wirklich. Aber ob alle Kräfte tatsächlich mit einer Theokratie glücklich sein können – das bezweifle ich. Aber man muss abwarten. Es gibt Beobachter vor Ort, die das positiv bewerten.

Müsste man nicht die USA für alle zivilen Opfer zur Rechenschaft ziehen?

Gewiss. Aber die USA haben die vier Millionen Opfer des Vietnamkrieges – dazu zähle ich auch die Opfer der US-Bombardierungen und die Konsequenzen der Verwendung von Agent Orange und anderer chemischer Waffen – nie entschädigt. Natürlich haften die USA für die Megaverbrechen, die die Nato-Streitkräfte in Afghanistan begangen haben – u. a. für die Verwendung von Uranwaffen (depleted uranium). Das Land ist schwer kontaminiert worden – und die Radioaktivität des depletet uranium (abgereichertes Uran) verschwindet nicht von heute auf morgen. Die USA müssten für die vollständige Sanierung Afghanistans bezahlen. Das müssten alle Staaten, die nicht am Krieg beteiligt waren, einfordern, sonst wird wie in Vietnam nichts passieren.

Kann man sagen, die US-Aussenpolitik in Kombination mit Waffengewalt hat versagt?

Ja und nein. Die US-Aussenpolitik hat dafür gesorgt, dass die amerikanischen Waffenproduzenten enorme Profite machen konnten – und zwar seit 20 Jahren. Es war ein gutes Geschäft für Lockheed-Martin, Boeing, Haliburton, Blackwater – in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien. Die USA betreiben eine Politik des permanenten Krieges. Nun stellt sich die Frage, wo werden die USA demnächst heisse Kriege führen – wohl nicht in Russland und China – das wäre viel zu gefährlich. Aber es bieten sich immer kleinere «Feinde» an – wie Iran, Jemen, Somalia oder Lateinamerika usw. Abwarten ist eigentlich keine Option, die übrigen Staaten müssten hier der aggressiven Politik Einhalt gebieten.

Die USA werden also keine Lehren daraus ziehen?

Die USA haben keine Lehren aus dem Vietnam-Debakel gezogen. Auch nicht nach der gescheiterten «Bay of Pigs»-Invasion gegen Kuba, bei der gescheiterten Unterstützung der Contras in Nicaragua oder aus den vielen Versuchen, Hugo Chávez zu stürzen. – Wir erinnern uns an den Putsch vom April 2002 oder an die vielen späteren Attentate gegen die Regierung von Venezuela. Auch vor zwei Jahren, als sie den selbsternannten Präsidenten von Venezuela Juan Guaidó bei einem Putschversuch unterstützten, der glücklicherweise gescheitert ist. Und das sage ich als ehemaliger Uno-Experte, der das Land besucht und die Lage dort untersucht hat.¹

Welches Land könnte hier eine konstruktive Rolle spielen? Auch die EU muss über die Bücher.

Zunächst sollte die EU eine eigene Politik entwickeln – sich abkoppeln von den USA und der Nato. Ob das gelingt, bezweifle ich. Die EU hilft selten, ohne eigene Hintergedanken. Die Taliban wissen, dass die USA und die EU keine Freunde Afghanistans sind – und sie werden uns mit sehr viel Misstrauen begegnen. Man braucht eben ein neutrales Land wie die Schweiz, das im Namen von einigen europäischen Staaten sprechen könnte. Schändlicherweise haben die Briten, die Deutschen, die Franzosen, aber auch die Australier zu viele Kriegsverbrechen in Afghanistan begangen. Ohne Anerkennung dieser Tatsachen, ohne Entschuldigung, ohne Reue seitens der EU werden die Taliban kaum etwas mit der EU zu tun haben wollen. Dies öffnet Einflussmöglichkeiten für die Chinesen und für die Russen.

Sie hatten es bereits erwähnt. Berichten zufolge wurden bei der Bombardierung von Tora Bora, aber auch an anderen Orten abgereichertes Uran eingesetzt. Was heisst das für die Region?

Die neue Wortschöpfung «Ecocide» ist in Mode gekommen. Tatsächlich haben sie die gröbste chemische Umweltverschmutzung verursacht, die auch auf Jahrzehnte Konsequenzen haben wird. Man muss eine gründliche Sanierung der Radioaktivität in Angriff nehmen. Es ist schon absurd, wie überall über den Klimawandel gesprochen wird, aber wenn es um Krieg geht, bei dem Unmengen von Schäden an Mensch und Natur angerichtet werden, gibt es von den Klimaaktivisten sozusagen keinen Aufschrei.

Der Einsatz dieser radioaktiven Waffen ist doch völkerrechtlich verboten.

Absolut. Im Humanitären Völkerrecht (international humanitarian law – gemeint sind die Haager und Genfer Konventionen und Protokolle) gelten zwei Prinzipien. Das Prinzip der Trennung zwischen zivilen und militärischen Zielen,und das Prinzip der Verhältnismässigkeit (principles of distinction and proportionality). Radioaktive Waffen sind mit diesen beiden Prinzipien nicht in Einklang zu bringen. Sie treffen immer auch Zivilpersonen und entfalten eine schädliche Wirkung, wenn der Krieg schon lange vorbei ist.

Wenn Sie die Politik der USA und ihrer Verbündeten zu Recht kritisieren, laufen Sie nicht Gefahr, als Sympathisant der Taliban abgetan zu werden?

Ich habe etliche Male die Verbrechen der Taliban angeprangert und verlangt, dass sie nicht straffrei davonkommen. Ich hoffe, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Untersuchungen über die Verbrechen der Taliban sowie über die Verbrechen der USA und Nato fortführt.

Haben wir hier nicht das Problem, wer ist der Aggressor und wer sind die Opfer?

Eigentlich mag ich Täter-/Opferschablonen nicht. Ich lehne Pauschalisierungen ab – aber, es ist klar, dass die afghanische Bevölkerung das Opfer dieses Krieges war. Es ist auch klar, dass völkerrechtlich gesehen weder die USA noch die Nato eine Legitimierung hatten und dass hier die Uno-Charta durch sie vielfach verletzt wurde. Ich lehne alle terroristischen Aktionen grundsätzlich ab, genauso wie ich den Staatsterrorismus des Pentagons verurteile. Man muss aber nicht alles verallgemeinern. Gewiss sind nicht alle Taliban Terroristen. Als Völkerrechtler und Historiker frage ich nach den Ursachen von Konflikten. Gewiss haben die Amerikaner dazu beigetragen, sie provozieren nicht nur die Islamisten – sie provozieren normale Menschen muslimischen Glaubens, wenn sie sich in ihre internen Angelegenheiten einmischen. Die USA provozieren die Palästinenser, wenn sie ihnen das Selbstbestimmungsrecht verweigern, wenn sie die Verbrechen Israels gegen die Palästinenser verteidigen. Die USA provozieren die ganze Menschheit, wenn sie sich anmassen, eine «Mission» zu haben und die «Demokratie» zu exportieren. Wenn die USA «Demokratie» sagt – meinen sie aber das kapitalistische Wirtschaftssystem. Dies hat wenig mit Demokratie oder Menschenrechten zu tun.

Es gibt Aussagen, dass die Taliban letztlich ein Produkt der USA seien. Können Sie dem zustimmen?

Ja, das hat sogar die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin der Wahlen 2016, Hillary Clinton, in einem Interview bei Fox-News bestätigt.² Man hat damals im Kampf gegen die Sowjetunion die sogenannten Volksmudschaheddin unterstützt und mit US-Waffen ausgerüstet. Nachdem die Sowjetunion abgezogen war, hat man das Land seinem Schicksal überlassen und so konnten diese von der USA ausgerüsteten und von der CIA und vom pakistanischen Geheimdienst (ISI) ausgebildeten Kämpfer das Land 1996 übernehmen. Hillary Clinton sagte: «Wir bekämpfen diejenigen, die wir selbst geschaffen haben.»

Sie sprechen deutliche Worte und kritisieren Ihr Land. Das machen in solcher Klarheit nur wenige.

Als Patriot muss man das, man will doch dafür sorgen, dass sich sein Land an den Gesetzen und an der Gerechtigkeit orientiert. Ein Patriot fördert den Rechtsstaat dadurch, dass er von seiner Regierung saubere und ehrliche Handlungen und von seinen Politikern Rechenschaft verlangt. Charles de Gaulle definierte den Patriotismus folgendermassen: «Le patriotisme, c‘est lorsque l‘amour du peuple auquel vous appartenez passe en premier. Le nationalisme, c‘est lors­que la haine des autres peuples l‘emporte sur tout le reste.» [Patriotismus ist, wenn die Liebe zum Volk, dem Sie angehören, an erster Stelle steht. Nationalismus ist, wenn der Hass auf andere Völker Vorrang vor allem anderen hat. Red.] Ich bin damit voll einverstanden.

Man wirft den Taliban vor, dass sie den Drogenanbau fördern würden. Können Sie das bestätigen?

Wir brauchen dringend Whistleblower, die uns erklären, was da los war. Gewiss waren die Taliban zunächst starke Gegner des Opiums. Es gibt aber Hinweise darauf, dass die CIA bewusst den Opium-trade in Afghanistan förderte, u. a. um die Mudschaheddin in dem Krieg gegen die Sowjetunion zu finanzieren – das wurde als «Operation Cyclone» bekannt. Auch bei der US-Intervention in Nicaragua in den 80er Jahren hat die CIA diese «Contras» durch den Verkauf von Drogen finanzieren müssen, denn der amerikanische Kongress hätte solche «covert-operations» nicht gebilligt. Die Taliban haben von der CIA einiges gelernt, vor allem die Finanzierungsmöglichkeiten ihres eigenen Verteidigungskrieges gegen die USA – eben durch Produktion und Verkauf des Opiums. Der schottische Journalist Alan Macleod hat im Juni 2021 einen interessanten Artikel dazu veröffentlicht «Geopolitics, Profit and Poppies: How the CIA Turned Afghanistan into a Failed Narco-State.»²

Was für Erkenntnisse finden sich in dem Artikel?

