Wann sind Sanktionen völkerrechtlich legitimiert?

Kleine Anfrage im Landtag des Fürstentums Liechtenstein

von Michael Winkler*, Liechtenstein

Mit Sanktionen ausserhalb der Uno wird in letzter Zeit gegen unliebsame politische Widersacher vorgegangen, um politische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Kleine Staaten sind fast gezwungen, mitzumachen – auch wenn sie das natürlich so nicht zugeben wollen.

«Die Sanktionen gegen Syrien, Venezuela, Iran und Russland sind völkerrechtlich illegal.» Das hielt in der letzten Ausgabe von «Zeitgeschehen im Fokus» Luzi Stamm (SVP) von der Aussenpolitischen Kommission (APK) der Schweiz in einem Interview fest. Viel mehr ist dem auch nicht hinzuzufügen. Die Begründungen für diese Sanktionen werden immer merkwürdiger, wie der Abgeordnete der Vaterländischen Union, Christoph Wenaweser, in Liechtenstein in Erfahrung brachte. Er wollte mittels Kleiner Anfrage wissen, wie seine Regierung das handhabt.

Neben einer ellenlangen Liste sanktionierter Staaten lieferte Aussenministerin Aurelia Frick die fadenscheinigen Motive für die Sanktionen. Alle liechtensteinischen Sanktionen seien nach Rechtsauffassung der Regierung völlig zweifelsfrei völkerrechtskompatibel, liess Frick ausrichten: «Sie basieren entweder auf einer UNO- oder EU-Sanktion.» Diese beiden Institutionen hätten sich der Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet. «Ein Nachvollzug dieser Sanktionen ist völkerrechtskonform und im Interesse der liechtensteinischen Aussenpolitik», erklärte Frick. Ergo: Sobald die EU eine Massnahme beschliesst, ist sie auch völkerrechtskonform. Nach dieser Logik ist nicht das Völkerrecht verbindlich, sondern die Institution EU setzt fest, was gerade Völkerrecht ist.

Weiter führt die Ministerin aus, dass man im Falle Russlands «Massnahmen zur Vermeidung der Umgehung internationaler Sanktionen im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine» getroffen habe. Interessant an dieser Formulierung: Man macht sich hier zum Erfüllungsgehilfen Dritter, obwohl man mit betroffenen Staaten keine direkten Probleme hat. Und das, obwohl man gemäss Regierung von russischen Gegensanktionen im Landwirtschaftsbereich betroffen sei.

Selbst wenn die «faktischen Auswirkungen sehr gering» sind: Die Sanktionen haben mit dem Völkerrecht nichts gemein, wohl aber mit Geopolitik – wohl auf Druck der USA. Fakt ist: Liechtenstein hat keine Vorteile aus diesen Massnahmen. Im Gegenteil: Da die Sanktionen jeweils wirtschaftliche Konsequenzen zur Folge haben, dürften die Nachteile die Vorteile überwiegen, wie man im Falle Russlands zugibt. In der Beantwortung der Kleinen Anfrage meinte Liechtensteins Aussenministerin: «Sowohl die Uno wie auch die EU haben sich zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet. Deren Massnahmen sind speziell darauf gerichtet, Völkerrechtsverletzungen zu sanktionieren.» Luzi Stamm von der APK erklärt hingegen: «Sanktionen sind völkerrechtlich nur dann legitim, wenn sie vom Uno-Sicherheitsrat erlassen werden.» Damit könnte man also durchaus behaupten, dass die Gegensanktionen Russlands völkerrechtskonform sind, weil sich die Sanktionen gegen Russland ausserhalb des Völkerrechts befinden.

Der langen Rede kurzer Sinn: Mit solchen unilateralen Sanktionen, welche man ohne den Uno-Sicherheitsrat beschliesst, schafft man nicht nur gefährliches, völkerrechtswidriges Gewohnheitsrecht, sondern schneidet sich für die Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen Dritter ins eigene Fleisch. Macht man nicht mit, gerät man in Verdacht, die völkerrechtswidrigen Sanktionen umgehen zu wollen. So unterwandert «Internationaler Gruppenzwang» und Schwarz-Weiss-Denken immer mehr die Werte von Neutralität und Souveränität. Ein Paradigmenwechsel kann sich nur einstellen, wenn Europa sich von anderen «Weltmächten» emanzipiert, statt als Steigbügelhalter dabei zu helfen, geopolitische Interessen durchzusetzen. Vielleicht bringt die Haltung von Seehofer, Kurz, Conte – mit deutlichen Abstrichen auch Orban – und Co. Europa wieder eher auf den Weg der Souveränität seiner einzelnen Staaten. Die Bevölkerung in ihren Staaten bzw. Ländern scheint jedenfalls eine solche Haltung zu befürworten. Von mehr Selbstbestimmung würden auch kleinere Staaten wie die Schweiz und Liechtenstein profitieren.

*Michael Winkler, Politologe und Historiker, war 10 Jahre lang als Journalist tätig und ist jetzt Parteisekretär der Vaterländischen Union.

 

Anfrage vom 6. Juni 2018 von Christoph Wenaweser, Landtagsabgeordneter des Fürstentums Liechtenstein
Uno-Sanktionen sind von der Uno, speziell dem Uno-Sicherheitsrat, verhängte Sanktionen, also Strafen, gegen Staaten beziehungsweise politische Eliten oder andere spezielle Gruppen, die wiederholt gegen die Menschenrechte verstossen oder Uno-Beschlüsse – meist zur Konfliktvermeidung – missachtet haben. Diese haben ihre gesetzliche Grundlage im Art. 41 der Uno-Charta. Sie sind deshalb völkerrechtlich gesehen «wasserdicht». In letzter Zeit haben aber auch unilaterale Sanktionen Hochkonjunktur, welche beispielsweise von den USA und der Europäischen Union verhängt werden, um politische Ziele jenseits des Völkerrechts zu erreichen. Sie sind, da nicht von der Uno mitgetragen, möglicherweise völkerrechtswidrig und deshalb problematisch. Dazu meine Fragen: An Sanktionen gegen welche Staaten beteiligt sich Liechtenstein aktuell? Welche Sanktionen sind nach Rechtsauffassung der Regierung völlig zweifelsfrei völkerrechtskompatibel? Wie begründet die Regierung die Beteiligung an den Sanktionen, die allenfalls völkerrechtlich nicht völlig zweifelsfrei sind? Welche Möglichkeiten gibt es, sich an solchen völkerrechtswidrigen Sanktionen nicht zu beteiligen, und was wären daraus die Konsequenzen? In welchen Fällen ist Liechtenstein auch von Gegensanktionen betroffen?

 

Antwort von Regierungsrätin Aurelia Frick vom 8. Juni 2018
Zu Frage 1: Liechtenstein beteiligt sich an Sanktionen gegen Ägypten, Burundi, Belarus, Guinea, Guinea-Bissau, Eritrea, die Demokratische Volksrepublik Korea, die Demokratische Republik Kongo, Iran, Irak, Jemen, Libanon, Libyen, Mali, Myanmar, Simbabwe, Somalia, Sudan, Südsudan, Syrien, Tunesien, Ukraine, Venezuela und die Zentralafrikanische Republik, sowie an Massnahmen zur Vermeidung der Umgehung internationaler Sanktionen im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine, an Sanktionen gegenüber Personen und Organisationen mit Verbindung zu den «Taliban», zu den Gruppierungen «ISIL» und «Al-Qaida» und an Sanktionen gegenüber bestimmten Personen in Zusammenhang mit dem Attentat auf Rafik Hariri. Zu Frage 2: Alle liechtensteinischen Sanktionen sind nach Rechtsauffassung der Regierung völlig zweifelsfrei völkerrechtskompatibel: Sie basieren entweder auf einer Uno- oder EU-Sanktion. Sowohl die Uno wie auch die EU haben sich zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet. Deren Massnahmen sind speziell darauf gerichtet, Völkerrechtsverletzungen zu sanktionieren. Ein Nachvollzug dieser Sanktionen ist somit völkerrechtskonform und im Interesse der liechtensteinischen Aussenpolitik Zu Frage 3: Siehe Frage 2. Zu Frage 4: Als UNO-Mitglied ist Liechtenstein zur Umsetzung von UNO-Sanktionen verpflichtet. Eine Nichtumsetzung würde Sanktionsmassnahmen gegen Liechtenstein legitimieren. Die EU-Sanktionen werden auf Grundlage des Gesetzes vom 10. Dezember 2008 über die Durchsetzung internationaler Sanktionen (ISG) autonom nachvollzogen, wenn dies im Interesse von Liechtenstein liegt, insbesondere um die Umgehung der EU- Sanktionen via Liechtenstein zu verhindern. Zu Frage 5: Liechtenstein ist von russischen Gegensanktionen im Landwirtschaftsbereich betroffen. Die faktischen Auswirkungen sind für Liechtenstein sehr gering.

