«Die OSZE ist an erster Stelle für die Aufrechterhaltung des Friedens und für Konfliktbeilegung zuständig»

«Sicherheit kann nur als Resulat eines gemeinsamen Prozesses gewährleistet werden»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Vom 2. bis 6. Juli findet in Birmingham in England das jährliche Treffen der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) statt. Kann man sich davon etwas für die aktuelle Krise versprechen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die OSZE ist die zuständige Organisation für den ganzen Bereich der europäischen Sicherheitspolitik. Dort sind alle europäischen Staaten Mitglied, auch Russland, Belarus, die Ukraine, Kasachstan und alle übrigen postsowjetischen Staaten sowie die USA und Kanada. Das heisst, die OSZE ist neben der Uno die internationale Organisation, die in solch einer Krise, wie wir sie im Moment erleben, aktiv werden sollte. Sie müsste Initiativen ­starten und eine vermittelnde Rolle übernehmen und insbesondere Verhandlungen favorisieren. Aber die Signale im Vorfeld des Treffens deuten nicht darauf hin, dass es eine positive Wende geben ­könnte. 

Was sind das für Signale?

Die russischen und belarussischen Abgeordneten haben keine Visa für Grossbritannien bekommen. Grossbritannien verweigert die Ausstellung der Visa. Wenn diese Länder ausgeschlossen sind, wird bei den Verhandlungen auch nicht sehr viel herauskommen. Alles, was dort entschieden und beschlossen wird, werden weder Russland noch Belarus anerkennen.

Der Ausschluss der beiden Staaten wird sicher mit dem Krieg begründet. Den kann man immer ins Feld führen, aber es handelt sich um eine internationale Organisation, die nur funktionieren kann, wenn alle Staaten anwesend sind.

Der Anschluss wird auch hier, wie Sie bereits sagten, mit dem Krieg begründet. Die Einreiseverweigerung der Abgeordneten widerspricht den Statuten der OSZE. Aber durch die geringe Rechtsverbindlichkeit der OSZE gibt es wohl wenig Handhabe. Das ist beim Europarat anders, der rechtlich verbindlichere Strukturen hat.

Was hat die Einreiseverweigerung für Folgen für Grossbritannien?

Sie ist zwar satzungswidrig, aber es gibt keinen so rechtsverbindlichen Akt, wie er in den Strukturen des Europarats vorgesehen ist. Deshalb kann sich Grossbritannien so verhalten. Dazu kommt noch, dass Grossbritannien in der aktuellen Situation einer der Scharfmacher ist und unglücklicherweise die Versammlung dort stattfindet. Die konservative britische Regierung verweigert den beiden Delegationen die Einreise, das ist uns als Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung mitgeteilt worden. Ich habe direkt nachgefragt, wie das mit der Satzung zu vereinbaren sei, aber bis heute noch keine Antwort bekommen.

Wer hat denn dieses Jahr den Vorsitz? Kann von dort her noch interveniert werden?

Polen hat den Vorsitz, und Grossbritannien bestreitet die Austragung. Da haben wir natürlich ganz negative Voraussetzungen für irgendein positives Ergebnis. Meine grosse Sorge ist, dass Russland, nachdem es bereits den Europarat verlassen hat, auch noch die OSZE verlässt. Das wäre dann ein weiterer Rückschritt in der internationalen Politik.

Was hätte die OSZE für Möglichkeiten und für Instrumente, um hier konstruktiv einzugreifen?

Die OSZE ist nach Kapitel   8 der Uno-Charta die regionale Organisation, die an erster Stelle für die Aufrechterhaltung des Friedens und für Konfliktbeilegung in der Region verantwortlich ist. Die Möglichkeiten der Parlamentarischen Versammlung, die Anfang Juli in Birmingham tagt, sind natürlich begrenzt. Man könnte jetzt einen OSZE-Gipfel organisieren und die verschiedenen Strukturen dieser Organisation nutzen. Es gibt wie beim Europarat neben der Parlamentarischen Versammlung Strukturen auf Regierungsebene, unter anderem einen Ministerrat. Ziel könnte ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs sein, bei dem alle Sicherheitsfragen auf den Tisch kommen und diskutiert werden müssten.

Welche Länder würde das vor allem betreffen?

Das betrifft natürlich als erstes die Sicherheitsinteressen der Ukraine als angegriffener Staat. Darüber hinaus aber auch die russischen Sicherheitsinteressen und das Sicherheitsbedürfnis der baltischen Staaten. Es müssten Verhandlungen darüber geführt werden, bis eine für alle akzeptable Lösung gefunden wäre. Das ist ja der Kern des OSZE-Konzepts der unteilbaren Sicherheit.

Die OSZE wäre dafür das richtige Gefäss?

Die OSZE ist aus der KSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, hervorgegangen, die in Helsinki entstand. Das war in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, also während des Kalten Kriegs. Diese Reihe von Konferenzen hat tatsächlich mehrere Initiativen zur Abrüstung geschaffen, in der Überzeugung, dass Sicherheit eine gemeinsame Vereinbarung sein muss. Das stand im Widerspruch zur Logik, dass eine Seite immer aufrüsten muss, um militärisch so stark zu sein, dass sie abschreckend wirkt. Das ist die Logik, die auch im Moment wieder vorherrschend ist, insbesondere bei der Nato. Das steht im Widerspruch zum Grundsatz der OSZE, der besagt, dass Sicherheit als Resultat eines gemeinsamen Prozesses am besten gewährleistet werden kann.

Davon sind wir heute leider weit entfernt …

Ja, es klingt schon fast utopisch, obwohl die KSZE Realität war und im Kalten Krieg weitgehende Abrüstungsvereinbarungen getroffen hatte. Der letzte Gipfel dieser Art war im Jahre 2010 in Astana. Es ist dringend an der Zeit, wieder einen solchen OSZE-Gipfel zu starten, um wenigstens das ernsthafte Bemühen zu zeigen, wieder miteinander reden zu wollen. Das ist etwas ganz anderes als 100 bilaterale Besuche oder Konferenzen wie z. B. die Münchner Sicherheitskonferenz. Das ist keine ernsthafte Struktur, sondern eine private Konferenz, bei der Rüstungsinteressen im Hintergrund eine grosse Rolle spielen. Im Laufe der letzten Jahre sind die eigentlichen Funktionen der OSZE durch solche Formate ersetzt worden. Das ist sicher kein gemeinsamer Schritt in Richtung Frieden und Sicherheit.

Nach Ihren Ausführungen muss man konstatieren, dass wir hinter die Zeit des Kalten Krieges zurückgefallen sind.

Ja, das ist das Bittere an der ganzen Sache.

Das ist doch ungeheuerlich, wenn man sich vor Augen führt, dass damals der Kommunismus als Grund für die ganze Aufrüstung herhalten musste. Kommunistische Staaten wie während des Kalten Kriegs gibt es in Europa nicht mehr. Trotzdem bleibt man in dieser Logik. So gesehen lag Putin mit seiner Rede 2001 vor dem deutschen Bundestag und 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gar nicht so falsch, als er sich für einen gesamteuropäischen Sicherheitsraum einsetzen wollte. Sehen Sie das auch so?

Ja, könnte man sagen – aber auch das ist schon interessant –, dass eine der wichtigsten Reden, die wir wahrnehmen, z. B. die Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007, aber keine Rede ist, die im Rahmen der OSZE gehalten wurde. Wir nehmen eine private Konferenz als wichtiger wahr als eine internationale Struktur, die bei aller Schwäche, die die OSZE hat, immer noch eine klare Zielsetzung verfolgt und eine vereinbarte «Funktion» besitzt. Das ist für mich ein Problem, denn gerade die Münchner Sicherheitskonferenz wird zum zentralen internationalen Referenzpunkt für solche Reden und Gespräche. Putin ist natürlich 2007 dorthin gegangen und war auch die Jahre davor und danach Teilnehmer an dieser Konferenz. Sie ist auch eine wichtige Zusammenkunft, aber es bleibt ein strukturelles Problem, dass diese Funktion von einer privaten Veranstaltung übernommen wird, bei der auch ganz andere Interessen eine Rolle spielen.

Was wir grundsätzlich in der ganzen Entwicklung feststellen können, ist doch, dass ganz viele Entscheidungen, die eine demokratische Grundlage bräuchten, auch auf nationalstaatlicher Ebene, in private Foren ausgelagert werden.

Ja, das ist richtig …

Ich denke da auch an das WEF

… ja, aber das haben Sie doch in der Schweiz …

Ja leider, aber gegründet hat es ein Deutscher. Der Gründer Klaus Schwab brüstet sich, die Zukunft der Menschheit zu denken, redet vom «Great Reset» ohne demokratische Legitimation, ohne die Völker auch nur zu fragen, geschweige denn von ihnen einen Auftrag bekommen zu haben. Unsere Schweizer Exekutive pilgert auch da hin. Das alles hat mit Demokratie nichts zu tun.

Das sind doch alles Erscheinungsformen des Neoliberalismus. Das ist eine Ausgliederung staatlicher und zwischenstaatlicher Funktionen – die bei aller Schwäche wenigstens demokratisch legitimiert sind, – in private Veranstaltungen. Dort spielt dann die Musik, werden Absprachen getroffen und die wichtigen Reden gehalten. Das ist schon sehr bemerkenswert. Opfer einer solchen unguten Entwicklung ist auch die OSZE, die praktisch nur noch eine marginale Rolle spielt. Wer weiss denn, dass sich die jährliche Parlamentarische Versammlung der OSZE dieses Jahr in Birmingham treffen wird? Also, wie gesagt, ich mache mir Sorgen, dass Russland sich völlig aus der OSZE zurückzieht. Meines Wissens hat es so etwas noch nie gegeben, dass man einem Mitglied einer internationalen Organisation die Einreise verweigert hat.

Die Idee, einen gemeinsamen Sicherheitsraum in Europa zu schaffen, damit eine Frontstellung wie im Kalten Krieg nicht mehr möglich ist, wurde bereits vor drei Jahrzehnten konkret angedacht. Warum ist daraus nichts geworden?

