«Die Lösung der Ukraine-Krise liegt allein in Verhandlungen»

«Die europäischen Werte bedeuten: Kompromissbereitschaft zeigen und Frieden schliessen»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Am diesjährigen World Economic Forum meldete sich das Urgestein der US-amerikanischen Aussenpolitik, Henry Kissinger, zu Wort. Wie schätzt er, der sicher keine Taube ist, den Krieg in der Ukraine ein?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Als eine Gefahr für die Menschheit, eine Auseinandersetzung, die hätte vermieden werden müssen. Kissinger ist gewiss kein Freund Putins, aber er will auch keine Apokalypse.

Was sagt er zur Aussenpolitik seines Landes, die er Jahrzehnte mitgeprägt hat?

Als Realpolitiker war er immer bereit, bestimmte Risiken einzugehen, um die geopolitischen Interessen der Vereinigen Staaten zu fördern, auch dann, wenn dies völkerrechtswidrig war. Er denkt ähnlich wie George F.Kennan, der 1997 geäussert hatte, dass die Osterweiterung der Nato eine unnötige und äusserst gefährliche Sache sei. Seine Einschätzung der Lage ist auch jene von Professor John Mearsheimer¹ von der University of Chicago, von Professor Jeffrey Sachs² von der Columbia University in New York, und von Jack Matlock³, dem letzten US-Botschafter in der UdSSR. Kissinger zeigte sich in Davos staatsmännisch. Leider war auch George Soros vertreten, ein Finanzspekulant, der sich anmasst, überall einen «Regime Change» im Sinne des weltumspannenden Kapitals durchzusetzen. Soros ist ein gefährlicher Mann, ein Überzeugungstäter.

Welche Mechanismen sieht Kissinger hinter diesem Krieg und worin sieht er die Lösung?

Die amerikanische Wirtschaft hat stets Kriege gefördert. Das System stützt sich auf den Umsatz des militärisch-industriellen Komplexes. Die Lösung der Ukraine-Krise liege laut Kissinger allein in Verhandlungen, wobei beide Seiten Konzessionen machen müss­ten, und die Ukraine das Selbstbestimmungsrecht der russischen Bevölkerung auf der Krim und im Donbas respektieren müsse. 

Kissinger war zur Zeit des Vietnam-Kriegs Sicherheitsberater der Regierung Nixon. Warum befürwortet er keinen Krieg gegen Russland?

Kissinger hätte die USA nicht in den Vietnam-Krieg geführt. Präsident Richard Nixon erbte den Krieg von John F.Kennedy und Lyndon B.Johnson, und man musste den Krieg irgendwie beenden. Die Bombardierungen von Vietnam, Laos und Kambodscha waren eine schreckliche und verheerende Idee, die vollkommen misslang. Unter den grausamen Folgen leiden bis heute die Bevölkerung und die Umwelt.

Wie schätzen Sie die Folgen des Krieges in der Ukraine auf die Versorgungslage in den Ländern der Dritten Welt ein?

Der «Kollateralschaden» wird ungeheuer sein. Die Uno warnt seit Monaten davor, denn Millionen Menschen werden von Hunger betroffen sein. Der Krieg ist nicht allein schuld. Vor allem erweisen sich die Wirtschaftssanktionen gegen Russland und Belarus als zerstörerisch. Sie unterbrechen nämlich die Lieferketten und bringen die Globalisierung und die Weltwirtschaft durcheinander. Diese unilateralen Sanktionen verursachen den Tod von Zehntausenden – und müssen als «Verbrechen gegen die Menschheit» im Sinne des Artikels7 des Statuts von Rom durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verurteilt werden. Dies wird aber kaum geschehen, denn der IStGH wirkt im Dienste des Westens.

Welche Möglichkeiten hätten die USA, sich aus dem Konflikt zurückzuziehen und ernsthaften Verhandlungen eine Chance zu geben?

Egal, ob ein Republikaner oder ein Demokrat im Weissen Haus sitzt, es regiert der militärisch-industrielle Komplex, und der verdient an den Kriegen. Das «Establishment» will eigentlich Krieg – einen möglichst langen. Die USA werden den Proxy-War «bis zum letzten Ukrainer führen». Und wenn die USA scheitern wie in Vietnam und Afghanistan, suchen sie sich einen anderen Feind, um irgendwo in der Welt Krieg führen zu können. Natürlich werden die Politiker und die Medien behaupten, wir tun es im Namen der Demokratie und der Menschenrechte. Aber das ist reine Propaganda und soll nur von den eigentlichen Beweggründen ablenken.

Es gibt Äusserungen, wonach Russland die Nachkriegsordnung zerstört habe. Was sagen Sie als Völkerrechtler zu dieser Behauptung?

Genau das Gegenteil ist wahr. Russland wollte eine friedliche Regelung gemäss der Uno-Charta, die im Artikel2(3) die Verpflichtung zu friedlichen Verhandlungen stipuliert und im Artikel2(4) nicht nur die Anwendung von Gewalt verbietet – sondern auch das Drohen damit. Wir wissen seit den 1990er Jahren, dass Russland eine Ost-Erweiterung der Nato ablehnte, weil es diese Ost-Erweiterung als Wortbruch betrachtete und als existentielle Bedrohung empfand. Dies wurde sogar von Jelzin so betrachtet. Putin hat es bestens und in friedlicher Absicht in seiner Rede anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 formuliert.⁴ Er hat den durch die USA und EU unterstützten Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, schwer kritisiert und die Konsequenzen vorausgesagt. Er hat auf die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 gedrängt. Aber die OSZE hat versagt.

Hat Putin keine Initiative ergriffen?

Doch, er hat bei den «Normandie-Gesprächen» konkrete Vorschläge unterbreitet, dann im Dezember 2021 zwei durchaus moderate Verträge den USA und der Nato zur Diskussion gestellt. Umsonst – denn USA, EU und Nato wollten nur eins: «Regime Change» in Russland. «Putin muss weg», so hiess es im Weissen Haus. Die Nachkriegsordnung wurde bereits durch die Nato in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen zerstört. Gewiss, aus dem Ukraine-Krieg wird eine neue Weltordnung entstehen – vielleicht im Sinne meiner 25 Principles of International Order im Kapitel 2 meines Buches «Building a Just World Order».⁵ Die neue Weltordnung wird nicht mehr vom Westen bestimmt. Auch die Chinesen, Inder und Russen werden mitspielen.

Was müsste geschehen, damit in Europa eine tragfähige Friedensordnung entstehen könnte?

