«Es gibt keine Behörde, die so viel Macht hat, wie die KESB*»

KESB-Initiative zur Beschränkung der Behördenwillkür lanciert

Interview mit Nationalrat Pirmin Schwander

Nationalrat Pirmin Schwander, SVP (Bild thk)
Nationalrat Pirmin Schwander, SVP (Bild thk)

 

Seit 2013 gibt es die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, die mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und seit ihrem Bestehen erheblicher Kritik ausgesetzt ist. Nationalrat Primin Schwander beobachtet das Treiben dieser Behörde schon lange und hat aufgrund der Häufung gravierender Fälle eine Initiative lanciert, die die Arbeit der Behörde in vernünftige Bahnen lenken soll und willkürlicher Eingriffe in Familien ein Ende setzt. 

*KESB heisst Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde.

** Unterschriftenbögen zu finden unter: www.kesb-initiative.ch

 

Zeitgeschehen im Fokus Wieso braucht es diese Initiative?

Nationalrat Pirmin Schwander Diese Initiative ist aus verschiedenen Gründen dringend notwendig. Es ist der explizite Wille des Gesetzgebers, und das kam in der Rats­debatte 2008 zum Ausdruck, dass Familienmitglieder und nahestehende Verwandte grundsätzlich das Recht haben sollen, sich um Kinder oder urteils- oder handlungsunfähige Erwachsene in der Familie zu kümmern.

Wie ist das heute?

Es wird oft entschieden, dass stattdessen fremde Berufsbeistände eingesetzt werden, mit der Begründung, die nahestehenden Personen seien dazu nicht geeignet. 

Wer entscheidet denn, wer geeignet ist?

Hier sind wir mitten im Problem. Die KESB entscheidet nach Lehrbuch, persönlichem Gutdünken und willkürlich. Die KESB-Mitarbeitenden sind oft sehr weit weg von den Betroffenen, kennen sie kaum persönlich, kennen ihr Umfeld nicht, hören sich das Umfeld nicht oder nur selektiv an, wiederum nach eigenem Gutdünken.

In welche Richtung sollen die Veränderungen nun gehen? 

Wir sagen, von Gesetzes wegen haben Familienmitglieder, nahe Verwandte oder jemand, der schon lange mit der betreffenden Person im gleichen Haushalt lebt, Vorrang, um Beistand zu werden. Der Gesetzgeber hat dann den Auftrag, Ausnahmen zu bestimmen, wenn z.B. Familienmitglieder das Erbe wegnehmen wollen oder gar gewalttätig sind, dann dürfen und können sie natürlich nicht Beistand werden. 

Inwieweit ist das mit dem Erbrecht zu vergleichen?

Wenn ich kein Testament erstellt habe, dann gilt das gesetzlich festgelegte Erbrecht. Wenn jemand keinen Vorsorgeauftrag erstellt hat, sollen sich grundsätzlich die Familienmitglieder um Betroffene kümmern dürfen. Der Normalfall soll wieder normal werden. Man soll den Normalfall nicht auf dem Rechtsweg erstreiten müssen. Sogar wenn Sie einen Vorsorgeauftrag erstellt haben, bestimmt heute die KESB, ob die von Ihnen gewählte Person «geeignet» ist. Sie kann sich über Ihren Willen hinwegsetzen und gegen Ihren Willen einen fremden Berufsbeistand einsetzen.

Wenn z. B. ein Ehepartner stirbt, dann tritt die KESB ebenfalls in Erscheinung?

Theoretisch erhält der Ehegatte auch ohne Vorsorgeauftrag ein Vertretungsrecht, aber nur für ­alltägliche Handlungen. Alle nicht alltäglichen Rechtshandlungen muss der Partner mit Vertretungsrecht von der KESB bewilligen lassen. In der Praxis führt das zu gravierenden Problemen.

Somit übernimmt die KESB die Rechte des Urteilsunfähigen. 

Ja. Die Argumentation ist, dass die Familie mutmasslich Negatives wolle und somit der ­Urteilsunfähige vor der Familie geschützt werden müsse. Diese Argumentation hört man seit der Lancierung der Initiative immer wieder. Wer aber schützt den Bürger vor der Behördenwillkür?

Das klingt wie eine Beweisumkehr, was das Vorgehen der KESB anbetrifft.

Ja, heute muss man gegenüber der KESB beweisen, dass man fähig und willens ist, sich um die eigene Mutter zu kümmern, und dass man die nötige Zeit dafür aufwenden kann. Wer arbeitet, habe z.B. gemäss KESB keine Zeit, sich um Familienangehörige zu kümmern. Dann setzt sie einen Berufsbeistand ein, der gemäss Studie im Durchschnitt 72 Fälle gleichzeitig «betreut» und hält das für besser. Es ist absurd. Mit der Initiative muss die KESB die Unfähigkeit eines Familienmitglieds beweisen und nicht mehr umgekehrt.

War das damals im Gesetz so beabsichtigt?

Nein, ich war damals schon im Parlament, und ich habe die Auseinandersetzungen miterlebt. Der Gesetzgeber wollte immer, dass die KESB die Beweispflicht hat und nicht umgekehrt. Aber in der ­Praxis ist es genau entgegengesetzt. Man muss sich rechtfertigen, wenn man sich um die eigene Mutter kümmern will, und beweisen, dass man das kann. Und man muss z. B. einen Kurs in Vermögensverwaltung besuchen. Es wurden Familienmitglieder sogar dazu gezwungen, solch einen Kurs zu absolvieren, obwohl die Eltern gar kein Vermögen hatten. 

Wie reagieren die Befürworter der KESB auf die Initiative?

Sie argumentieren, die Kinder seien auch vor Kindsmissbrauch nicht mehr geschützt. Aber das ist völlig unsinnig. Das ist ein Straftatbestand und am Strafgesetz ändern wir rein gar nichts. Die Gefährdungsmeldung bleibt ebenfalls und genau für solche Fälle bestehen. Die KESB müsste, wenn sie zum Beispiel von Genitalverstümmelung erfahren, reagieren. Hier reagierte die KESB aber nicht, obwohl ich konkrete Beweise dafür habe.

Haben die Fälle zugenommen, in denen die Behördenwillkür sichtbar wird?

Seit 1981 befasse ich mich mit Vormundschaftsrecht sowie mit Kinder- und Erwachsenenschutzrecht. Ich kann den Vergleich ziehen, und es ist um ein Vielfaches schlimmer als mit dem alten Recht. Unter dem alten Recht hatte ich 2 bis maximal 5% der Fälle, die besonders schlecht verliefen. Heute sind es 15 bis 20%. Es hat also eine eklatante Zunahme gegeben. 

Inwiefern hat das Vorgehen der KESB Auswirkungen auf unsere traditionelle Familienstruktur? Werden hier nicht die Grundlagen ­einer Familie, insbesondere das Vertrauen, zerstört? 

Jedes Land ist darauf angewiesen, dass die Familienstrukturen funktionieren. Aber hier zerstört man Familienstrukturen. Kinder und Erwachsene werden regelmässig durch die KESB traumatisiert, was wiederum hohe Therapiekosten verursacht. Ich erlebe solche Fälle täglich. Ich bin ständig ehrenamtlich unterwegs. Hier werden Menschen durch den Staat traumatisiert, deren Heilung nachher der Steuerzahler tragen muss. Die betroffenen Menschen haben das Vertrauen in den Staat zu Recht verloren. 

Wo liegt denn grundsätzlich das Problem bei der KESB?

Die Personen, die bei den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden arbeiten, gehen nach dem Lehrbuch und nach persönlicher Ideologie vor. Sie sind oft nicht in der Lage, die Situation der betroffenen Menschen zu erfassen. Sie sind nicht vorbereitet darauf, dass jeder Fall anders ist und neu betrachtet werden muss. Es gibt kein Standardverfahren. Wenn jemand für kurze Zeit Unterstützung braucht, weil er eine Krise hat, was jedem einmal passieren kann, dann bestimmt die KESB, wann dieser Mensch wieder «geheilt» ist. Und so lange greift sie in das Familienleben ein. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Diejenigen, die Hilfe leisten wollen, müssen über eine grosse Lebenserfahrung verfügen, selbst Kinder haben und wissen, wie es beispielsweise ist, wenn man pubertierende Jugendliche zu Hause hat. Dann weiss man, wenn ein Jugendlicher einmal «ausflippt», ist das noch lange kein Fall für die KESB. 