Ja, das weitreichendste Dokument war die Charta von Paris 1990. Hier sprach man von einem Sicherheitssystem von Lissabon bis Wladiwostok, wenn nicht sogar bis Vancouver. Das war alternativ zu den Militärbündnissen, die damals beide noch bestanden haben, dem Warschauer Pakt und der Nato. Man war der Meinung, dass man die beiden Militärblöcke durch den gemeinsamen Sicherheitsraum ersetzen könne. So weit wie damals in Paris, ist man nie wieder gekommen.

Hätten die politisch Verantwortlichen daran weitergearbeitet, dann hätten wir den Konflikt in der Ukraine wohl nicht.

Zumindest wäre die Nato dann auch aufgelöst worden und nicht nur der Warschauer Pakt. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es diesen Konflikt nicht gegeben hätte. Inwieweit auch andere Konflikte hätten vermieden werden können, wissen wir natürlich nicht. Ich denke da an die Auflösung Jugoslawiens. Hans-Dietrich Genscher, der damalige deutsche Aussenminister, hat einen Monat nach der Charta von Paris Slowenien und Kroatien als selbständige Staaten anerkannt und so massgeblich die schwelende Krise auf dem Balkan befeuert.

Wie ist die Rolle Deutschlands im Zusammenhang mit der OSZE?

Aktuell spielt die OSZE in der Politik Deutschlands keine grosse Rolle. Leider, muss ich dazu sagen. Deutschland hatte 2016 den Vorsitz. Damals hätte sicher die Möglichkeit bestanden, die OSZE zu stärken. Leider fehlte der politische Wille dazu. Das hat sich im Grunde genommen nicht gross geändert. Vergleicht man den Haushalt der Organisationen miteinander, sieht man, wo die Staaten ihre Prioritäten setzen. Der Europarat hat ein Jahresbudget, das einem Tagesbudget der EU entspricht. Es sind 400 Millionen Euro, die die EU an einem Tag ausgibt. Der Europarat verbraucht diesen Betrag in einem Jahr. Die OSZE hat noch weniger, ein Jahresbudget von 150 Millionen Euro, was den Kosten eines F-35 Bombers entspricht, von denen Deutschland jetzt 35 anschafft. Das ist das Jahresbudget aller 57 Mitgliedstaaten der OSZE.

Was lassen sich daraus für Schlüsse ziehen?

Wenn ein Kampfflugzeug so viel kostet, wie das Jahresbudget einer Organisation, die den Frieden und die Zusammenarbeit in Europa sichern soll, dann sieht man deutlich, wo man die Prioritäten setzt und wie ernst solche Organisationen auch von den Mitgliedstaaten genommen werden. Dazu muss man sagen, dass Russland in der Vergangenheit versucht hat, die OSZE verbindlicher zu machen, was in der Tat von den USA torpediert wurde.

Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass von den USA verhindert wird, mit Russland ins Einvernehmen zu kommen. Sei es in der bestehenden Krise, aber auch in der Zeit vorher. Alles, was an positiven Ansätzen aus Russland kam, wurde blockiert.

Ja, es ist ein Grundinteresse in den USA, es nicht zu einem zu starken Zusammenwachsen zwischen Russland und dem Rest von Europa kommen zu lassen, weil es die globale Hegemonie der USA in Frage stellen würde. Auch aus britischer Sicht sind das aussenpolitische Leitlinien. Dennoch gibt es erste Signale auch aus der Biden Administration, den aktuellen Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen, sondern ernsthafte Verhandlungen ins Auge zu fassen, während der Konflikt von britischer Seite weiter zugespitzt wird. Die Töne aus den USA sind nicht aufgrund einer friedenspolitischen Position, sondern man hat Bedenken, Russland immer mehr in die Arme Chinas zu drängen, wenn der Krieg so weitergeht. Denn aus Sicht der USA ist nicht Russland, sondern China der Hauptkonkurrent.

Im Februar hat der russische Aussenminister Lawrow einen Grundsatz der OSZE ins Spiel gebracht, dass Bündnisse zwar frei zu wählen seien, jedoch einer gewissen Einschränkung unterlägen. Wie ist dieser Aspekt zu sehen?

Ja, das bezieht sich auf die Debatte, die hier geführt wurde, dass es eine freie und souveräne Entscheidung der Ukraine sei, sich der Nato anzuschliessen. So wird das im Westen dargestellt. Wer das in Frage stellt, greife nicht nur die Souveränität eines Landes an, sondern verletze auch entsprechende OSZE-Dokumente. Lawrow bezieht sich auf die Dokumente von Istanbul 1999 und Astana 2010. Dort war der letzte Gipfel der OSZE, und es ist in der Tat so, dass in den Schlussdokumenten festgeschrieben steht, dass jedes Land seine Bündnisse frei wählen dürfe. Es gibt jedoch eine Einschränkung: Dies dürfe nicht auf Kosten der Sicherheit eines anderen Landes geschehen. Dieser klare Zusatz wird in der westlichen Sichtweise nicht berücksichtigt. Da sagte Lawrow, abstrakt könne die Ukraine das Bündnis frei wählen, aber es ginge auf Kosten der russischen Sicherheit, wenn die Ukraine der Nato beitreten und diese dann US-Atomwaffen an der Grenze zu Russland stationieren würde. Dabei bezieht sich Lawrow explizit auf diese Dokumente, die in unseren Medien unterschlagen wurden.

In Europa spricht man inzwischen von «Kriegsmüdigkeit» und kritisiert damit direkt diejenigen, die die Sinnlosigkeit des Krieges erkannt haben und auf Verhandlungen setzen wollen. Auch der deutsche Kanzler Scholz steht in der Kritik, in punkto Waffenlieferungen zu zögerlich zu sein.

Das ist ein Narrativ von transatlantischen Medien. Es gab letzte Woche eine Umfrage zum Begriff der Kriegsmüdigkeit, den die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock geprägt hatte. Laut dieser Umfrage, die im Auftrag von RTL und NTV durchgeführt wurde, sind nur 41 % in Deutschland mit der Arbeit von Kanzler Olaf Scholz zufrieden. 56 % sind unzufrieden. Es ist in der Tat so, dass die Leute unzufriedener werden, aber nicht wegen der angeblich zu zögerlichen Unterstützung der Ukraine, sondern vor allem wegen der wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Wenn die «Neue Zürcher Zeitung» Scholz als Kanzler in Frage stellt, weil er zu zögerlich Waffen in die Ukraine liefere, dann spiegelt das nicht die Stimmung in der deutschen Bevölkerung wider. Bemerkenswert an dieser Umfrage ist, dass 83 % der Befragten es richtig fänden, dass westliche Regierungschefs weiterhin mit Putin sprächen. 68 % sind der Ansicht, dass der Krieg nur diplomatisch gelöst werden könne, während nur 25 % der Meinung sind, dass er militärisch gewonnen werden könne. Es ist schon sehr speziell, wie hier verschiedene Medien Olaf Scholz unter Druck setzen wollen. 

Sehen Sie auf internationaler Ebene irgendwo ein beginnendes Umdenken, dass der Krieg nur mit einer Verhandlungslösung beendet werden kann? Dreht sich die Kriegsstimmung langsam in Richtung Gesprächsbereitschaft und Diplomatie?

Es sind verschiedene Ebenen. Das eine ist die Bevölkerungsebene, und hier gibt es nach der Schocksituation Ende Februar, die zu einem extremen Stimmungsumschwung geführt hat, der die ganzen massiven Aufrüstungspakete ermöglichte bis hin zu den 100 Milliarden Sonderschulden, die in Deutschland für neue Waffen bestimmt wurden, eine verhalten positive Entwicklung. Die Stimmung bröckelt kontinuierlich, aber ohne dass sie gesellschaftlich wirksam wird.

Kann das langsam Wirkung entfalten?

Wenn man die ganzen Sanktionen im Öl- und Gasbereich anschaut, schiessen sich die EU-Staaten ins eigene Knie. Russland exportiert mehr Öl nach Indien, und Indien verkauft jetzt das aus Russland importierte Öl an die EU. Das ist eigentlich ein Irrsinn. Die Menschen spüren, dass es für den einzelnen wirtschaftlich und sozial nicht gut ausgehen wird. Ich merke, dass hier die Unruhe steigt, was dann im Herbst wirkmächtig werden könnte.

Auch haben wir die zweite Ebene der grossen Politik. Es ist interessant, dass es jetzt doch seit wenigen Wochen vereinzelte Signale aus den USA gibt, ein Blinken aus dem Umfeld von Blinken, dass man bald an den Verhandlungstisch zurückfinden sollte. Das kommt mehr von den USA als von der EU. Das ist eigentlich unglaublich. Es gibt einzelne Signale wie z. B. den Leitartikel in der «New York Times» vor ein paar Wochen oder Henry Kissingers Aussagen beim WEF.

Das, was von Kriegstreiberin Baerbock als Kriegsmüdigkeit bezeichnet wird, ist ein Sieg der Vernunft?

Ja, vielleicht zum Teil, aber es steht auch der Gedanke dahinter, nicht weiter mit Russland zu eskalieren, sondern China ins Auge zu fassen.

Dann wird das unser nächstes Problem sein?

Ja, das wird sicher so sein.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

OSZE-Gedenkerklärung von Astana 2010: Auf dem Weg zu einer Sicherheitsgemeinschaft

[…]

3. Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden. Jeder Teilnehmerstaat hat das gleiche Recht auf Sicherheit. Wir bekräftigen das jedem einzelnen Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschliesslich von Bündnissen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität. Jeder Staat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen respektieren. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen. Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität in der OSZE-Region zu als anderen, noch kann einer/eine von ihnen irgendeinen Teil der OSZE-Region als seinen/ihren Einflussbereich betrachten. Wir werden unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen sowie der legitimen Sicherheitsanliegen anderer Staaten nur solche militärische Fähigkeiten aufrechterhalten, die mit den individuellen oder kollektiven legitimen Sicherheitserfordernissen vereinbar sind. Wir bekräftigen ferner, dass alle OSZE-Prinzipien und -Verpflichtungen gleichermassen und ausnahmslos für jeden Teilnehmerstaat gelten, und wir betonen, dass wir untereinander und gegenüber unseren Bürgern für ihre volle Umsetzung einstehen werden. Wir betrachten diese Verpflichtungen als unsere gemeinsame Errungenschaft und somit als unmittelbare und berechtigte Anliegen aller Teilnehmerstaaten.