Europa muss sich von den USA befreien und seine eigene friedliche Politik entfalten. Als erstes müssen die Europäer akzeptieren, dass auch die Russen ein Recht auf nationale Sicherheit besitzen. Die Europäer sollen aufhören, Waffen an die Ukraine zu liefern. Dann müssen sie die absurden Sanktionen gegen Russland aufheben. Das werden sie aber kaum tun, denn die Politiker und die Medien bleiben nach wie vor auf Kriegskurs.

Prinzipiell müssen sich die USA und die Europäer an die Uno-Charta halten und aufhören, sich in die inneren Angelegenheiten von anderen Staaten einzumischen. Jede «colour revolution» bedeutet eine Verletzung der Uno-Charta. Aber eine solche geistige Neuorientierung ist noch nicht in Sicht.

Das ist doch sehr interessant, denn wenn es um die Ukraine geht, betonen europäische Politiker gebetsmühlenartig die westlichen Werte, die durch Russland verletzt sein sollen. Wenn wir hören, wie Sie das einschätzen, ist das diametral entgegengesetzt zu dem, was in unseren Medien zu lesen ist. Wie erklären Sie sich das?

Bei diesem ganzen Vorgang handelt es sich um die sprichwörtliche Doppelmoral, denn die Europäer selbst haben etliche Aggressionen überall in der Welt begangen und dabei die Uno-Charta etliche Male verletzt. Wo waren die europäischen Werte bei den kriegerischen Interventionen der USA und europäischer Nato-Mitglieder in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Somalia, Mali, bei den Kurden…? – Die Liste ist unendlich lang. Und wieso unterstützen die Europäer immer noch die Apartheidspolitik der Israeli gegenüber den Palästinensern, die Zerstörung der Infrastruktur in Palästina und Gaza, den Völkermord durch die Saudis in Jemen, die Aggressionen und Greueltaten der Türken an den Zyprioten seit 1974, die Verbrechen Aserbaidschans gegen die Armenier von Nagorno-Karabach im Blitzkrieg vom September bis November 2020? Wo waren diese Werte im Jahre 2003 zur Zeit des «Shock and Awe»-Überfalls gegen Saddam Hussein? Das war eine durch nichts zu rechtfertigende Gewaltanwendung, eine Vergewaltigung aller Werte! Aber die Europäer rollten für George W. Bush den roten Teppich aus, als er kaum zwei Monate nach der verbrecherischen Aggression zum grossen G 8-Gipfel nach Evian reiste.⁶

Aber nur Russland wird verurteilt…

Zweifelsohne hat Russland eine völkerrechtswidrige Aggression begangen. Diese Aggression wurde aber aufgrund der ständigen Bedrohung durch die Nato verursacht. In meinem neuen Buch «Countering Mainstream Narratives» schreibe ich darüber im Kapitel «Precedents of Permissibility».⁷  Putin hat stets friedliche Verhandlungen befürwortet und acht Jahre lang auf die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen gewartet. Die Führung der Ukraine und der Westen haben diese Umsetzung verweigert. Im Dezember 2021 hat Russland zwei Verträge auf den Tisch gelegt und versucht, mit dem Westen in gutem Glauben zu verhandeln. Der Westen hat jeden Kompromiss, jegliche Vereinbarung über Russlands Sicherheit abgelehnt. Die «Normandie Gruppe» und die OSZE haben ihre Aufgaben nicht erfüllt. Ohne Frage hätten die OSZE und die EU den Ukrainern klar machen müssen, dass sie mit der Bombardierung des Donbas aufhören müssen. Die OSZE hat sogar diese Angriffe dokumentiert⁸, die im Februar 2022 einen Höhepunkt erreichten.

Nach Ihren Ausführungen fragt man sich schon, warum der Westen die Werte missbraucht.

Die Europäer glauben an die eigene Propaganda. Sie sind durch die Medien indoktriniert. Aber gewiss haben sie kein Recht, sich auf Werte zu berufen, die sie selbst ständig ignorieren. Eigentlich werden hier die Werte manipuliert bzw. als Waffen gegen den geopolitischen Rivalen instrumentalisiert. Wenn die Europäer – gemeint sind die Brüsseler Bürokraten – tatsächlich Interesse an Werten hätten, müssten sie diese Werte überall anwenden und umsetzen. Aber die westeuropäischen Staaten verletzen eben diese europäischen Werte, wenn sie immer eskalieren und Russland dämonisieren, weiterhin bedrohen, wenn sie Waffen an die Ukraine liefern, wenn sie Sanktionen gegen Russland verhängen. Die einzige Umsetzung der europäischen Werte bedeutet: Kompromissbereitschaft zeigen und Frieden schliessen.

Welche Völkerrechtsnormen werden hier ständig verletzt?

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein anerkanntes Menschenrecht (Art. 1, 55 Uno-Charta, Art. 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte), das Recht auf freie Meinungsäusserung und Pressefreiheit sind auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Was beobachten wir? Die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der russischen Bevölkerung auf der Krim und im Donbas, Zensur, Sanktionen. Was heisst «europäische Werte» eigentlich? Sind die Russen keine Europäer? Sie spielten eine bedeutende Rolle, Europa von Napoleon zu befreien, und bildeten die «Heilige Allianz»⁹ nach dem Wiener Kongress 1815, eine Allianz, die auf christlichen Werten aufbaute. Nicht zu vergessen ihr Engagement für die internationale Akzeptanz der helvetischen Neutralität. Die Russen waren die Initiatoren der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Dann kamen die Bolschewisten und ihre Verbrechen. Dann kam Stalin, der immerhin Europa von Hitler befreite. Die Russen sind Europäer, und ihre Werte sind auch europäische Werte. Aber die Europäer haben ihr christliches Erbe verworfen. Die «europäischen Werte» von heute heissen Geld, Macht, «full spectrum dominance».

Hat das russische Kulturschaffen nicht die gesamte europäische Kultur bereichert?

Ja, wir verletzen die europäischen Werte, wenn wir die russische Kultur diffamieren und kulturelle Persönlichkeiten wie Anna Netrebko und Valery Gergiev entlassen.

Tatsächlich durchdringt die russische Kultur die europäische Kultur. Man kann die Literaten Puschkin, Tolstoy, Dostojewski, Turgenjew, Tschechow, Anna Achmatowa und Michail Lermontov, oder die Komponisten Tschaikowski, Rimski-Korsakow, Mussorgski, Borodin, Chatschaturjan, Glazunov, Scriabin, Strawinsky, Prokofiev, Rachmaninoff, Schostakowitsch aus der europäischen Kultur nicht wegdenken.¹⁰

Bisher wurden Kriege aus machtpolitischen oder geostrategischen Interessen sowie um Ressourcen geführt. Seit ein paar Jahren führt man offiziell Krieg für «Werte». Was ist das für eine Argumentation?