Die Behörde hat eine grosse Macht, wenn sie alles selbst entscheiden kann.

Es gibt keine Behörde, die so viel Macht hat wie die KESB, weder die Regierung noch die Polizei, noch ein Staatsanwalt. Ein Staatsanwalt muss einen hinreichenden Verdacht darüber haben, dass ein Verbrechen stattgefunden hat, erst dann darf untersucht werden. Und der Staat muss die Beweise erbringen. Bei der KESB braucht es nicht einmal einen Verdacht. Die KESB kann jederzeit drohen mit Verfügungen, wie der Fremdplatzierung der Kinder. Und die KESB kann entsprechend verfügen, ohne Beweise erbringen zu müssen. Der Betroffene muss sich dann mit hohen Kosten und viel Zeit und Kraft auf dem Rechtsweg dagegen wehren. Deshalb ist es sehr wichtig: Die Familie muss gegenüber einer solchen Machtfülle geschützt werden. Die Behörde muss beweisen, dass jemand nicht fähig ist, sich um die Kinder oder die Eltern oder nahe Angehörige zu kümmern, und nicht mehr die Familie soll beweisen müssen, dass es ohne die KESB geht.

Was bedeutet das für die Kinder, wenn sie den Eltern entzogen werden können?

Ein Kind, das von den Eltern weggenommen wird, ist traumatisiert. Ich erlebe solche Kinder. Einzelne können später kaum in ein normales Arbeitsleben integriert werden. Mit diesem Problem muss der Staat dann fertig werden. Das hat der Staat verursacht, und ich bin sicher, wie bei den Verding­kindern wird man irgendwann Millionen für Wiedergutmachung bezahlen müssen. Aber mit Geld kann man Unrecht nicht wiedergutmachen. Deshalb hatte ich damals im Parlament den 300 Millionen nur unter dem Vorbehalt zugestimmt, dass so etwas nie mehr stattfinden darf. Jetzt muss ich feststellen, es findet tagtäglich statt. Für mich als Politiker, als Nationalrat, der sich mit dieser Sache intensiv befasst hat und ständig mit diesen Fällen konfrontiert ist, ist es unerträglich. 

Sie versuchen den Eltern beizustehen?

Täglich erreichen mich Hilferufe, unter anderem von Jugendlichen, die man den Familien weggenommen hat. Man hat sie in Heime gesteckt, in denen sie leiden und teilweise sogar missbraucht werden. Es wird ausgeblendet, dass es in Heimen Missstände und Missbrauch gibt. Mein Vater hat bei den Verdingkindern immer gewarnt. Einem Teil ging es zwar besser, denn sie hatten wieder etwas zu essen, aber es gab unzählige Problemfälle. Er hatte damals darauf aufmerksam gemacht. Aber er wurde nicht ernst genommen. Ich erlebe das heute auch wieder. Ärzte, Lehrer, die damals auf die Problematik aufmerksam gemacht hatten, wurden verunglimpft. Heute wiederholt sich die Geschichte. Die KESB-Initiative ist deshalb dringend notwendig.

Herr Nationalrat Schwander, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

 

«Die neue EU-Interventionstruppe steht auf dem Boden der alten Kolonialpolitik»

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestags und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestags und Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Die EU schreitet auf dem Weg der Militarisierung fort. Die Meldung der vorletzten Woche, dass sie eine neue Interventionstruppe ins Leben gerufen habe, bestätigt diesen Trend und hinterlässt ein mulmiges Gefühl. Gleichzeitig wehrt sich der Europäische Gerichtshof (EuGH), den europäischen Menschenrechtsgerichtshof anzuerkennen. Im folgenden Gespräch erklärt der deutsche Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko die jeweiligen Hintergründe.

Zeitgeschehen im Fokus Die EU hat sich entschlossen, eine militärische Einsatztruppe ins Leben zu rufen, was nicht nach grösseren Anstrengungen aussieht, in Zukunft Konflikte auf friedlichem Weg lösen zu wollen. Wie ist dieser Vorgang im internationalen Kontext zu bewerten?

Andrej Hunko Die neue Interventionstruppe, die jetzt auf Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gebildet werden soll, ist eine zusätzliche Kern-EU-Armee. Dazu passt, dass vor kurzem in der EU mit 25 Staaten «Pesco» gegründet wurde. «Pesco» steht für Permanent Structured Cooperation. Der Vertrag von Lissabon liefert die Grundlage dafür. Auf der einen Seite beinhaltet dies eine stärkere militärische Vernetzung der EU-Staaten und auf der anderen Seite sollen die Staaten zu einer verstärkten Aufrüstung bewogen werden.

Wie ist das konkret im Vertrag von Lissabon festgehalten?

Es steht explizit im Vertrag, dass jeder Staat real aufrüsten muss. Zusätzlich wird jetzt nochmals eine kleinere EU-Struktur gebildet, in Form einer direkten Interven­tionstruppe. Das ist eine reine ­Offensivstruktur und hat nichts mehr mit Verteidigung zu tun, das ist eine klare Angriffsformation.

Wieviele Staaten bilden diese Angriffstruppe?

Es sind neun Staaten, unter anderem Frankreich, Deutschland, aber auch Grossbritannien, obwohl es aus der EU ausscheidet. Es gehören aber auch einige kleinere Staaten wie die Niederlande, Portugal oder Estland etc. dazu.

Wie muss man das nun bewerten?

Zunächst ist es eine weitere Militarisierung der EU. Die Initiative ging von Emmanuel Macron aus, obwohl ganz offensichtlich ist, dass in vielen Bereichen die europäische Kooperation nicht gut funktioniert. 

Woran denken Sie dabei?

Es gab die Initiative von Macron zur Finanzreform, die nicht auf Zustimmung gestossen ist. Wir haben nach wie vor die Euro-Krise. Es gibt den Streit um die Flüchtlingspolitik. All das funktioniert nicht. Aber offensichtlich gelingt es im militärischen Bereich. Merkel wollte den militärischen Bereich eher in den weiteren EU-Strukturen behalten, Marcon wollte mit seiner Initiative erreichen, auch ausserhalb der EU-Strukturen militärisch aktiv sein zu können, in Kooperation mit anderen Staaten. Das ist der Punkt, den Merkel Macron zugestanden und sich ihm angeschlossen hat.

Wie ist Ihre Haltung dazu?

Wir finden das völlig falsch. Es ist eine weitere Militarisierung. Wir werden das mit Anfragen begleiten und bereiten im Moment eine Kleine Anfrage vor, weil wir natürlich genau wissen wollen, was da jetzt konkret geplant ist und gegen wen sich das richten soll usw. Aber das Ganze ist sehr besorgniserregend. Wir erleben seit dem Brexit-Prozess eine verstärkte Militarisierung der EU. Das ist ein weiterer Schritt. 

Aus welcher Notwendigkeit heraus macht die EU diesen Schritt?

Begründet wird das damit, dass die EU-Strukturen zu schwerfällig seien. Im Vertrag von Lissabon gibt es die Möglichkeit der Militarisierung, die darin explizit festgeschrieben ist. Das war auch immer einer unserer Kritikpunkte. Begründet wird es offiziell, dass in der grossen EU alles zu schwerfällig sei und dass man deshalb eine Kerntruppe bilden solle.

Da es sich um eine Angriffstruppe handelt, wo soll die denn zum Einsatz kommen?

Ich denke, es geht hauptsächlich gegen Afrika. Da steht die französische Politik eigentlich in der Tradition der alten Kolonialpolitik. Es geht wohl auch um den Nahen Osten. 

Auch gegen Russland?

Ich glaube, dass das eher über die Nato-Strukturen geschieht, über die grossen Manöver, die im Moment laufen. Das sieht man an der Aushebelung der Russland-Akte, die ein Verbot der Stationierung von Nato-Truppen im ehemaligen Gebiet des Warschauer Pakts beinhaltet. Das wird im Moment de facto ausgehebelt. Ich habe bisher keine direkten Hinweise, dass es bei dieser Truppe primär um Russland geht, sondern um Afrika und den Nahen Osten.

Also um die Sicherung der Bodenschätze in diesen Ländern?

Ja, im Grunde genommen steht das Ganze auf dem Boden der alten Kolonialpolitik. 