[…]

Quelle: www.osce.org/files/f/documents/4/e/74988.pdf

29. Juni 2022

«Kriegsmüdigkeit»

von Thomas Kaiser

Seit dem ersten Tag des Ukrainekriegs fühlt man sich an die Stimmung erinnert, die während der Zeit des Ersten Weltkriegs in den kriegführenden Ländern geherrscht hat und wie sie in der Literatur weitgehend dargestellt und aufgearbeitet worden ist: Damals wie heute findet sich ein euphorisches Plädoyer für den Kampf und das Ausblenden aller Vernunft.

Parolen vom heldenhaften Sterben für eine nicht genauer definierte Freiheit, für die Nation, damals für den Kaiser in Pickelhaube, heute für den ukrainischen Präsidenten im olivgrünen Nato-Look, der sich geschickt – beraten von einem Stab von PR-Experten – in Szene zu setzen vermag. Ständige Meldungen vom heroischen Abwehrkampf gegen den Aggressor, der in Tat und Wahrheit, so die Einschätzung von westlichen Militärexperten, 20mal stärker ist, gehören in die Welt der Desinformation. Das alles gemahnt an den kopflosen Kampf während des blutigen Stellungskriegs zwischen 1914 und 1918 für «Gott, Kaiser und Vaterland».

Auch damals opferte man die Menschen, die auf dem «Feld der Ehre», «dem Altar des Vaterlands», «für die heilige Sache» und wie all die euphemistischen Worthülsen lauten mögen, jämmerlich zugrunde gingen. Damals wie heute kein Wort über das Elend, das fürchterliche Leiden der sich im Kampf befindenden Menschen, wie es in der Nachkriegsliteratur in den 20iger Jahren des letzten Jahrhunderts eindrücklich beschrieben wurde. Man denke nur an Leonhard Franks aufrüttelndes Werk, «Der Mensch ist gut»¹, an den in mehrere Sprachen übersetzten Roman von Erich Maria Remarque «Im Westen nichts Neues»² oder auch an die Autobiographie Ernst Tollers «Eine Jugend in Deutschland»³. Auch die Kriegserlebnisse des Zweiten Weltkriegs fanden Eingang in die Weltliteratur wie z. B. das zutiefst berührende Buch Dschingis Aitmatows «Goldspur der Garben»⁴. Es gibt unzählige Werke, die zur Aufarbeitung der menschlichen Katastrophe beitrugen. Sind wir tatsächlich nicht weiter als damals? 

Baerbocks Kriegsbegeisterung

Wer von denjenigen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, kennt diese Werke noch? Ernst Friedrich hat mit seinem «Bildband» «Krieg dem Kriege»⁵ das Antlitz des Ersten Weltkriegs ungeschminkt dokumentiert. Haben die Menschen, die einen unterlegenen Gegner zum «heroischen Kampf» ermuntern, das alles vergessen oder gar nie davon gehört? Oder, was noch schlimmer ist, wird alles einem übergeordneten Ziel untergeordnet, das jenseits der Menschlichkeit und der Vernunft liegt – «Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen»?⁶ Dieses Ziel ist – wenn überhaupt – nur mit Zehntausenden von Toten zu erreichen.

Als Annalena Baerbock vor ungefähr drei Wochen den Begriff der «Kriegsmüdigkeit»⁷ in die Runde warf und damit den europäischen Staaten zu wenig «Kriegsbegeisterung oder Kriegsunterstützung» bemängelte, war die Parallele zum Ersten und Zweiten Weltkrieg gezogen. Vor etwas mehr als 100 Jahren wurde die Unlust der Menschen, dem sinnlosen Sterben weiter zuzuschauen, mit ähnlichen Worten kommentiert. Damals waren das vor allem kaisertreue Kreise, die einer im Krieg dahinserbelnden Generation wenig Mitgefühl entgegenbrachten und immer noch auf einen Sieg hofften.

Transatlantische Anbindung

Und heute? Man glaubt es kaum: War die Grüne Partei, Baerbocks politische Heimat, in den 70er und 80er Jahren vor allem gegen Aufrüstung, für den Frieden, gegen Atomkraftwerke und die Zerstörung der Umwelt, für ein menschen- und naturgerechtes Leben, für einen sorgsamen Umgang mit den Ressourcen auf die Strasse gegangen und infolge dessen ins Parlament eingezogen, sind innert kürzester Zeit all diese Grundsätze einer kritiklosen transatlantischen Anbindung gewichen. 

Als Josef Fischer, seines Zeichens erster Grüner Aussenminister der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Sonderparteitag seiner Partei 1999 den auch von ihm zu verantwortenden Einsatz der Bundeswehr gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mit den Worten «Nie wieder Auschwitz!»⁸ zu rechtfertigen suchte, war in Deutschland bereits ein tiefsitzendes, ethisch begründetes Tabu gebrochen: keinen Krieg ausserhalb der eigenen Landesgrenzen zu führen. Während damals die Basis von Fischers Partei auf die Barrikaden ging, sind Baerbocks martialische Töne kaum angefochten und werden von ihrem Kompagnon Habeck noch sekundiert. Anstatt alles zu unternehmen, um Menschenleben zu schonen sowie Kriegs- und schwerste Umweltschäden zu verhindern, hat man lange von einem Sieg über Russland fabuliert und die Menschen mit Waffen ausgerüstet, deren Bedienung ihnen völlig fremd ist und die mehr Unheil angerichtet haben, als dass sie irgendetwas Entscheidendes zum Frieden und zur Beendigung des Krieges beigetragen hätten. Stattdessen sollten die Waffen schweigen und ernsthafte Gespräche zur Beilegung dieses Konflikts geführt werden. Die Bundesregierung plädiert aber für eine Verschärfung der Sanktionen, auch im Bereich fossiler Energieträger, die sich schon jetzt als Bumerang erwiesen haben. Auf einmal erzeugen Kohlekraftwerke «Grüne» Energie.⁹

Selenskij – Cassis’ Held

Während Habeck die deutschen Bundesbürger auf ein «Frieren für die Ukraine» im kommenden Winter einstimmt,10 den bereits 2012, also noch von der Vorgängerregierung, angefertigten Notfallplan für Versorgungsengpässe beim Gas aktiviert11 und die Benzinpreise in ungeahnte Höhen steigen, verkauft Russland viermal so viel Öl an Indien, das von dort in die EU verkauft wird12. An den Zapfsäulen explodieren die Preise für Treibstoffe, die, wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Interview freimütig bekundet, ihm «nicht so bekannt sind» und bei seinem Gehalt ihn auch nicht besonders interessieren13 – sehr wahrscheinlich tankt er auf Staatskosten. Solche Aussagen eines Partei- und Regierungschefs, der einer Partei angehört, die sich zumindest auf dem Papier primär einer Politik für die «kleinen» Leute verschrieben hat, sind unbegreiflich.

Russische Truppen auf dem Vormarsch

Trotz aller Misserfolge und gravierender Verluste der ukrainischen Armee – die Waffenlieferungen gehen weiter. Doch so ganz wohl kann es den Kriegstreibern Baerbock, Scholz, Habeck, Johnson, Blinken und wie sie alle heissen, nicht sein. Denn es wird immer deutlicher, dass der viel gerühmte ukrainische Präsident im olivgrünen Unterleibchen ein unsauberes Spiel treibt, auch wenn der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis ihn als «Vorbild», als «Helden», als einen, «der für die gleichen Werte kämpft wie wir», öffentlich auf den Schild gehoben hat.14 Das Newsportal Watson titelt einen Bericht, in dem es um die undurchsichtigen Wege der Waffen des Westens in der Ukraine geht, wie folgt: «Selenskij spielt nicht mit offenen Karten: USA und Biden verlieren die Geduld.»15 

Die angeblichen militärischen Erfolge der Ukraine entpuppen sich als völliger Fake. Die russischen Truppen sind kontinuierlich auf dem Vormarsch und bekommen eine Stadt nach der anderen unter ihre Kontrolle. Heute, am 24. Juni, meldeten die Nachrichten, dass eine weitere umkämpfte Stadt im Donbas namens Sjewjerodonezk aufgegeben werden musste und sich die überlebenden ukrainischen Soldaten zurückgezogen hätten. Im Grunde genommen ist das die Realität. Die Begründung des Gouverneurs der Region Lugansk, dass er keinen Sinn mehr darin sehe, in Anbetracht der hohen Verlustzahlen die Stadt zu verteidigen, ist vernünftig. «Ein weiterer Kampf ist sinnlos».16 Leidet gar die Ukraine selbst an Kriegsmüdigkeit? Frau Baerbock hingegen versucht, den «Endsieg» zu suggerieren, wie wir es vor mehr als 75 Jahren in Deutschland schon einmal hatten? Die Parallelen sind frappierend, und es stellt sich die Frage, wie lange die Öffentlichkeit noch an der Nase herumgeführt werden kann. Das Verhalten des Gouverneurs ist das einzig Richtige. Hätte man diese Einsicht nach den ersten Kriegstagen getroffen, Tausende von Opfern wären auf beiden Seiten zu verhindern gewesen. 

Die Schweiz – nicht neutral?