Er schreibt zum  Beispiel: «Mohn wird vom US-Militär als perfekte Kriegspflanze angesehen. Amerikanische Geheimdienstoffiziere stellten sogar Anleitungen für den Mohnanbau zusammen, verteilten Saatgut an lokale Afghanen und halfen beim Anbau von Hunderten von Mohnpflanzen, was den illegalen Handel im Land anheizte.

Im November 2017 gab das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UnoDC) bekannt, dass der Mohnanbau in Afghanistan in einer einzigen Saison um mehr als 120 000 Hektar zugenommen hat. Die Opiumproduktion des Landes stieg von rund 180 Tonnen im Jahr 2001 auf mehr als 3 000 Tonnen pro Jahr nach der US-Invasion. Im Jahr 2020 erreichte sie sogar einen Rekordwert von fast 10 000 Tonnen. Heute ist Afghanistan der weltweit grösste Mohnanbauer und Opiumproduzent und liefert mehr als 85 Prozent des weltweiten Opiums.»

Das heisst im Klartext, die USA sind für den explosionsartigen Anstieg der Mohnproduktion verantwortlich…

Gemäss dem Artikel von Alan Macleod muss man diesen Schluss ziehen. 

Wie beurteilen Sie die Reaktionen des Menschenrechtsrates, der gerade seine 31. Sondersitzung über Afghanistan abhielt, oder die G 7 Gespräche?

Wie so oft kommen das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte, der Menschenrechtsrat, die G 7 und andere Gruppierungen zu spät und können nur an «Band Aids» denken, humanitäre Hilfe, Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten. Natürlich müssen die Uno und die internationale Gemeinschaft leidenden Menschen helfen – aber wir müssen auch verstehen, dass die USA und Nato mitverantwortlich sind an dieser Katastrophe. 

Inwiefern?

Wenn die USA diesen willkürlichen und ungerechten Krieg in Afghanistan nicht geführt hätten, wenn die Nato Afghanistan nicht erbarmungslos bombardiert hätte, wären die Szenen in Kabul und anderen Orten Afghanistans anders. Es ist nicht schwierig zu verstehen, dass der Westen die Ursache vieler dieser Probleme ist, und solange die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden – und damit meine ich George W. Bush, Dick Cheney, Colin Powell, Tony Blair, Barack Obama, Donald Trump usw. – wird die Welt weiterhin solches Elend sehen. Die grosse Migrationswelle aus Libyen/Afrika, Syrien, Libanon usw. geht auf USA und Nato Interventionspolitik zurück. Es ist kein Wunder, wenn die USA ein Land und eine Region destabilisieren, dass es Konsequenzen gibt. Aber die Staaten, die sich daran nicht beteiligt haben – z. B. Ungarn, Slowenien, Slowakei usw. sollen für die Verbrechen der US nicht bezahlen. Was die Welt braucht, sind präventive Diplomatie, friedensfördernde Massnahmen und ein Ende der Provokationen und Ausbeutung anderer Menschen und Länder.

Wie muss man die Stellungnahmen der verschiedenen Uno-Experten verstehen, die scharfe Vorwürfe an die Adresse der Taliban richten?

Was sie da sagen, ist nicht unbedingt falsch, aber es hilft in diesem spezifischen Moment nicht. Die Meldung ist zu allgemein – ich möchte fast sagen, zu banal – der Krise nicht angemessen. Sie sprechen von Flüchtlingen, Migration und Frauenrechten. Bedeutend ist, was nicht erwähnt wird, und sie ziehen nicht die richtigen Konsequenzen. Sie verurteilen nicht die illegale Einmischung seinerzeit der Sowjetunion und der USA in die Angelegenheiten Afghanistans. Die Katastrophe in Afghanistan ist die direkte Konsequenz der illegalen Interventionen, und kein Mensch hat sich dafür entschuldigt oder Reparationen geleistet. Die USA und Nato-Länder haben tausendfach mehr Schaden in Afghanistan angerichtet als die Sowjets. Die USA und Nato-Länder haben 20 Jahre das Land gefoltert. Nun kommen die Taliban an die Regierung – einige sogar, die in Guantánamo und in anderen Folterstätten gelitten haben. Die Uno-Rapporteure sollten die Verbrechen der USA und der Nato ebenso beim Namen nennen und unmissverständlich verurteilen – dies tun sie aber nicht. Interessant ist auch, dass nur einige Rapporteure mitsigniert haben – nämlich die politisch korrekten Rapporteure, die ich «Guardians of the Status quo» nenne. Sie dienen dem System. Sie dienen den Interessen der Eliten.

Wer hat nicht signiert?

Zum Beispiel der Schweizer Rapporteur über Folter, Nils Melzer; der ugandische Rapporteur über die Weltordnung, Livingston Sewanyana; die Rapporteurin über Sanktionen, Alena Douhan.

Der US-Präsident hat sich auch geäussert…

Ja, erbärmlich. Nirgendwo wird von Biden anerkannt, dass die USA kein Recht hatten, in Afghanistan einzumarschieren, um 20 Jahre das Land zu besetzen. Da ist keine Spur von Selbstkritik, sondern nur Wiederholung der Propagandalügen. Das Phänomen ist nicht neu. Auch nach Vietnam wollten die USA ihre eigene Propaganda fortsetzen. Sie bleiben die Guten und die Taliban bleiben die Bösen. Gewiss – die Taliban haben viele Verbrechen begangen. Aber sie waren Opfer einer illegalen Aggression. Die US-Medien wollen die Konsequenzen der Niederlage nicht anerkennen, sondern die Kriegslügen fortsetzen

Warum konnten die USA die Regierungen und das Volk Afghanistans nicht für «The American Way» gewinnen?

Erstens konnten die Amerikaner das afghanische Volk nicht davon überzeugen, dass das westliche Model besser sei als ihr eigenes. Zweitens, die Amerikaner haben sich nicht in die Lage der Menschen dort versetzt, ihre Kultur und ihre Traditionen nicht verstanden. Eines ist auf alle Fälle klar: Die Afghanen wollen den westlich-amerikanischen neoliberalen Kapitalismus nicht. Niemand will von einer fremden Macht bestimmt werden. Ob richtig oder falsch, jedes Volk hat das Recht, sich selbst zu entwickeln und den eigenen Weg zu bauen. Allenfalls können wir Rat geben, wenn uns jemand darum bittet.

Was würden Sie für einen Weg als ehemaliger Unabhängiger Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung im Umgang mit der Situation in Afghanistan empfehlen?

Respekt gegenüber dem afghanischen Volk. Respekt für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker. Die Respektierung der Uno-Charta, insbesondere des Gewaltverbots im Artikel 2(4) der Charta. Die Respektierung des Verbotes der militärischen Intervention und der imperialen Einmischung in die inneren Angelegenheiten von anderen Ländern, wie es in etlichen Resolutionen der Uno-Generalversammlung steht, u. a. Res. 2625, 3314 usw. Ich würde empfehlen, dass meine 25 Prinzipien einer gerechten Weltordnung angewandt werden, dass diese Prinzipien in alle Sprachen übersetzt werden, einschliesslich Dari (Farsi), Paschtu und die anderen Sprachen, die in Afghanistan gesprochen werden. Meine 25 Prinzipien wurden dem Uno-Menschenrechtsrat im März 2018 vorgelegt⁴ und nun liegen sie in meinem Buch «Building a Just World Order»⁵ vor. Die Präsidentin der Generalversammlung 2018-19, Maria Fernanda Espinosa, sagte darüber: «Die 25 Zayas-Prinzipien der internationalen Ordnung sind eine moderne Magna Carta. Wenn sie von der internationalen Gemeinschaft umgesetzt würden, könnten sie dazu beitragen, im 21.  Jahrhundert Frieden mit sozialer Gerechtigkeit zu sichern. Gemäss der Uno-Charta tragen die Mitgliedsstaaten Verantwortung für zukünftige Generationen. Daher sollten sie konkrete Massnahmen ergreifen, um diese regelbasierte Ordnung in internationaler Solidarität zu verwirklichen.»

Herr Professor de Zayas, herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ undocs.org/A/HRC/39/47/Add.1 siehe auch Kapitel 12 des Buches «Building a Just World Order», https://www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order
² www.youtube.com/ watch?v=vlbZt56qv18
³ www.mintpressnews.com/cia-afghanistan-drug-trade-opium/277780/
4 www.ohchr.org/EN/Issues/IntOrder/Pages/OutliningPrinciples.aspx
⁵ Kapitel 2, Building a Just World Order, Clarity Press, Atlanta, 2021.

 

* Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas ist Völkerrechtler und Historiker. Er ist US-amerikanischer und Schweizer Staatsbürger. An der Uno hatte er mehrere Funktionen inne, zuletzt als Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. Alfred de Zayas ist Autor mehrerer Bücher.

Kanonenbootpolitik?