Um nochmals auf den Vertrag von Lissabon zu sprechen zu kommen, es hat immer geheissen, mit diesem Vertrag könne durch die Hintertür die Todesstrafe wieder eingeführt werden. Können Sie das so bestätigen?

Das ist ein komplizierter Fall, was die Todesstrafe und den Vertrag von Lissabon anbetrifft. Das ist nicht direkt im Vertrag von Lissabon festgehalten, sondern in einer Fussnote, die auf nationale Verfassungen verweist. Ich selbst bin sehr kritisch gegenüber diesem Vertrag und habe damals die Iren beim Referendum unterstützt. Aber der Aspekt mit der Todesstrafe hat sich mir nie so ganz erschlossen. Aber wenn die EU endlich der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beitreten würde, wäre diese Frage endgültig vom Tisch, denn die lässt sich mit der EMRK nicht vereinbaren. Das ist eines der positiven Elemente des Vertrags von Lissabon, der den Beitritt verlangt. Wörtlich heisst es da: «Die Europäische Union tritt der Europäischen Menschenrechtskonvention bei.»

Warum ist das bisher nicht geschehen?

Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg blockiert das, und das ist skandalös. Der Grund ist, dass man sich von Strassburg nicht ins «Handwerk pfuschen» lassen will. Auf 150 Seiten wird das juristisch begründet.

Was sind die Hauptargumente? 

Es wird sehr kompliziert und mit institutionellen ­Problemen begründet. Ich habe vor wenigen Tagen mit der stellvertretenden Präsidentin des Menschenrechtsgerichtshofs gesprochen, aber auch mit verschiedenen anderen Personen, und dieser Zustand stösst auf sehr viel Unverständnis, denn es ist juristisch logisch nicht nachvollziehbar. 

Wer aus der EU unterstützt denn den Beitritt?

Das EU-Parlament, die EU-Kommission, selbst der Europäische Rat sind dafür. Dass der EuGH das blockiert, kennen wir aus den USA. Der Supreme Court akzeptiert keinerlei Einfluss in Menschenrechtsfragen von anderen Gerichten. Das ist eine imperiale Logik nach dem Motto, nur der Himmel steht über uns. 

Inwieweit hat die Weigerung, den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anzuerkennen, politische Bedeutung?

Das hat etwas mit Kompetenzen von Gerichtshöfen zu tun. Das ist immer ein Streit, so auch zwischen Bundesverfassungsgericht und dem Menschenrechtsgerichtshof hier in Strassburg. 

Gibt es hier solch grosse Unterschiede in der Auslegung des Rechts?

Erst kürzlich gab es ein Urteil zum Beamtenstreikrecht. Das Bundesverfassungsgericht lehnt dieses ab. In der Argumentation wird die Kompetenz des Menschenrechtsgerichtshofs erst einmal eingeschränkt. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) überlegt, ob sie nach Strassburg gehen soll, weil in der Menschenrechtskonvention das Streikrecht verankert ist. Die Rechtssprechung ist dahingehend, dass bis auf staatliche Kernfunktionen, die zur Aufrechterhaltung dringend notwendig sind, das Streikrecht auch gewährt werden sollte. In Deutschland sieht man das anders. Das ist immer eine Frage der Kompetenz. Es geht aber wohl noch um mehr. 

Worum geht es denn noch?

Der Menschenrechtsgerichtshof besteht aus 47 Staaten, da ist auch Russland mit dabei. Es wird vom EuGH nicht gerne gesehen, dass irgendeine Instanz, der auch Russland angehört, in irgendeiner Form Einfluss haben kann. Und ich vermute, dass das auch noch eine Rolle gespielt haben wird. In der Anhörung im Bundestag wurde das auch so gesagt.

Welchen Weg sehen Sie, damit die EU den Beitritt endlich umsetzt?

Es ist keine Kann- oder Soll-Bestimmung im Vertrag von Lissabon. Es ist eine feste Aussage und somit Primärrecht, die verlangt, dass die EU der Menschenrechtskonvention beitritt und somit den Strassburger Gerichtshof anerkennt. Es gibt ganz viele Vorschläge, wie das umzusetzen ist. Es gibt Fachleute, die sich damit beschäftigen. Was fehlt, ist der politische Wille. Das Thema muss beim Rat auf die Tagesordnung, dann könnte der Beitritt umgesetzt werden, aber es greift niemand die Sache auf. 

Welche Relevanz hätte der Beitritt?

Der Gerichtshof deckt 850 Millionen Bürger ab. Wenn in einem Staat etwas passiert, habe ich das Individualklagerecht beim Strassburger Gerichtshof. Wenn mir aber etwas in EU-Institutionen geschieht, etwa Europol, Frontex oder EZB, und meine Rechte verletzt werden, kann ich nicht klagen. Ich kann nicht gegen die EU klagen, denn sie ist nicht diesem System unterworfen. Das hat dann konkret eine praktische Relevanz, wenn 850 Millionen Menschen ihre Rechte, sollten sie verletzt werden, gegenüber der EU wahrnehmen können. Das scheint mir ausserordentlich wichtig.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, herzlichen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser, Strassburg

Wahlen in der Türkei: «Ein riesiger Erfolg für die Opposition»

Interview mit Bundesrat Stefan Schennach, Österreich, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Bundesrat Stefan Schennach (Bild thk)
Bundesrat Stefan Schennach (Bild thk)

Interview mit Bundesrat Stefan Schennach, Österreich, Delegierter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Am 24. Juni liess sich Recep Tayyip Erdoğan als souveräner Sieger der türkischen Präsidentschaftswahlen feiern. Der österreichische Bundesrat Stefan Schennach weilte als Wahlbeobachter in der Türkei und gibt in folgendem Gespräch seine Einschätzung über die Umstände dieser Wahl. Auch zeigt er auf, welche Chancen die Opposition gehabt hat, diese Wahlen zu gewinnen, und wie das Wahlresultat zu interpretieren ist. 

Zeitgeschehen im Fokus Herr Bundesrat Schennach, Sie waren als Wahlbeobachter in der Türkei bei den Wahlen am 24. Juni. Wie beurteilen Sie die Wahlen, und ist Erdoğan tatsächlich der überragende Sieger?

Stefan Schennach Zu allererst ist das ein riesiger Erfolg für die Opposition. Das sollte man jetzt nicht durch zu viel anderes Getöse kleinreden. In einer angespannten gesellschaftlichen Situation, unter dem immer noch verhängten Ausnahmezustand und unter den Umständen, dass 90 % aller Medien in den Händen des Regierungschefs sind, ist dieses Ergebnis sensationell. Dass Erdoğan unter diesen Umständen 52 % der Stimmen bekommen hat, und das noch mit Hängen und Würgen, ist wenig überzeugend. Nach alternativer Berechnung, die die BBC veröffentlicht hat, wären es nur 43 %, wenn man alles in Betracht zieht. 

Wie war die Lage vor Ort?

Als ich in Ankara angekommen bin, habe ich gedacht, George Orwells Fantasie ist Realität geworden. An jedem Lichtmast auf jeder Strassenseite und das über Kilometer prangt Erdoğan. Alle Häuser sind mit gigantischen Plakaten versehen. So etwas habe ich in meiner Zeit als Wahlbeobachter noch gar nie gesehen. 

Waren Sie nur in Ankara?

Nein, und als ich nach Istanbul kam, wusste ich nach den Eindrücken von Ankara – und ich dachte, Ankara ist wirklich schlimm – was schlimm ist. Überall Erdoğan, selbst über Lautsprecher, er war omnipräsent. 

Wie war er in den Medien präsent?

Wir haben im Moment die Fussballweltmeisterschaft. In meinem Hotelzimmer habe ich dann hin und wieder in den Fernseher geschaut und dabei einen Mechanismus erlebt: Vor jedem Match – und wir hatten zu dieser Zeit täglich drei – ein sieben Minuten langer Spielfilm über Erdoğan. In jeder Pause das gleiche. Hier wurde er jeweils als Phönix aus der Asche dargestellt, was sowohl eine Reinkarnation des alten Türkentums als auch Atatürks darstellte. Nach dem Match zeigte das türkische Fernsehen noch einmal einen Film über Erdoğan von sieben Minuten Länge. 

Also Erdoğan war in den Filmen immer die Hauptfigur?