Das Engagement für Frieden und Völkerverständigung muss für die Schweiz oberste Priorität haben

Aussenpolitischer Bericht des Bundes* wirft Fragen auf

von Thomas Kaiser

Nach den Schrecken der beiden grossen Kriege im 20. Jahrhundert haben die Siegermächte von 1945 mit der Schaffung der Vereinten Nationen (Uno) eine Organisation ins Leben gerufen, die derartiges Schlachten und Morden für immer verbannen sollte. So heisst es in der Präambel der Uno-Charta, man sei «fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren». Hehre Ziele, die sich in der Forderung «Nie wieder Krieg!» manifestierten und unbedingte Unterstützung verlangen.

Die Uno-Charta, sozusagen die Verfassung der Uno, sollte bis auf ganz wenige Ausnahmen friedliche Lösungen von zwischenstaatlichen Konflikten gewährleisten. Also Kriege verhindern und Konflikte im Dialog lösen. Ein Grundsatz, der für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschheit oberste Priorität haben muss. Militärisches Vorgehen gegen einen Staat darf – wenn überhaupt – nur vom Uno-Sicherheitsrat legitimiert werden, alles andere bewegt sich ausserhalb des Völkerrechts und ist deshalb illegal. Die 193 Mitgliedstaaten der Uno haben mit ihrem Beitritt zur Weltorganisation die Charta als massgebliches Regelwerk anerkannt. Dennoch staunt man, mit welcher Leichtfertigkeit Staaten darüber hinweggehen und Kriege geführt werden. 

EU hat keine Kompetenz, internationales Recht zu setzen

Ähnlich verhält es sich auch mit Sanktionen gegenüber Staaten. Auch hier ist alleine die Uno massgeblich, was die Verhängung von Sanktionen betrifft. Einseitige Zwangsmassnahmen, wie sie vor allem von den USA und der EU betrieben werden, sind völkerrechtswidrig. Das Versprechen der EU, sich an das Völkerrecht zu halten, was sie bei der Verhängung von Sanktionen über jeden Zweifel erhaben scheinen lässt, ist völlig unhaltbar. Die EU hat keine Kompetenz, internationales Recht zu setzen, sondern dies steht allein der Uno zu. Das Verhalten der EU erinnert an Zeiten, als es hiess: «Der Staat bin ich.»

Für kleinere Staaten, für die die Einhaltung völkerrechtlicher Bestimmungen unter anderem einen Garanten für ihre Souveränität darstellt, kann das Verhalten gewisser Grossmächte nur Unbehagen auslösen. Ein Rückblick auf die letzten 20 Jahre zeigt, dass ein «Völkerrecht à la carte», wie es der Völkerrechtler und ehemalige Unabhängige Experte an der Uno für die Förderung einer gerechten und demokratischen internationalen Ordnung, Alfred de Zayas, immer wieder angeprangert hat, das friedliche Zusammenleben der Völker in höchstem Masse gefährdet. Der Nahe Osten legt ein beredtes Zeugnis davon ab. Auch wenn die Region schon lange ein grosses Unruhepotential beherbergt, ist der Zustand der Region seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA 2003 in den Irak desaströs und bis heute ist kaum ein Silberstreifen am Horizont zu gewärtigen, obwohl auf internationaler Ebene alle Instrumente vorhanden sind, um jeden Konflikt friedlich beizulegen.

Bundesrat muss deutlicher Profil zeigen

In dieser ausserordentlichen Situation wirft der aussenpolitische Bericht des Bundesrates Fragen auf. Anstatt auf die EU und die USA zu schielen, sollte die Schweiz ihren eigenen Weg suchen und finden, ohne sich in die Abhängigkeit mächtiger Staaten zu begeben. Die Antwort der Schweiz auf den zeitlich begrenzten Zugang zur EU-Börse und das Setzen des Landes auf eine graue Liste war für einmal eine richtige Reaktion, auch wenn man sich von Schweizer Seite für diesen Schritt fast entschuldigte, als gleichwertig der EU entgegenzutreten.

Das Engagement für Frieden und Völkerverständigung muss oberste Priorität haben. Anstatt umstrittene Sanktionen wie im Falle Venezuelas oder Syriens mitzutragen und sich blindlings der EU anzuschliessen, in der irrigen Meinung, alles, was die EU auf internationaler Ebene beschliesst, sei völkerrechtlich konform, muss der Bundesrat in der Person von Ignazio Cassis viel deutlicher Profil zeigen, die Völkerrechtswidrigkeit der Sanktionen betonen und deren Ende verlangen.

Rhetorik des Kalten Krieges

Wenig differenziert ist der Bericht auch bei der Beurteilung der Sicherheitslage in Europa. Einzelne Passagen lesen sich wie eine Lagebeurteilung zur Zeit des Kalten Krieges direkt aus dem Hauptquartier der Nato in Brüssel. Darin ist im Falle Russlands von «offener Konfrontation» die Rede: «Russland verschärfte seine antiwestliche Rhetorik, verstärkte sein militärisches Potential an der Westgrenze und operiert vermehrt mit Propaganda, Cyberkriegsführung sowie militärischen Drohungen.» (S.1801) Ganz wertfrei hingegen wird über die Aktivitäten der Nato berichtet, als ob es eine angemessene Reaktion auf die russische Politik wäre: «Die Nato ihrerseits ist daran, ihr Dispositiv zur kollektiven Verteidigung in Europa wieder auszubauen.» Das schon deshalb, weil «die Nato die Abschreckung Russlands wieder als eine Kernaufgabe versteht».

Der Leser fühlt sich in die Zeit des Kalten Krieges versetzt. Nur damals war die neutrale Haltung der Schweizer Politik weit deutlicher erkennbar als heute, obwohl seit Jahren 95 % der Bevölkerung an der Neutralität festhalten wollen.

Einkreisung Russlands durch die Nato

Was zusätzliches Unbehagen auslöst, ist die im Bericht erwähnte einseitig verstärkte Zusammenarbeit mit der Nato. So setzt sich die Schweiz «aktiv für die Aufrechterhaltung der PfP ein» und «im Cyberbereich hat die Schweiz ihre Zusammenarbeit mit der Nato vertieft.»

Die Nato-Unterorganisation PfP (Partnership for peace, auf deutsch Partnerschaft für den Frieden) wurde nach dem Ende des Kalten Krieges von der Nato ins Leben gerufen, um das Versprechen gegenüber der Sowjetunion, die Nato in Europa nicht nach Osten zu erweitern, zu umgehen. So kreierte man ein Gefäss, in dem sich die Staaten an die Nato «anwärmen» konnten, ohne direkt Vollmitglieder mit allen militärischen und politischen Konsequenzen sein zu müssen. Anfang der 90er Jahre traten über 20 Staaten – unverständlicherweise auch die Schweiz – der PfP bei, davon sind heute 12 Vollmitglieder der Nato. Die überwiegende Mehrheit bilden die ehemaligen Warschauer Pakt Staaten sowie die drei ehemaligen Sowjetrepu­bliken auf dem Baltikum.

Unter diesem Gesichtspunkt wird die Bezichtigung Russlands, die Konfrontation mit dem «Westen» zu schüren, absurd. Tatsächlich haben wir eine stetige Einkreisung Russlands durch die Nato. Am 10. März wurde als bisher letzter Akt die Ukraine zum «Nato-Beitrittsaspiranten» erklärt, womit ein weiteres osteuropäisches Land an der Grenze zu Russland eine Bastion der Nato werden soll.

Schweiz muss ihre Neutralität wahren, um glaubwürdig zu bleiben

In dieser Situation muss die Schweiz sich auf ihre Wehrfähigkeit, ihre Neutralität und ihre humanitäre Tradition besinnen. Gerade letzteres wird im Bericht immer wieder erwähnt, auch die Erfolge, die die Schweiz auf dem internationalen Parkett vorzuweisen hat. Das hängt eindeutig mit der Neutralität und mit der nicht vorhandenen «hidden agenda» zusammen. Wenn die Schweiz auf der einen Seite eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Nato sucht und andererseits humanitär wirken möchte, begibt sie sich selbst in einen Widerspruch, den sie kaum wird lösen können. Die Wahrung der Neutralität, die Fähigkeit, diese im Notfall militärisch verteidigen zu können, und die Orientierung bei internationalen Fragen am Völkerrecht und das humanitäre Engagement sollten auch in Zukunft wichtige Grundkomponenten der Schweizer Aussenpolitik sein.