Deutsches Kriegsschiff auf dem Weg in den Indischen Ozean

von Thomas Kaiser

Am 24. März 1999 war der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit folgenden Worten in den deutschen Abendnachrichten zu vernehmen: 

«Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. […]

Der jugoslawische Präsident Miloševic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. […] Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk.»¹

Mit diesen und weiteren Worten rechtfertigte Kanzler Schröder den Sündenfall der deutschen Nachkriegsgeschichte: Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – ohne Uno-Mandat – gegen Jugoslawien und setzt Kampfflugzeuge ausserhalb der eigenen Landesgrenzen ein. Der Sprecher der Nato, Jamie Shea, lobte denn auch in einem Interview die Haltung von Kanzler Schröder, Aussenminister Fischer und Verteidigungsminister Scharping. Er attestierte ihnen, «einen guten Job gemacht» zu haben, weil es ihnen gelungen sei, die öffentliche Meinung für einen Einsatz ausserhalb der Landesgrenzen zu gewinnen», und das sei nicht einfach gewesen.² Denn sie mussten einen Angriffskrieg auf einen souveränen Staat, der mehrere hundert Kilometer entfernt lag, als Verteidigungskrieg verkaufen. In Tat und Wahrheit hat die Bundesregierung mit Lügen und Halbwahrheiten wider besseres Wissen die eigene Bevölkerung betrogen, um die Zustimmung für einen Angriffskrieg zu bekommen. Auch wenn die Bundesregierung von ihrem Kriegseinsatz euphemistisch von «humanitärer Intervention» sprach, mit Humanität hatte dies alles nichts zu tun. Es ging darum, Jugoslawien «ins Steinzeitalter zurückzubomben», wie es der damalige US-Verteidigungsminister William Cohen formulierte, die grösste US-Luftwaffenbasis Südosteuropas namens Camp Bondsteel im Kosovo zu errichten und sich dort der Bodenschätze zu bemächtigen.

Deutschland, quo vadis? Das schwer bewaffnete deutsche Kriegsschiff «Bayern». Sieht so «regelbasierte» Friedenspolitik aus? –  Als das deutsche Kanonenboot «Panther» 1911 vor Marokko aufkreuzte, war das gegenüber Frankreich eine gezielte Provokation und löste  in einer bereits angespannten Situation eine schwere Krise zwischen beiden Staaten aus. Welche Reaktionen wird die «Bayern» bei ihrem Aufkreuzen im Indo-Pazifik hervor­rufen? Bei aller Rhetorik, wie sollen die asiatischen Staaten diesen Vorgang als Friedensförderung verstehen?  (Bild commons.wikimedia.org)

 

Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus

Deutschland bombardierte im Verbund mit der Nato völkerrechtswidrig den souveränen Staat Jugoslawien 78 Tage lang. 

Der Opfer gab es viele, insbesondere unter der Zivilbevölkerung. Der Politik- und Islamwissenschaftler sowie Buchautor, Michael Lüders, schreibt in seinem neusten Werk dazu folgendes: «Die Causa Kosovo markiert auch den Beginn eines zunehmend offensiv vertretenen Nato-Selbstverständnisses, demzufolge nicht allein die Landesverteidigung deren Aufgabe sei.»³

Doch nicht genug. Bereits drei Jahre später prägte Rudolf Scharpings Nachfolger, Peter Struck, die neue «Verteidigungsdoktrin»: «Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.»⁴ Militärisch in einem fremden Staat zu intervenieren, wird zur Verteidigung des eigenen Territoriums umgedeutet. Bemühten die Verantwortlichen 1999 die angeblich «humanitäre Katastrophe» als Rechtfertigung, ging es 2002 um die Sicherheit des eigenen Landes, wohl gemerkt Tausende von Kilometern entfernt. Ebenfalls eine Verdrehung der Realität, wie sie Gerhard Schröder bereits vorgemacht hat. Und so schickte Deutschland Soldaten nach Afghanistan, das 20 Jahre lang als Vasall der USA am Krieg gegen sogenannte Terroristen beteiligt war. Ein Einsatz, der nichts, aber auch gar nichts gebracht hat, ausser einer Vielzahl unschuldiger Toter und Milliarden an verschleuderten Steuergeldern, Leid und Elend. Experten gehen davon aus, dass 80 Prozent der angeblichen Terroristen, die von Drohnen «gezielt» getötet wurden, harmlose, unschuldige Zivilisten waren. Die übrigen 20 Prozent waren Opfer einer illegalen US-Nato-Willkürjustiz. Das gezielte Töten von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen und gehört geahndet. Sind das die Werte, derer sich der Westen so gerne rühmt?

Mehr als 70 Prozent der deutschen Bevölkerung waren von Beginn an gegen einen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. In der hochgelobten deutschen Demokratie scheint der Volkswille in politischen Sachfragen kein Wert zu sein. Die Truppen wurden erst abgezogen, als die USA die Aussichtslosigkeit des Einsatzes erkannt hatten. 

Deutsches Kriegsschiff im Indo-Pazifik

Wenn heute, 20 Jahre später, Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ein deutsches Kriegsschiff in Wilhelmshafen verabschiedet, das eine wie auch immer geartete Mission im Indo-Pazifik durchführen soll, dann wird die deutsche Öffentlichkeit mit ähnlichen Worthülsen auf das ausserordentliche Unternehmen eingestimmt, wie es seiner Zeit Gerhard Schröder und Peter Struck taten. Dass dieser Einsatz in friedlicher Absicht erfolgt, wie Kramp-Karrenbauer betont, indem sie sagt: «Unser Engagement im Indo-Pazifik bedeutet nicht, gegen etwas oder gegen jemanden zu sein …»⁵, ist scheinheilig. Wäre dem so, hätte die Bundesregierung einen Frachter, z. B. mit deutschen medizinischen Erzeugnissen für die notleidenden Bevölkerungen in Myanmar, Vietnam, Korea oder anderen asiatischen Staaten als Symbol der Völkerverständigung auf den Weg schicken können. Der Einsatz der «Bayern», so der Name des Kriegschiffs, ist ein Signal an China. Lüders kommentiert das Verhalten Deutschlands: «Deutschland läuft Gefahr, in Sachen China dieselben Fehler zu wiederholen wie schon im Umgang mit Russland. Eine hohle Werte-Rhetorik zu verfolgen anstelle einer fundierten Realpolitik.»⁶ Tatsächlich steht in der Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums: «Es ist gut, über unsere Werte zu reden, noch besser ist es, konkret etwas zu tun. Heute läuft die Fregatte ‹Bayern› in Richtung Indo-Pazifik aus – ein Zeichen für Stabilität, Wohlstand und eine regelbasierte, multilaterale Ordnung.»⁷ Hohle Phrasen, die den eigentlichen Vorgang, ein Kriegs­schiff in fremde Gewässer zu entsenden, um Tausende Seemeilen von zu Hause entfernt Präsenz zu markieren und Macht zu demonstrieren, verschleiern sollen. 

Sicherung der «eigenen Interessen»

Gerhard Schröder hat Krieg für den Frieden geführt und damit das Völkerrecht gebrochen, weil der damalige US-Präsident Clinton das so wollte. Zwanzig Jahre später ist Deutschland, wie auf der Homepage der Bundeswehr zu sehen ist⁸, auf drei Kontinenten und in 11 Staaten aktiv und in militärische Einsätze verstrickt wie z. B. in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Mali,  am Horn von Afrika etc. Ministerin ­Kramp-Karrenbauers verdeutlicht, was der Hintergrund zu sein scheint: «Das liegt auch in unserem ureigenen Interesse: Als Verfechter einer regelbasierten Ordnung ist es uns nicht egal, wenn geltendes Recht missachtet wird und völkerrechtswidrige Fakten geschaffen werden; und als grosse Handelsmacht und Exportnation haben wir ein zentrales Interesse an sicheren und freien Handelswegen.»⁹

Es stellt sich nur die Frage, wer die Regeln für das «geltende Recht» festsetzt und wer befugt ist, dieses mit welchen Mitteln durchzusetzen. Die Uno-Charta ist hier ganz eindeutig, und das ist anerkanntes Völkerrecht. Sie erlaubt nur dem Uno-Sicherheitsrat, über jedwelche Zwangsmassnahmen – auch militärische – zu entscheiden, und nicht Deutschland, der EU oder gar der Nato. Deutschland als Uno-Mitglied hat dieses zu respektieren. Wo ist, bitte schön, die von Kramp-Karrenbauer bemühte «regelbasierte Ordnung»? Dass dahinter ein längerfristiges Konzept steht, wird offensichtlich: «Die Entsendung ist zentraler Bestandteil in der praktischen Umsetzung der Strategischen Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik.»10 

«…mehr Verantwortung übernehmen in der Welt»

Dass Deutschland eine Rolle in der Welt spielen will, gab es schon öfters in der Geschichte. Ein Blick in die Geschichtsbücher fördert hier wenig Schmeichelhaftes zu Tage. Dennoch scheint es eine Konstante deutscher Aussenpolitik zu sein. Michael Lüders schreibt dazu: «Das von Bundespräsident Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgetragene und zum geflügelten Wort gewordene Diktum, Deutschland müsse künftig ‹mehr Verantwortung übernehmen›, bezeichnet dabei den Weg – auch gerade in Richtung von Militäreinsätzen.»11 

Vor mehr als 100 Jahre forderte der deutsche Grossadmiral Alfred von Tirpitz den Aufbau einer Seestreitkraft und begründete dies unter anderem wie folgt: «Ohne Seemacht blieb die deutsche Weltgeltung wie ein Weichtier ohne Schale. Dem Handel musste die Flagge folgen, wie das andere, ältere Nationalstaaten längst begriffen hatten, als es bei uns erst zu dämmern begann.»12 

Bestehen die viel gepriesenen europäischen Werte also darin, Kriegsschiffe in die Welt hinauszuschicken, um in fremden ­Gewässern militärische Präsenz zu markieren und dabei die eigenen Interessen zu verfolgen, anstatt den Weg der Diplomatie und des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu beschreiten? Michael Lüders meint hier unumwunden: «So oberflächlich die Unterteilung der Welt in ‹gut› und ‹böse› auch sein mag – mit Blick auf ihre propagandistische Wirkung ist sie kaum zu übertreffen. Insbesondere in Verbindung mit allfälligen ‹Werten›. Wer die bemüht, will in der Regel vor allem vermeiden, seine eigenen Interessen offen zu benennen.»13 

Auch wenn wir heute nicht mehr im Zeitalter des europäischen Imperialismus leben, so können wir doch feststellen, dass der Anspruch des Westens, über den Rest der Welt zu bestimmen oder wenn möglich auch zu herrschen, immer noch deutlich spürbar ist. Dass die Bundesrepublik Deutschland hierbei eine gewichtige Rolle spielen will, ist mehr als stossend. 