Hier geht es absolut nicht um Werte. Es geht nach wie vor um Machtpolitik. Man führt einen Krieg gegen Russland und missbraucht dabei die armen Ukrainer, die schamlos in den Tod geschickt werden. Es ist durchaus machiavellistisch. Dabei empfinde ich moralisches Vertigo [Schwindel].

Um welche Werte soll es denn eigentlich gehen, wenn für sie Menschenleben geopfert bzw. Menschen getötet werden?

Der höchste Wert ist das Recht auf Leben, und dieses Recht kann man nur durch Frieden sichern. Um es nochmals zu betonen und dem westlichen Narrativ vom barbarischen Russen zu widersprechen: Die Russen wollten keinen Krieg und haben jahrelang – gemäss Art. 2(3) der Uno-Charta – friedlich verhandelt und konkrete Massnahmen formuliert. Man braucht eine Sicherheitsarchitektur für ganz Europa – und darauf haben Putins Vorschläge hingewirkt.

Alle Staaten, die weiterhin Waffen an die Ukraine liefern, tragen die Verantwortung für den Tod von ukrainischen und russischen Soldaten sowie von Zivilisten. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschheit, die Ukrainer für die geopolitischen Ansprüche der Nato zu opfern. Weitere Waffenlieferungen verlängern das Töten, und die Staaten riskieren eine mögliche Eskalation bis hin zum Atomkrieg. Die Verantwortung liegt deutlich bei der Nato. Die Russen wollten und wollen immer noch verhandeln.

Das Bemühen von Werten, um das Töten anderer Menschen zu rechtfertigen, erinnert an das dunkle Kapitel des Kolonialismus. Sind wir um Jahrhunderte zurückgefallen?

Ja, leider. Hier geht es um brachialen Imperialismus und Neo-Kolonialismus. Aber die Medien lügen und verbreiten eine Geschichte, die die wesentlichen Ursachen des Krieges ignoriert. Es gibt keine Rechtfertigung für die verbrecherische Haltung der Nato, die meines Erachtens als «kriminelle Organisation» im Sinne des Artikels 9 des Statuts des Nürnberger Tribunals bezeichnet werden kann. Tatsächlich hat die Nato schwerwiegendere Verbrechen begangen als jene, die man Putin vorwirft.

Als Menschen der christlich-abendländischen Kultur streben wir nach Werten wie Barmherzigkeit, Ehrlichkeit, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit. Wie werden diese Werte verteidigt, wenn schwere Waffen in die Ukraine geliefert werden? 

Ja, es ist tatsächlich ein Trauerspiel. Ich trauere um die Menschen, die hier aus politischen und strategischen Überlegungen geopfert werden. Unsere Politiker haben moralisch vollkommen versagt. Friedenspolitik heisst Aufrichtigkeit, Brüderlichkeit, Demut, Hilfsbereitschaft, Respekt, Worttreue. Dies sind universelle Werte, nicht nur europäische. Sie beseelen die Uno-Charta und ermöglichen die Zusammenarbeit der Völker. Sie sind unerlässlich für die Rechtssicherheit im Rechtsstaat. Die Werte sind echt, unsere Politiker aber verlogen.

Damit entwerten Politiker die Werte…

Ja, aber die Werte verlieren sicherlich nicht ihre Bedeutung. Die Politiker aber verlieren ihre Ehre. Ja, leider instrumentalisieren manche europäische Politiker die sogenannten «europäischen Werte», um andere Länder und Politiker zu dämonisieren. Dieser Missbrauch von Begriffen zerstört die Sprache und dabei unsere Glaubwürdigkeit. Orwell hat die epistemologische Unterminierung «Newspeak» genannt: «War is Peace, Freedom is Slavery» etc. Eigentlich ist es schlimmer, was manche europäische Politiker betreiben, denn es geht um ein Sakrileg gegen den christlichen Glauben und gegen christliche Werte, die das Fundament unserer europäischen Zivilisation bilden. Wir konstatieren eine Umwandlung, eine Metamorphose der Begriffe, die auch von den Medien eifrig betrieben wird. Dies ist besonders gefährlich, weil wir uns dadurch in den dritten Weltkrieg manövrieren können.

Was macht die Nato?

Sie betreibt eine herzlose Politik. Ein Wort von der Nato und von der Ukraine wäre im Dezember 2021 und Januar/Februar 2022 dringend notwendig gewesen:  Neutralität. Man hätte die ganze Misere vermeiden können, wenn die Nato Russlands moderate Vorschläge aufrichtig diskutiert hätte. Ein Kompromiss war immer möglich. Aber die Nato wollte diesen Krieg.

Nach Ihren klaren Ausführungen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein massiver Missbrauch dieser Werte für machtpolitische Interessen stattfindet.

Gewiss – und dies unter Mittäterschaft der Medien. Man hat die Sprache korrumpiert, die Werte in Gegenwerte umgewandelt. Es wirkt durch und durch orwellistisch.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ The Great Delusion, Yale University Press, New Haven, 2018.
² www.youtube.com/watch?v=e1qI1XKMPks
³ ccisf.org/u-s-ambassadorjack-matlock-todays-crisis-over-ukraine/
4 www.youtube.com/watch?v=hQ58Yv6kP44
⁵ Kapitel 2, «Building a Just World Order» https://www.claritypress.com/book-author/alfred-de-zayas/
www.project-syndicate.org/commentary/securing-the-future-at-the-evian-summit-2003-05
www.upi.com/Defense-News/2003/06/03/Leaders-wrap-up-Evian-summit/94781054648518/
www.claritypress.com/product/countering-mainstream-narratives-fake-news-fake-law-fake-freedomcountering-the-mainstream-narratives-fake-news-fake-law-fake-freedom/
www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/512683
9 www.staatsvertraege.de/Frieden1814-15/heiligeallianz1815.htm
¹⁰ www.rbth.com/longreads/5-russian-ballets/www.youtube.com/watch?v=anh59_Q212A)

8. Juni 2022

Internationale Friedenssicherung: «Sicherheit durch Kooperation und nicht durch Konfrontation»

«Eine Nato-Mitgliedschaft der Schweiz würde unsere Sicherheit in Frage stellen»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild zvg)
Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Die «New York Times» vom 20. Mai hat in einem Editorial den Sinn der US-amerikanischen Kriegsstrategie in der Ukraine in Frage gestellt und ein weiteres Engagement hinterfragt. Wie muss man das verstehen?