«EU sollte auf Schutz und Einhaltung des Völkerrechts drängen»

Die einseitige Kündigung des Atomabkommens mit Iran verletzt das Völkerrecht

Interview mit dem Völkerrechtler Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas

Alfred de Zayas (Bild thk)
Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Der US-Präsident Donald Trump hat das Atomabkommen mit dem Iran gekündigt. Ist das völkerrechtlich zulässig, ein im Rahmen der Uno verabschiedetes Abkommen einseitig zu kündigen?

Professor de Zayas Unter den hier gegebenen Umständen ist das nicht zulässig. Der Atomvertrag von Genf (2015) und das Atomabkommen von Wien (2016), wodurch die westlichen Sanktionen gegen den Iran aufgehoben werden sollten, wurden multilateral ausgehandelt und deren einseitige Kündigung verletzt das Völkerrecht und die Rechte der anderen Vertragsparteien, wofür Reparationsleistungen fällig sind. Die meisten Verträge haben eine Klausel, die die Methode festlegt, wie man sich aus einem Vertrag zurückziehen kann.

Wo ist das der Fall?

Zum Beispiel im Atomwaffensperrvertrag von 1968 ist im Artikel 10 festgelegt, dass, wenn ein Staat aufgrund seiner nationalen Sicherheit zu der Überzeugung gelangt, so bedroht zu sein, dass er sich nur durch die nukleare Abschreckung schützen kann, dann kann er Artikel 10 in Anspruch nehmen und den Vertrag kündigen.  

Ist das beim Iran-Abkommen auch der Fall?

Im Vergleich zum Atomwaffensperrvertrag enthält das Atomabkommen mit dem Iran keine ähnliche Klausel, aber nach der Wienervertragsrechtskonvention müssen bestimmte Kündigungsbedingungen erfüllt werden (Art. 54-64), was hier nicht der Fall ist. Änderungen von Verträgen sind allerdings gemäss Art. 39-41 der Wienervertragsrechtskonvention möglich. Das Problem mit dem Vertragswerk von 2015/16 ist nämlich, dass es über keine eigenen Sanktionsinstrumente verfügt, um gegen Vertragsbruch oder Kündigung vorgehen zu können. Nach dem allgemeinen Völkerrecht jedoch birgt jeder Vertragsbruch Konsequenzen.

Der Artikel 10 des Atomwaffensperrvertrags gibt dem Vertragsteilnehmer das Recht den Vertrag zu kündigen?

Ja, aber es müssen triftige Gründe vorliegen. Ein Staat kann nicht einfach kündigen, weil er sich nicht mehr daran halten will. Artikel 10 stipuliert: «Jede Vertragspartei ist in Ausübung ihrer staatlichen Souveränität berechtigt, von diesem Vertrag zurückzutreten, wenn sie entscheidet, dass durch aussergewöhnliche, mit dem Inhalt dieses Vertrags zusammenhängende Ereignisse eine Gefährdung der höchsten Interessen ihres Landes eingetreten ist. Sie teilt diesen Rücktritt allen anderen Vertragsparteien sowie dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen drei Monate im voraus mit. Diese Mitteilung hat eine Darlegung der aussergewöhnlichen Ereignisse zu enthalten, durch die ihrer Ansicht nach eine Gefährdung ihrer höchsten Interessen eingetreten ist.» Dies hat Nordkorea 2013 erfolgreich getan. Artikel 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention bestimmt: pacta sunt servanda. Die Verträge müssen in gutem Glauben in die Tat umgesetzt werden. Woran sich die USA gegenüber dem Iran nicht gehalten haben, denn sie haben die Sanktionen gegen den Iran nicht aufgehoben und nun drohen sie mit neuen Sanktionen. 

Lässt das Völkerrecht einen solchen Spielraum zu?

Nein, wenn man ein Vertragswerk eingeht, dann entstehen daraus völkerrechtliche Verpflichtungen. Deren Verletzung nennt man «international wrongful act», auf deutsch Völkerrechtsbruch. Es entsteht das Recht auf Reparation. Das heisst, der Iran und die Europäer können die USA belangen. 

Auf was beziehen sich die Reparationen?

Zum Beispiel auf die Verluste, die die Staaten aufgrund der Sanktionen erleiden. Das bezieht sich auch auf Firmen und private Geschäftsleute eines Staates, denen dadurch ein Schaden erwächst. Der Staat darf einen Investor oder Geschäftsmann schützen, wenn seine Rechte durch einen anderen Staat verletzt werden. In diesem Fall müsste von den USA eine gehörige Summe als Reparation bezahlt werden. 

Gibt es noch weitere Bestimmungen, die Sanktionen einen Rahmen setzen?

Ja, man darf nationale Gesetze nicht exterritorial anwenden. Das ist ebenfalls ein Völkerrechtsbruch. Es ist nicht akzeptabel wie im Fall von Kuba. Die Sanktionen führten aufgrund des Helms-Burton-Act 1996 während der Präsidentschaft von Bill Clinton dazu, dass europäische Unternehmen, die weiterhin mit Kuba Handel trieben, dafür Strafe zahlen mussten. Das ist unzulässig.

Was kann man dagegen tun?

 Es geht hier um die staatliche Verantwortung, reponsibility of states. Es gibt von der Uno einen Kodex über die Verantwortung der Staaten, wenn sie sich über völkerrechtliche Bestimmungen hinwegsetzen. Das Problem liegt darin, wie man die USA dazu zwingen kann zu bezahlen. Die USA haben bereits im Jahr 1985, als Ronald Reagan Präsident gewesen ist, die automatische Kompetenz des Internationalen Gerichtshof aufgekündigt.

Was hat das für Konsequenzen?

Um die USA vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen, müsste vorher z. B., und das ist bei einigen Verträgen bereits der Fall, festgehalten werden, dass bei Nichteinhaltung dieser Verträge automatisch vor dem IGH verhandelt wird. In den meisten Fällen gibt es ein Protokoll wie z. B. bei der Wiener Konvention zum Diplomatenschutz und bei der Wiener Konvention über konsularische Beziehungen. Beide haben ein Protokoll. Entweder akzeptiert man, dass es an den IGH weitergeleitet wird, oder man akzeptiert es nicht.

Was können jetzt die Europäer in dieser Situation tun?

Sie können Verträge oder Einkäufe von den USA aussetzen. Sie könnten z. B. einen grossen Einkauf bei Boeing oder Lockheed-Martin oder von sonst irgendeiner grossen US-Firma stornieren. Das hätte starke Auswirkungen, und es wird Zeit, dass die Europäer daran denken, Gegensanktionen und Gegenmassnahmen zu verhängen, solange diese Sanktionen nur die Konzerne betreffen.

Wie ist die Einschränkung zu verstehen?

Sanktionen, die in keiner Weise akzeptabel sind, sind z. B. jene wirtschaftliche Sanktionen, die es erschweren, Medizin und Nahrungsmittel zu kaufen und zu verkaufen, oder Sanktionen im Bereich des Bankenwesens, bei denen es unmöglich gemacht wird, für einen Staat Waren einzukaufen und zu verkaufen. Solche Sanktionen verletzen die Menschenrechte der Bevölkerung jener Staaten. Aber Waffenembargos usw. sind durchaus möglich.

Wo kamen verbotene wirtschaftliche Sanktionen zur Anwendung?

Wir sehen das in Kuba, Nicaragua, Venezuela. Wenn sie Medikamente kaufen wollen oder medizinische Geräte oder sie brauchen Ersatzzeile, die zu bekommen nicht mehr möglich ist, dann hat das den Tod vieler Menschen zur Folge. Das heisst, eine kranke Frau oder ein kranker Mann, der kein Insulin bekommt, stirbt. Ein Patient oder eine Patientin, die keine Medikamente gegen Krebs oder ähnliche Krankheiten bekommen oder die nicht einmal untersucht werden können, weil bei den Geräten ein wichtiges Ersatzteil fehlt, können in der Folge sterben. 

Wenn die USA Unternehmen aus Europa oder sonst wo, die mit dem Iran weiter Handel treiben wollen, mit Sanktionen belegen, ist das also völkerrechtswidrig.