Michael Lüders sieht denn auch in der Position Deutschlands in der Auseinandersetzung zwischen China und USA wenig Friedenförderndes. «Diese Empfehlung für weitreichende ‹Out of area›- Einsätze der Nato ist nichts weniger als ein klares Bekenntnis zu einer expansiven Grossmachtpolitik, getragen vom Geist des Neoliberalismus und des (Neo-)Imperialismus.»14 

Wenn Deutschland nicht beginnt, sich von seinem seit der Jahrtausendwende immer deutlicher werdenden Kriegskurs schnellstens zu verabschieden, werden spätere Generationen die Frage stellen: Warum habt ihr da mitgemacht? Warum habt ihr im Schlepptau der USA Grossmachtsallüren entwickelt und Macht und Eigeninteressen über die menschlichen Werte unserer Kultur gestellt? Werte, die vor allem einmal das eigene Verhalten bestimmen sollten, und nicht dafür eingesetzt werden dürfen, andere Menschen zu unterdrückten und zu drangsalieren wie man es in Afghanistan seit über 20 Jahren tut. 

¹ www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/erklaerung-von-bundeskanzler-gerhard-schroeder-807814
² www.youtube.com/watch?v=ZtkQYRlXMNU 
³ Michael Lüders: Die scheinheilige Supermacht. S. 27
www.afghanistan-connection.de/struck
www.bmvg.de/de/aktuelles/rede-akk-auslaufen-bayern-indo-pazifik-5204436
⁶ Michael Lüders: Die scheinheilige Supermacht. S. 264f
www.bmvg.de/de/presse/-fregatte-bayern-startet-in-den-indo-pazifik-5205672 
www.bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr
www.bmvg.de/de/aktuelles/rede-akk-auslaufen-bayern-indo-pazifik-5204436
10 www.bmvg.de/de/presse/-fregatte-bayern-startet-in-den-indo-pazifik-5205672
11 Michael Lüders: Die scheinheilige Supermacht. S. 27
12 Alfred von Tirpitz: Erinnerungen. S. 50
13 Michael Lüders: Die scheinheilige Supermacht. S. 270 
14 ebenda S. 261

Kuba: «Wir bitten nicht. Wir fordern: Weg mit der Blockade!»1

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Am 23. Juni 2021 stimmte die Uno-Generalversammlung der kubanischen Resolution «Die Notwendigkeit der Beendigung der Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade, die von den USA gegen Kuba verhängt wurde» mit überwältigender Mehrheit zu. Die Resolution fordert die Aufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade, mit denen die USA den kleinen Inselstaat in der Karibik seit Ende der 1950 Jahre drangsalieren und unter ihre Fuchtel zwingen wollen. 184 Staaten unterstützten die kubanische Resolution. Die USA und Israel stellten sich dagegen. Brasilien, Kolumbien und die Ukraine enthielten sich der Stimme.

Am 23. Juni 2021 stimmte die Uno-Generalversammlung der kubanischen Resolution «Die Notwendigkeit der Beendigung der Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade, die von den USA gegen Kuba verhängt wurde» mit überwältigender Mehrheit zu. (Bild UN Photo/Eskinder Debebe)

 

In seiner Rede vor der Uno-Generalversammlung², aus der im folgenden zitiert wird, charakterisierte der kubanische Aussenminister Bruno Rodriguez Parrilla die Blockade unter dem früheren US-Präsidenten Trump, die 243 unilaterale Zwangsmassnahmen umfasste, als «rücksichtslosen nicht konventionellen Krieg» gegen Kuba. Die US-Regierung «verschärfte bewusst und opportunistisch die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade und verursachte dem Land Verluste in Höhe von rund 5 Milliarden Dollar». 

Die Regierung Biden – so Rodriguez – führe diese Politik mit ihren schlimmen Folgen weiter: «Der Schaden für die Menschen durch die Blockade ist unermesslich. Kein kubanisches Familienleben bleibt von den Auswirkungen dieser unmenschlichen Politik verschont. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass sie keine realen Auswirkungen auf die Bevölkerung hat. Im Gesundheitsbereich ist es weiterhin unmöglich, Zugang zu Ausrüstungen, Technologien, Geräten, Behandlungen und geeigneten Medikamenten zu bekommen, deren Erwerb bei US-Firmen uns verwehrt wird und die zu exorbitanten Preisen über Zwischenhändler beschafft oder durch Generika mit geringerer Wirksamkeit ersetzt werden müssen, selbst für Neugeborene und kranke Kinder.»

Neben der Gesundheit bedroht die US-Blockade auch die Ernährung der kubanischen Bevölkerung, wie Rodriguez weiter erklärte: «Die Blockade entzieht der nationalen Industrie auch die finanziellen Mittel, um die notwendigen Produktionsmittel für die Lebensmittelproduktion zu importieren, was zu einem Rückgang der Produktion von Schweinefleisch und anderen Waren führte. Die Lebensmittelimporte aus den USA erfolgen unter strengen Lizenzen und diskriminierenden Bedingungen und sind in ihrer geringen Höhe nicht vergleichbar mit dem enormen finanziellen Schaden der Blockade und den Auswirkungen ihrer extraterritorialen Anwendung auf Drittmärkten. Ich bezeuge das Leid und die Angst, die in den kubanischen Familien durch den Mangel und die Instabilität von lebenswichtigen und grundlegenden Produkten verursacht werden, sichtbar in den langen Schlangen, die die Kubaner mitten in der Pandemie täglich belasten. […] Die Blockade ist eine massive, flagrante und systematische Verletzung der Menschenrechte des gesamten kubanischen Volkes, die nach Artikel II, Abschnitt C der Genfer Konvention von 1948 einen Akt des Völkermordes darstellt.»

An den Präsidenten der Uno-Generalversammlung gewandt, fuhr Rodriguez fort: 

«Herr Präsident, die Behörden der USA haben auf zynische Weise versucht, die Idee des Versagens des Systems und der Ineffektivität der kubanischen Regierung zu verbreiten, indem sie behaupten, dass die Zwangsmassnahmen weder die Menschen betreffen würden noch in Wirklichkeit ein bedeutender Faktor für die Schwierigkeiten der nationalen Wirtschaft seien.

Doch schauen wir uns die Daten an! Von April 2019 bis Dezember 2020 verursachte die Blockade einen Schaden von 9,157 Milliarden Dollar zu aktuellen Preisen, durchschnittlich 436 Millionen Dollar pro Monat. In den letzten fünf Jahren betrugen die durch dieses Konzept verursachten Verluste mehr als 17 Milliarden Dollar. Der akkumulierte Schaden in sechs Jahrzehnten beläuft sich auf 147,853 Milliarden Dollar zu aktuellen Preisen, und zum Goldwert eine Billion 377 Milliarden.

Am 10. Juni war unser Banken- und Finanzsystem gezwungen, die Annahme von Bareinlagen in US-Dollar vorübergehend auszusetzen, eine unausweichliche Massnahme angesichts der durch die Blockade verursachten Hindernisse, um über diese Währung zu verfügen oder ihr einen Gebrauchswert zu geben. Es ist ein Schritt, den man vermeiden wollte, der aber nicht aufgeschoben werden konnte.

Es handelt sich um einen Wirtschaftskrieg von extraterritorialem Ausmass gegen ein kleines Land, das in der letzten Zeit bereits von der Rezession und der durch die Pandemie verursachten Weltwirtschaftskrise betroffen war, die uns unentbehrliche Einnahmen, wie die aus dem Tourismus, entzogen hat. […] Was würde, so frage ich, mit anderen Volkswirtschaften, auch in reichen Ländern, passieren, wenn sie ähnlichen Bedingungen unterworfen würden? Was wären die sozialen oder politischen Auswirkungen?

Herr Präsident, die Blockade ist ein politisch motivierter Akt, perfekt beschrieben in dem berüchtigten Memorandum von Unterstaatssekretär Lester Mallory vom 6. April 1960, das ich zitiere:

‹Es müssen schnell alle möglichen Mittel eingesetzt werden, um das Wirtschaftsleben zu schwächen […], indem Kuba Geld und Vorräte verweigert werden, um die Nominal- und Reallöhne zu senken, mit dem Ziel, Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung herbeizuführen›.

Ergänzt wird das auf bösartige Weise durch eine intensive Kampagne der politischen Einmischung in innere Angelegenheiten, mit Subversionsprogrammen, für die die Regierung der USA jedes Jahr Dutzende von Millionen Dollar aus dem Bundeshaushalt und zusätzliche Summen an verdeckten Mitteln bereitstellt. Der Zweck ist es, politische und soziale Instabilität im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Not zu erzeugen, die die USA selbst verursachen.

Sie kalkulieren, dass sie, wenn sie die kubanische Bevölkerung Härten aussetzen und künstliche Anführer fördern, die Unruhen und Instabilität schüren und eine virtuelle politische Bewegung in den digitalen Netzwerken erzeugen, diese dann in die reale Welt tragen zu können.»