Jacques Baud In der angelsächsischen Welt wird die Strategie der USA und der Europäischen Union von Militärs und Geheimdienstlern zunehmend in Frage gestellt. Dieser Trend wird durch die amerikanische Innenpolitik noch verstärkt. Republikaner und Demokraten haben eine sehr ähnliche Sicht auf Russland. Der Unterschied liegt jedoch in der Effizienz der Investitionen zur Unterstützung der Ukraine. Beide teilen das Ziel eines «Regimewechsels» in Russland, aber die Republikaner stellen fest, dass die ausgegebenen Milliarden dazu tendieren, sich gegen die westliche Wirtschaft zu richten. Mit anderen Worten: Man scheint das Ziel nicht erreichen zu wollen, während unsere Volkswirtschaften und unser Einfluss schwächer werden. 

Dann haben die Republikaner kaum eine andere Position als die Demokraten?

In Europa neigen wir dazu, die Republikaner und die Demokraten als die politische «Rechte» und «Linke» zu sehen. Das ist nicht ganz richtig. Zunächst einmal muss man sich daran erinnern, dass historisch gesehen bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts die Republikaner «links» und die Demokraten «rechts» waren. Heute unterscheiden sie sich weniger in ihrer Vision der Vereinigten Staaten in der Welt als vielmehr in der Art und Weise, wie sie diese Vision erreichen wollen. Deshalb gibt es Demokraten, die weiter rechts stehen als Republikaner, und Republikaner, die weiter links stehen als Demokraten. 

Was bedeutet das für die UkraineKrise?

Die Ukraine-Krise wurde von einer kleinen Minderheit von Demokraten gemanagt, die Russland hasst. Sie strebt eher eine Schwächung Russlands als eine Stärkung der USA an. Die Republikaner stellen fest, dass dies nicht nur nicht funktioniert, sondern auch zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit der USA führt. Die bevorstehenden Midterm Wahlen und die wachsende Unbeliebtheit von Joe Biden nähren die Kritik an der US-Strategie in der Ukraine.

Findet dieses «Umdenken» nur in den englischsprachigen Medien statt? 

In den französischsprachigen Medien in der Westschweiz, in Frankreich und in Belgien folgt die Rhetorik getreu dem, was die ukrainische Propaganda sagt. Man zeigt uns eine fiktive Realität, die uns einen Sieg gegen Russland ankündigt. Das Ergebnis ist, dass wir nicht in der Lage sind, der Ukraine bei der Überwindung ihrer realen Probleme zu helfen.

Sieht man das in der EU auch so?

Ja, es herrscht dort eine allgemeine antirussische Stimmung. Man ist royalistischer als der König. Das betraf bereits das Ölembargo. Die US-Finanzministerin, Janet Yellen, hat der EU von einem Ölembargo abgeraten. Aber die EU wollte das trotzdem machen. Damit ist offensichtlich, dass es in der EU eine gewisse Dynamik gibt, die der Generation der momentanen politischen Führungskräfte entspricht. Diese Personen sind sehr jung, haben keine Erfahrung, sind ideologisch aber festgelegt. Das ist der Grund, warum man in Europa die Lage nicht richtig beurteilen kann. 

Was hat das für Folgen?

In Europa liegt unser Verständnis des Problems hinter dem der USA zurück. Wir sind nicht in der Lage, die Situation in Ruhe zu diskutieren. In den französischsprachigen Medien ist es unmöglich, einen alternativen Blick auf die Probleme zu werfen, ohne als «Putins Agent» bezeichnet zu werden. Dies ist nicht nur eine intellektuelle Frage, sondern vor allem ein Problem für die Ukraine. Indem sie die von der ukrainischen Propaganda vorgeschlagene Sichtweise bestätigten, haben unsere Medien die Ukraine zu einer Strategie gedrängt, die sehr viele Menschenleben kostet und zur Zerstörung des Landes führt. Unsere Medien sind der Meinung, dass diese Strategie Wladimir Putin schwäche und dass man diesen Weg weitergehen solle. Doch die Amerikaner scheinen erkannt zu haben, dass dies eine Sackgasse ist, denn Joe Biden erklärte, dass die Militärhilfe für die Ukraine lediglich dazu diene, die Verhandlungsposition der Ukraine zu stärken.

Wie ist die Betrachtung in den USA?

In den USA muss man zwischen der Regierung und den Kreisen des Militärs und der professionellen Geheimdienstler unterscheiden. Bei letzteren wächst der Eindruck, dass die Ukraine mehr unter der westlichen Strategie als unter einem Krieg mit Russland leiden wird. Das klingt paradox, wird aber von immer mehr Menschen erkannt. In der französischsprachigen Schweiz – das ist meine Erfahrung – nehmen die Menschen das nicht wahr. Sie folgen dem, was die US-Regierung sagt. Das ist eine intellektuell begrenzte, extrem primitive, extrem dogmatische und letztlich extrem brutale Sichtweise gegenüber den Ukrainern. Es ist – auch hier – eine Sichtweise, die königlicher als der König ist, denn die Amerikaner scheinen zu verstehen, dass ihr Ansatz zu einem Miss­erfolg führt.

Was heisst das konkret?

Betrachten wir die Situation in Mariupol. Unsere Medien scheinen zu bedauern, dass sich die Kämpfer der Asow-Formation ergeben haben. Sie bedauern sie. Sie hätten es vorgezogen, wenn sie gestorben wären. Das ist extrem unmenschlich. Nun hatte ihr Kampf aber keinen Einfluss mehr auf die Situation. Wenn man die Westschweizer Medien liest, hätten sie bis zum Tod kämpfen sollen, bis zum letzten Mann. Die Westschweizer Medien hätten bei der Verteidigung von Berlin im April 1945 eine «wunderbare Arbeit» leisten können! Durch eine Ironie der Geschichte sind die beiden Situationen sehr ähnlich. Die Lage in Berlin war damals völlig aussichtslos, und unter den letzten Kämpfern des Dritten Reiches – den letzten Verteidigern des Führers – waren französische Freiwillige der Division «Charlemagne»!

Was bedeutet der Einsatz solcher Freiwilliger?

Das ist etwas Besonderes, denn sie ziehen nicht aus patriotischer Pflicht in den Kampf, sondern aus Überzeugung, aus Dogmatismus, und das ist genau die gleiche Mentalität wie bei einigen unserer Medien. Ein Soldat, der sein Land verteidigt, tut dies nicht aus Hass auf den Gegner, sondern aus Pflichtgefühl und Respekt für seine Gemeinschaft und sein Land. Ein Freiwilliger, der sich politisch engagiert, wie seinerzeit die Freiwilligen der SS-Division «Charlemagne», folgt einer Art Berufung zum Kämpfen. Es ist ein anderer intellektueller Mechanismus. In der Ukraine ist das Gleiche zu beobachten. Diese Freiwilligen der Asow-Bewegung, die von einigen Westschweizer Politikern als «Republikaner» bezeichnet werden, drohten, Selenskij zu töten, weil er die Kapitulation von Mariupol akzeptiert hatte. Diese Freiwilligen kämpfen nicht für die Ukraine, sondern gegen Russland. Das ist die gleiche Geisteshaltung wie diejenige der Journalisten in der Westschweiz. Sie sind genauso vehement gegen Putin wie diese freiwilligen Kämpfer.