Ja, so ist es. Das geht gegen die Freiheit des Handels, gegen die Freiheit, Verträge mit wem auch immer abzuschliessen. Das ist eigentlich gegen das Wesen des Kapitalismus. Das ist die Ontologie der «Freien Welt». Frei heisst, dass jeder, der die Initiative hat, kaufen und verkaufen kann, wie er will. Die USA verhalten sich totalitär und völlig gegen den Freihandel. Das ist eine Massnahme direkt gegen die Freiheit des Marktes und gegen sie Souveränität anderer Staaten. 

Was geschieht jetzt, nachdem das Verhalten der USA so offensichtlich gegen das Völkerrecht verstösst?

Die Frage ist: Wer wird die USA belangen? Ich könnte mir vorstellen, dass betroffene Staaten etwas dagegen entwickeln werden. Wenn China zu sehr belästigt wird, könnte China Dollars in Billionenhöhe auf den Markt werfen. Das würde die USA in eine finanzielle Krise stürzen. Das ist eine Waffe, die die Chinesen in der Hand haben. Sie wollen sie nicht anwenden, sie sind sehr geduldig und denken wohl, dass Trump in zwei Jahren nicht mehr an der Regierung ist. Sie machen sich nicht zu viel Sorgen, aber sie hätten die Möglichkeit, wenn es schwieriger wird, darauf zu reagieren. Die Chinesen sind klug genug und haben sich Märkte auf der ganzen Welt erschlossen. Sie sind überall in Afrika und in Lateinamerika.

Sie haben das vorher erwähnt, dass ein Staat Gegenmassnahmen ergreifen darf. Ist das völkerrechtlich legitimiert?

Ja, als Retorsionsmassnahme. Es ist zwar ein «unfreundlicher Akt», aber es ist eine Reaktion auf einen zuvor begangenen Völkerrechtsbruch. Die Iraner haben bereits angekündigt, dass sie die Anreicherung des Urans erhöhen wollen. Das heisst noch nicht, dass sie eine Bombe bauen wollen. Aber das war ein Teil der Vereinbarung, dass sie darauf verzichten. Das wird jetzt hinfällig, wenn ein Teil der Vereinbarung nicht mehr eingehalten wird. Der Iran reagiert, aber es ist nicht der Staat, der dafür belangt werden kann. Wie sich Trump verhalten wird, ist unklar, denn er kann heute A sagen und morgen B. Wir sehen das auch an Nordkorea. Man hat ihn anscheinend umgestimmt.

Insofern wäre es möglich, dass er hier seine Meinung auch ändert?

Aber das wird nur gehen, wenn er sein Gesicht wahren kann. Wenn er seine Meinung ändert, dann geht das nur, wenn er keinen Prestigeverlust erleiden wird. Man muss goldene Brücken bauen, damit er sich in Ehre zurückziehen kann.

Sehen Sie überhaupt Chancen, wie es in dieser Frage weitergehen kann?

Einen Krieg gegen den Iran können sich weder die USA noch Israel leisten. Die Chinesen werden sich einmischen. Schon 2007, als bereits das Kriegsgeheul lauter wurde, haben die Chinesen ganz diskret gesagt, wenn gegen den Iran Krieg geführt wird, dann werden sie nicht neutral bleiben. Das war eine deutliche Warnung, die ihr Ziel erreicht hat. Wir sind über 10 Jahre weiter, und es hat, Gott sei Dank, keinen Nuklearkrieg gegeben. Die Gefahr bei Trump ist, dass man ihn nicht einschätzen kann.

Welche Möglichkeit haben die europäischen Staaten?

Sie könnten auf die Einhaltung und den Schutz des Völkerrechts drängen, aber sie tun das nicht. Sie haben sich bereits 1999 mit dem Krieg gegen Jugoslawien völkerrechtswidrig verhalten und 2003 im völkermörderischen Irak-Krieg. Die Koalition der Willigen waren immerhin 43 Staaten. Das war eine «Revolution» gegen das Völkerrecht. Sie haben sich darüber hinweggesetzt und jetzt sehen wir die Folgen davon sind. Wenn einmal diese rote Linie überschritten ist, dann fällt es viel leichter, es nochmals zu tun. Hier wurden Verbrechen gegen die Menschheit begangen und niemand ist belangt worden. Im Irak-Krieg sind eine Millionen Menschen getötet und ein Staat zerstört worden. Es war ein Staat, der für niemanden eine Bedrohung darstellte.

Hier stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Staaten.

Ja, wieviel Glaubwürdigkeit besitzen die Europäer, der Europarat, die Europäische Union? Sicher keine moralische und ethische Autorität mehr. Das ist so gefährlich, wenn die Werte, die das friedliche Zusammenleben der Menschen gewährleisten würden, nicht mehr verteidigt werden. Hier müsste Antonio Guterres ein klares Wort sprechen und die Uno sollte sich viel mehr engagieren, um die Charta der Vereinten Nationen und den Weltfrieden zu retten.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Genf

«Die Parteien bei der Wiederentdeckung der gemeinsamen Menschlichkeit unterstützen»

«Das UNRWA-Mandat ist ein humanitäres, kein politisches Mandat»

Interview mit Pierre Krähenbühl, Generalkommissar der UNRWA

Pierre Krähenbühl (Bild thk)
Pierre Krähenbühl (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Welche Aufgaben übernimmt aktuell die UNRWA?

Pierre Krähenbühl Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wurde 1949 von der Generalversammlung ins Leben gerufen. Der Auftrag: Bis eine gerechte Lösung für ihre Notlage gefunden ist, den heute 5 Millionen Palästina-Flüchtlingen, die in Jordanien, Libanon, Syrien, Westjordanland, einschliesslich Ost-Jerusalems, und im Gazastreifen leben, Unterstützung und Schutz zu gewähren. Die Tätigkeitsfelder der UNRWA umfassen Bildung, medizinische Versorgung, Hilfs- und Sozialdienste, Lagerinfrastruktur und -verbesserung, Kleinkredite, Schutz und humanitäre Hilfe. Das Mandat der UNRWA wird von der UN-Generalversammlung regelmässig um drei Jahre verlängert.

Welche Bedeutung hat die UNRWA? 

Die UNRWA ist einzigartig, da sie grundlegende Dienste erbringt, welche vergleichbar sind mit denen, die sonst von Regierungen erbracht werden. Dies geschieht direkt durch 32 000 Mitarbeiter (darunter Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter und Ingenieure), von denen die meisten selbst Palästina-Flüchtlinge sind. Die ununterbrochene Bereitstellung solcher Leistungen verlangt eine stabile und verlässliche Finanzierung für den Kernhaushalt des Hilfswerks. Jedoch trägt sich die UNRWA fast vollständig über freiwillige Zuwendungen. 

Mit welchen Schwierigkeiten sind sie dabei konfrontiert?

Der Nahe Osten war noch nie ein einfaches Umfeld, um humanitäre Hilfe zu leisten und menschliche Entwicklung zu fördern. Durch den Krieg in Syrien und die Folgen in den Nachbarländern, Libanon und Jordanien, ist dies besonders erschwert worden, während die Lage in den von Israel besetzten Gebieten der West Bank, Ost-Jerusalem und vor allem im Gaza Streifen sich ständig verschlechtert hat. Die Herausforderungen sind daher vielschichtig, auf humanitärer, sozio-ökonomischer, aber auch auf psychologischer und politischer Ebene. 

Welchen Menschen wird dabei geholfen?

Dies betrifft Menschen in Syrien, die, ausgebombt und mehrmals vertrieben, nicht wissen, was ihnen die Zukunft bringt, und solche im Gazastreifen, die nun seit mehr als 10 Jahren unter verschärfter Isolation leben mit kaum 4 Stunden Elektrizität und Trinkwasser, und die am Verzweifeln sind. 

Was wäre, wenn es die UNRWA nicht mehr gäbe?

Ich bin überzeugt, dass die Region, solange es kein Friedensabkommen gibt, bei allen derzeitigen Konflikten und Radikalisierungsrisiken besser dran ist, wenn die Schulen, Kliniken und die Nothilfe der UNRWA bewahrt und die Rechte und Würde der Flüchtlinge geschützt werden.

Was antworten Sie auf die Aussage von Bundesrat Cassis, dass die UNRWA ein Problem bei der Lösung der Palästinafrage sei?