Ja, und zwar vor jedem Spiel, in der Pause und am Ende. Also neunmal am Tag. Nach dem letzten Spiel gab es ein Diskussionsformat im Sender Nr. 1, in der Schweiz wäre das das SRF. Dort sass Erdoğan mit zwei Journalisten. 

Also eine Diskussionsrunde

… nein, Erdoğan erklärt 15 Minuten, wobei er nicht unterbrochen wird. Nach dieser Erklärung folgt einer dieser Spielfilme. Nach dem Spielfilm erklärt er den Film. Dann wird der nächste Film abgespielt, den Erdoğan dann wieder erklärt. Das geht ungefähr eine Stunde. Dann gibt es einen Wechsel. Erdoğan steht, die Journalisten auch, und Erdoğan liest all seine Wahlziele vor. Obwohl Journalisten anwesend sind, bestreitet das ganze Erdoğan. Nach 2 Stunden hat es mir gereicht.

Wer finanziert das?

Das ist der nächste Punkt. Das ist ein Missbrauch staatlicher Ressourcen. Das Ganze kann man gar nicht ohne finanzielle Unterstützung bewältigen. 

Hatten die Kandidaten der Opposition auch so viel finanzielle Unterstützung?

Ich würde sagen, das Budget lag bei 1:50 oder gar 1:70. Erdoğan kann natürlich sagen, Unternehmer haben mir etwas geschenkt. Dann stellt sich aber die Frage, was er dafür den Unternehmern schenkt. Wir haben bereits von grossen Touristik-Projekten gehört.

Konnten die Bürger bis auf die massive Propaganda ungehindert wählen? 

Ungefähr 250 000 Menschen wurde das Wahlrecht genommen, da sie inhaftiert sind. Dazu wurde ziemlicher Druck auf Minderheiten ausgeübt, für die Zukunft richtig zu wählen. So ist auch erklärbar, warum in kurdischen Provinzen eine absolute Mehrheit für ihn zustande gekommen ist. Dazu kommt noch, dass einer der Gegenkandidaten im Gefängnis sitzt.

Wie ist Ihre Einschätzung für den Wahltag?

Für ein Land wie die Türkei und unter den gegebenen Umständen war es mehr oder weniger in Ordnung. Die hohe Polizeipräsenz war etwas irritierend. Die war auch mit moderner elektronischer Kommunikation ausgerüstet. Dort, wo man uns als Wahlbeobachter erwartet hatte, funktionierte es reibungslos. Wenn sie uns nicht erwartet hatten, gab es Stress.

Hatten Sie mit der Bevölkerung Kontakt, und was sagen die Menschen?

Ja, wir hatten Kontakt mit der Bevölkerung. Was offensichtlich wurde, ist, wie stark das Land verpolitisiert und wie sehr es polarisiert ist. Aber die Menschen wollten wählen. Die Wahlbeteiligung lag bei 88 %. Wenn wir die noch hinzuzählen, die nicht wählen durften, und diejenigen, deren Wahllokale verschwunden sind – das gab es in kurdischen Gebieten – dann wollten wahrscheinlich 90 % der Menschen wählen. 

Wie muss man sich diese hohe Wahlbeteiligung erklären?

Die einen wollen dieses Regime absolut nicht, und die anderen haben alles getan, um an der Macht zu bleiben. Es zeigt natürlich auch, wie entzweit das Land ist. Die Menschen spüren, dass die Lira verfällt. Der Wechselkurs zum Euro war 1:2, heute ist er fast 1:6. Am Ende des Jahres wird es wahrscheinlich noch schlechter aussehen. Die Menschen werden dann sicher auch unzufriedener sein. 

Wie setzt sich jetzt das Parlament zusammen?

Fünf Parteien haben den Sprung ins Parlament geschafft. Etwas erstaunlich ist, dass sich eine nationalistische Partei gespalten hat und jetzt zwei gleich grosse Blöcke bildet. Das verwundert etwas, denn wo kommen auf einmal all die Nationalisten her. Wie ist das möglich? Das sind berechtigte Fragen, die man sich stellen muss. Es gibt natürlich noch Einflussmöglichkeiten, die wir nicht kennen. Was im Mittelland passiert ist, wo die Mehrheit begründet wurde und wo wir als Wahlbeobachter nicht waren, denn wir waren nur in den städtischen Zentren, das müsste man genau anschauen. 

Wie beurteilen Sie das Abschneiden der kurdischen Partei HDP?

Das Ergebnis ist sehr beachtlich, dass sie trotz einer Führung, die verfolgt und zum Teil eingesperrt ist, sogar mit 11,7 % einen Zugewinn hatte. Das verlangt grosse Achtung. Bemerkenswert ist auch das Abschneiden der Sozialdemokratie, denn das Ergebnis, das der neue Parteichef errungen hat, muss man erst einmal erreichen. Er hat an zwei Wahlveranstaltungen Millionen von Zuhörern gehabt. Wir müssen, ausser in der Schweiz, in Europa darüber nachdenken, was unsere Bürger, mit türkischem Wahlrecht, hier gewählt haben. Sie leben bei uns in einer Demokratie und wählen in ihrer Heimat reaktionär diktatorisch. Schweiz und USA haben ein anderes Ergebnis. Dazu kommt noch, dass unsere Regierung mit Schliessungen von Moscheen den Wahlkampf Erdoğans unterstützt hat.

Herr Bundesrat Schennach, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

 

Die Ergebnisse des Weltagrarberichtes endlich umsetzen

Kleinbäuerliche Strukturen sind Hoffnungsträger einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Lebensmittelversorgung

von Susanne Lienhard

Kleinbäuerliche Strukturen sind Hoffnungsträger einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Lebensmittelversorgung

von Susanne Lienhard

Am 2. Juli hat in Genf eine weitere Verhandlungsrunde für ein Freihandelsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Efta, u. a. der Schweiz, und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay begonnen: Fleischimporte gegen Industriegüterexporte, so der beabsichtigte Handel. Bevor jedoch ein weiteres Freihandelsabkommen unterzeichnet wird, das die bäuerliche Landwirtschaft hier und dort massiv unter Druck setzt und die regionale Selbstversorgung mit gesunden Produkten gefährdet, gilt es, sich des vor 10 Jahren publizierten Weltagrarberichtes zu erinnern und dessen Ergebnisse endlich umzusetzen. 

 

Obwohl die Menschheit mehr Lebensmittel pro Kopf produziert denn je, leiden nach FAO-Schätzungen 815 Millionen der 7 Milliarden Menschen auf dieser Erde an Hunger. Vor diesem Hintergrund initiierten die Weltbank und die Vereinten Nationen 2003 einen bisher einmaligen internationalen wissenschaftlichen Prozess, der als Weltagrarbericht bekannt wurde. Über 400 Expertinnen und Experten aller Kontinente und Fachrichtungen arbeiteten vier Jahre lang daran, die folgende Frage zu beantworten: «Wie können wir durch die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von landwirtschaftlichem Wissen, Forschung und Technologie Hunger und Armut verringern, ländliche Existenzen verbessern und gerechte, ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung fördern?» 

Kleinbäuerliche Produktion effektiver als Agrobusiness

Am 15. April 2008 verkündete der Weltagrarrat die Ergebnisse seiner weltweiten Bestandsaufnahme. Er stellte unter anderem folgendes fest: «Regionale Selbstversorgung mit Lebensmitteln ist, wo immer möglich, das unverzichtbare Rückgrat nachhaltiger ländlicher Entwicklung. […] Kleinbäuerliche, arbeitsintensivere und auf Vielfalt ausgerichtete Strukturen sind die Garanten und Hoffnungsträger einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Lebensmittelversorgung durch hinlänglich widerstandsfähige Anbau- und Verteilsysteme. […] Er hält Investitionen in die kleinbäuerliche Produktion für das dringendste, sicherste und vielversprechendste Mittel, um Hunger und Fehlernährung zu bekämpfen und zugleich die ökologischen Auswirkungen der Landwirtschaft zu minimieren: Verbesserte Anbaumethoden, […] geeigneteres Saatgut und eine Vielzahl agrarökologischer Strategien bergen ein gewaltiges Produktivitäts- und Nachhaltigkeitspotenzial. Sie stellen dabei am ehesten sicher, dass zusätzlich produzierte Lebensmittel tatsächlich dort zur Verfügung stehen, wo sie gebraucht werden. Wo Kleinbauern genügend Land, Wasser, Geld und Handwerkszeug haben, produzieren sie einen deutlich höheren Nährwert pro Hektar als industrielle Landwirtschaft, in der Regel mit erheblich niedrigerem externen Input und geringeren Umweltschäden. Sie können sich besser und flexibler den Erfordernissen und Veränderungen ihrer Standorte anpassen.»¹

Bäuerliche Landwirtschaft wider besseres Wissen der Liberalisierung opfern? 