Mit scharfen Worten wandte sich Rodriguez auch gegen die Verleumdung der alten und der neuen US-Regierung, Kuba würde den internationalen Terrorismus fördern: 

«Kuba war Opfer von terroristischen Aktionen, die von der US-Regierung oder von US-Territorium aus organisiert, finanziert und ausgeführt wurden und die 3478 Kubaner das Leben gekostet und bei 2099 Menschen Behinderungen verursacht haben. […] Unsere Position zum Terrorismus ist bekanntlich die der absoluten Verurteilung dieser Praxis in all ihren Erscheinungsformen.»

Rodriguez zitierte auch aus der Rede des damaligen Staatspräsidenten Fidel Castro im September 2000 vor der Uno-Generalversammlung: «Es muss mit aller Entschiedenheit festgestellt werden, dass das Prinzip der Souveränität nicht einer ausbeuterischen und ungerechten Ordnung geopfert werden kann, in der eine hegemoniale Supermacht, unterstützt durch Macht und Gewalt, beansprucht, alles zu entscheiden.»

Uno-Generalversammlung beführwortet kubanische Resolution

Die Forderung Kubas, in Frieden gelassen zu werden und ohne Blockade zu leben, wurde von der Uno-Generalversammlung³ nahezu einstimmig befürwortet. Vertreter verschiedener Länder würdigten die positiven Beiträge Kubas für ihre Länder, insbesondere die medizinischen Brigaden, die in der heutigen Zeit in fast 40 Staaten einen wichtigen Beitrag für die Gesundheit der Bevölkerung leisten. Samuel Moncada (Venezuela) charakterisierte die US-Sanktionen als Kriegswaffe. Heute sei die wirtschaftliche Gewalt (economic violence) die bevorzugte Kriegswaffe der USA, die gegen einen Drittel der Weltbevölkerung eingesetzt werde. Diego Pary Rodriguez (Bolivien) bezeichnete die «unmoralische und kriminelle Blockade», als Akt des «Genozids und des Wirtschaftskrieges». 

Die Willensbekundung der Uno-Generalversammlung liess den Vertreter der USA völlig unberührt. Er hielt an Sanktionen als legitimen Weg zur Erreichung von aussenpolitischen Zielen fest. Die «Förderung von Demokratie und Menschenrechten» stünde aktuell im Zentrum der US-Politik. Welchen Blutzoll und welche unbeschreiblichen Verheerungen diese Politik zur Folge hat, zeigen unter anderem die Auswirkungen des zwanzigjährigen Krieges gegen die Menschen in Afghanistan. Die Voten vieler Vertreter der 184 Länder, die die Aufhebung der Sanktionen gegen Kuba fordern, zeigen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen diese Länder am US-Narrenseil geführt werden konnten.

Die Schweiz unterstützt die Aufhebung der US-Blockade

Bemerkenswert erfreulich ist, dass unser Nationalrat bereits im März 2021 beschlossen hat, sich für die Aufhebung der US-Blockade gegen Kuba einzusetzen. Schon am 9. November 2020 hatte die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates über das Postulat APK-N. «US-Blockade gegen Kuba aktiv bekämpfen zugunsten einer der ärmsten Bevölkerungen weltweit»⁴ beraten und mit 13 zu 11 Stimmen dem Bundesrat zur Annahme empfohlen: «Ihre Aussenpolitische Kommission ist auch der Meinung, dass man innerhalb der Uno, vereinigt mit anderen Ländern, verstärkt gegen diese Blockade vorgehen kann.» Am 9. März wurde dieses Geschäft vom Nationalrat diskutiert, und das Postulat wurde mit 98 zu 89 Stimmen angenommen. Damit ist der Bundesrat beauftragt, als Exekutive künftig in dieser Sache «Nägel mit Köpfen» zu machen. 

¹ Präsident Miguel Diaz-Canel zitiert in junge Welt vom 25.6.21
² Rede des kubanischen Aussenministers Bruno Rodriguez Parrilla vor der Uno-Generalversammlung am 23. Juni 2021, abgedruckt in Granma International vom Juli 2021.
³ www.un.org/press/en/2021/gat12341.doc.htm
⁴ Das Postulat entstand aus der Petition 19.2034 «Unblock Cuba», die bereits am 10. Dezember 2019 eingereicht worden war. www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=52147

Hochwasser in Deutschland: «Die Menschen unterstützen sich gegenseitig, und man spürt eine starke Stimmung menschlicher Solidarität»

«Die staatlichen Strukturen für den Katastrophenschutz sind alle heruntergekommen» 

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, MdB DIE LINKE

Zeitgeschehen im Fokus Sie haben die betroffenen Gebiete in Deutschland nach der Überschwemmungskatastrophe besucht. Wie war Ihr Eindruck?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ich selbst komme aus Aachen und habe mir die kreisangehörigen Kommunen angeschaut, insbesondere die Gemeinden Kornelimünster und Stolberg. Dort war die Situation noch viel dramatischer und gravierender, als ich das aufgrund der Medienberichte erwartet hätte. Inzwischen war ich dreimal dort.

Andrej Hunko in Stolberg: «In Stolberg war die Situation noch viel dramatischer und gravierender, als ich das aufgrund der Medienberichte erwartet hätte.» (Bild zvg)

 

Wie stehen die Betroffenen das durch? 

Die Menschen unterstützen sich gegenseitig, und bei den Aufräum­arbeiten spürt man eine starke Stimmung menschlicher Solidarität. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Man berichtet das auch aus anderen Katastrophengebieten. Da ist ein ganz grosser Zusammenhalt spürbar. Ich würde mir ein solches Verhalten der Menschen auch in anderen Situationen wünschen.

Das ist etwas sehr Positives, was der Mensch als soziales Wesen entwickeln kann. Wie hat sich die Katastrophe abgespielt? 

Der Vichtbach fliesst direkt aus der Eifel nach Stolberg hinein. Oberhalb von Stolberg gibt es noch eine Talsperre. Danach läuft der Bach gerade auf den Stadtteil zu, in dem sich die Einkaufspas­sage und das Rathaus befinden. Zunächst kamen die Wassermassen an einem Umspannwerk vorbei. Durch den Druck des Wassers wurden die Trafoanlagen weggespült. Danach passierte er ein Industriegelände, das grundlegend beschädigt ist. Darauf schoss das Wasser in die Altstadt hinein. Der Fluss hat sich geteilt, und die Strassen wurden zum Hauptflussbett. So flossen die Wassermassen durch die Einkaufspassage in einer Höhe von 1 Meter 50 und zerstörten alles, was es dort gab. Wenn man hier hindurchläuft, ist man links und rechts von Ruinen umgeben.

Was bedeutet das für die Menschen, die dort wohnen?

Alles ist zerstört, es gibt keinen Strom, weil die Leitungen beschädigt sind und nur noch teilweise funktionieren. Auch die Trinkwasserversorgung ist zusammengebrochen. Wenn man dort wohnt, ist das sehr dramatisch. Besonders für ältere Leute. Man kann nicht mal schnell um die Ecke gehen, um etwas einzukaufen, weil alle Läden zerstört sind. Autos sind auch grösstenteils beschädigt oder gänzlich weggeschwemmt worden. Also, das tägliche Leben ist völlig eingeschränkt. Es funktioniert nichts mehr.

Die Schäden müssen immens sein, nachdem was Sie jetzt beschrieben haben.

Die Häuser sind schwer beschädigt, der Strassenbelag ist weggespült, an einer Stelle ist die Strasse 6 Meter nach unten abgesackt. Es sieht aus wie im Krieg.

Sie hatten eine Talsperre erwähnt. Welche Funktion hat diese?

Das ist die Dreilägerbachtalsperre in der Eifel. Hier kann Wasser abgelassen werden oder auch nicht. Das Staubecken dient vor allem der Trinkwasserversorgung, wenn es einmal eine längere Trockenperiode geben sollte. Es ist also nicht auf Hochwasserschutz ausgelegt. In dem Zusammenhang gibt es unter der Bevölkerung aber sehr viele Fragen.

Inwiefern?

Die Menschen beschäftigt, ob im Vorfeld genug Wasser abgelassen wurde, als die starken Regenfälle angesagt wurden, um zumindest die Auswirkungen des Regens zu begrenzen. Da hört man vor Ort viel Kritik. Hier ist noch einiges zu klären, aber es scheint so zu sein, dass in der Eifel die Politik bezüglich der Talsperren – es gibt in der Eifel noch weitere – einige Fragen aufwirft. Damit Wasser abgelassen werden darf, muss die Bezirksregierung in Köln die Genehmigung erteilen, und diese kam offenbar zu spät. Das muss jetzt geklärt werden.

Was sind denn die Kritikpunkte der Bevölkerung?

Neben dem erwähnten Wassermanagement betreffend die Talsperren hört man vor allem, dass die Warnsysteme überhaupt nicht funktioniert hätten. Die Bevölkerung beklagt, dass sie, wenn überhaupt, nur unzureichend und in der Regel gar nicht informiert bzw. gewarnt worden sei. Hier liegt in Deutschland sehr viel im argen.

In welchen Bereichen sind die Mängel zu orten?

Das ist auf verschiedenen Ebenen erkennbar bis hin zur Bundesebene. Die Katastrophenwarnsysteme scheinen nicht zu funktionieren. Man hat den Eindruck, dass hier in den letzten Jahren massiv geschlampt wurde. Letztes Jahr, also 2020, gab es einen bundesweiten «Warntag», der völlig «in die Hose» gegangen ist. Die Bundesregierung spricht selbst von einem «Fehlschlag». Sie haben die Warnsysteme getestet, auch die Sirenen, und alles, was dazugehört. Nichts funktionierte richtig. Dieser «Warntag» sollte im Jahr 2021 wiederholt werden, um bis dahin die Fehler zu beheben. Er hat aber bisher nicht stattgefunden und soll wieder auf das nächste Jahr verschoben werden. Das ist die offizielle Verlautbarung des Innenministeriums, des sogenannten Heimatschutzministeriums. Das ist ein starkes Stück und Ausdruck einer ungeheuren Schlamperei.