Das sehen wir natürlich anders. Das UNRWA-Mandat ist ein humanitäres, kein politisches Mandat. Es ist nicht an uns, zu bestimmen, auf welcher Grundlage ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern verhandelt werden soll. Dies ist eine Verantwortung der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Insofern sollte man lieber fragen, ob die Energie, die UNRWA zu hinterfragen, nicht besser investiert wird, um eine lang überfällige Lösung des Problems herbeizuführen. Politisch wichtig wäre heute, die Parteien bei der Wiederentdeckung der gemeinsamen Menschlichkeit zu unterstützen.  

Palais des Nations in Genf (Bild thk)

Palais des Nations in Genf (Bild thk)

 

Inwiefern ist die UNRWA im Zusammenhang mit den Ausschreitungen am Grenzzaun des Gaza-Streifens konfrontiert?

Am 29. Mai 2018 berichtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass seit Beginn der Demonstrationen, die am 30. März 2018 begannen, 117 Palästinenser in Gaza getötet wurden. Weitere 13 375 Menschen wurden verletzt, darunter 1 149 Kinder. Von den Verletzten wurden 3 664 von scharfer Munition getroffen und 333 erlitten lebensgefährliche Verletzungen. Beschäftigte in der Gesundheitsversorgung, einschliess­lich Sanitäter, die sich um die Verletzten kümmern, deren Status völkerrechtlich geschützt ist, gehören zu den Opfern. Während Notaufnahmen die unmittelbare Hauptlast der Krise tragen, stehen alle Teile des Gesundheitssystems in Gaza vor zunehmenden und unhaltbaren Herausforderungen.

Inwiefern ist die UNRWA davon betroffen?

Als integraler Bestandteil des Gesundheitssystems in Gaza ist die UNRWA auch von der aktuellen Situation betroffen. Mit seinen 22 Kliniken und mehr als 1 000 Gesundheitsfachkräften spielt das Hilfswerk eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen für registrierte Palästina-Flüchtlinge, die rund 70 Prozent der Bevölkerung in Gaza ausmachen.

Werden auch Verletzte behandelt?

Seit dem 30. März haben UNRWA-Gesundheitszentren mehr als 2 000 Verletzungen behandelt. Auf lange Sicht werden Flüchtlinge von der UNRWA auf Physiotherapie / Rehabilitationshilfe, psychosoziale Beratung und Krankenhausaufenthalte für verschobene Wahloperationen angewiesen sein. All dies wird die Belastung der UNRWA-Dienste noch einmal erhöhen.

Worin sehen Sie eine Lösung des Palästinaproblems?

Der internationale Konsens liegt in der Schaffung einer Zweistaatenlösung. Was benötigt wird, ist eine gerechte und dauerhafte Lösung für palästinensische Flüchtlinge, nicht die Auflösung der UNRWA. Es ist nicht das Mandat oder die Existenz der UNRWA, die das Hindernis für eine solche gerechte und dauerhafte Lösung darstellen. Die Verantwortung für eine gerechte und dauerhafte Lösung liegt bei den Konfliktparteien. Bis eine gerechte und dauerhafte Lösung gefunden ist, benötigen palästinensische Flüchtlinge Hilfe und Schutz. Die UNRWA wird weiterhin das Mandat, das die Generalversammlung dem Uno-Hilfswerk in dieser Hinsicht erteilt hat, umsetzen und Palästina-Flüchtlingen in einem zersplitterten und hochpolitischen Kontext dienen.

Welche Rolle sollte die internationale Gemeinschaft spielen?

Die internationale Gemeinschaft muss die Verantwortung weiter übernehmen, die Rahmenbedingungen der Zweistaatenlösung zu bewahren. Skepsis, taktische Anpassungen werden hier nicht helfen. Man kann sich nicht einfach wünschen, die 5 Millionen Palästina Flüchtlinge seien nicht da. Man muss ihre Würde und Rechte schützen.

Was erwarten Sie sich von der Schweiz? 

Dass sie sich mutig zur Verfügung stellt in der wichtigen Suche nach politischen Lösungen, die die Rechte und Sicherheit von Palästinensern sowie von Israelis anerkennen und garantieren. Nichts ist heute wichtiger.

In der Zwischenzeit freuen wir uns auf die andauernde Partnerschaft der Schweiz mit der UNRWA. Die spielt bei uns eine zentral wichtige Rolle.

Herr Krähenbühl, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

Es gilt allein der politische Wille

Gedanken zur schweizerischen Agrarpolitik

von Reinhard Koradi

Giftig, hitzig soll die Debatte gewesen sein, als im Nationalrat anfangs Juni über die Gesamtschau der Agrarpolitik gestritten wurde. Eine eigentliche «Chropfleerete» habe stattgefunden. Die bei den Bauern angestaute Wut habe sich über dem umstrittenen Papier zur zukünftigen Schweizer Agrarpolitik entladen. Dabei wollte Bundesrat Schneider -Ammann doch nur die Weichen für die Agrarpolitik ab dem Jahr 2022 (AP22+) stellen. 

Offensichtlich eine gründlich misslungene Weichenstellung, setzten doch der Bundesrat und das zuständige Bundesamt für Landwirtschaft uneinsichtig den seit langem eingeschlagenen Kurs einfach fort. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied. Die Schlinge wurde ein weiteres Mal straffer zugezogen. Die vorgeschlagene Strategie setzt auf zwei Zielrichtungen, einerseits auf die ökologische Komponente (sorgfältiger Umgang mit den natürlichen Ressourcen, allerdings mit beträchtlichen Beschränkungen für die produzierende Landwirtschaft) und andererseits auf eine forcierte Marktöffnung für Agrarprodukte. Es ist eine knallharte neoliberale Strategie, verbunden mit einer produktionshemmenden Ökologisierung der einheimischen Agrarwirtschaft, die letztlich den bewusst angestrebten Strukturwandel (Bauernsterben) forciert und die Erfolgsstrategie der Schweizer Landwirte, – dezentrale, naturnahe Produktion auf einem hohen Qualitätsniveau – untergräbt. Übrigens eine Strategie, die durch die Schweizer Stimmberechtigten mit der wuchtigen Zustimmung zur Ernährungssicherheitsinitiative (78 % Ja-Stimmen) deutlich mitgetragen wird. Ziel einer zeitgerechten Agrarpolitik müsste die Entwicklung und Förderung einer zukunftsfähigen Schweizer Landwirtschaft sein, die eine sichere Versorgung der einheimischen Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen und natürlich produzierten einheimischen Lebensmitteln ermöglicht. Die einheimischen Landwirte sowie die vor- und nachgelagerten Branchen in der Ernährungswirtschaft haben den Beweis längst erbracht, dass sie in der Lage sind, den Bürgerauftrag zu erfüllen. Statt alle Beteiligten bei ihrer Arbeit zu unterstützen und zu fördern, werden über die Fortschreibung der neoliberalen Wettbewerbsstrategie auf Weltmarktpreisniveau und Liberalisierungswelle die für die Ernährungs- und Versorgungssicherheit überlebenswichtigen bäuerlichen Familienbetriebe zerstört respektive einer industriellen Landwirtschaft geopfert (siehe auch Weltagrarbericht 2008). 

Die Welt hat sich verändert

Eine Strategie ist immer eine Antwort auf die aktuellen und der in Zukunft erwarteten Rahmenbedingungen im exogenen und endogenen Umfeld. Wer heute noch an der bisher verfolgten globalen Marktöffnung und dem Abbau von Produktionskapazitäten im Agrarbereich festhält, scheint die radikalen Veränderungen nicht erfasst zu haben. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Flüchtlingswellen haben ein unerträgliches Ausmass angenommen. Die USA sind gerade dabei, einen veritablen Handelskrieg aufzuziehen, und die im Zusammenhang mit politischen Machtspielen ausgesprochenen Sanktionen sind eine weitere Bedrohung des sogenannt freien Warenverkehrs und der Versorgungssicherheit durch Dritte. Entsprechende Abklärungen zeigen auch, dass die WTO kaum über Mittel verfügt, um die umsichgreifenden «Schutzmassnahmen» durch Zölle und andere Handelshemmnisse aus strategischen und sicherheitspolitischen Überlegungen zu verhindern oder gar zu verbieten. Wer garantiert denn der Schweiz, dass sie nicht auch Ziel von «Strafaktionen» wegen Unbotmässigkeit werden könnte? An Erfahrungen dieser Art fehlt es ja wirklich nicht. Auch innerhalb der Schweiz selbst können Einflussfaktoren beobachtet werden, die dringendst bei einer Strategieentwicklung für unsere Land- und Ernährungswirtschaft berücksichtigt werden müssen. Da ist die wachsende Bevölkerung, das immer knapper werdende Kulturland und der Auftrag der Bürger an die Politik, die sicherere Versorgung mit gesunden und natürlichen Lebensmitteln weitgehend aus einheimischer Produktion sicher zu stellen. Veränderungen, die geradezu nach einem Strategiewechsel schreien.