Und was macht die Schweizer Regierung? Bisher hat sie alle Sanktionen der EU mitgetragen und sich damit klar auf die Seite einer Kriegspartei gestellt. Damit hat sie in Kauf genommen, den Neutralitätsstatus zu verlieren. Jetzt sitzt die Schweiz im Uno-Sicherheitsrat, was von den Schweizer Medien gefeiert wurde: Von einem «Glanzresultat» bei der Abstimmung in der Uno-Vollversammlung war die Rede. Doch wie will die Schweiz die von ihr gepriesene Vermittlerrolle einnehmen, wenn sie im aktuellen Konflikt schon Partei ergriffen hat? Es sickern immer mehr Informationen an die Öffentlichkeit, dass die Ukraine nicht nur Opfer in diesem Krieg ist, sondern schon seit Jahren die russische Bevölkerung im Land und insbesondere in der Ostukraine drangsaliert sowie die autonomen Republiken Lugansk und Donezk mit ständigem Artilleriebeschuss in Atem hält. Ein Umdenken der eigenen Position wäre dringend geboten.17 Trotzdem hält Ignazio Cassis an seinem Kurs der «Verbrüderung» mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskij fest. Auch wenn er immer wieder betont, dass die Ukraine-Konferenz in Lugano nicht gegen die Neutralität verstosse, setzt er sich einseitig für die Ukraine ein. Obwohl immer mehr Parlamentarier aus verschiedenen Parteien grosse Bedenken gegenüber der Konferenz äussern, will Cassis an seinen Plänen festhalten.18 Zu gross ist das Prestige, das er sich davon erhofft, wenn die Welt auf ihn und Lugano blickt. Wofür doch eine Krise alles herhalten muss! 

 

¹ Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Zürich 1918
² Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Frankfurt 1983
³ Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Hamburg 1963
⁴ Dschingis Aitmatow: Goldspur der Garben. Berlin 2004 
⁵ Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege. Berlin 1924
www.zdf.de/nachrichten/politik/scholz-davos-ukraine-krieg-russland-100.html
www.pressenza.com/de/2022/05/wenn-aussenministerin-baerbock-vor-kriegsmuedigkeit-warnt-muessen-alle-alarmglocken-laeuten/
www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/joschka-fischer-nie-wieder-auschwitz-als-begruendung-fuer-kosovo-kriegseinsatz-100.html
www.youtube.com/watch?v=9ByRmcQ4up4
10 www.tagesschau.de/wirtschaft/gasnotfallplan-gasversorgung-alarmstufe-bundesnetzagentur-bundeswirtschaftsministerium-gaspreise-101.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
11 www.deutschlandfunk.de/ausrufung-fruehwarnstufe-notfallplan-gas-100.html 
12 www.n-tv.de/wirtschaft/Wie-Indien-russisches-Ol-in-Europa-verkauft-article23415244.html
13 www.youtube.com/watch?v=BtezTQv66kM
14 www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/cassis-zu-selenski-beeindruckt-wie-dein-volk-fuer-freiheit-kaempft?urn=urn:srf:video:6f2b26ea-1900-4a7d-b832-85c960ea25e9
15 www.watson.ch/!989804627?utm_source=mail&utm_medium=social-user
16 www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-24-06-2022-mittagsausgabe?urn=urn:srf:video:ee5bb924-06f4-4953-b083-1d19ddefdaf8
17 www.tagesschau.de/ausland/europa/krieg-ukraine-101.html
18 www.blick.ch/politik/im-parlament-waechst-skepsis-an-ukraine-konferenz-in-lugano-die-konferenz-macht-keinen-sinn-id17570463.html

29. Juni 2022

Zur Neutralität der Schweiz — eine Klärung aus aktuellem Anlass des Konflikts in der Ukraine

von Hans Bieri*

In der Schweiz hat sich trotz karger Rohstoffgrundlage auf Basis der freien globalen Handelsbeziehungen eine starke KMU-Wirtschaft entwickelt. Die Exportorientierung ist für die schweizerische Wirtschaft die Lebensader. Es ist für die Schweiz deshalb lebenswichtig, diese Handelsbeziehungen stabil zu halten. Handel, wie ihn die Schweiz als neutrales Land ohne Verfügbarkeit von territorialen Machtmitteln betreibt, beruht allein auf der Basis des gegenseitigen Vorteils. Entweder ist der Nutzen gegenseitig oder der Handel kommt gar nicht zustande. Dies charakterisiert die schweizerische Unternehmenskultur im Export.

Der historisch früh erreichte Status der Neutralität der Schweiz ist mit der Entwicklung des Freihandels und der industriellen Entwicklung der Schweiz eng verbunden. Die Schweiz war am Ende des 19. Jahrhunderts das freihändlerischste und auch das demokratischste Land Europas.

Es ist für Handelspartner nicht unwichtig, dass die Schweiz sich international neutral verhält, und umgekehrt, dass die Neutralität die Schweiz auch vor fremden Einmischungsversuchen schützt. Denn für Handelspartner besteht Gewähr, dass die Schweiz ihre Wirtschaftsbeziehungen nicht mit Handelskriegen und der Verletzung der Eigentumsordnung belastet. Die mit der Neutralität verbundene Stabilität wird global wertgeschätzt. Darum wird die Schweiz um gute Dienste angefragt. Hier zeigt sich die emanzipatorische und damit friedensstiftende Kraft der Neutralität: Die Fähigkeit, von Einzelinteressen zu abstrahieren und dadurch Konflikte in ihrem Zusammenhang und aus ihrer Entstehung heraus erfassen zu können. Diese über den Konflikten stehende neutrale Position hilft den Konfliktparteien, Wege zur Konfliktentschärfung zu finden, wie dies als jüngstes Beispiel der Beitrag der Schweiz zum Abkommen von Minsk gezeigt hat.

Verkauf der Neutralität

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt wurde die Meinung geäussert, dass die Schweiz ihre neutrale Stellung aufgeben müsse und nicht mehr darum herumkomme, gegen den Aggressor Stellung zu beziehen. Damit würde die Schweiz jedoch gegen ihre immerwährende Neutralität verstossen. Damit würde die Schweiz gerade in diesem europäischen Konflikt ihre Guten Dienste, die Europa braucht, nicht mehr anbieten können.

Denn der Krieg beginnt mit dem Brechen von Verträgen und Abkommen aus reinem Machtanspruch. Die Errungenschaften der europäischen Aufklärung geraten heute wieder in Bedrängnis und damit auch der Wesensgehalt der Neutralität der Schweiz, welche, wie heute einige abwertend und «dekonstruierend» bemerken, der Schweiz 1815 «ja nur» aufoktroyiert worden sei – bis zur unterstellten Schiedsrichterrolle der Schweiz, die nun heute endlich der klaren Parteinahme bei Kriegen weichen müsse.

Damit würde jedoch die Errungenschaft, nämlich in fremden Konflikten nicht Partei zu ergreifen, entsorgt. Diese Kritik an der Neutralität verwechselt die Parteinahme mit der Lösung des Konfliktes und engt damit den freien Blick auf die Konfliktursachen ein.

Die erstmalige Anerkennung der Schweiz als Staat am Wiener Kongress 1815 wurde mit der Auflage der Neutralität verknüpft. Es ging den Grossmächten darum, sich gegenseitig zu verpflichten, das Territorium der Schweiz im Konfliktfall nicht zu besetzen. Dies wohl kaum wegen der Schweiz an sich, sondern damit der territoriale Angelpunkt zwischen dem deutschen Bund, Frankreich und Ober­italien und dem ebenso interessierten Grossbritannien bei künftigen
Konflikten neutral bleibt.

Neutralität verpflichtet, sich keiner Kriegspartei anzuschliessen

Die Neutralität verpflichtet im Gegenzug die Schweiz, sich keiner Kriegspartei anzuschliessen. Sie kann dadurch nicht in Kriege hineingezogen und zur Kriegspartei werden, weil dadurch eine der Kriegsparteien den Zugriff auf das Territorium der Schweiz bekäme. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Schweiz in einem kriegerischen Konflikt von keiner der Grossmächte besetzt werden darf. Dies ist eine Errungenschaft der europäischen Aufklärung: die Anerkennung freier Staatlichkeit, die sich im Gegenzug zur Neutralität verpflichtet — und deshalb von fremden Mächten nicht verletzt werden darf. Es war eine Errungenschaft der Praktischen Philosophie Hegels, welche in der Hohen Politik damals intensiv diskutiert worden ist. «Darin, dass die Staaten sich als solche gegenseitig anerkennen, bleibt auch im Kriege, dem Zustand der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Zufälligkeit, ein Band, in welchem sie an und für sich seiend füreinander gelten, sodass im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehensollendes bestimmt ist. Er enthält damit die völkerrechtliche Bestimmung, dass in ihm die Möglichkeit des Friedens erhalten … werde.»¹ 

Ein Jahrhundert später hielt unter dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» Carl Spitteler am 14. Dezember 1914 vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich eine Rede, die sich ebenso an Politik und Medien unserer Zeit richtet. Angesichts der in der Schweiz zu Beginn des Ersten Weltkriegs feststellbaren Sympathiekundgebungen für einzelne Kriegsparteien verlangte Spitteler, dass die Politik «unseren Leuten die Grundsätze der Neutralität einpräge». «Ohne Zweifel wäre es nun für uns Neutrale das einzig Richtige, nach allen Seiten hin die nämliche Distanz zu halten. Das ist ja auch die Meinung jedes Schweizers. Aber das ist leichter gesagt als getan. Unwillkürlich rücken wir nach einer Richtung näher zu dem Nachbarn, nach anderer Richtung weiter von ihm weg, als unsere Neutralität es erlaubt.»

«Neutralität der Schweiz im Widerspruch zur fortschreitenden Blockbildung»

Die Auflösung der Nationalstaatlichkeit folgt dem Trend zu grösseren Blockbildungen der «Willigen». «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns», stand im US-Aufgebot zum Irakkrieg. Auch die Neutralität der Schweiz wird als obsolet kritisiert, denn sie steht gleichermassen im Widerspruch zur fortschreitenden Blockbildung, welche die EU und die Nato nach Auflösung der UdSSR und des Warschauer Paktes kontinuierlich in diesen ehemaligen «Ostblock» vorantreiben.