Waren nicht auch elektronische Systeme im Gespräch? 

Es gibt Warn-Apps, die aber noch wenige auf ihrem Handy haben. Es gibt auch die Möglichkeit, direkt über Funkmasten eindeutige Warnungen über das sogenannte «Cell Broadcast» zu verschicken. Damit können alle mobilen Endgeräte erreicht werden, die in einer Funkzelle angemeldet sind, auch sehr alte Mobiltelefone. Es gibt bereits eine Richtlinie der EU («EU Alert»), dass dieses Verfahren überall eingeführt werden soll. In Deutschland werden dafür nun erste Vorbereitungen getroffen, wie die Bundesregierung auf meine Nachfrage mitteilte. Im Moment steht die Hilfeleistung, die Solidarität im Vordergrund, die Frage nach den Vermissten und wie man den Menschen helfen kann. Hierbei geht es um kurzfristige und langfristige Wiederaufbauhilfe. Das ist nicht in wenigen Monaten vorbei. Um das alles wieder aufzubauen, wird es Jahre dauern. Aber die Fragen müssen gestellt und beantwortet werden: Was ist hier schiefgelaufen?

Diese Fragen müssen doch rasch beantwortet werden, nur schon, um so etwas in Zukunft zu verhindern?

Das Hochwasser wird man nicht aufhalten können, aber die Schäden hätte man einschränken können. Es gibt auch ein europäisches Hochwasserwarnsystem (EFAS), an dem auch Deutschland teilnimmt. Auch diesbezüglich ist völlig unklar, was geschehen ist. Das System hat gewarnt. Aber auf der Pressekonferenz der verantwortlichen Ministerien hatte man den Eindruck, die Verantwortlichen wussten gar nicht, dass es dieses Warnsystem gibt. Es blieb der Eindruck, dass nichts funktioniert hat. Das sind beides CSU-Ministerien, und das ist schon auffallend.

Wenn ich das höre und dazu noch die Berichterstattung in den Schweizer Medien darüber lese, dass nahezu 200 Menschen durch das Hochwasser umgekommen sind, dann erstaunt mich das doch sehr. Deutschland ist technisch und infrastrukturell ein so hoch entwickeltes Land und muss am Ende eine solche Bilanz ziehen. Wie passt das zusammen?

Ja, genau, das fragt man sich, und das muss auch ganz minutiös aufgearbeitet werden. Warum hat man das Warnsystem über Cell Broadcast nicht verwendet? Warum funktionierte die Warnung über eine App so schlecht? Ein weiterer Aspekt, den man betrachten muss, sind die öffentlichen Infrastrukturen, die staatlichen Strukturen für den Katastrophenschutz. Die sind alle heruntergekommen, und das ist wohl eine Folge des Neoliberalismus. Öffentliche Infrastruktur wurde lange Zeit auf ein Minimum reduziert oder privatisiert. Auch wurde immer argumentiert, dass der Katastrophenschutz eine Reminiszenz aus dem Kalten Krieg sei wie z. B. die Sirenen. So vernachlässigte man das System. Die Sirenen funktionieren heute kaum noch.

Bei uns in der Schweiz gibt es jedes Jahr solche Tests, die Sirenen funktionieren.

Wie gesagt, in Deutschland ist der Test im September 2020 miss­lungen, was selbst das Innenministerium bestätigte. Aber dann hat man fast ein Jahr verstreichen lassen, ohne die Fehler zu beheben. Möglicherweise hätte man den Verlust von Menschenleben verhindern können, wenn konsequent daran gearbeitet worden wäre.

Wie ist das in Deutschland organisiert, wenn es zu solchen Umwelt- bzw. Naturkatastrophen kommt? 

Das ist die zweite Diskussion, die jetzt aufgekommen ist. Man sagt, dass der Föderalismus das Problem sei, dass es zu viele Ebenen und Kompetenzen gebe und dass der Zentralismus besser sei. Das kann man untersuchen, aber ich glaube nicht, dass der Föderalismus an und für sich ein Problem darstellt.

Nein, im Gegenteil.

Die Schweiz ist ja auch föderalistisch organisiert. 

Ja, das ist doch ein grosser Vorteil. Bei uns wissen die Kantone genau, wo die Gefahren lauern und wo die neuralgischen Punkte sind. Auf solche Unwetter können sie sich gezielt vorbereiten, was vor ein paar Wochen auch hervorragend geklappt hat.

Ich bin auch ein Freund des Föderalismus und sehe darin auch grosse Vorteile.

Was wäre denn zu tun, um ein solches Desaster in Zukunft zu verhindern? 

Um das zu beantworten, müssen wir die verschiedenen Ebenen betrachten, die hier von Bedeutung sind. Sicher ist ein Problem der Klimawandel. Durch die Erwärmung gibt es mehr Regen und damit erhöht sich die Gefahr von Hochwasser. Zum einen muss man schauen, wie man den Klimawandel begrenzen kann und die Energieversorgung umstellt. Dann gibt es eine weitere Ebene, die Anpassung an den Klimawandel. Man muss sich darauf einstellen, dass solche Unwetterkatastrophen häufiger vorkommen werden und man entsprechende Vorkehrungen trifft. Das heisst konkret, man muss das Thema der Flächenversiegelung angehen. Je mehr Flächen versiegelt sind, desto weniger Wasser kann versickern. Das ist ein Problem, nicht nur in Deutschland.

Gibt es dazu nicht schon Projekte?

Es gibt Modelle von sogenannten Schwammstädten. In der Städteplanung muss dafür gesorgt werden, dass entsprechende Versic­kerungsmöglichkeiten vorhanden sind. Städteplanerisch muss hier vieles neu überlegt werden. Ein weiterer Punkt, der in manchen Regionen eine Rolle spielt, sind die Flussbegradigungen. Das hat man lange Zeit betrieben, etwa um dadurch schneller Waren transportieren zu können. Deshalb hat das Wasser weniger Platz und wird bei einer Flut ungebremst beschleunigt. Häufig hat man aus Schwemmflächen Parkplätze gemacht. Das sind Fehlentwicklungen aus der Vergangenheit, die teilweise rückgängig gemacht werden müssen, sonst rächt sich das. Als letzte Ebene sehe ich den bereits beschriebenen katastrophalen Zustand des Warnsystems.

Wie sieht das mit dem Versicherungsschutz der Menschen aus? Erfüllen die Versicherungen ihre Aufgaben oder sind sie tatsächlich mehr Finanzinstitute als Versicherungen?

Hier gibt es viele Probleme. Teilweise können sich Menschen in Risikogebieten gar nicht gegen Elementarschäden versichern, weil keine Versicherung dazu bereit ist oder die Beiträge unbezahlbar hoch wären. Teilweise versuchen die Versicherungen auch, sich durch Klauseln aus der Verantwortung zu ziehen. Natürlich ist es auch ein Problem, dass Versicherungen wie andere private Wirtschaftsunternehmen profitorientiert handeln und nicht dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Hier könnten andere, öffentliche Strukturen für Versicherungen andere Prioritäten setzen. Die Marktgläubigkeit verhindert dies jedoch in der Regel.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Trojaner untergraben die nationale Souveränität 

Wie transnationale Konferenzen und Organisationen unsere Souveränität angreifen

von Reinhard Koradi

Über Jahrzehnte erlebt die Welt durch die neoliberale Maxime eine dramatische Umwälzung. Eine Revolution, die nicht von unten, sondern von oben organisiert und vorangetrieben wird. Äusserst problematisch bei diesem Veränderungsprozess sind die Passivität der betroffenen Nationen und deren Bevölkerung sowie der unterwürfige Nachvollzug durch die nationalen Regierungen und Behörden. 

 

Mit einem unverfrorenen Machtanspruch greifen die Strippenzieher in die Autonomie der Nationalstaaten ein und untergraben mit einer ausgeklügelten Argumentation (Propaganda) deren Souveränität. Vorangetrieben wird die Neuordnung mehrheitlich durch internationale Organisationen, Bündnisse und sogenannte Think Tanks. Führend sind in dieser Hinsicht die Uno und ihre Anhängsel wie OECD, WTO, Weltbank und sogenannte Gruppen (G7, G20). Nicht auszuschliessen, dass auch die Nato bei diesem Prozess zum Beispiel durch die Osterweiterung eine aktive Rolle einnimmt. 

G 7 – Gruppe der Sieben

In der «Gruppe der Sieben» haben sich die zum Zeitpunkt ihrer ­Gründung bedeutendsten Industrieländer der westlichen Welt als informelle Gruppe zusammengeschlossen. Zweck dieser informellen Gruppe (Absprachen ohne demokratische Kontrolle) sind regelmässige Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Dabei sollen Fragen der Weltwirtschaft erörtert werden. Dem Gremium gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die USA an. Die Europäische Kommission hat einen Beobachterstatus. Vorübergehend gehörte auch Russ­land zur Gruppe (G8), wurde jedoch nach der Krim-Affäre wieder ausgeschlossen. Die G7 kann auch als «Vordenker» für die erweiterte Staatengruppe (G20) bezeichnet werden. Die G7 beansprucht aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für sich eine Führungsrolle, die weit über Fragen rund um die wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausgeht. Man könnte ebenso gut eine Gruppe mit den bevölkerungsdichtesten Ländern bilden oder aus Staaten, deren Bevölkerung unter Armut und Hunger leidet. Aber die betroffenen Länder können im Gegensatz zu den Wirtschaftsmächten keinen Führungsanspruch anmelden, obwohl ihre Themen eine erstrangige Position auf der Liste der Probleme einnehmen müssten, die wir mit höchster Priorität angehen sollten. 