Eine Agrarpolitik im neoliberalen Geist ist ein strategischer Sündenfall

Es braucht Mut, sich von bisherigen Überzeugungen zu verabschieden. Doch die Zeit ist reif, den Blickwinkel bei der Agrarpolitik neu auszurichten. Die ökonomischen idealistischen Modelle versagen im Agrarbereich. Gerade für einen Kleinstaat, der seine Freiheit und Unabhängigkeit bewahren will und zudem zur Neutralität verpflichtet ist, stehen politische Aspekte absolut im Vordergrund. Die Schweiz kann aus staats- und sicherheitspolitischen Überlegungen ihre Agrarpolitik nicht in eine ökonomisch begründete Zwangsjacke stecken. Die Existenz einer souveränen Schweiz setzt eine Agrarpolitik voraus, die sicherheits- und versorgungspolitische Ziele mit allerhöchster Priorität verfolgt. Mit anderen Worten, es sind Rahmenbedingungen für die einheimischen Landwirte und die nach- und vorgelagerten Branchen zu schaffen, die deren Existenz und Zukunft sichern. Neben einem angemessenen Einkommen gehören ausreichende Ressourcen und deren Nutzung für eine produzierende Landwirtschaft, Schutz vor einem ruinösen Wettbewerb (Grenzschutz und keine Marktmacht auf der Abnehmerseite), Massnahmen zur Strukturerhaltung, Unterstützung durch Forschung, Entwicklung und Bildung dazu. In diesem Zusammenhang ist auch die «Sparübung» bei den landwirtschaftlichen Forschungsbetrieben als nicht zeitgerecht zurückzuweisen.

Die neu geschaffenen Rahmenbedingungen lassen es nicht zu, dass die einheimische Landwirtschaft als Bauernopfer für den Marktzugang anderer Industrie- und Dienstleistungsbranchen missbraucht wird. Diese Wirtschaftszweige müssen ihre Existenz auf den Inland- und Auslandmärkten aus eigenen Kräften begründen, wie sie dies übrigens schon über all die Zeit immer erfolgreich getan haben.  Aus übergeordneten Interessen ist es äusserst fahrlässig, die Agrarpolitik so zu definieren, dass der Agrarbereich als Pfand oder als Freibrief für den Zutritt zum Freihandel geopfert wird. Was vielmehr ansteht, ist der Schutz vor den zerstörerischen Folgen eines Konzeptes, das Kosteneinsparungen und ruinösen Wettbewerb vorantreibt und damit die einheimische Landwirtschaft vernichtet.

Die Chance für eine Neuausrichtung nutzen

Mit der Rückweisung der Gesamtschau zur mittelfristigen Weiterentwicklung der Agrarpolitik durch den Nationalrat ist der Weg für eine Neuausrichtung der Agrarpolitik offen. Der Bundesrat und das Bundesamt für Landwirtschaft müssen auf die neuen Herausforderungen und Rahmenbedingungen eine adäquate Antwort finden. Es spricht nichts dagegen, die alten Vorstellungen über Bord zu werfen und eine AP22+ zu entwickeln, die sich an den politischen Interessen der Schweiz, ihren Existenzbedürfnissen und ihrer Unabhängigkeit orientiert. Warum sollen wir nicht auch unsere sicherheitspolitischen und strategischen Ziele absolut in den Vordergrund stellen? Es ist allein unser politischer Wille, der die Entwicklung unserer Landwirtschaft prägen soll. Stehen wir dazu, dass wir für einmal den Schutz überlebenswichtiger Versorgungsstrukturen über wirtschaftliche Gewinne stellen. Bei der Suche nach Lösungen hilft uns auch der Weltagrarbericht weiter. Er zeigt uns den Weg auf, indem er klar darauf hinweist, dass die bäuerlichen Familienbetriebe die besten Voraussetzungen für Ernährungssicherheit und eine ökologisch verantwortbare Lebensmittelproduktion schaffen und auch im Kampf gegen Hunger und Armut der industriellen Nahrungsmittelproduktion überlegen sind. Setzt die Schweiz auf eine möglichst hohe Selbstversorgung, dann tut sie dies aus Eigeninteresse, trägt aber auch indirekt dazu bei, den weniger entwickelten Ländern eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln zu ermöglichen, da diese dann nicht für die Exportmärkte, sondern für ihre Eigenversorgung produzieren können.

«Die Landwirtschaft ist nicht das Zahlungsmittel für künftige Abkommen»

Interview mit Nationalrat Markus Ritter, Präsident des Schweizerischen Bauernverbands

Nationalrat  Markus Ritter (Bild thk)
Nationalrat Markus Ritter (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie deuten Sie die Reaktionen auf den Entscheid des Nationalrats, der den Kommissionsantrag gestützt und das Geschäft an den Bundesrat zurückgewiesen hat?

Nationalrat Markus Ritter Es ist interessant, dass angesichts der drohenden Niederlage einige Medien unterstützt von Nationalratskollegen der FDP begannen, den ganzen Entscheid klein zu reden, und dass dieser politisch völlig bedeutungslos sei. Wir haben das mit den Parlamentsdiensten im Vorfeld präzise abgeklärt. Die Rückweisung selbst hat noch kaum Konsequenzen, aber die damit verbundenen Aufträge, die eine Kammer geben kann, muss der Bundesrat umsetzen. Und er hat den Auftrag bekommen, die nationale Agrarpolitik und die internationale Handelspolitik zu trennen. 

Welche Bedeutung hat diese Rückweisung durch den Nationalrat tatsächlich?

Die unmittelbarste Konsequenz ist sicher die Trennung zwischen Agrarpolitik und der internationalen Handelspolitik, so wie das auch bei der letzten Agrarpolitik 14/17 der Fall war. Das ist ein klarer Auftrag, den der Bundesrat erfüllen muss. Dazu kommt die Vertiefung des Berichts mit der präzisen Analyse zur laufenden Agrarreform 14/17. Dazu die Einbettung des neuen Verfassungsartikels 104a «Ernährungssicherheit» in die kommende Agrarreform 2022+. Das war bisher mit keinem Wort der Fall. Hier hat der Bundesrat nun konkrete Aufträge erhalten. Auch konnte der Zeitplan für die nächste Agrarreform geklärt werden, wann welcher Schritt getan werden soll. Dazu haben sich Bundesrat und Kommissionssprecher gleichermassen geäussert.

Was müsste sich bei der erneuten Darlegung des Bundesrats ändern, damit die Bauern sagen könnten, damit sind wir zufrieden?

Wichtig ist jetzt neben dieser Trennung und der entsprechenden Überarbeitung des Berichtes über die Handelspolitik, dass die Grundlagen geliefert werden. Die jetzige Agrarreform läuft vier Jahre. Wir haben damals in der Botschaft viele Ziele im ökologischen, sozialen und ökonomischen Bereich gesetzt. Hierzu braucht es jetzt eine Zielüberprüfung. Es wurden damals messbare Ziele festgelegt, und jetzt ist die Frage: Wo stehen wir da heute? Diese Bewertung steht noch aus.

Inwiefern hat der Artikel 104a schon Wirkung entfaltet?

Die Bevölkerung hat mit der hohen Zustimmung klar signalisiert: Wir wollen die Ernährungssicherheit stärken. Dies vorwiegend mit der inländischen Produktion. Dazu muss sich der Bundesrat äussern und bekanntgeben, wie er das in die nächste Agrarreform einfliessen lassen will. 

In der Diskussion am Montag wurde argumentiert, dass man erst die hängigen Initiativen abwarten müsse, bevor man etwas unternehmen könne. Sehen Sie das auch so?

Das gilt speziell für die Trinkwasserinitiative. Die hat zwar wenig mit Trinkwasser, dafür umso mehr mit Agrarpolitik zu tun. Sie will insbesondere den ökologischen Leistungsnachweis als Grundlage für den Bezug von Direktzahlungen im Bereich der Futtermittel, der Pflanzenschutzmittel und auch des Antibiotikaeinsatzes neu und für uns nicht akzeptabel formulieren. Hier muss erst das Volk entscheiden, bevor die nächste Gesetzesreform in Angriff genommen werden kann.