«Man hat kulturwissenschaftlich erkannt, dass die Schweiz nur existieren kann, wenn sie zu abendländischen Extremismen eine gegenläufige Haltung einnimmt». An diese Aussage erinnert Martin Usteri in «Das Verhältnis von Staat und Recht zur Wirtschaft in der Schweizerischen Eidgenossenschaft» (S. 13) mit Bezug auf Karl Schmid in «Versuch über die schweizerische Nationalität» (S.88 ff.)

Dazu Carl Spitteler: «Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet. Er kann das mit dem Verstande, wenn er ihn gewaltig anstrengt, aber er kann es nicht mit dem Herzen. Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige […]. Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. […] Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig. Darum erregt schon unser blosses Dasein Anstoss. Anfänglich wirkt es befremdend, allmählich die Ungeduld reizend, schliesslich widerwärtig verletzend und beleidigend. Vollends ein nicht zustimmendes Wort! Ein unabhängiges Urteil! Der patriotisch Beteiligte ist ja von dem guten Recht seiner Sache heilig überzeugt und ebenso heilig von dem schurkischen Charakter der Feinde. Und nun kommt einer, der sich neutral nennt, und nimmt wahrhaftig für die Schurken Partei! Denn ein gerechtes Urteil wird ja als Parteinahme für den Feind empfunden.»

«Der Unparteilichkeit drohen vernichtende Strafen»

Heute sind die Medien und ein Teil der Politiker in diese Falle getreten. Denn nach Spitteler gilt: «Der Parteinahme winkt unmässiger Lohn, der Unparteilichkeit drohen vernichtende Strafen.»

Der neutrale Standpunkt lehnt jede Kriegshandlung – ob «hard-» oder «soft skill» – gleichermassen ab. All die Appelle und voreilig gefällten Urteile, die dafürhalten, dass sich die Schweiz auf Druck von Kriegsparteien über ihre Neutralität und Unparteilichkeit hinwegsetze, verstricken sich nun in den Untiefen parteilicher Doppelstandards, aus denen kaum mehr freizukommen ist. Der Schaden ist angerichtet.

Wer die Verantwortung hierfür trägt, ist zu klären.

Gefragt sind nach Spitteler «Eintracht, die Wahrung der Gerechtigkeit und der Neutralität» im Inneren und daraus nach aussen eine Friedensinitiative, um auf die Konfliktprozesse mit ordnender Kraft mässigend einzuwirken.

Vorschlag für eine Entschärfung des Konfliktes in der Ukraine

Es liegt im Interesse Europas, ein friedliches Zusammenleben freier Nationen zu sichern, welche wirtschaftlich auf der Basis des gegenseitigen Vorteils kooperieren.

Wie die europäische Geschichte zeigt, haben sich die Nationen in einem Prozess aus ethnischen, geographischen und religiösen Kräften herausgebildet.

Die Besonderheit der Ukraine ist, dass sie einerseits aus dem Zerfall der UdSSR mit Grenzziehungen, die einer demokratischen Legitimation entbehren, belastet ist, und zusätzlich als historisches Grenzland oder «March», wie wir in der Schweiz sagen würden, unterschiedliche Religionen, Sprachen sowie eine jeweils unterschiedliche geschichtliche Herkunft aufweist.

Als Schweizer erinnern wir uns an den gescheiterten Vorschlag Napoleons, die Ständeordnung der Schweiz durch die Kantonseinteilung zu «verbessern», indem er den Raum der Linthebene in einen Kanton Linth zusammenfassen wollte. Die Linthebene oder die «March», wie der Name sagt, war jedoch historisches Grenzland von St.Gallen, Glarus, Schwyz und Zürich. Die Lösung lag schlussendlich darin, dass es bei der geschichtlich gewachsenen Ordnung geblieben ist und Napoleon ein Einsehen hatte.

Ukrainische Bataillone beschiessen die Wohngebiete des Donbas im eigenen Land

Fast 200 Jahre später hat die Schweiz mit der Bildung des Kantons Jura jedoch ein sprachliches und religiöses Minderheitenproblem gelöst.

Die Schweiz, welche 2014 den Vorsitz der OSZE innehatte, hat wesentlich zum Vorschlag und Vertrag von Minsk beigetragen. Die russischsprachigen Gebiete des Donbas sollten den Status eigenständiger Kantone innerhalb der Ukraine erhalten. Dass ukrainische Bataillone die Wohngebiete des Donbas – also des eigenen Landes beschiessen, kann weder internationales Recht noch jedwede parallel geschaffene «regelbasierte Ordnung» gutheissen. Deshalb gab es gegen diese Forderung des Schweizer Vorsitzes kein Gegenargument. Der Vertrag von Minsk wurde unterzeichnet.

Die Eidgenossenschaft ist durch eine langandauernde Politik der Bündnisse zusammengewachsen aus unterschiedlichen Kulturen, Religionen, Sprachen und Wirtschaftsgebieten. Aus diesem ur-europäisch demokratischen Fundus heraus war der Beitrag der Schweiz zum Abkommen von Minsk substantiell so stark, dass die Parteien nicht umhinkamen zu unterschreiben. Nun haben aber jene, die unterschrieben oder aus der internationalen Arena gegen ihre wahren Absichten zugestimmt haben, sofort erkannt, dass angesichts dieser Rolle der Schweiz die beabsichtigte Nichteinhaltung des Vertrages kaum ohne schweren Gesichtsverlust zu haben wäre. Die Schweiz wurde aus dieser neutralen Position verdrängt.

Der Vertrag wurde gebrochen und von 2014 bis 2022 sind durch den Beschuss des eigenen Volkes durch die ukrainische Armee 14 000 Tote aus den Städten und Dörfern des Donbas zu beklagen. In Westeuropa wurde der Putsch vom Februar 2014, also die Beseitigung einer demokratisch legitimierten Regierung, geduldet. Von den jahrelangen Beschiessungen der Wohngebiete im Donbas wurde von der EU keine Notiz genommen, während das Engagement der USA in der Ukraine personell und finanziell längst bekannt war. Man kommt nicht umhin, dies als ein Versagen des aufgeklärten Europas mehr als zu bedauern. Die Kritik am deshalb anschliessenden Eingreifen Russlands zum Schutz der russisch sprechenden Bevölkerung war deshalb einseitig. Diese einseitige Sicht liess es auch geboten erscheinen, die Neutralität der Schweiz sogar aus dem Munde des amerikanischen Präsidenten weltweit als obsolet zu erklären.

Aus der Eskalationsspirale herausfinden

Wie aus dieser offensichtlichen Unrechtslage heraus die Losung herausgegeben wird, bis zum letzten Soldaten zu kämpfen, sollte deutlich machen, dass hier ein geostrategischer, von langer Hand geplanter Prozess vorangetrieben wird, der aus der Eskalationsspirale kaum mehr herausfindet.

Das kann Europa – vor allem die Schweiz – so nicht geschehen lassen. Die Schweiz ist in Europa legitimiert, ihre Vorschläge, die den Minsker Verträgen zugrunde liegen, in aller Form vor die europäische und die internationale Gemeinschaft zu tragen.

Auch der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger hat ebenfalls zu einer Lösung geraten, welche dem Vorschlag der Schweiz von 2014 entspricht. 

Hier liegt die Aufgabe der Schweiz als neutrales Land. Die unnötigen und falschen Sympathiekundgebungen des Bundesrates für die eine der Konfliktparteien sowie die in «Davos» geborene Idee einer «Lugano Konferenz» für den «Wiederaufbau» der Ukraine sind entschieden abzulehnen. Nicht weil eine Wiederaufbauhilfe nicht sinnvoll wäre, sondern weil dadurch der dringende Friedensprozess weiter hinausgeschoben wird und der sich gefährlich zuspitzenden Zerstörung ein kaum ernst zunehmendes Mäntelchen zukünftiger Absichten umgehängt wird.

Die Schweiz muss deshalb Kraft ihrer Neutralität ihre ganze Initiative auf die Friedensverhandlung legen und dieser in der europäischen Öffentlichkeit eine breitere Plattform geben.

Diesem gegenwärtig eskalierenden Zerstörungsprozess muss die Schweiz als neutrales und freies Land entgegentreten.

¹ G. F. W. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 338. Hamburg 2013

* Hans Bieri ist Architekt ETH/SIA und Raumplaner und befasst sich seit seinem Eintritt 1973 in die SVIL, Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (früher Innenkolonisation) mit deren Gründungsthemen. Diese betreffen die Ernährungsfrage und die Frage der Raumentwicklung. Er setzt sich als Geschäftsführer der SVIL dafür ein,  dass die Landwirtschaft in der Industriegesellschaft einen festen Platz behält und die Versorgungssicherheit nicht weiter geschwächt wird, kurz, für eine souveräne und weiterhin neutrale Schweiz.

29. Juni 2022

 

«Wir liefern die Waffen, ihr liefert die Leichen! Das ist unmoralisch»¹

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Seit ein, zwei Wochen hat sich die Berichterstattung in den Mainstreammedien zum Teil etwas geändert. Wir hören immer weniger direkt vom Krieg, nichts mehr über die hohen Verluste der Russen und die militärischen Erfolge der Ukrainer. Wie kommt das?

Jacques Baud In der Realität hat sich nichts geändert. Es handelt sich um eine Veränderung der Wahrnehmungen. Es ist bereits seit mehreren Wochen bekannt, dass die Lage der Ukraine und ihrer Streitkräfte katastrophal ist. Die menschlichen und materiellen Verluste des Landes sind sehr hoch. Zunächst spielten die Ukraine und unsere Medien diese Verluste herunter, um eine Rhetorik rund um eine russische Niederlage und einen ukrainischen Sieg zu entwickeln. Heute ist die Ukraine aufgrund der Realität auf dem Schlachtfeld gezwungen, diese Verluste anzuerkennen. Selenskij hat verstanden, dass diese Verluste als Argument für weitere westliche Hilfe genutzt werden können. 