G 7 will Mindeststeuersatz

Beim letzten Treffen verpflichteten sich die Teilnehmerstaaten, eine minimale Unternehmenssteuer von 15 % durchzusetzen. Anläss­lich kommender Gipfeltreffen (u. a. dem G20-Gipfel in Rom 2021) sollten auch andere Staaten dazu gebracht werden, sich dem Abkommen anzuschliessen. Steueroasen sollten ausgetrocknet werden und multinationale Unternehmen sollten künftig nicht mehr dort ihre Steuern bezahlen, wo sie ihren physischen und rechtlichen Sitz haben, sondern dort, wo sie die meisten Umsätze generieren. Mit dem Mindeststeuersatz soll der Steuerwettbewerb ausgeschaltet werden. Länder mit einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik (Staatshaushalt) wie zum Beispiel die Schweiz werden abgestraft. Bezogen auf die aktuelle hemmungslose Staatsverschuldung werden mit diesem Entscheid zwei Schleusen geöffnet. Einerseits soll die Staatsverschuldung weiter begünstigt werden, andererseits werden durch die Ausschaltung des Wettbewerbs zusätzliche Steuereinnahmen generiert. 

G 20 – Gruppe der Zwanzig

In der G20 haben sich seit 1999 die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer zu einer informellen Gruppe, bestehend aus 19 Staaten und der Europäischen Union, zusammengeschlossen. Die G20 bietet den zugelassenen Regierungschefs eine Plattform für den Austausch über Probleme des internationalen Wirtschafts- und Finanzsystems, aber auch zur Koordination bei weiteren globalen Themen wie Klimapolitik, Frauenrechte, Bildungschancen, Migration und Terrorismus. Der Vorsitz der G20 wird von den Mitgliedsländern im Wechsel für jeweils ein Jahr übernommen. Auch diese Gruppe unterliegt dem Prinzip: Alles, was der Wirtschaft dient, soll hier aufgegleist werden. Dabei geht die Agenda weit über wirtschaftliche Themen hinaus und greift damit massiv in innenpolitische Angelegenheiten ein. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich diese Gruppe als globale Zentralinstanz mit einem entsprechenden Führungsanspruch versteht.

Anlässlich ihrer letzten Zusammenkunft beschloss das Gremium einen globalen Mindeststeuersatz für Unternehmen von 15 % zu unterstützen. Ziel sei es, die weltweite Mindeststeuer bis 2023 in Kraft zu setzen. Mit diesem Entscheid folgt die G20 der kleineren Gruppe der G7-Staaten, die diesen Mindeststeuersatz von 15 % vorgeschlagen hat. Unter dem Dach der OECD schlossen sich 130 Länder danach der Reform an, darunter auch die Schweiz, die allerdings gewisse Vorbehalte angemeldet hat.

OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

«Die OECD vereint 38 Mitgliedstaaten in einem Umfeld, das ihnen die Möglichkeit bietet, ihre Wirtschafts-, Finanz-, Bildungs-, Wissenschafts-, Sozial-, Umwelt- und Entwicklungspolitik zu diskutieren, zu überarbeiten und zu verbessern.»¹ Alles Themen, die grundsätzlich im nationalen Rahmen zu bearbeiten wären. Beeinflusst durch ein Denkmuster, das die Globalisierung favorisiert, tauschen die Regierungen Erfahrungen aus und bemühen sich, für ähnlich gelagerte Problemstellungen gemeinsame Lösungen zu finden. «Grosses Gewicht wird dabei der besseren Koordination und Kohärenz von nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik beigemessen.»²

Uno

«Mit ihren 193 Mitgliedsstaaten sind die Vereinten Nationen (Uno) in vielen Fragen von weltweiter Bedeutung. Die Uno ist die einzige Organisation, in der sich alle interessierten Länder und Akteure an einer Diskussion beteiligen können. Sie ist so universell wie keine andere Organisation. Dies gilt sowohl für die behandelten Themen als auch für ihre Mitglieder, ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen, ihre Rolle bei der Erarbeitung internationaler Normen und Standards und für ihre weltumspannende Ausstrahlung. Trotz gewisser Unzulänglichkeiten besitzt sie weltweit eine einzigartige Legitimität.»³ Die Uno mag in vielen Fällen eine positive Rolle einnehmen respektive eingenommen haben. In den vergangenen Jahren hat sie sich auch als Brutstätte von globalen Einmischungen in nationale Angelegenheiten «missbrauchen» lassen. Vor allem die der Uno nahestehenden Organisationen (siehe oben) spielen zu oft eine wenig rühmliche Rolle. Die Problematik liegt in der globalen Ausrichtung dieser Organisation, die zudem durch den Sicherheitsrat erhebliche politische Defizite hat.

Jüngstes Beispiel ist der von der Uno lancierte Migrationspakt. Die Staaten sollen durch diesen Pakt ihre Flüchtlings- und Asylpolitik den durch die Uno vorgegebenen Zielen unterordnen. Ein solches Ansinnen muss als Einmischung in innere Angelegenheiten gebrandmarkt werden. Mit dem Migrationspakt sollen förderliche Bedingungen geschaffen werden, die es allen Migranten ermöglichen, in den Zielländern fürsorglich aufgenommen zu werden. Die Migration soll weltweit zentral koordiniert werden. Dabei sind Voraussetzungen zu schaffen, die den Zuwanderern Chancen gewähren, damit sie sich entsprechend ihren Fähigkeiten sowohl in menschlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht entfalten können.

Zentralbanken (EZB, Fed)

Die europäische Zentralbank und die Fed (Zentralbank von Amerika) verfolgen seit der Finanz- und Wirtschaftskrise (2008) eine desaströse Währungs- und Finanzpolitik. Mit der Null- oder Negativ-Zins-Strategie fördern sie die Staatsverschuldung und bauen eine Inflationsblase auf, die kaum je unter Kontrolle gebracht werden kann. Zwar scheint die Finanzwelt noch in Ordnung zu sein. Der Schein trügt allerdings. Die schleichende Geldentwertung (versteckter Schuldenabbau) zwingt die Zentralbanken zur Öffnung der bisher angestrebten Inflationsobergrenze von zwei Prozent und einer weiteren Ausdehnung der Geldmenge – auch mit dem Argument der «Corona-Hilfe». Die beiden Institute drängen kleinere Volkswirtschaften wie die Schweiz zu einer Währungs- und Geldmengenpolitik, die sich immer mehr von den nationalen Interessen entfernt.

Schlussfolgerungen

Bezogen auf die von den G20 und durch die OECD verfolgte internationalen Steuerreform, meint Bundesrat Maurer, «dass die Schweiz aus ihrem Dornröschenschlaf aufwachen müsse». Was meint er wohl mit «Dornröschenschlaf»? Vielleicht, dass wir uns dem internationalen Druck beugen müssen? 

Tatsache ist, dass durch die Mass­nahmen (schwarze Listen, Sanktionen usw.) den Nationalstaaten die Steuerhoheit längstens entzogen wurde. Haushalts- und Steuerpolitik sind jedoch grundlegende Instrumente eines souveränen Staates, um die Wohlfahrt auf der einen und die nationale Wettbewerbsfähigkeit auf der anderen Seite im Gleichgewicht zu halten. 

Ein weiterer massiver Eingriff in die nationale Souveränität ist der Uno-Migrationspakt. Zwar werden die Vorgaben als unverbindlich abgeschwächt, aber wer garantiert die Unverbindlichkeit, wenn 23 Forderungen in den Raum gestellt werden. Ein Forum soll zudem alle vier Jahre die Fortschritte zur Zielerreichung in den einzelnen Ländern überprüfen. Dabei geht es um Eingliederung in die Arbeitswelt, freien Zugang zu den Grundleistungen, Förder- und Bildungsangebote und die Partizipation an den Sozialeinrichtungen. Was passiert, wenn eine Fortschrittsuntersuchung Mängel in der Umsetzung entdeckt? Gibt es dann schwarze Listen, Sanktionen oder ganz einfach einen Nachbesserungskatalog?

Einwanderungs- und Asylpolitik gehören allein ins Dossier eines souveränen Staates. Die Einmischung von aussen kann den inneren Zusammenhalt, das friedliche Zusammenleben und das Selbstverständnis einer Nation erheblich gefährden. Die Migration muss an der Wurzel angepackt werden, was erfreulicherweise auch durch ein Ziel im Migrationspakt aufgegriffen wird. Die Triebkräfte zur Migration müssen minimiert werden, heisst es unter anderem im Migrations-Zielkatalog. 

Warum nicht endlich bei den kriegsführenden Mächten, der Korruption und der einseitigen Ausbeutung von Ressourcen ansetzen? Kaum jemand ist gegen den Schutz der Menschen, aber dieser Schutz kann nicht durch kontrollierte Migrationsströme geschaffen werden, sondern nur vor Ort durch Hilfe zur Selbsthilfe.

Ebenfalls problematisch ist der Verlust einer eigenständigen Währungs- und Geldpolitik. Die Nationalbank musste das Instrumentarium zur Steuerung von Wirtschaftsentwicklung, internationaler Wettbewerbsfähigkeit und der Inflation aus der Hand geben. Zwar tut sie dies aus eigenem Antrieb, aber der wirkliche Antreiber sitzt an den Schalthebeln der EZB und der Fed.

Die Liste ist unvollständig. Bildungswesen (Bologna, Pisa), Grenzschutz (Schengen), Landesverteidigung (Nato-Partnerschaft) und vieles mehr sind durch die Ein- und Anbindung an internationale Organisationen längst zu weiten Teilen in «ausländische Hände» geraten. Der damit verbundene schleichende Abbau unserer Souveränität sollte uns eigentlich wachrütteln. Doch solange wir uns vom vermeintlich wirtschaftlichen Nutzen internationaler Einbindung derart blenden lassen, dass wir die Wirtschaft höher als unsere Unabhängigkeit einstufen, wird der Einflussnahme auf unsere inneren Angelegenheiten kein Riegel geschoben. 