Hat sich der Bundesrat dazu geäussert?

Er hat bei der Beratung dazu festgehalten, dass er die Trinkwasserinitiative ablehnen will. In dem von ihm vorgeschlagenen Zeitplan ist ein indirekter Gegenvorschlag nicht möglich. Das ist auch in unserem Sinne. Das heisst, die Initiative kommt spätestens im ersten Quartal 2020 zur Abstimmung. Wenn dieser Entscheid gefällt ist, kann eine Agrarreform im Parlament in Angriff genommen werden. 

Bundesrat Schneider-Ammann hat nach der Debatte im Nationalrat gesagt, er werde an seinen Freihandelsplänen für die Landwirtschaft festhalten, denn der Freihandel habe der Schweiz Wohlstand beschert. Was antworten Sie Bundesrat Ammann darauf?

Das Problem dürfte sein, dass international die Weichen in eine völlig andere Richtung gestellt werden. Wir haben selten eine Zeit erlebt, in der der Protektionismus eine solche Blüte erlebt hat, angetrieben von den USA. Man muss international gar einen veritablen Handelskrieg befürchten.

Was bedeutet das für die Schweiz?

In Bezug auf Handelsabkommen gilt im Moment für die Schweiz, dass wir an dem festhalten sollten, was wir haben, damit wir diese Märkte verteidigen können. Strafzölle und ähnliches gilt es, unbedingt zu vermeiden. Ich bin weiter der Überzeugung, dass politisch sehr vorsichtig vorgegangen und das Gespräch mit allen Beteiligten gesucht werden muss, damit wir Abkommen abschliessen können, die innenpolitisch auch tragfähig sind. Die Euphorie von Bundesrat Schneider-Ammann ist weder innen- noch aussenpolitisch gerechtfertigt.

Wie beurteilen Sie das Handelssystem der Schweiz?

Wir haben ein sehr gutes Handelssystem in der Schweiz. Wir sind auch sehr erfolgreich. Einer Weiterentwicklung steht auch nichts im Wege. Entscheidend ist aber, dass die Interessen aller Wirtschaftszweige, und hier gehört die Landwirtschaft auch dazu, gewahrt werden. Die Landwirtschaft ist nicht das Zahlungsmittel für künftige Abkommen. Auch die Landwirtschaft braucht Rahmenbedingungen, mit denen wir in der Schweiz erfolgreich sein können.  

Herr Nationalrat Ritter, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Warum ich mich weigere, zum Lernbegleiter degradiert zu werden

von Judith Schlenker

Jeder Pädagogikstudent hat (hoffentlich) in seinem Studium einmal damit zu tun gehabt und sich damit auseinandersetzen müssen. Die Rede ist vom Didaktischen Dreieck (Lernender-Lehrender-Lerngegenstand), das mit all seinen Weiterentwicklungen bis heute alle Arten des organisierten Lernens und Lehrens formal am besten beschreibt, völlig ideologiefrei. Der Lehrende ist darin der kompetente Vermittler zwischen Lerngegenstand und Lernendem, der durch die Wahl entsprechender Methoden und die Aufbereitung des Lerngegenstandes das Interesse und die Motivation der Lernenden weckt, sich mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen. Das ist eigentlich eine wichtige Rolle, die vom Lehrenden fachliche Kompetenz, Einfühlungsvermögen und die Kenntnis von unterschiedlichen Lernprozessen verlangt.

All das soll nun keine Rolle mehr spielen, in der Schule werden nur noch «Kompetenzen» vermittelt und der Lehrer wird zum «Lernbegleiter» degradiert. Warum ich mich dagegen wehre, soll folgendes Beispiel veranschaulichen.

Im Englischlehrbuch der Klasse 7 lasen wir einen Text über die Kinderarbeit in englischen Kohleminen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Darin konnten die Schülerinnen und Schüler erfahren, dass damals Kinder ihres Alters in den Minen arbeiteten, dass Kanarienvögel als Sauerstoff-Anzeiger mit in die Minen genommen wurden und dass die Kinder damals alles andere als eine unbeschwerte Kindheit hatten. Rein kompetenz­orientiert mussten die Schüler zum Text Fragen beantworten und das war es dann schon. Doch bereits beim Lesen des Textes spürte ich das Interesse der Kinder, das sich in vielfältigen Fragen äusserte. Warum Kanarienvögel? Wieso gingen die Kinder nicht zur Schule? Wozu wurde so viel Kohle gebraucht? Das Interesse der Kinder und die Tatsache, dass selbst solche Schüler, die sich sonst eher schwer tun im Englischen, eifrig mitdachten, veranlasste mich, mich selber schlau zu machen und das Thema auszuweiten. Das Schicksal dieser Kinder im England des 19. Jahrhunderts mit seiner aufkommenden Industrialisierung, dem Hunger nach Kohle für den Betrieb der Dampfmaschinen, der gefährlichen Arbeit in den Kohleminen liess uns nicht mehr los. Ich fand kurze Filmsequenzen und Texte aus dieser Zeit und «fütterte» die Schüler damit. Auch wenn mancher Text schwierig zu verstehen war, sie liessen nicht locker, und es ergaben sich immer neue Fragen: Hat sich niemand für die Kinder eingesetzt? Wann endete das? Welche Rolle spielte Lord Shaftesbury? Wann wurden Gesetze erlassen, die die Kinderarbeit in den Minen verboten? Wieso war das Gas in den Schächten so gefährlich? Wie wird heute vor austretendem Gas gewarnt? Aus jeder Frage ergaben sich neue Fragen und wir hatten ausgesprochen interessante Unterrichtsgespräche, an denen sich alle beteiligten. Selbst die Frage nach Kinderarbeit in Minen in der heutigen Zeit wurde aufgeworfen und es machte die Kinder betroffen, dass es in Afrika immer noch Kinderarbeit in Minen gibt, besonders in jenen, in denen seltene Erden für ihre vielgeliebten Handys gewonnen werden.

Zum Abschluss der Unterrichtseinheit liess ich die Schülerinnen und Schüler in Gruppen zu je drei Schülern einen Tagebucheintrag (natürlich auf Englisch) eines Jungen schreiben, der in einer Mine arbeiten musste. Die Ergebnisse zeigten, dass die Schüler viele neue Wörter einfach so nebenbei gelernt hatten, dass das Thema ihr Herz berührt hatte, dass ihre Empathiefähigkeit geschult wurde – ganz so, wie ein Lernprozess eigentlich sein sollte, aus dem der Lernende einen echten Gewinn zieht. Wie armselig macht sich daneben das reine Abarbeiten von Arbeitsblättern und Aufgaben aus, etwas, was man ohne jegliche innere Beteiligung tun kann, was aber als Ergebnis gut messbar ist. Ohne die innere Beteiligung des Lehrenden und der Lernenden bleiben Lernprozesse oberflächliche Aneignung von Wissen, das zwar gut abfragbar ist, aber nicht dem entspricht, was wir unter Bildung verstehen. Bildung muss immer auch Herzensbildung sein, sonst bleibt sie im luftleeren Raum. Und dass sie stattfindet, dafür ist der Lehrer unentbehrlich.

Das folgende Beispiel ist das Ergebnis einer Gruppenarbeit.

 

The diary of a child in Victorian era

Dear diary,

I‘m Jonas Rich and I‘m seven years old. I live in Newcastle with my sick mum and my brother Bill. My dad died when I was 3. Me and my brother work in a mine. The name of the mine is «Dark Coal Mine». It‘s the year 1805 in the month of December.

Today was a hard and cold day. At 4 o‘clock me and my brother walked to the mine. It's winter and we have to walk for 30 minutes to the mine. I took the candle and sat next to the door. I had to open the door when my brother Bill came with a coal truck. In the evening, I went home and saw that my mother felt worse than ever. I called the doctor but he couldn't do anything. Now I go to bed. 

 

Dear diary,

Today is the first day in this week. At 4 o‘clock we went to the mine. I sat at the door. Then I saw that the candle didn‘t burn any more, I screamed «Gas», «Gas», «Gas». I heard the miners. They ran out of the mine. Booom!

I heard the sound of the explosion. But I couldn‘t see my brother. Where is he? Where is he? Is he dead? No, he wasn‘t. I saw that he came out of the mine. He was alive! I was really happy. We went to the baker‘s and bought some bread for my mum. We went home and saw that many people in black clothes stayed outside our home. Me and my brother ran into our house and saw that our mum was dead! We were really sad. That‘s the worst day in my life. Me and my brother lost both our parents. 