Trotz dieser Erkenntnisse treibt Bundesrat Schneider-Amman die Liberalisierung des Agrar- und Lebensmittelmarktes weiter voran. Nach der Liberalisierung des Schweizer Käse- und Milchmarktes soll nun auch der Fleischmarkt für Importe aus den Mercosur-Staaten geöffnet werden. Schweizer Milchbauern, die auf Rindermast umgestiegen sind, weil sie vom Milchverkauf nicht mehr leben konnten, droht nun dasselbe Szenario beim Fleisch. Über 10 000 Schweizer Landwirtschaftsbetriebe mussten in den letzten zehn Jahren aufgeben, täglich drei Betriebe. Jeder Landwirt, der aufgeben muss, ist einer zu viel. Der bewusst herbeigeführte «Strukturwandel» zerstört Existenzen, führt zu einer Machtkonzentration in den Händen weniger und zu einer zunehmenden Abhängigkeit der Schweiz von Lebensmittelimporten. 

Ein Perspektivwechsel: Armut, Ausbeutung und ökologischer Raubbau 

Ein Blick nach Lateinamerika zeigt, dass auch dort die kleinbäuerlichen Betriebe anstatt gestärkt, dem grenzenlosen Freihandel geopfert werden. Profitorientierte Agromultis wie Cargill, Monsanto, Syngenta und andere, die den globalen Lebensmittelmarkt beherrschen, kaufen Tausende von Hektaren Land, vertreiben die ansässigen Bauern oder stellen sie unter menschenunwürdigen Bedingungen als Billiglohnarbeiter an. Um die Produktion zu steigern, werden Düngemittel, Pestizide, gentechnisch veränderte Futtermittel und Wachstumshormone eingesetzt, was hierzulande absolut unzulässig wäre. Die beiden Beiträge «Territorialer Vertreibungskrieg und Landgrabbing» und «Freihandel für die einen, Armut für die anderen» geben Einblick in das Ausmass des Vertreibungskrieges und die ökologisch und sozial absolut unzulässigen Produktionsbedingungen der Agromultis, die in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay auf Kosten der landlosen Kleinbauern ihr Big Agro-Business betreiben. 

Die Vertragspartner in Genf sind gut beraten, den Weltagrarbericht ernst zu nehmen und ihm Nachdruck zu verleihen, indem sie hier und dort die kleinbäuerlichen Strukturen und damit die lokale Ernährungssouveränität stärken. 

¹ Wege aus der Hungerkrise. Die Erkenntnisse und Folgen des Weltagrarberichts: Vorschläge für eine Landwirtschaft von morgen, Berlin 2013, S. 22 ff.

 

Territorialer Vertreibungskrieg und Landgrabbing

Grosse Kapitalfonds, mächtige Stiftungen und Personen finden im Kauf von Land ein Refugium vor sinkenden Zinsen und abnehmenden Gewinnen

von Polette Rivero Villaverde

Grosse Kapitalfonds, mächtige Stiftungen und Personen finden im Kauf von Land ein Refugium vor sinkenden Zinsen und abnehmenden Gewinnen

von Polette Rivero Villaverde*

Die Konflikte um Land und Territorien gehören zu den ältesten Konflikten der Menschheit. Gleichzeitig haben sie sich der- art gewandelt, dass wir die dominierenden Formen und Methoden der Vertreibung wie auch die Kontrahenten, die diese Kämpfe in jeder historischen Phase anführen, identifizieren können.

 

Im 21. Jahrhundert erleben wir einen neuen Krieg um Territorium und Land. Dies wurde mit der Krise 2007–2008 deutlich sichtbar, als durch einige Medien und unabhängige Organisationen massive Klagen lateinamerikanischer und afrikanischer Gemeinschaften publik wurden, dass Regierungen und private Unternehmen Vertreibungen durchführen, um ihre Territorien zu besetzen. Dieses «Fieber nach Land» wird als Landübernahme oder Landgrabbing im Englischen bezeichnet.

Schnell wurde klar, dass die neuen Landvertreibungen komplexer sind als jene in anderen historischen Phasen. Zum Teil weil die aktivsten Subjekte bei den Landkäufen grosse transnationale Unternehmen sind, die wie nie zuvor ihre Macht gefestigt haben und sie werden von ihren Regierungen, ihrem militärischen und ökonomischen Arm, und von internationalen Institutionen wie Weltbank, Internationalem Währungsfonds etc. unterstützt.

Zudem sehen wir, dass Akteure Tausende von Hektaren Land erwerben, die traditionell gar nichts mit dem Primärsektor zu tun haben. Grosse Kapitalfonds von Banken wie Goldmann Sachs, mächtige Personen wie George Soros, ehemalige Staatsbeamte, Stiftungen wie die der Universität Harvard, Pensionsfonds von Angestellten aus Ländern wie den USA und Kanada fanden im Kauf von Land ein Refugium vor sinkenden Zinsen und dem Fall ihrer Gewinnmargen, die durch die Krise verursacht wurden, der wiederum angesichts der hohen Preise der Nahrungsmittel, des Erdöls und der strategischen Mineralien hohe Gewinne aus Spekulationsgeschäften generierte.

Während sich die Hungerprobleme eines grossen Teils der Weltbevölkerung verschärften, verzeichneten Konzerne wie Cargill, Bunge, Monsanto, Syngenta und andere, die den globalen Nahrungsmittelmarkt beherrschen, Rekordgewinne von bis zu 400 Prozent und mehr. Indessen investieren Erdölländer ohne ausreichende landwirtschaftliche Nutzflächen wie unter anderem die Arabischen Emirate und Katar sowie Länder mit einer wachsenden Mittelschicht wie China und Indien grosse Summen in Ländereien im Ausland.

Dimension des Landgrabbings

Es ist nicht leicht, das Ausmass der Landtransaktionen zu messen. Generell beziehen sich diejenigen, die an einer systematischen Erfassung interessiert sind, auf entsprechende Zeitungsartikel, was teilweise unvollständig, zerstreut und manchmal ungenau ist. In Ländern wie Brasilien gibt es offizielle Daten über den Verkauf von Ländereien an ausländische Akteure, aber in anderen Ländern wie Mexiko werden die Privatisierung und der Ausverkauf von Land an Ausländer juristisch nicht erfasst. Dennoch zeigen wir im folgenden einige Zahlen auf, um die Dimension des Problems zu veranschaulichen. 

Die Land Matrix¹, eine seit dem Jahr 2000 bestehende Beobachtungsstelle für Landverkäufe (vgl. Kasten), berichtete Anfang August 2017, dass weltweit 1 345 Verträge abgeschlossen und über 49 Millionen Hektaren zum Zwecke der Landwirtschaft, grüner Programme, Bergbau, Strassenbau und Tourismus etc. übereignet worden sind. Das Landgrabbing hat eine globale Dimension und ist auf allen fünf Kontinenten zu finden, aber es ist ein Prozess, der vorwiegend an der Peripherie stattfindet.

Laut der Organisation Grain² erstreckte sich das Landgrabbing in Lateinamerika zwischen 2006 und 2015 auf 3 927 450 Hektaren für Nutzpflanzen durch 59 Aufkäufe. Es handelt sich hierbei ausschliess­lich um ausländische Investitionen, bei denen Brasilien die Liste mit 2 727 502 Millionen Hektaren anführt, gefolgt von Argentinien (513 116), Paraguay (208 549), Kolumbien (154 660), Uruguay (144 178), Peru (80 149), Venezuela (60 000), Bolivien (57 845), Jamaica (30 000) und Belize mit 1 600 Hektaren.