Was steckt hier für ein Weltbild dahinter?

Natürlich stört dieses Ereignis [die Kapitulation Mariupols] das Narrativ, dass die Ukraine sich heldenhaft verteidige und ihre Entschlossenheit die Niederlage Russ­lands herbeiführe. Der kleine David (Ukraine) verteidigt sich gegen Goliath (Russland) und hat Erfolg. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Immer mehr Soldaten der regulären Armee sagen, dass sie nicht mehr kämpfen wollen. Sie fühlen sich von der Führung im Stich gelassen. Ausserdem haben die Russen den Ruf, ihre Gefangenen gut zu behandeln. Diejenigen, die noch kämpfen wollen, sind die paramilitärischen Freiwilligen. Es wurde der Mythos eines siegreichen Widerstands geschaffen, doch heute fühlen sich die ukrainischen Militärs betrogen. Dass die Ukraine diesen Krieg verliert, ist para­doxerweise vielleicht zum grossen Teil auf das von unseren Medien verbreitete Narrativ zurückzuführen.

Dass man die Realität verkennt, sehen wir doch auch bei der Nato. Die Verantwortlichen erklären nur zu gerne, dass die Nato den Frieden erhalte und den Menschen Freiheit und Sicherheit in Europa gewährleiste…

Diese Aussagen müssen relativiert werden. Zunächst einmal ist die Nato keine Friedensorganisation. Die Nato ist grundsätzlich eine nukleare Organisation, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte. Das ist der Sinn und Zweck der Nato: die Verbündeten unter den nuklearen Schirm zu stellen. Die Nato wurde 1949 gegründet, als es nur zwei Atommächte gab – die USA und die UdSSR. Zu diesem Zeitpunkt war eine Organisation wie die Nato gerechtfertigt. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gab es Menschen, die den Krieg wollten. Das war unter Stalin der Fall, aber auch in den Vereinigten Staaten.

Einige westliche politische Verantwortliche wollten den Krieg weiterführen?

Ja, das war der Grund, warum Winston Churchill einen Teil der deutschen Wehrmacht, die sich ergeben hatte, nicht entwaffnen wollte. Man rechnete mit einem Krieg gegen die Sowjetunion. Die Idee eines nuklearen Schutzschirms konnte unter diesen Umständen gerechtfertigt werden. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges, als sich der Warschauer Pakt auflöste, verblasste diese Rechtfertigung.

Hätte man vollständig auf eine militärische Organisation verzichten können?

Es ist sicherlich notwendig, eine Organisation für kollektive Sicherheit in Europa zu haben. Es ist unbestritten, dass bestimmte Vorkehrungen für eine gemeinsame Verteidigung getroffen werden sollten. Diese Idee ist relativ gut akzeptiert. Das Problem liegt eher in der Form dieser Organisation und in der Art und Weise, wie die Verteidigung konzipiert werden soll.

Was hätte mit Russland passieren müssen?

Seit Anfang der 1990er Jahre hatten die Russen eine Vorstellung von der Sicherheit in Europa, die sich auf die OSZE stützte: Sicherheit durch Zusammenarbeit und nicht durch Konfrontation. Darum waren die Russen damals daran interessiert, der Nato beizutreten. Aber das eigentliche Konzept der Nato mit einer dominanten Macht, die an die Natur der Organisation gebunden ist, kann die russische Perspektive nicht integrieren. Wenn man sich die aktuellen Herausforderungen in der Welt ansieht, könnte die russische Vision als viel realistischer als die westliche Vision angesehen werden.

Warum schätzen Sie das so ein?

Die Menschheit steht vor vielen komplexen Herausforderungen. Wir vergessen, dass die Nato 1967 den «Harmel-Bericht»¹ veröffentlichte, in dem sie über ihre Zukunft nachdachte. Dies ist nun mehr als 50 Jahre her. Dieser Bericht war beispielhaft und sehr modern. Die Nato beschrieb darin alle aktuellen und zukünftigen Herausforderungen und legte bestimmte Leitlinien für die Entwicklung der Organisation fest. Er war zukunftsorientiert, so dass ich darin ein Modell dafür sehe, wie die Nato aussehen könnte. In diesem Bericht wurde das Sicherheitskonzept neu durchdacht. Das heisst, man findet dort Umwelt- und Sozialprobleme, die in das Sicherheitskonzept integriert wurden. Wenn ich mir die Probleme ansehe, mit denen wir weltweit, aber auch insbesondere in Europa konfrontiert sind, bietet der «Harmel-Bericht» viele Denkanstösse und Ideen.

Was ist mit dem Bericht bzw. seinen Ideen passiert?

Der Golf- und dann der Balkankrieg haben uns wieder in konventionelles Denken versetzt. Die Nato hat also die Chance verpasst, in eine neue Richtung zu denken. Panzer, Artillerie, Flugzeuge usw. bestimmen noch immer das Denkmodell der Nato. Dieses Modell war nicht nur für die Kriege in Afghanistan und im Irak ungeeignet, sondern die Nato hat auch nicht wirklich die richtigen Lehren aus diesen Kriegen gezogen. So haben wir Leid und Elend vergrössert, ohne den Terrorismus einzudämmen. Dies ist ein völliges Versagen auf operativer, strategischer, intellektueller und menschlicher Ebene.

Worin sehen Sie die Ursache für dieses offensichtliche Versagen?

Das Konzept des Krieges war nicht an die Realitäten angepasst. Die Nato ist eine regionale Sicherheits- und Verteidigungsorganisation. Sie wurde 1949 für einen Krieg in Europa mit Atomwaffen, Panzern, Artillerie usw. konzipiert. In Afghanistan gab es jedoch keine Atomwaffen, Panzer oder Jagdbomber. Das ist eine ganz andere Art von Krieg. Aber die Nato hat das Problem nicht erkannt.

Warum hat die Nato die Situation nicht richtig erfasst?

Um es zu vereinfachen, sagen wir, dass ein Krieg in Europa eine technische Herausforderung ist. Ein Krieg in Afghanistan hingegen ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Die Nato hat diesen wichtigen Unterschied nicht verstanden. Ich habe den Krieg in Afghanistan erwähnt, weil die Nato dort als Organisation engagiert war. Beim Irak ist es besser, von «Nato-Ländern» zu sprechen. Sie haben nicht verstanden, dass es verschiedene Arten von Krieg gibt. Die westlichen Armeen sind nicht darauf vorbereitet und haben ein dogmatisches Verständnis von Krieg.