Thanks for listening.

Jonas Rich 

«Warum halten sich die Mächtigen dieser Welt nicht an die Uno-Charta?»

Was hat «Antigone»* mit Google und Pentagon zu tun? Ein Gespräch mit Jugendlichen

von Susanne Lienhard

Am 2. Juni titelte die Neue Zürcher Zeitung «Soll Google in den Krieg ziehen?»¹ Im Artikel erfährt man, dass Google sich seit 2017 neben anderen Tech-Firmen wie Amazon, Microsoft und IBM am US-Militär-Projekt Maven beteiligt. Dieses hat zum Ziel, die Drohnentechnologie des Pentagons mittels Künstlicher Intelligenz (KI) massiv zu verbessern. Seit Monaten predigt Verteidigungsminister James Mattis, das amerikanische Militär müsse «tödlicher» werden – und das Projekt Maven soll dabei helfen, so die NZZ. 

Einige Google-Mitarbeiter haben ihre Stelle bereits gekündigt, denn sie wollen ihre ethische Verantwortung nicht an Dritte delegieren. Weitere 4 000 Mitarbeiter verlangen in einem von der «New York Times» veröffentlichten Brief vom CEO Sundar Pichai, dass er die Kooperation mit dem Pentagon unverzüglich beendet und verspricht, dass weder Google noch Googles Tochterfirmen jemals Kriegstechnologie bauen werden.² Mitte Mai doppeln 1 100 Wissenschaftler aus den Bereichen KI, Ethik und Computerwissenschaften mit einem offenen Brief an die Konzernleitung nach: «Google müsse den Vertrag mit dem Pentagon beenden und geloben, seinen einzigartigen Schatz an Nutzerdaten nicht zu militarisieren.»³ Die Autoren verlangen von den am Projekt Maven beteiligten Unternehmen, dass sie versprechen, sich nicht an der Entwicklung, dem Bau, dem Handel und der Benutzung autonomer Waffensysteme zu beteiligen. Das sind Waffensysteme, die mittels Algorithmen das militärische Ziel bestimmen und ohne menschlichen Befehl dieses autonom unter Beschuss nehmen. 

Der Artikel geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Wissen meine Schüler, die die Dienste von Google und Amazon regelmässig nutzen, wohl von diesen Zusammenhängen? Es nimmt mich wunder, was sie dazu denken. Ich beschliesse, einer Klasse, mit der ich gerade das antike Drama «Antigone» von Sophokles behandle, den oben erwähnten NZZ-Artikel als aktuelles Beispiel vorzulegen. Sie sollen ihn still lesen und die Argumente der Befürworter und der Gegner der Zusammenarbeit von Google mit dem Pentagon herausarbeiten, bevor wir im Plenum darüber diskutieren.

Nutzerdaten für den Krieg?

Als ich die Diskussion eröffne, meldet sich Vera: «Also, wenn Google und Amazon die Nutzerdaten dem Militär zur Verfügung stellen, muss ich mir ernsthaft überlegen, ob ich weiterhin über Amazon Dinge bestelle oder via Google Informationen suche. Ich will doch nicht dazu beitragen, dass das amerikanische Militär noch ‹tödlicher› wird.» Ramon entgegnet ihr, damit könne sie weitere Kriege auch nicht verhindern, auch der Protestbrief der 4 000 Mitarbeiter werde die Mächtigen kaum davon abhalten, immer tödlichere Waffen zu entwickeln. Corinne erwidert darauf: «Na, ja, wenn alle 70 000 Google-Mitarbeiter sich weigerten, ihr Wissen im Bereich KI dem Militär zur Verfügung zu stellen, hätte das schon eine Wirkung, aber viele wollen wahrscheinlich ihren guten Verdienst nicht aufs Spiel setzen und denken, wenn Google das Wissen nicht liefert, freut sich ein anderer Tech-Konzern über den fetten Auftrag des Pentagons.» 

Zivilcourage oder Mitläufertum?

Anina stellt von sich aus eine Parallele zwischen der «Antigone» und den Google-Mitarbeitern her: «Auf eine Art müssen sich doch beide entscheiden, ob sie angesichts von Unmenschlichkeit den steinigen Weg des Widerstandes oder den bequemeren Weg des Mitläufers wählen.» «Ja, du hast recht», sagt Andrin, «eigentlich wissen wir ja alle im tiefsten Innern, was gut und was böse ist. Jeder weiss, dass man nicht töten soll und dass man Tote begräbt. Wer dennoch tötet oder dazu Beihilfe leistet, ist doch einfach feige, der hat keine Zivilcourage. Ismene, die Schwester von Antigone, ist dafür ein gutes Beispiel. Sie weiss, dass sie die Würde ihres Bruders verletzt, wenn sie ihm nicht die letzte Ehre erweist. Dennoch begräbt sie ihn nicht, weil sie Angst hat vor der Strafe, wenn sie das Bestattungsverbot des Königs missachtet.»

Lina meint, dass hier der Vergleich etwas hinke, riskiere doch Antigones Schwester ihr Leben, wenn sie der Stimme ihres Herzens folge, während ein Google-Mitarbeiter sich allenfalls nur eine neue Stelle suchen müsste. 

Gewaltverbot der Uno-Charta

Reto kommt nochmals auf die Aussage von James Mattis «das amerikanische Militär muss tödlicher werden» zurück: «Eines verstehe ich nicht, in Geschichte haben wir doch gelernt, dass nach dem zweiten Weltkrieg die Völker fest entschlossen waren, künftige Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren, und deshalb die Uno gegründet haben. Mit der Unterzeichnung der Charta haben sich alle 193 Mitgliedstaaten verpflichtet, Streitigkeiten friedlich beizulegen und auf jegliche Androhung oder gar Anwendung von Gewalt zu verzichten. Warum halten sich die Mächtigen dieser Welt nicht an diese Abmachung?» Samuel meint, dass der Mensch eben böse sei, Krieg habe es schon immer gegeben und werde es auch immer geben. Es gebe einfach Länder die so verfeindet seien, dass auf dem Verhandlungsweg nichts zu machen sei. «Das kann man nie sagen», erwidert Sara, «noch vor einem Monat hättest du gesagt, Nord- und Südkorea würden sich nie näherkommen und jetzt sieht es plötzlich etwas anders aus. Krieg ist nie eine Option, er bringt nur Elend!» 

Was tun?

Reto hakt nochmals nach und will wissen, was man denn tun könnte, damit das Gewaltverbot der Uno-Charta respektiert wird. Die Jugendlichen sind sich einig, dass gerade die Medien dazu beitragen könnten, die Uno-Charta immer wieder in Erinnerung zu rufen. Es brauche aber auch Menschen, wie «Antigone» oder die 4 000 Google-Mitarbeiter und die 1 100 Wissenschaftler, die den Mut haben, ihrer inneren Stimme zu folgen, konsequent danach zu leben und Missstände klar zu benennen. Je mehr es solche Menschen gibt, desto weniger können es sich die Mächtigen erlauben, darüber hinwegzugehen. 

Die Stunde ist wie im Flug vergangen. Das Gespräch mit den Jugendlichen über antike Literatur und aktuelle Zeitgeschichte hat deutlich gemacht, dass die Grundfragen des Menschseins in der antiken und in dieser Welt so verschieden nicht sind. Geschichte wird immer von Menschen gemacht. Ob wir uns dem Ziel eines friedlichen und menschenwürdigen Zusammenlebens aller Völker nähern, hängt nicht zuletzt davon ab, welchen Weg wir, jeder einzelne Mensch, angesichts von Konflikten, Unrecht und Machtmissbrauch im kleinen und im grossen wählen. 

*«Antigone» ist ein Drama des griechischen Dichters Sophokles (5. Jh. v. Chr.).

 

¹ Marie-Astrid Langer: Soll Google in den Krieg ziehen? in: Neue Zürcher Zeitung, 02.06.2018 www.nzz.ch/international/soll-google-in-den-krieg-ziehen-ld.1391013

² https://static01.nyt.com/files/2018/technology/googleletter.pdf

³ www.icrac.net/open-letter-in-support-of-google-employees-and-tech-workers/

 

Präambel der Charta der Vereinten Nationen
Abgeschlossen in San Francisco am 26. Juni 1945 (Stand am 23. Juni 2015)
Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen,
künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen,
Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,
den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in grösserer Freiheit zu fördern,
und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,
unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,
Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.

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