Die Herkunftsländer der ausländischen Investitionen sind sehr unterschiedlich: USA, China, Singapur, Japan, Südkorea, Saudi-Arabien, Indien, Dänemark, Luxemburg, Niederlande, Frankreich, Deutschland, Grossbritannien, Kanada, Italien, Portugal und andere. Aber es ist auch ein Landgrabbing innerhalb der Region zu verzeichnen, bei dem brasilianisches und argentinisches Kapital an der Spitze steht. Brasilien ist überdies eines der Länder, das zusammen mit Japan Land in Afrika aufkauft.

Diese Zahlen geben uns zwar bereits eine Vorstellung von der Dimension des Problems, aber Hunderte weiterer Fälle sind nicht registriert und öffentlich bekannt. Wenn man zu den aufgekauften Ländereien für Nutzpflanzen noch solche Flächen hinzuzählt, die für Mega-Bergbauprojekte, Strassen, Städtebau, Tourismus, Energieprojekte (wie Fracking und Staudämme), Agrotreibstoff und andere Zwecke bestimmt sind, erhöhen sich die Zahlen beträchtlich.

Beispielsweise finden in Mexiko die meisten Landvertreibungen für touristische Entwicklung und Tagebergbau statt: laut Eckart Boege wurden zwischen 2 000 und 2012 auf indigenen Territorien für etwa 2 173 141 Hektaren Bergbau-Konzessionen vergeben. Ein anderes Beispiel ist Brasilien, wo allein durch zwölf ausländische Landkäufe, die von «Land Matrix» registriert wurden, in den vergangenen Jahren 698 344 Hektaren für Bergbau-, erneuerbare Energie- und Naturschutz-Projekte übernommen wurden.

Die daraus folgenden Herausforderungen

Seit 2014 sind die Lebensmittel- und Energiepreise gesunken, was die ausländischen Investitionen in Land für diese Zwecke gebremst hat, jedoch gehen die Landvertreibungen weiter. Wir müssen uns fragen, warum und wozu.

Erstens muss man sagen, es ist wahrscheinlich, dass die Akkumulation durch Vertreibung, die diese historische Phase charakterisiert, länger andauern wird. Die Krise von 2007 war für die Grosskapitaleigner des Finanzmarkts ein Alarmsignal, dass diese Art von Reichtum in hohem Mass verletzlich ist. Als Antwort haben sie neue Mechanismen geschaffen, um die Natur weiter zur Handelsware zu machen, angefangen bei der Luft über sogenannte Umweltdienstleistungen bis hin zum Saatgut.

Dies bedeutet, dass die Staaten, die im innerkapitalistischen Wettbewerbskrieg stehen, ebenso wie ihre Unternehmen und die internationalen Organisationen eine starke Kampagne durchführen, um die Landvertreibungen zu institutionalisieren. Seit zehn Jahren haben sich die Weltbank und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen beeilt, eine Reihe «Verantwortungsprinzipien» für die Investoren festzulegen, während sie selbst die Landverkäufe fördern und damit die Illegitimität und die Gewalt dieser Prozesse unsichtbar machen und ein «positives» Bild der Vertreibungen schaffen. Man muss wachsam sein gegenüber neuen Diskursen, die versuchen, diese Barbarei ideologisch zu legitimieren.

Andere Risiken sind die neuen Mega-Handelsabkommen, die sich über die Erde ausbreiten, wie die 2016 unterzeichnete Transpazifische Partnerschaft (TPP) (vgl. Kasten), die wir noch nicht als gestorben ansehen können. Mit diesen neuen Mechanismen werden sehr ungleiche Bedingungen zwischen den Ländern der Zentren und der Peripherie geschaffen, es werden grössere Privilegien und rechtliche, ökonomische sowie bewaffnete Sicherheiten für die ausländischen Investitionen garantiert. Wovor werden sie geschützt? Vor den Völkern, ihrer Organisierung und ihrem Widerstand. Diese neue internationale koloniale Institutionalität muss ein vorrangiges Thema für soziale Bewegungen, Akademiker und Parteien der Linken sein.

Kampf um das «Blaue Gold»

Unter den neuen Projekten territorialer Vertreibung nehmen jene einen zentralen Platz ein, bei denen es um Wasser geht. Nach dem Stil von Hubert Humphrey, Senator des US-Kongresses in den 1970er Jahren, der in zynischem Ton sagte, er habe gehört, dass die Leute abhängig werden könnten von ihrem Land, um sich zu ernähren, weshalb die Ernährungsabhängigkeit von anderen Ländern grossartig wäre, argumentieren heute einige der grössten Investoren genauso in Bezug auf das Wasser. Seit ein paar Jahren investieren Goldman Sachs, JP Morgan Chase, Citigroup, Deutsche Bank, Credit Suisse, HSBC und andere Banken in das Landgrabbing von Flächen, wo sich die Wasserreserven befinden. Laut der Organisation «Friends of the Earth»³ erlebte Kolumbien im Jahr 2015 mehr als 72 Konflikte wegen der Privatisierung des Wassers, Brasilien 58, Ecuador 48, Argentinien 32, Peru 31 und Chile 30.

Schliesslich ist es notwendig, dass in einer Übergangsphase, in der der Kapitalismus weiterhin das dominante Modell der Akkumulation bestimmt, einerseits die be- rechtigten Fragen gestellt werden, was die Machteliten tun, und andererseits Aktionen unternommen werden, um eine breitere so- ziale Bewegung zur Verteidigung von Territorium und Leben zu organisieren. Den Kriegen des Kapitalismus muss ein Ende bereitet werden. 

Land Matrix

«Land Matrix sammelt Informationen über das Geschäft mit Land weltweit. Jeder kann Fälle melden. Was die Betreiber verifizieren können, stellen sie online. So wächst die Datenbasis stetig an. Hinter der Matrix stecken grosse Organisationen der Entwicklungspolitik und -forschung, unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und die International Land Coalition, an der multilaterale Institutionen wie die Weltbank und die Vereinten Nationen ebenso beteiligt sind wie Nichtregierungsorganisationen».

Zeit online, 27.April 2012 www.zeit.de/wirtschaft/2012-04/land-matrix

TPP

Die Transpazifische Partnerschaft ist ein geplantes Freihandelsabkommen zwischen Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur, Vietnam und ursprünglich den USA, die aber unter Präsident Donald Trump wieder ausgestiegen sind.

 

* Polette Rivero Villaverde aus Mexiko ist Doktorandin und Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe zu transnationalen Unternehmen am Institut für Wirtschaftsforschung an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko.

 

¹ www.landmatrix.org/en/

² de.wikipedia.org/wiki/GRAIN

³ www.foei.org/

 

Quelle: 

Correos de las Américas, Nr. 189/17

Freihandel für die einen, Armut für die anderen

von Judith Reusser

Schweiz – Mercosur

Freihandel für die einen, Armut für die anderen

von Judith Reusser*

SWISSAID fordert verbindliche Nachhaltigkeitskriterien für das Freihandelsabkommen der Schweiz mit dem südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur. Denn mit der Teilnahme einer Schweizer Delegation am Weltsozialforum in Brasilien wird deutlich, dass das internationale Agrobusiness die soziale Ungerechtigkeit im Süden verstärkt und drastische Auswirkungen auf Umwelt und Klima hat.

Diese Bäuerin aus Ecuador präsentiert ihre Ernte, hervorgegangen aus agroökologischem Anbau. Im Hintergrund ist ihre diversifizierte Produktion auszumachen. (Bild Swissaid)

Diese Bäuerin aus Ecuador präsentiert ihre Ernte, hervorgegangen aus agroökologischem Anbau. Im Hintergrund ist ihre diversifizierte Produktion auszumachen. (Bild Swissaid)

 

 

«Als Bäuerin mit nur einer halben Hektare Land konnte ich früher nicht vom Verkauf meiner Produkte leben, geschweige denn meine Kinder ernähren», sagt Maria da Purificação Oliveira Chagas zu den Schweizerinnen und Schweizern, die für das Weltsozialforum nach Brasilien gereist sind. Maria da Purificação Oliveira Chagas, Koordinatorin im Camp «Paulo Cunha» der brasilianischen Landlosenbewegung MST, führt die Besucherinnen und Besucher durch die Siedlung aus einfachen Bretterhütten. Das vor über 20 Jahren durch MST besetzte, damals brachliegende Land in Santo Amaro Bahia gehört heute nach langem Kampf mit den Behörden den Bäuerinnen und Bauern. Doch obwohl jede der 170 Familien nun genügend pflanzen und ernten kann, leben sie weiterhin in grosser Armut, Strom und Wasser fehlen meist. «Jeden Tag verbringe ich drei Stunden damit, mit meinem Esel Wasser im Fluss zu holen», erzählt Maria da Purificação.