Was heisst das für die Nato?

Die Allianz blieb auf dem Stand von 1949, natürlich mit moderneren Waffen, aber die Logik blieb dieselbe. Wir sehen es auch in der Ukraine-Krise. Die Nato ist sicherlich nicht an den Kämpfen beteiligt, aber sie unterstützt durch Ausbildung, Beratung und Aufklärung. Die Schwächen der Ukraine sind daher die Schwächen der Nato. Das war bereits 2014 der Fall. Die ukrainische Armee war schlecht beraten. Seitdem hat die Nato immer mehr Ausbilder ausgebildet, die heute die gleichen Fehler machen wie vor acht Jahren. Wir sehen, dass die Kriegskonzeption der Nato unangemessen ist und nicht der Entwicklung folgt. Der Krieg wird wie im Ersten Weltkrieg gedacht. Er wird als ein Kräfteverhältnis betrachtet.

Was müsste hier geschehen?

Ich bin der Meinung, dass sich die Nato auflösen sollte, um in ­einer anderen Form wiedergeboren zu werden. Ich denke, wir brauchen eine Organisation für kollektive Sicherheit in Europa, die von den USA unabhängig ist. Sie muss jedoch auf die modernen ­Sicherheitsherausforderungen zugeschnitten und in der Lage sein, diese kooperativ zu bewältigen.

Ich möchte gerne auf die OSZE zurückkommen. Sie sagten, dass Russ­land dieses Modell favorisiere. Wäre das nicht eine Alternative zur Nato?

Ja, natürlich. Das war übrigens ein Vorschlag des letzten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Er liess sich von einer Idee des ehemaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle inspirieren: ein Europa vom Atlantik bis zum Ural. Gorbatschow nannte es «das gemeinsame europäische Haus». Auch heute noch ist es eine Binsenweisheit: Der beste Weg, um einen Krieg zu vermeiden, sind gute Beziehungen zu den Nachbarländern. Das klingt banal, aber es ist so.

Warum gelingt das den Staaten  nicht?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste ist die «Besessenheit» der USA seit den 1970er Jahren, eine engere Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland zu verhindern. Die russische Idee eines «gemeinsamen europäischen Hauses» wäre eine Annäherung zwischen Russland und Europa, die die USA nicht wollen. Dies hat sich besonders auf Deutschland fokussiert. Deutschland ist die grösste Wirtschaftsmacht in Europa, war in der Geschichte eine starke Militärmacht und hatte eine besondere Beziehung zur Sowjetunion. Die USA hatten immer Angst davor, ein grosses Europa als Konkurrenten zu haben. 

Der zweite Grund ist, dass die ehemaligen Ostblockstaaten, die heute Teil der EU und der Nato sind, nicht die Absicht haben, sich Russland anzunähern. Ihre Gründe sind historisch, kulturell und politisch. Aber es gibt auch eine Kultur der Unnachgiebigkeit, die seit den 1920er Jahren zu beobachten ist und die auch weiterhin in ihrer Innenpolitik zu sehen ist.

In welcher Beziehung?

Zum Beispiel bei der Versorgung mit Gas aus Sibirien. Die US-amerikanischen Argumente gegen «Nord Stream 2» sind nicht neu. Seit den 60er und 70er Jahren erhielt Deutschland Gas aus Sibirien. Schon damals befürchteten die USA, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen der BRD und der UdSSR Auswirkungen auf die Entschlossenheit Deutschlands haben könnte, in der Nato zu bleiben. Daher setzten sie alles daran, die Gaspipelines zu sabotieren.

Ja, daran kann ich mich noch erinnern. Es gab Artikel im «Spiegel» und in anderen deutschen Zeitungen, die von grausamen Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in Sibirien berichteten etc. Es war eine Stimmung, wie wir sie heute wiederfinden.

1982 unterzeichnete Ronald Reagan einen «Presidential Executive Order», der die CIA dazu ermächtigte, die Gaspipeline «Bro­therhood» zwischen Urengoi (Sibirien) und Uzhhorod (Ukraine) zu sabotieren. Die Pipeline wurde sabotiert, aber von den Sowjets schnell wieder repariert. Ja, das war die gleiche Rhetorik wie heute. Das ist tragisch, aber wir befinden uns immer noch in der gleichen intellektuellen Dynamik.

Das zeigt doch, dass hier handfeste Interessen der USA tangiert werden, und das wird doch die ganze Entwicklung in Europa beeinflussen.

Ja, die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses, wie sie Gorbatschow formuliert hat und wie sie von den Russen favorisiert wird, ist für die USA unvorstellbar. Aus diesem Grund hat Russland immer einen gewissen Respekt vor der OSZE gehabt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hätte man dieses Modell erweitern können, um Sicherheit durch Kooperation und nicht durch Konfrontation aufzubauen. Dies hätte ein tragfähiges Modell sein können. Doch der Nato fehlte die intellektuelle Flexibilität, um sich selbst neu zu überdenken. Die Nato blieb unfähig, ein echtes strategisches Denken zu formulieren. Der Output der Nato ist intellektuell extrem schwach.

Eine Annäherung der Schweiz an die Nato wäre also definitiv ein Rückschritt in den Kalten Krieg?

Nein, nicht wirklich, da wir nie in der Nato waren. Ausserdem hat eine Studie der US-Armee aus dem Jahr 2017 ergeben, dass die UdSSR Europa nur deshalb nicht angegriffen hat, weil sie es nie vorhatte. Unsere Sicherheit hängt also nicht von der Nato ab, sondern von unserer Fähigkeit, gute Beziehungen zu unseren Nachbarn zu haben. Ich glaube sogar, dass eine Nato-Mitgliedschaft unsere Sicherheit in Frage stellen würde. Das gilt gleichermassen für Finnland und Schweden.

Können Sie das genauer erklären?

Es gibt zwei Gründe: Erstens könnte die Schweiz als Mitglied an Operationen beteiligt werden, die nicht unbedingt mit ihren eigenen nationalen Interessen zusammenhängen. Im Kampf gegen den Terrorismus beispielsweise verfügt die Nato nicht über die doktrinellen Kapazitäten, um diese Frage wirksam anzugehen. Wenn wir uns an der Seite der Nato engagieren würden, würden wir den Terrorismus nur auf uns ziehen. Das ist zum Beispiel mit Deutschland passiert. Ausserdem ist es intellektuell nicht sehr befriedigend, an Niederlagen beteiligt zu sein. Zweitens unsere Neutralität, und ich spreche hier von der Schweizer Neutralität, die im Gegensatz zu anderen Ländern wie Belgien von den europäischen Grossmächten bestätigt und international anerkannt wurde. Diese Anerkennung hat uns in den letzten beiden Jahrhunderten erfolgreich geschützt.