Was hingegen immer wieder Thema ist, sind die geforderten Waffenlieferungen. Wer soll die Waffen denn bedienen, wenn der grösste Teil der Armee im Donbas eingekesselt ist?

Zunächst einmal muss man sich darüber im klaren sein, dass westliche Waffenlieferungen mehrere Probleme mit sich bringen. Erstens wissen selbst die US-Geheimdienste nicht, ob und wo die gelieferten Waffen ankommen. Der Chef von Interpol warnt, dass ein Teil dieser Waffen in die Hände von kriminellen Organisationen gelangen könnte. Bereits jetzt werden im Darknet Javelin-Panzerabwehrraketen für 30 000 Dollar angeboten. Offenbar werden diese Waffen sofort nach ihrer Ankunft in Kiew weiterverkauft. Zweitens werden Waffen oft nach dem Prinzip «Wer zuerst kommt, mahlt zuerst» verteilt und gelangen nicht immer zu denjenigen, die sie im Feld am dringendsten benötigen. Sie gelangen schliesslich häufig in die Hände der russischen ­Koalition. 

Woran lässt sich das erkennen?

Derzeit sind die Milizen der Republik Donezk mit Javelin-Raketen ausgestattet, die aus den von der russischen Armee erbeuteten Beständen stammen. Ich erinnere daran, dass ukrainische Hubschrauber, die gekommen waren, um Kämpfer aus Asowstal zu exfiltrieren, mit von den Amerikanern gelieferten Stinger-Raketen abgeschossen wurden. Zuletzt machen die vom Westen gelieferten Waffen nur einen Bruchteil der von den Russen zerstörten Waffen aus. Beispielsweise schickt Grossbritannien drei Mehrfachraketenwerfer M270 an die Ukraine, doch zu Beginn des Krieges verfügte die Ukraine über mehrere Hundert gleichwertiger Systeme. Mit anderen Worten: Diese Waffen werden nichts ändern, sondern nur den Zeitpunkt für Verhandlungen hinauszögern.

Das ist eigentlich unglaublich. Man sprach doch immer von hohen russischen Verlusten. Kann man die verifizieren, und wie sind die Verluste auf der Seite der Ukrainer? 

In Wirklichkeit ist die Zahl der getöteten Soldaten nicht bekannt, weder bei den Russen noch bei den Ukrainern. Die Zahlen, die in der Schweizer Presse genannt werden, sind die Zahlen, die von der ukrainischen Propaganda verbreitet werden. Anfang Juni sprach Präsident Selenskij von 60 bis 100 getöteten Soldaten pro Tag. Eine Woche später erklärte Mykhailo Podoliak, Selenskijs Berater, dass die ukrainischen Streitkräfte 100 bis 200 Mann pro Tag verlieren. Heute spricht David Arakhamia, Chefunterhändler und enger Berater von Selenskij, von 200 bis 500 Toten pro Tag und insgesamt von 1000 Verlusten (Tote, Verwundete, Gefangene, Deserteure) pro Tag. Es ist unklar, ob diese Zahlen stimmen.

Gibt es dazu irgendwelche Kommentare, aufgrund deren man sich ein realistisches Bild über die Zahlen machen kann?

 Auf der einen Seite sind Experten, die den Geheimdiensten nahestehen, der Meinung, dass diese Zahlen weit unter der Realität liegen. Andererseits liegen die ukrainischen Zahlen über den vom russischen Militär angegebenen Schätzungen. Einige sagen, dass die ukrainischen Streitkräfte 60 000 Tote und 50 000 Vermisste zu beklagen hätten. Diese Zahlen sind jedoch derzeit nicht überprüfbar. 

Warum berichten die Ukrainer erst jetzt von so hohen Verlustzahlen? 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ukrainer hohe Zahlen melden, um den Westen dazu zu bringen, seine Waffenlieferungen zu erhöhen. Dies erklärt jedoch nicht alles. Das eigentliche Problem ist die Art und Weise, wie die ukrainische Führung ihre Operationen führt. Anstatt dynamisch zu führen und die Bewegung zu nutzen, verlangt die Ukraine – und insbesondere Selenskij – von ihren Truppen, das Feld zu «halten». Das ist ein biss­chen wie die Situation in Frankreich während des Ersten Weltkriegs. Das ist der Hauptunterschied zwischen der Ukraine und Russ­land: In der Ukraine werden die Operationen von der politischen Führung gesteuert, während in Russland die Operationen Sache des russischen Generalstabs sind. Im Übrigen haben selbst die Amerikaner dieses Problem erkannt. 

Inwiefern?

Laut Arakhamia dienen die Versuche, gegen die russische Armee Boden zu gewinnen, lediglich dazu, eine bessere Ausgangslage zu haben, um später mit den Russen zu verhandeln. Dies ist eine rein politische Kriegsführung, die keine Rücksicht auf das Leben der Soldaten nimmt. Dieser Ansatz wird von den westlichen Ländern und unserer Diplomatie unterstützt: Das ist sehr ernst.

Am Anfang des Krieges hat man den Widerstandswillen der Ukrainer betont. Gibt es diesen denn nicht mehr?

Ich denke, das ukrainische Militär erfüllt seine Aufgabe mit Tapferkeit. Die Soldaten befinden sich in Schützengräben, die sie seit 2014 zur Einkreisung des Donbas ausgehoben hatten. Leider sind ihre Erfolgsaussichten angesichts der Artillerie und eines mobilen Feindes gering. Es scheint, dass der Militärstab diese Männer in günstigere Kampfpositionen zurückziehen wollte, aber die politische Führung des Landes hat dies abgelehnt. Hier haben unsere Medien und Politiker eine perverse Rolle gespielt, indem sie die Illusion eines ukrainischen Sieges und das Versprechen umfangreicher Waffenlieferungen aufrecht erhielten. 

Damit haben sie die Öffentlichkeit einschliesslich der Ukrainer an der Nase herumgeführt.

Ja. Heute ist klar, dass die Ukrainer und der Westen sich gegenseitig belogen haben, nur um Russland in Schwierigkeiten zu bringen. Die Ukrainer müssen nun schlecht ausgerüstete und schlecht vorbereitete Gebietseinheiten aus dem Westen des Landes in den Donbas schicken. Dies schafft Unzufriedenheit, und es kam zu zahlreichen Demonstrationen gegen Selenskij im Westen des Landes und in Kiew. Aus diesem Grund musste Kiew neue Gesetze erlassen, um diejenigen zu bekämpfen, die nicht mit der Regierung einverstanden sind. Unsere Diplomaten haben eindeutig aktiv zum Tod Tausender ukrainischer Militärangehöriger beigetragen. Es sind die westlichen Militärs, die heute versuchen, Vernunft in diesen Konflikt zu bringen.

Aber gibt es in den von Russland besetzten Gebieten keine Widerstandsbewegungen?

Interessanterweise sind keine Bewegungen des Volkswiderstands gegen die russische Präsenz zu beobachten. Die westliche Rhetorik von einem heroischen Widerstand des Volkes gegen Russland beruht im Wesentlichen auf den Erklärungen von Nationalisten im westlichen Teil des Landes. Tatsächlich sind die von der russischen Koalition besetzten Gebiete im Osten und Süden des Landes von russischsprachigen Menschen bewohnt. Die Ukrainer haben diese Bevölkerung nie wirklich als ukrainisch betrachtet, wie das Anfang Juli 2021 verabschiedete Gesetz über die indigenen Völker der Ukraine beweist. Die regelmässige Bombardierung von Städten wie Donezk durch die eigene Armee seit 2014 bis heute hat dazu geführt, dass die Bevölkerung im Süden des Landes nicht völlig gegen die russische Präsenz ist. Sie sehen die Russen sogar eher als Befreier.

Kann man unter diesem Gesichtspunkt schon absehen, was Russland in der Ukraine weiter vorhat?

Die Russen halten sich mit ihren Absichten sehr diskret zurück, da sie ihre Ziele an die Verhandlungsbereitschaft der Ukrainer anpassen. Solange die Ukrainer sich weigern zu verhandeln, rücken die Russen weiter vor. Im März waren sie bereit, auf der Grundlage von Selenskijs Vorschlägen zu verhandeln. Unter dem Druck von Boris Johnson zog Selenskij seine Vorschläge jedoch zurück. Die Russen machten also weiter Fortschritte.

Was heisst das jetzt?

Sie würden das, was die Ukrainer im März hätten retten können, nicht wieder auf den Verhandlungstisch legen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es wahrscheinlich, dass die Russen weiter in Richtung Moldawien vorstossen werden, um eine Verbindung mit Transnistrien herzustellen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es in der Südukraine zu einer «Neuschaffung» von Noworossija kommen wird. Die wichtigste Folge des russischen Vorgehens ist, dass die Ukraine ihren Zugang zum Meer verlieren wird.

Was in unseren Medien in der letzten Zeit immer wieder berichtet wird, ist, dass Russland für die steigenden Weizenpreise und einer daraus folgenden Hungerkatastrophe verantwortlich sei. Haben Sie dazu Informationen?

Die Anklagen gegen Russland sind Teil der westlichen Rhetorik, um Russland vom Rest der Welt zu isolieren und sich von westlichen Fehlern freizusprechen. Zunächst einmal ist der Anstieg der Getreidepreise nicht direkt auf den Krieg zurückzuführen, sondern auf die Bedingungen, die von den westlichen Ländern geschaffen wurden, indem sie bewusst versuchten, die Situation zu dramatisieren. Dasselbe Phänomen ist auch bei den Erdölpreisen zu beobachten. Der Anstieg der Getreidepreise ist die Folge mehrerer Faktoren. Erstens: Zahlungsbeschränkungen, die dazu führen, dass die Käufer US-Sanktionen gegen sie befürchten. Zweitens sind die Transporte zu teuer geworden, weil der Ölmarkt aufgrund der westlichen Sanktionen geschrumpft ist. Drittens verhindern die westlichen Sanktionen, dass Düngemittel auf den Markt kommen; diese Produkte sind zwar nicht sanktioniert, aber bei den Zahlungsmitteln gab es Beschränkungen, die den Käufern Angst machen.