Die Schweiz in internationalen Organisationen

Was bewegt die Schweiz zur internationalen Einbindung? Aufschlussreich ist dabei die Veröffentlichung des EDA: «Das EDA fördert die Vertretung der Schweiz und deren Interessen in internationalen Organisationen.

Das multilaterale Engagement der Schweiz ist langfristig und setzt auf Kontinuität. Um die aussenpolitischen Interessen der Schweiz im multilateralen Kontext bestmöglich zu wahren und das zunehmend komplexer werdende internationale Umfeld mitgestalten zu können, ist die Schweiz um eine angemessene Vertretung in internationalen Organisationen bestrebt.

Dazu hat die Schweiz folgende Ziele definiert: 

Sicherstellung der Einsitznahme der Schweiz in politischen Leitungsorganen und -gremien, 

Besetzung von strategischen Kaderpositionen in internationalen Organisationen mit Schweizerinnen und Schweizern, 

Nachwuchsförderung zur Stärkung der Schweizer Interessen in internationalen Organisationen.»⁴

Und was bringt dieses Engagement in Wirklichkeit? Statt Mitwirkung und Einflussnahme doch weit mehr einen gehorsamen Nachvollzug des von globalen Interessen getragenen Kurswechsels. Die Schweizer Aussenpolitik wird immer noch vom Ansinnen geleitet, Mitglied internationaler Organisationen und Bündnisse zu sein. Man will bei den Grossen dabei sein. Als Kleinstaat bleibt uns jedoch nur die Rolle als Juniorpartner. 

Die Schweiz könnte jedoch weit mehr internationale Anerkennung gewinnen, wenn sie sich weiterhin im Rahmen der «guten Dienste» unter Aufrechterhaltung ihrer Neutralität als Vermittlerin und Kämpferin für den Frieden positionieren würde. Eine solche Position setzt Souveränität voraus, die wir durch Mitgliedschaften in doch einseitig westlich (USA-dominierten) orientierten Organisationen sehr fahrlässig aufs Spiel setzen.

Eine Neuausrichtung unserer Aussenpolitik wäre daher dringend notwendig, um der Schweiz den Platz unter den Völkern zu sichern, der ihre Souveränität schützt. 

¹www.seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaftliche_Zusammenarbeit/internationale_organisationen/oecd.html
² ebenda
³ https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/aussenpolitik/internationale-organisationen/vereinte-nationen.html 
www.seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaftliche_Zusammenarbeit/internationale_organisationen/oecd.html

Augenmedizin im Südsudan: Augenlicht nach 13 Jahren Blindheit

von Franziska Bundi

Eine Mutter sieht zum ersten Mal ihre Kinder. 13 Jahre war sie blind, weil es keine Behandlungsmöglichkeit gab in ihrer Region. Die Operation im Augencamp gibt ihr das Augenlicht zurück.

Adau Diing Maduol ist auf beiden Augen am Grauen Star erblindet. Die achtfache Mutter aus dem Südsudan erinnert sich, dass es vor etwa 13 Jahren vor der Geburt ihres fünften Kindes passiert ist. Plötzlich spürte sie Schmerzen im linken Auge, als sie auf dem Feld arbeitete. Ihre Sicht wurde schlechter, bis sie das Augenlicht ganz verlor. Das gleiche wiederholte sich auf dem rechten Auge. «Es ging mir miserabel», sagt sie. «Ich konnte nichts mehr selber machen und es tat sehr weh.» Zum Glück sprangen ihr Mann und ihre Söhne für sie im Haushalt ein. Zwei der jüngeren Buben kümmerten sich um ihre Mutter und übernahmen das Kochen. Dies, obschon in ihrer Kultur die Frauen dafür zuständig sind. Die neun- und dreizehnjährigen Knaben gehen bis heute nicht zur Schule. Die Bauernfamilie lebt in sehr einfachen Verhältnissen auf dem Land. «Manchmal musste ich Nachbarn um Hilfe bitten und ihnen etwas zahlen, damit sie unsere Felder bestellten», erzählt Adau Diing Maduol. Sie gebar weitere drei Kinder, als sie bereits blind war. «Sie nicht sehen zu können, war sehr hart für mich.»

Adau Diing Maduol ist seit 13 Jahren blind – sie wartet mit ihrem jüngsten Kind auf dem Schoss auf die Voruntersuchung. (Alle Bilder Tatjana Gerber)

 

Kaum augenmedizinische Versorgung

Ihr Schicksal wendet sich zum Guten im Augencamp. Dieses wird rund 100 km von ihrem Dorf entfernt in der Stadt Wau aufgebaut. Fünf Organisationen ermöglichen das Augencamp: Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK), das Südsudanesische Rote Kreuz, die katholische Diözese von Wau, das Gesundheitsministerium und das Teaching Hospital von Wau. Ein Augencamp macht Augenmedizin in abgelegenen Gebieten für alle zugänglich. Es erreicht Menschen wie Adau Diing Maduol, die unter einer heilbaren Augenkrankheit leiden. Denn auf dem Land, wo die Menschen kein fliessendes Trinkwasser und keinen Strom haben, fehlt es auch an einer Gesundheitsversorgung. Für rund 14 Millionen Menschen im Südsudan gibt es zurzeit nur fünf Augenärztinnen und -ärzte gegenüber 1080 in der Schweiz.

Voruntersuchung an drei Standorten

Schnell hat sich herumgesprochen, dass ein Augencamp stattfindet. Um zu verhindern, dass Menschen mit nicht behandelbaren Augenkrankheiten von weit her anreisen, findet zuvor an drei Orten eine Triage statt. Der Andrang ist sehr gross. Das Personal des Regionalspitals von Wau, unterstützt von den Rotkreuz-Freiwilligen, begutachtet über 1000 Personen mit Augenleiden. Einigen kann aufgrund ihrer Erkrankung nicht geholfen werden. Andere kommen auf eine Warteliste. Menschen, die wegen des Grauen Stars erblindet sind, werden zuerst ausgewählt. Denn ihnen hilft eine kurze Operation: Die getrübte Linse wird durch eine Kunstlinse ersetzt. So gewinnen sie ihr Augenlicht zurück. Adau Diing Maduol ist eine von 586 Erkrankten, die für eine Operation registriert werden. Darunter waren neun Kinder. Sie kann ihr Glück kaum fassen: «Ehrlich gesagt, hatte ich die Hoffnung verloren, je wieder sehen zu können, weil wir arm sind und kein Geld haben.»

Menschen, die an Augenkrankheiten leiden, werden vorgängig registriert. Auch diese Aufgabe
übernehmen Rotkreuz-Freiwillige.

 

56 Operationen pro Tag

Drei Augenärzte und medizinisches Assistenzpersonal reisen aus der 600 km entfernten Hauptstadt Juba ins temporär errichtete ­Augencamp. Zuerst überprüfen sie die Diagnose und die medizinische Verfassung von allen, die für eine Operation registriert sind. Während zwölf Tagen arbeiten sie im Regionalspital von Wau. Durchschnittlich operieren sie in zehn Stunden pro Tag 56 Patientinnen und Patienten. Die Freiwilligen des Südsudanesischen Roten Kreuzes kümmern sich um das Organisatorische: Sie helfen bei der Aufnahme der Erkrankten, zeigen ihnen, wo sie warten können und führen sie in den Operationssaal. Sie sorgen dafür, dass alle die Corona-Schmutzmassnahmen einhalten. Am Folgetag untersuchen die Augenärzte, wie gut die frisch Operierten sehen können. Sie sind zufrieden mit dem Ergebnis: Nur bei einem Prozent der Operierten gibt es keine Besserung. Vier Wochen nach der Operation erfolgt eine zweite Kontrolle. 

Der Bedarf an Augenmedizin ist sehr gross in Südsudan. Dies bezeugt die lange Warteliste von den Voruntersuchungen. Zudem kommen täglich spontan über 600 Menschen mit verschiedenen Augenkrankheiten unangemeldet zum Camp in Wau. Sie hoffen, operiert und geheilt zu werden. Die Rotkreuz-Freiwilligen müssen viele von ihnen zurückweisen. Doch einige haben Glück und bekommen einen frei gewordenen Platz. 

Adau Diing Maduol sieht nach der erfolgreichen Operation ihre jüngeren Kinder zum ersten Mal und ist überglücklich.

 

Nach der Operation reisen die Menschen mit einem Sammeltransport in ihre Dörfer zurück.

 

Grosser Erfolg

Das Augencamp fand 2019 zum ersten Mal in Südsudan statt. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die in der guten Zusammenarbeit von allen Beteiligten wurzelt: Dem Roten Kreuz, dem lokalen Gesundheitspersonal und der katholischen Diözese Wau, die verantwortlich ist für die Gesamtorganisation. Die Bevölkerung und die regionalen Behörden schätzen das Angebot sehr. Jürg Graf ist SRK-Programmverantwortlicher Südsudan. Er unterstreicht die Bedeutung der Augencamps: «Sie sind sehr wertvoll, weil sie eine grosse Wirkung erzielen. Mit einer einfachen Operation wird eine blinde Person sehend gemacht oder eine Seheinschränkung geheilt. Betroffene können wieder arbeiten und am sozialen Leben teilnehmen, was ein Mehrwert für die ganze Gesellschaft ist.» 

Quelle: Magazin Humanité Nr. 3/2021

www.redcross.ch/augenmedizin 
Erstveröffentlichung in: Humanité, Nr. 3/2021. 

Wir danken dem SRK und der Autorin sowie der Fotografin für die Abdruckgenehmigung.

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