Sogar vor Angriffen Nazi-Deutschlands?

Das Dritte Reich hatte mindestens drei Operationen gegen die Schweiz geplant, doch Deutschland hatte nie die Gelegenheit, sie umzusetzen. Diese Planung wurde vorgenommen, weil sich die Schweiz nicht gemäss ihrer Neutralitätspolitik verhalten hatte.

In welcher Beziehung?

Man darf nicht vergessen, dass sich das Hauptquartier des OSS [Office of Strategic Services] in ­Europa unter der Leitung von Alan Dulles seit 1942 in Bern befand. 

Das OSS war die Vorgängerorganisation der CIA. Der Schweizer Geheimdienst arbeitete mit dem OSS und den britischen Diensten zusammen, um Widerstandsnetzwerke in Deutschland gegen die Nazis sowie in Frankreich und Nord­italien zu unterstützen. Darüber hinaus trainierten Angehörige der in der Schweiz internierten 2.  polnischen Infanteriedivision mit Hilfe der Schweizer Armee, um mit der Résistance in Frankreich zu kämpfen. Offensichtlich war die Neutralitätspolitik nur eine Fassade.

Was hatte das für Folgen?

Ich möchte das Engagement der Schweiz sicherlich nicht kritisieren, zumal ein Teil meiner Familie in der französischen Résistance gekämpft hat. Andererseits muss man, wenn man einen Schritt zurücktritt, feststellen, dass die Schweiz nicht ganz neutral war. Das hatte jedoch seinen Preis, denn die Nazis wussten von diesen Aktivitäten. Aus diesem Grund musste die Schweiz dem Deutschen Reich Zugeständnisse machen. Die Gründe dafür wurden dem Schweizer Volk nie wirklich erklärt, aber in den Jahren 1995–1999 wurden sie in der Schweiz weitgehend kritisiert.

Was können wir daraus für Schlüsse ziehen?

Wenn die Neutralität konsequent angewendet wird, hat sie auch eine Schutzfunktion. Andererseits ist der Schutz, den die Nato der Schweiz bieten würde, sehr begrenzt. Wenn im Falle eines konventionellen Konflikts ein Feind die Schweizer Grenze erreichen würde, würde dies bedeuten, dass die Nato bereits ein existenzielles Problem hat. In dieser Situation würde die Schweizer Neutralität de facto fallen. Im Falle eines nuklearen Konflikts würden die USA niemals Moskau bombardieren, um Bern zu befreien. Wer das glaubt, ist ein Phantast. 

Was ist mit den neuen Beitrittskandidaten? 

Für Helsinki und Stockholm gilt dasselbe. Wer glaubt, die USA würden Los Angeles, New York oder Washington in Gefahr bringen, ist absolut nicht von dieser Welt. Die USA würden Russland nur in einer Extremsituation mit Atomwaffen angreifen. Tatsächlich würden die USA alles tun, um einen möglichen nuklearen Schlagabtausch auf europäischem Boden stattfinden zu lassen. Also hat die Mitgliedschaft in der Nato lediglich zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit, direkt von taktisch-operativen Atomwaffen getroffen zu werden, steigt. Die Idee einer Annäherung an die Nato ist von unglaublicher Naivität.

Die militärische Chef-Strategin des VBS, Pälvi Pully, plädiert offen für mehr Nähe zur Nato. Das alles rührt doch von der Stimmung, die in den letzten Jahren und Monaten erzeugt wurde, dass Putin eine imperialistische Politik betreibe und das Land weiter ausdehnen wolle und am Schluss noch die Schweiz angreifen möchte. Das ist doch ein Unsinn?

Ich kenne Frau Pälvi Pully. Sie ist eine intelligente Person. Aber sie macht den Fehler, den die Menschen im Westen machen und der aus der von unseren Medien verbreiteten Desinformation resultiert. Wir gehen von der Vorstellung aus, dass Russland Europa erobern will und dass Wladimir Putin ein irrationaler Mensch ist. Das ist falsch. Wir wissen aus ukrainischen und westlichen Quellen, dass die russische Entscheidung ihren Ursprung in der geplanten Offensive der ukrainischen Streitkräfte gegen den Donbas hatte. Wladimir Putins Entscheidung war also vollkommen rational, auch wenn man darüber streiten kann, ob sie die beste war. Es ist auch klar, dass die Russen versucht haben, all dies auf diplomatischem Wege zu lösen. Dazu gehören auch andere Fragenkomplexe wie Atomwaffen in der Ukraine, ein Nato-Beitritt etc. Eindeutig hat der Westen weder versucht, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen noch die anderen Probleme politisch zu lösen. Russland nimmt diese Probleme als existentiell wahr. Es war zu Verhandlungen bereit. Seit Beginn der russischen Offensive war auch Selenskij zu Verhandlungen bereit. Er wurde von den USA und Grossbritannien sowie von den rechtsextremen Elementen des ukrainischen Sicherheitsapparats, der von unseren Medien sehr stark unterstützt wird, daran gehindert. Ich glaube nicht, dass die Nato in dieser Krise eine stabilisierende Rolle spielt. Im Gegenteil…

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ www.files.ethz.ch/isn/108636/08_harmel.pdf

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995–1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

8. Juni 2022

«Erliegt die Schweiz der Kriegsstimmung und -rhetorik der westlichen Kriegsallianz?»

«Dämonisierung Putins gehört zu den Grundprinzipien der Kriegspropaganda»

von Thomas Kaiser

Als man vor 20 Jahren die Armee-Reform Armee XXI der Bevölkerung schmackhaft machte, begründeten die Reformer die Reduktion des Personalbestands von ca. 60 % auf nahezu 120 000 Personen¹ damit, dass man sicher 5  bis  10 Jahre vorher merke, wenn die internationalen Spannungen zunähmen, und so genügend Zeit bleibe, die Armee wieder hochzufahren und die Truppen aufzustocken. Man sprach von «Aufwuchsphase», die erlauben würde, bei steigender Bedrohung rechtzeitig reagieren zu können – schon damals eine weltfremde Argumentation.

Aber im Gegensatz zur Reduktion des Personalbestands und damit einhergehend auch der militärischen Schlagkraft blieb der verfassungsmässige Auftrag der Armee immer der gleiche. Artikel 58 Abs. 2 lautet: «Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens. Sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung…».²

Anscheinend kann unsere Armee mit 200 000 Armeeangehörigen einschliesslich Reserve heute gleich viel leisten wie früher mit ungefähr 400 000, denn der Verfassungsauftrag hat sich trotz aller Reformen nicht geändert. Erstaunlich ist dabei vor allem, dass man das erst 2003 gemerkt hat. Wenn also der Verfassungsauftrag seit 2003 mit massiv reduziertem Bestand bis jetzt erfüllt worden ist, wirkt es um so unverständlicher, wenn heute fast alle Parteien nach einer Aufrüstung der Armee schreien. Entweder hat man uns damals belogen, oder man belügt uns heute. Wem soll man da noch trauen?