Es wird aber der Vorwurf erhoben, dass die Ukraine wegen der Russen kein Getreide liefern könne. Ist das tatsächlich so?

Nein, das ist nicht wahr. Aus zwei Hauptgründen. Der erste ist, dass unsere Medien natürlich nicht berichten, dass die Schwarzmeerhäfen von der Ukraine vermint wurden, weil sie einen Angriff vom Schwarzen Meer aus befürchtete. Infolge von Stürmen haben sich viele dieser Minen gelöst und bewegen sich frei. Sie wurden zu einer Gefahr für die Seeschifffahrt. Die türkische Marine musste mehrere von ihnen entschärfen, die den Bosporus erreicht hatten. Der zweite Grund ist, dass Russland die ukrainischen Häfen nicht blockiert. Im Gegenteil, es erlaubt Schiffskonvois, ukrainische Häfen zu beliefern; es garantiert sogar Seekorridore, deren Koordinaten in regelmässigen Abständen über internationale Seefrequenzen ausgestrahlt werden. Das Problem ist, dass diese Korridore wegen der ukrainischen Minen nicht genutzt werden. Im Übrigen hat David Arakhamia deutlich gemacht, dass die Ukraine nicht die Absicht hat, ihre Minen aus dem Schwarzen Meer zu entfernen. Es ist ein biss­chen in Mode gekommen, Putin für westliche Entscheidungen verantwortlich zu machen, die nicht gründlich durchdacht und nicht in eine kohärente Strategie eingebettet sind.

Ist tatsächlich dadurch eine Knappheit auf dem Markt entstanden, oder ist das ein künstlicher Vorgang, um die Preise nach oben zu treiben?

Ich bin kein Spezialist des Getreidehandels. Aber zum einen hat es die Ukraine nicht geschafft, ihre Getreideernte für 2021 vor der russischen Offensive zu verkaufen, und zum anderen scheint Russland für 2022 eine aussergewöhnliche Ernte zu erwarten. Folglich sieht es nicht so aus, als ob es eine Getreideknappheit gibt. Das Problem ist, dass das Getreide nicht auf den Markt gelangen kann. Dies liegt vor allem an den westlichen Sanktionen gegen Russland und Belarus. Natürlich hat diese Situation das Interesse der Spekulanten geweckt, aber ich kann diesen Faktor nicht einschätzen.

Polen zeigt sich immer wieder ganz besorgt, dass demnächst ein russischer Angriff auf sein Territorium erfolgen wird. Wie realistisch ist das Szenario?

Polen hat in diesem Konflikt immer wieder Öl ins Feuer gegossen. Es träumt davon, sein altes Intermarium-Projekt zu verwirklichen, das sich Marschall Pilsudski in den 1930er Jahren gewünscht hatte und das die Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer zusammenführen sollte. So sollte das Königreich Polen aus dem 17. Jahrhundert wiederhergestellt werden. Polen träumt von einem offenen Konflikt mit Russland, weil es – wie die Ukraine – glaubt, dass Russland mithilfe der Nato endgültig besiegt werde und sein alter Traum in Erfüllung gehen könnte. Dies zeigt im Übrigen, dass Polens Interesse an Europa nur oberflächlich ist.

Warum fällt den europäischen Staaten nicht auf, was hier für ein dreckiges Spiel gespielt wird?

Das Ziel der westlichen Länder (zu denen ich natürlich auch die Schweiz zähle) ist es, die russische Regierung auf die eine oder andere Weise zu destabilisieren. Für diese Länder heiligt der Zweck die Mittel. Deshalb haben wir keine Gewissensbisse, die russische Bevölkerung (auch in unseren Ländern) anzugreifen und die ukrainische Bevölkerung zu opfern. Wie Andrés Manuel López Obrador, Präsident von Mexiko, über die Politik der Nato gegenüber der Ukraine sagte: «Wir liefern die Waffen, ihr liefert die Leichen! Das ist unmoralisch.»

Herr Baud, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

¹ Aussage des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador.

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995–1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

29. Juni 2022

Ukrainische Menschenrechtsbeauftragte stürzt über erfundene «Massenvergewaltigungen»

von Jens Berger

Lyudmyla Denisova war in den letzten Wochen in den westlichen Medien eine vielzitierte Quelle. Die mit schrecklichen Details gespickten Aussagen der Ombudsfrau des ukrainischen Parlaments für Menschenrechte zu «Massenvergewaltigungen» ukrainischer Frauen und Kinder durch russische Soldaten passten offenbar gut ins Narrativ. Dann kam jedoch heraus, dass sie sich die meisten Schilderungen schlichtweg ausgedacht hatte. Es folgte ein Misstrauensvotum und die Entlassung. Nun erklärte sich Denisova in den ukrainischen Medien.¹ Sie habe mit den Greuelmärchen doch nur der Ukraine helfen wollen, indem sie den Westen zu Waffenlieferungen bringt. Davon erfahren wir in deutschen Medien natürlich nichts, und es ist davon auszugehen, dass Denisovas Greuelpropaganda auch weiterhin von deutschen Journalisten und Politikern weiterverbreitet wird.

Das erste Opfer jedes Krieges ist die Wahrheit. Es ist daher nicht sonderlich überraschend, dass Kriegsparteien versuchen, die öffentliche Meinung im In- wie im Ausland durch Lügen zu beeinflussen. Lyudmyla Denisova beherrschte dieses Handwerk jedoch nicht in Perfektion – ihre Greuelgeschichten von Massenvergewaltigungen an Frauen und Kindern waren so detailliert und unglaublich, dass sie einige Journalisten dazu animierten, sie auf eigene Faust weiter zu recherchieren; sicher nicht, um sie zu überprüfen, sondern um sie auszuschlachten und weiterzuspinnen. So erzählte Denisova beispielsweise etwas von einem einjährigen Jungen, der von russischen Soldaten zu Tode vergewaltigt wurde. «Dummerweise» liessen sich diese und andere Aussagen aber nicht bestätigen, was in einigen internationalen Zeitungen – deutsche waren natürlich nicht darunter – zu ersten Zweifeln über den Wahrheitsgehalt sämtlicher ukrainischen Vorwürfe führte. Das kam im ukrainischen Parlament gar nicht gut an.

Parlamentarisches Misstrauensvotum und Entlassung

Aber es waren nicht nur die Lügen, die Denisova das Genick brachen, sondern vor allem ihre eigenwillige Amtsauffassung. Anstatt als Menschenrechtsbeauftragte der Werchowna Rada nach Russland und Weissrussland zu reisen, um humanitäre Korridore zu verhandeln und sich für den Austausch von Kriegsgefangenen einzusetzen, tourte sie lieber durch Davos, Wien, Rom und «andere warme westliche Länder Europas» (Zitat: Interfax-Ukraine), um Medienarbeit in eigener Sache zu betreiben, indem sie ihre Greuelgeschichten verbreitete. Am 31. Mai sprach das ukrainische Parlament ihr daher mit 234 zu 9 Stimmen das Misstrauen aus und entliess sie aus ihrem Amt. Einen Nachfolger gibt es noch nicht.

Greueltaten ausgedacht, um schwere Waffe zu bekommen

Einige Tage später fühlte sich Denisova nun dazu getrieben, sich vor den ukrainischen Medien in einem Interview zu rechtfertigen.² Ihre Aussagen sollten vor allem im Westen die Alarmglocken schrillen lassen. Sie habe sich die Vergewaltigungsgeschichten nur ausgedacht, um ihrem Land zu helfen. So schildert sie eine Rede vor dem italienischen Verteidigungsausschuss. Die Abgeordneten seien des Kriegs in der Ukraine überdrüssig gewesen, und allen voran habe sich die Fünf-Sterne-Bewegung gegen Waffenlieferungen ausgesprochen. Mit ihren ausgedachten Greuelgeschichten habe sie dann jedoch die Stimmung gedreht und danach habe ihr sogar ein führendes Mitglied der Fünf-Sterne-Bewegung gesagt, er befürworte nun auch die Lieferung schwerer Waffen. «Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Aber ich habe versucht, das Ziel zu erreichen, die Welt davon zu überzeugen, Waffen zu liefern und Druck auf Russland auszuüben», so Denisova.

Mit ihren Lügen schaffte es Denisova in das Programm von CNN, «Washington Post», BBC und anderen und auch in deutschen Medien wurde sie immer wieder zitiert (u. a. in der «Frankfurter Rundschau»³, bei RTL⁴ oder im Spiegel⁵, und der Spiegel interviewte sie sogar⁶).

Ihre Propaganda hatte durchaus Erfolg. So nutzte beispielsweise auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann die Lüge von den «Massenvergewaltigungen», um Ulrike Guérot bei Lanz mit der grösstmöglichen Moralkeule mundtot machen zu wollen.⁷ Zum Zeitpunkt der Aufzeichnung war Denisova übrigens schon nicht mehr im Amt und Strack-Zimmermann hätte als «Fachpolitikerin» wissen müssen, dass die Geschichten über die Greueltaten ausgedacht waren.

Auch Selenskij glänzt mit fragwürdigen Stories

Auf eine Richtigstellung deutscher Medien und deutscher Politiker werden wir wohl vergebens warten. Ist die Lüge erst in der Welt, ist es nicht mehr so einfach, sie wieder einzufangen – schon gar nicht, wenn man gar kein Interesse an der «Wahrheit» hat. Und Denisova ist ja nicht allein. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, und auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij «glänzen» ja mittlerweile fast täglich mit «Stories», deren Wahrheitsgehalt zumindest fragwürdig ist. Auch ihr Ziel ist es, den Westen dazu zu bringen, Waffen zu liefern und sich noch weiter gegen Russland zu positionieren. So gesehen ist Frau Denisova eine «gute» Staatsdienerin – nur dass sie offenbar den Bogen überspannt und ihre Kompetenzen überschritten hat. Das sieht man auch in Kiew nicht gerne. 