Brasilien: 4 Millionen Kleinbauernfamilien besitzen kein Land

In Brasilien besitzen 1 % der Bevölkerung 46 % des Landes. Aber nur 15 % des sich in Privatbesitz befindenden Landes wird landwirtschaftlich genutzt, der Rest liegt brach. Zugleich besitzen rund vier Millionen Bäuerinnen und Bauern kein eigenes Land oder zu wenig, um davon leben zu können.

«Es herrscht Ausverkaufsstimmung», empört sich Carlos Eduardo de Souza Leite, Geschäftsführer der lokalen NGO SASOP. «Seit dem Regierungsputsch 2016 und der Machtübernahme durch Michel Temer hat die Landspekulation durch ausländische Konzerne stark zugenommen. Das Agrobusiness mit seinen Monokulturen und hohem Einsatz an Pestiziden gewinnt immer mehr an Boden.»

Hormonfleisch hier, Waldrodungen, Klimawandel, Armut da

Während die Schweizer Regierung das Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mercosur unter Dach und Fach bringen möchte, bekräftigen die Eindrücke aus Brasilien und die Diskussionen im Rahmen des Weltsozialforums, dass von der Liberalisierung vor allem «die Grossen» profitieren werden, während Kleinbauernfamilien noch stärker unter Druck geraten. Denn beim freien Handel zählt in erster Linie der Preis. Gewinner sind jene Produzenten, die kurzfristig am günstigsten produzieren können – und das zumeist auf Kosten von Mensch und Umwelt.

So wird in Südamerika ein Grossteil der Rindfleisch- und Sojaproduktion von Cargill kontrolliert. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern profitieren nicht von den Exporterleichterungen, im Gegenteil: Die ausländische Nachfrage heizt die Bodenspekulation weiter an und es wird für sie noch schwieriger, Land zu erhalten. Zudem sind die Produktionsbedingungen der Grossbetriebe nicht nachhaltig. Ähnlich wie in den USA wird auch das südamerikanische Rindfleisch immer öfter in «Feedlots» produziert, die Rinder mit Soja gefüttert. Der Sojaanbau wiederum führt zu Waldrodungen und trägt so zum Klimawandel bei.

Kein Abkommen ohne Nachhaltigkeitskriterien

SWISSAID fordert deshalb, dass das Abkommen mit Mercosur zwingend an klare Nachhaltigkeitskriterien geknüft wird:

Schweizer Standards für Importfleisch: Der Import von Fleisch soll mit Kontingenten geregelt, und diese müssen anhand bestimmter Kriterien vergeben werden. Somit werden die Schweizer Standards nicht untergraben, und der Konsumentenschutz ist weiterhin gewährt. Der Gammelfleischskandal zeigte, wie wichtig eine korrekte Deklaration mit Angaben zur Herkunft und zu den Produktionsbedingungen sind.

Keine Hormone und keine Antibiotika: Fleisch aus Weidehaltung, welches ohne Hormone und antimikrobielle Leistungsförderer produziert wurde, soll im Freihandelsabkommen bevorzugt werden.

Keine Gentechnik: Weiterhin darf nur GVO-freies Soja in die Schweiz eingeführt werden. Der freiwillige Verzicht der Schweizer Landwirtschaft auf GVO-Soja darf nicht geschwächt werden.

Monitoring und Transparenz: Die Auswirkungen des Freihandelsabkommen mit Mercosur auf die Kleinbäuerinnen und -Bauern in Südamerika, die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft sowie die Folgen der intensiven Soja- und Fleischproduktion auf die Umwelt, insbesondere was die Abholzung des Regenwalds und die Degradation der Böden betrifft, dürfen nicht aus den Augen verloren werden. Wir fordern vom Bundesrat eine entsprechende Berichterstattung.

Den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern im Süden muss Gehör verschafft und ihre Rechte geschützt werden. Die Schweiz darf sich nicht an der durch die industrielle Landwirtschaft vorangetriebenen Ausbeutung von Mensch und Umwelt beteiligen. 

* Judith Reusser arbeitet bei SWISSAID und ist verantwortlich für das Dossier Ernährungssouveränität und Saatgut.

 

Quelle: www.swissaid.ch/de/mercosur-freihandel-fuer-die-einen-armut-fuer-die-anderen

 

Freihandel in der Landwirtschaft, eine antiquierte Vorstellung

Saatgutprojekt der Deza im Tschad

von Thomas Kaiser, Bern

Freihandel in der Landwirtschaft, eine antiquierte Vorstellung

Saatgutprojekt der Deza im Tschad

von Thomas Kaiser, Bern

Während das Wirtschaftsdepartement unter Bundesrat Schneider-Ammann die Ernährungssicherheit der Schweiz mit einer industrialisierten Landwirtschaft im globalen Agrarhandel verwirklicht sieht, fördert die Deza aus gutem Grund die nationale und kleinräumige Landwirtschaft in verschiedenen Entwicklungsländern unseres Globus’. Man kann sich den Hinweis nicht verkneifen, Herrn Bundesrat Schneider-Ammann zu raten, einmal ein Seminar der Deza zu besuchen, damit er etwas über die Vorteile einer kleinräumigen, regional verankerten Agrarwirtschaft lernen kann. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Diskussion, die in der Schweiz über die Ausrichtung der Landwirtschaft geführt wird, mehr als absurd. 

Dominique Guenat, Mansour N’Diaye, Pierre-André Page, Mariane Nguerassem (Bild thk)

Dominique Guenat, Mansour N’Diaye, Pierre-André Page, Mariane Nguerassem (Bild thk)

 

 

Die antiquierte Vorstellung, der Freihandel führe zu einer besseren und sichereren Versorgung mit Agrargütern, mag aus dem Lehrbuch der Chicago-Boys um Milton Friedman stammen, das vor allem die Gewinnspannen der Unternehmen betrachtet, aber mit einer angestrebten Ernährungssicherheit für alle Menschen hat das nichts zu tun. 

An der Jahrestagung der Deza am 29. Juni 2018 wurde denn auch während einer spannenden Podiumsdiskussion ein wichtiger Aspekt der Landwirtschaft im nord­afrikanischen Staat Tschad beleuchtet. Die Deza unterhält dort unter anderen ein Projekt, das die Produktion von eigenem Saatgut fördert. 

Die Ausganglage im Tschad ist verheerend. Das Land steht an drittletzter Stelle des UNDP-Index (UNDP: Entwicklungsprogramm der Uno). Obwohl das Land Erdölvorkommen besitzt, hat sich keine wirtschaftliche Entwicklung ergeben. Das politische Klima ist geprägt von permanenter Überwachung und Kontrolle. Unter diesen Umständen ist eine demokratische Entwicklung äussert eingeschränkt. Die Analphabetenrate beträgt 78 %. Die Armut ist massiv und 3,5 Millionen Menschen sind dringend auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. 

Für die Deza ist das ein Engagement in einem «fragilen» Kontext mit dem Ziel, durch eine gesicherte Ernährung zu mehr politischer Stabilität sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung zu gelangen. Der Ansatz der Deza, Hilfe zur Selbsthilfe, letztlich das genossenschaftliche Prinzip, unterstützt die Bauern bei der lokalen Saatgutzüchtung. In 6 Regionen gibt es bereits 4000 Betriebe, die in der Saatgutproduktion tätig sind. Bis zum Jahr 2020 geht die Deza davon aus, dass es 20 000 sein werden. Die Deza begründet ihr Engagement in einem interessanten Factsheet: «Im Tschad ist der Anbau von Getreide doppelt wichtig: Einerseits ist die Landwirtschaft der grösste Arbeitgeber des Landes, andererseits ist Getreide das Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung. Das Deza-Projekt unterstützt das Land dabei, einen verlässlichen Saatgutsektor einzurichten, damit in Zukunft erschwingliche und qualitativ hochwertige Samen auf den Märkten vorhanden sind.» 

Saatgutzüchtung ohne
Monsanto & Co.

Die bei der Diskussionsrunde anwesende Bäuerin Mariane Nguerassem aus dem Tschad brachte zum Ausdruck, welche grundlegende Bedeutung für sie die Möglichkeit darstellt, eigenes, qualitativ hochstehendes Saatgut zu züchten. «Wenn die Qualität des Saatgutes stimmt», so Frau Nguerassem, «dann sind die Erträge gut, und das hilft uns, aus der Armut herauszukommen.» In ihrem Anliegen wurde sie vom freiburgischen SVP-Nationalrat Pierre-André Page unterstützt, der als Landwirt die Bedeutung von eigenem, den klimatischen und geologischen Gegebenheiten angepassten Saatgut hervorstrich. «Saatgut, das diesen Bedingungen angepasst ist, ermöglicht bessere Erträge und gesündere Nahrungsmittel.» Dominique Guenat, Professor an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) in Zollikofen, bestätigte die Wichtigkeit der eigenen Saatgutzüchtung, die den Bauern die nötige Unabhängigkeit vom Staat ermöglicht. (vgl. Interview, S.12) Für Mariane Nguerassem ist es wichtig, dass sich die Frauen in Afrika organisieren können, um das Saatgut zu verwalten. Damit möchte sie auch verhindern, dass Konzerne wie Monsanto oder Syngenta in den Markt drängen. Bisher ist das noch nicht geschehen. Der Tschad scheint bis jetzt zu wenig attraktiv zu sein. «Bei der Saatgutgewinnung», erklärt Frau Nguerassem, «arbeitet das ganze Dorf zusammen, und so ist es gelungen, die Qualität zu steigern.» Angesprochen auf die Männer, gab sie humorvoll zu verstehen, dass diese sich selbstverständlich daran beteiligen dürfen, aber das Sagen hätten die Frauen. 

Migration ist ein grosser Verlust für eine Gesellschaft

Manour N’Diaye, Repräsentant der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno (FAO), brachte noch einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein: die Folgen der Migration. Er bezeichnete sie als ­einen grossen Verlust für eine Gesellschaft, wenn Menschen ihre Heimat verlassen und nicht bei der Entwicklung ihres Landes mithelfen. Er lobte die Schweiz, dass sie mit ihren Projekten den Ländern neue Möglichkeiten eröffneten, ihre Versorgungsprobleme zu überwinden. Er zeigte sich überzeugt, dass das grosse Auswirkungen auf die Migration haben wird. 

An den Projekten der Deza sieht man, dass sehr wohl etwas zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen getan werden kann. Nach der Weisheit des Konfuzius «Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.» sollte das Prinzip der Entwicklungszusammenarbeit immer in diese Richtung gehen. Die Menschen bilden, damit sie in die Lage kommen, ihre Lebenssituation zu verbessern. Das Saatgutprojekt im Tschad trägt dieser Weisheit Rechnung: Nicht der Freihandel wird die Menschen satt machen, sondern die Fähigkeit, selbst genügend Nahrung herzustellen. 

 

Eigenproduktion von Saatgut fördern

Ein Deza-Projekt im Tschad

Interview mit Herrn Professor Dr. Dominique Guenat

Prof. Dr. Dominique Guenat (Bild thk)
Prof. Dr. Dominique Guenat (Bild thk)

Ein Deza-Projekt im Tschad

Interview mit Herrn Professor Dr. Dominique Guenat

Zeitgeschehen im Fokus Sie gehören zum Team, das den Tschad in der Züchtung von Saatgut unterstützt. Was ist Ihre Aufgabe dabei?

Professor Guenat Unsere Aufgabe ist, mit dem Staat und den Bauern ein Saatgutsystem aufzubauen. Dabei geht es darum, gute Sorten verfügbar zu machen, die an die lokalen Bedingungen und an die klimatischen Veränderungen angepasst sind. Oberstes Ziel ist, die Erträge zu erhöhen, denn Ernährungssicherheit ist ein wichtiger Faktor.  

Sie haben vorher etwas angetönt, dass Sie mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in dem Projekt zusammenarbeiten. Wie ist es dazu gekommen?

Das Projekt ist von der Deza finanziert und ausgeschrieben worden. Die GIZ hat uns kontaktiert, um gemeinsam eine Offerte zu schreiben. Damit haben wir diese Ausschreibung gewonnen. Die Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) setzt aber selbst keine Projekte um, deshalb hat die GIZ die Federführung übernommen. Dabei geht es um die GIZ International Services, eine spezielle Abteilung der GIZ. 

Was ist deren Aufgabe?

Die GIZ IS stellt das lokale Personal und den Projektleiter an. Die HAFL hat mit ihnen einen Untervertrag über die Umsetzung gewisser Aspekte des Projekts mit spezifischen Aufgaben. 

Wie findet jetzt die konkrete Arbeit, die Selektion von Saatgut statt?

Das Saatgutsystem hat den Aufbau einer Pyramide. An oberster Stelle ist die staatliche Instanz, die neue Sorten einführt, bestehende Sorten erhält und Forschung betreibt. Das Saatgut wird von Saatproduktionsorganisationen vermehrt, damit genügend Saatgut für die Bauern verfügbar ist. Die Pyramide geht vom Staat bis zu den Bauern. Auf der Ebene der Bauern wird die Selbstproduktion von Saatgut gefördert, damit die Bauern mit minimalen Ausgaben zu genügend Saatgut mit guter Qualität kommen. Dazu werden sie vom Projekt ausgebildet. 

Wie machen sie das?

Sie müssen die Parzelle säubern, indem sie dort die falschen oder schwachen Pflanzen herausnehmen. So kommen sie zu gutem Saatgut. 

Das heisst, man züchtet eigenes Saatgut und ist nicht abhängig von internationalen Konsortien, die das Saatgut an die Bauern verkaufen?

Alle im Tschad angebauten Sorten von Hirse, Sorghum, Mais und Erdnüssen sind «öffentliche» Sorten. Sie sind nicht im Privatbesitz einer Firma. Es handelt sich auch nicht um Hybridsaatgut, das nur einmal angebaut werden kann. Es sind Sorten, die die Bauern selbst vermehren können. Darum nützen die Bauern die Möglichkeit aus, indem sie eigenes Saatgut von der Ernte zurückbehalten und wiederverwenden. Rund 98 % der in Tschad verwendeten Menge an Saatgut werden so produziert. 

Was ist jetzt das Ziel Ihres Projekts?

Zugang zu den 98 % des Saatguts zu bekommen, damit man es verbessern kann und somit ein echter Mehrwert entsteht.

Haben Firmen wie Monsanto & Co. schon versucht, im Tschad auf den Markt zu drängen?

Soviel ich weiss nicht. Die Kulturen, mit denen wir uns beschäftigen, sind Sorghum, Hirse, Mais und Erdnüsse. Das ist eigentlich nicht so interessant für Multis. Es könnte sein, dass sie mehr an Baumwolle interessiert sind. Es gibt auch Baumwolle im Tschad. Aber dort ist das Projekt nicht aktiv. 

Sie haben von 98% des Saatguts gesprochen. Was geschieht mit den übrigen 2%?

Das ist zertifiziertes Saatgut, ganz oben in der Pyramide.

Ist es das Ziel, diesen Prozentsatz zu erhöhen?

Nein. Der Staat ist an der obersten Stelle der Pyramide und führt diese Zertifizierung durch. Der Staat soll die neuen Sorten testen und zulassen und die Qualität des Basissaatgutes sichern. Das ist die Ausgangslage, die es für ein ­leistungsfähiges Saatgutsystem braucht. Somit können die guten Sorten und das gute Saatgut weit verbreitet werden. Nur das Saatgut an der Spitze der Pyramide soll zertifiziert sein. Denn je mehr Saatgut zertifiziert ist, um so teurer wird es, ohne dass es den Bauern wirklich etwas bringt. Am besten ist es, wenn man die Überwachung der Saatgutqualität im unteren Bereich der Pyramide an die Bauern delegiert. 

Das heisst, das Ziel ist, dass die Bauern das Saatgut in den Händen behalten können.

Ja. Sehr gut ist es natürlich, wenn es Bauerngruppen gibt, die sich auf Saatgut spezialisieren. Ihr Ruf ist dann genug gut, um die übrigen Bauern zu überzeugen, dass es sich um gutes Saatgut handelt.

Herr Professor Guenat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

 

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