Zuerst erschienen auf:

www.nachdenkseiten.de/?p=84712

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

¹ www.zerohedge.com/geopolitical/ousted-ukrainian-official-breaks-silence-admits-she-lied-about-mass-rape-russians?fbclid=IwAR2zCEO5-Fq05ERpMUHkSqkb-b2JMs5xJ0mrWbgS1hYLTOl2yzEIge-WgBk
² lb.ua/news/2022/06/03/518875_lyudmila_denisova_azovtsi_z.html
³ www.fr.de/politik/kriegswaffe-news-ukraine-krieg-russland-soldaten-vergewaltigung-gewalt-91592479.html
www.rtl.de/cms/ukraine-krieg-kind-1-soll-nach-russen-vergewaltigung-gestorben-sein-4974979.html
www.spiegel.de/ausland/sexuelle-gewalt-im-krieg-wenn-kommandeure-das-vergewaltigen-nicht-stoppen-dann-ist-es-eine-strategie-a-f64b2e4c-5168-4475-b598-33c8b18f3b0a
www.spiegel.de/ausland/menschenrechtsverletzungen-durch-russland-in-der-ukraine-wissen-sie-wie-viele-tote-in-ein-300-meter-langes-grab-passen-a-44bd4cec-658c-49f4-8c37-bebc064c14a5
www.nachdenkseiten.de/?p=84493

29. Juni 2022

Ukraine demilitarisieren, dann Europa und die ganze Welt – nach dem Vorbild der Åland-Inseln

von Heinrich Frei

Wird es gelingen, den Krieg in der Ukraine zu beenden? Durch einen Waffenstillstand? Durch einen Friedensvertrag? Durch die Schaffung einer demilitarisierten Zone wie 1953 zwischen Nord- und Südkorea? Der Koreakrieg zwischen 1950 und 1953 hatte gefordert über vier Millionen Opfer, bis es zu einem Waffenstillstand kam.

Ukraine-Konferenz in Lugano ohne Russland?

Am 4. und 5. Juli 2022 soll in Lugano die Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine stattfinden. Als künftiges Mitglied des Sicherheitsrates der Uno müsste sich die Schweiz engagieren, dass an dieser Konferenz auch über einen Waffenstillstand verhandelt wird, der ja eine Voraussetzung für den Wiederaufbau wäre. Ohne die Teilnahme Russlands an dieser Konferenz wird es jedoch schwierig sein, den Krieg zu stoppen. Russ­land müsste also von der Schweiz auch nach Lugano eingeladen werden. 

Rückeroberung des Donbas und der Krim oder Friedensverhandlungen? 

Könnte die Ukraine wie die Åland-Inseln zwischen Schweden und Finnland nicht vollständig demilitarisiert werden? Oder soll mit Waffenlieferungen und ausländischen Söldnern der Donbas und die Krim wieder zurückerobert werden – unter Inkaufnahme von Zehntausenden Opfern und furchtbaren Zerstörungen? 

Heute besteht ja auch die grosse Gefahr, dass es durch den Krieg an einem der vier Standorte von Atomkraftwerken in der Ukraine mit insgesamt 15 Atomreaktoren ungewollt durch einen Beschuss zu einer Katastrophe kommt, wie 1986 im ukrainischen AKW in Tschernobyl. Der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger forderte beim Weltwirtschaftsforum in Davos, der Westen solle in den Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht weiter eingreifen. Man müsse mit Verhandlungen beginnen.¹

Braucht der Westen mehr Rüstung gegen Russland?

Die USA geben pro Jahr 778,1 Milliarden US-Dollar für das Militär aus, Russland 61,7 Milliarden US-Dollar also 12,6 mal weniger als die USA. Die Militärausgaben der Nato – ohne die USA – betragen 324,3 Milliarden US-Dollar, also 5,3 mal mehr als die Russlands. Trotzdem rüstet jetzt die Nato auf. Deutschland hat beschlossen, die Militärausgaben um 100 Milliarden Euro zu erhöhen. Auch das seit Jahrzehnten quasi Nato-Mitglied Schweiz² wird die Militärausgaben in den nächsten Jahren um 40  Prozent erhöhen. Nicht so spendabel ist man in den USA, Deutschland und der Schweiz, wenn es darum geht, armen Leuten zu helfen, den Obdachlosen, den Sans-papiers, den Flüchtlingen, all den Menschen, die zwar voll arbeiten, aber zu wenig verdienen, um anständig leben zu können.

Friedensschluss nach dem Krimkrieg von 1853 bis 1856

In anderen Kriegen – auch im Krimkrieg von 1853 bis 1856 – gelang es schliesslich, Frieden zu schliessen. Am 30. März 1856 schloss Russland mit seinen Kriegsgegnern – dem Osmanischen Reich, Grossbritannien, Frankreich und Sardinien sowie den nicht kriegführenden Staaten Preussen und Österreich – den Frieden von Paris.³

Der Krimkrieg, der vor 166 Jahren ein Ende fand, wurde auch im Bottnischen Meerbusen zwischen Schweden und Finnland ausgefochten. Französische Truppen belagerten und beschossen die russische Festung Bomarsund auf den Åland-Inseln, bis sich die Besatzung ergab. Nach dem Krieg wurden die Inseln auf Verlangen von England und Frankreich demilitarisiert. Russland verpflichtete sich im Pariser Friedensvertrag von 1856, Åland nicht zu befestigen. Während des Ersten Weltkriegs brachte Russland mit Einverständnis der Verbündeten England und Frankreich erneut Truppen nach Åland und begann wieder mit der Befestigung der Inseln. 

Åland heute: autonome, selbstverwaltete, demilitarisierte Provinz Finnlands

Als Finnland 1917 seine Unabhängigkeit von Russland erklärte, wurde die Idee geboren, die Åland-Inseln sollten in Zukunft zu Schweden gehören. Finnland wollte Åland jedoch nicht aufgeben, sondern bot ihm Autonomie an. Diese strittige Frage wurde 1921 dem Völkerbund vorgelegt, der entschied, dass die Åland-Inseln zu Finnland gehören sollen. Finnland musste den Åland-Inseln aber das Recht auf die schwedische Sprache, deren eigene Kultur und lokale Traditionen sowie das Selbstverwaltungsmodell garantieren. Auch die Entmilitarisierung der Åland-Inseln von 1856 wurde vom Völkerbund bestätigt. Mit der damaligen Sowjetunion wurde 1940 ein separates Abkommen über die Entmilitarisierung dieser Inselgruppe abgeschlossen. 

Diese Entmilitarisierungsabkommen verbieten Finnland in der Region der Åland-Inseln irgendwelche festen militärischen Einrichtungen zu bauen, Militärflugplätze oder andere für militärische Zwecke dienende Einrichtungen zu unterhalten. In Åland, oder finnisch Ahvenanmaa, besteht auch keine Militärdienstpflicht wie in Finnland. Åland ist die einzige Provinz Finnlands mit eigener Autonomie. Sie hat ihr eigenes Parlament, die Provinzversammlung, und druckt eigene Briefmarken.

Åland-Inseln: Vorbild für eine Welt ohne Militär, ohne Krieg

Die Åland-Inseln könnten ein Vorbild werden für eine Welt ohne Militär, ohne Krieg. Zu Åland gehören 6757 Inseln und Klippeninseln, davon sind 60 bewohnt. In Åland leben etwa 30 000 Menschen. Im Sommer besuchen viele Touristen diese Inseln.

Beitritt Finnlands zur Nato und die Demilitarisierung Ålands?

Die Bestrebungen Finnlands für einen Nato-Beitritt rücken die Åland-Inseln plötzlich in den Fokus von Militärexperten, die politische Autonomie und militärische Neutralität wird in Frage gestellt. Truppen dürfen dort nicht stationiert werden. Bei einem russischen Angriff könnte das Finnland zum Verhängnis werden, meinen die Experten.

Die Bewohner von Åland sind grossenteils gegen eine militärische Aufrüstung. Dies trotz der Warnung von Experten, dass ihre Neutralität nicht vor einem russischen Angriffskrieg schützen könnte.

Die åländische Regierungschefin, Veronica Thornroos, sagte zu AFP: «Warum sollten wir das ändern? Ich denke, es ist ein stabilisierender Faktor im Ostseeraum, dass wir entmilitarisiert sind.» Auch die finnische Regierung hat «keine Absicht, den Sonderstatus von Åland anzutasten».⁴

Demilitarisiertes und autonomes Kosovo kam nicht zustande

Auch Serbien schlug seinerzeit vor, Kosovo einen ähnlichen autonomen Status zu verleihen wie den Åland-Inseln, also autonom, selbstverwaltet und demilitarisiert zu sein. Aber solche Vorschläge wurden abgelehnt, denn die USA hatten bereits im Kosovo einen ihrer weltweit grössten Militärstützpunkte installiert – Camp Bondsteel. Auch die kosovarische Regierung wollte von einem autonomen Status und einer Demilitarisierung im Schosse Serbiens nichts wissen. 

¹ Kissinger and the War in Ukraine: The Messenger and the Master, by Peter Koenig, Global Research, June 16, 2022
² Neue Rheinische Zeitung: Seit eh und je quasi Nato-Mitglied - Die Schweiz liefert brav Waffen und Munition für «Friedenseinsätze» – flyer/beitrag.php?id=21662
³https://de.wikipedia.org/wiki/Pariser_Frieden_(1856)#:~:text=Der%20Pariser%20Frieden%20wurde%20am%2030.%20M%C3%A4rz%201856,Russland%20andererseits%20geschlossen.%20Der%20Friedensvertrag%20beendete%20den%20Krimkrieg.
www.nau.ch/news/europa/Ålandinseln-achillesferse-der-finnland-verteidigung-gegen-russland-66200124

Zurück