Was und wieviel aufgerüstet werden soll, da scheiden sich die Geister, aber dass die Armee mehr Geld braucht, darüber herrscht bei einer Mehrheit im Parlament Einigkeit. Wofür das Geld eingesetzt und woher es genommen werden soll, steht in den Sternen. Die aktuelle Forderung nach mehr Aufrüstung beweist zumindest, dass mit der Armee XXI und der anschliessenden «Reformitis» der verfassungsgemässe Auftrag nicht mehr erfüllt werden konnte. Wie anders ist das Besinnen auf die Wichtigkeit einer Landesverteidigung zu erklären, nachdem man in den letzten 20 Jahren den Personalbestand und die Schlagkraft der Armee abgebaut hat. Weil sich die Sicherheitslage, so die Argumentation, in Europa seit dem 24. Februar 2022 schlagartig verschlechtert habe, müsse jetzt dringend aufgerüstet werden. Aber stimmt das tatsächlich oder erliegt die Schweiz, obwohl kein Mitglied der Nato, hier der Kriegsstimmung und -rhetorik der westlichen Kriegsallianz, die spätestens seit Donald Trump unter Aufrüstungsdruck steht? Die Forderung nach 2 % des Bruttoinlandsproduktes steht noch immer im Raum.

Verhöhnung des russischen Sicherheitsbedürfnisses

An jenem 24. 2. also erfolgte der Angriff Russlands auf Teile der Ukraine. Dem gingen massive Provokationen seitens der Ukraine und eine völlige Gesprächsverweigerung der Nato bzw. eine Verhöhnung des russischen Sicherheitsbedürfnisses voraus. Nachdem Joe Biden signalisiert hatte, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, Jens Stoltenberg an der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar auf die von Russland empfundene Bedrohung durch die Nato von «mehr Nato»³ an der Grenze zu Russland gesprochen hatte «anstatt weniger», Selenskijs Anspielung auf die Kündigung des Budapester Memorandums⁴, das den Besitz von Atomwaffen in der Ukraine verbietet, und als Lugansk und Donezk von der ukrainischen Armee unter massiven Artilleriebeschuss geraten war⁵, traf Putin seine Entscheidung und begann die sicher völkerrechtswidrige, aber von den Strategen der Nato kaum abzuwartende militärische Operation.

Nach 100 Tagen Krieg hat Russland seine Ziele mehr oder weniger erreicht. Auch wenn ein grosser Teil der Medien etwas anderes behauptet. Was jetzt dringend folgen müsste, sind Verhandlungen, um den Status der primär von Russen bewohnten Gebiete in der Ukraine sowie den Status der Ukraine als souveränen Staat zwischen der seit zwei Jahrzehnten künstlich aufgebauten Front des Westens gegenüber Russland festzulegen. Schon 2008 forderte der ehemalige Generalsekretär und letzte Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, den damals frisch gewählten Präsidenten Obama auf, er solle «den neuen Kalten Krieg beenden»⁶. Doch das Gegenteil geschah, man bedrängte Russland weiterhin.

Wenn heute die westliche Kriegsallianz das Bild eines machtsüchtigen und blutrünstigen Imperators aus dem Osten zeichnet, dann hat das weniger mit den Fakten zu tun als viel mehr mit einer emotionalisierten Propaganda, die die friedliebende Bevölkerung auf Kriegskurs bringen soll. Leider auch in der Schweiz. Es wird ein Bedrohungsszenario gezeichnet, das völlig unrealistisch ist.

Aktienkurs von Rheinmetall explodiert

Nur weil unser nördlicher Nachbar 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Rüstung ausgeben will (Rheinmetall lässt grüssen), muss die Schweiz das noch lange nicht tun. Tatsächlich ist der Kurs der Rheinmetall-Aktie seit März 2022 um über 100 % gestiegen.⁷ Der Ruf nach mehr Rüstung in der Schweiz bekommt auch deswegen einen ganz schlechten Beigeschmack, weil Politiker verschiedener Parteien mit Ausnahme der SVP eine verstärkte Annäherung an die Nato verlangen.⁸ Tatsächlich ist der Krieg in der Ukraine ein sehr begrenzter Krieg ohne die geringsten Anzeichen, dass Russland weitere Staaten in Europa angreifen will. Wenn man die oben genannten Abläufe mit einbezieht, erkennt man, dass der militärische Angriff keine Lust und Laune Entscheidung war, wie wir dies vom US-amerikanischen Präsidenten, George W. Bush, kennen, sondern auf Fakten beruht, die man im Westen nicht zur Kenntnis nimmt. Das soll keine Rechtfertigung sein. Aber es passt natürlich nicht in das ständig wiederholte Bedrohungsbild eines machthungrigen und irrationalen russischen Präsidenten. Die Dämonisierung des «Gegners» gehört denn auch zu den Grundprinzipien der Kriegspropaganda.⁹ Tatsächlich hat Russland auch nach Beginn des Kriegs immer auf Verhandlungen gesetzt.¹⁰ Es sah auch mehrmals danach aus, als ob sich Russland und die Ukraine annäherten, aber westliche Rhetorik und Intervention haben eine Einigung torpediert und Tausende von Menschenleben sinnlos geopfert.

Propaganda bietet keine Grundlage für gute Entscheide

Den Ukraine-Krieg als Anlass für mehr Rüstung zu nehmen, weil Russland als nächstes Westeuropa angreifen will, ist nichts als Propaganda. Wenn die Schweiz sich überlegt, der Landesverteidigung mehr Sorge zu tragen, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Es muss aber in alle Richtungen gedacht werden, und die bestehende Propaganda darf nicht Grundlage dafür sein. Darum ist es völlig fehl am Platz, überhastet irgendwelche Entscheide zu fällen und Milliarden für Rüstungsgüter zu sprechen, die jeglicher rationaler Grundlage entbehren. Das gilt für das US-amerikanische Kampfflugzeug genauso wie für andere Anschaffungen. Man muss wissen, gegen wen oder was sich die Schweiz im Ernstfall verteidigen müsste. Nur dann kann das Geld sinnvoll zum Schutz von Land und Leuten eingesetzt werden.

Sollte die Schweiz einen Feind an ihrer Grenze haben, dann wird der kaum aus Russland kommen, ausser er hätte freie Fahrt von Moskau bis nach Schaffhausen gehabt. 

¹ www.nzz.ch/armee_xxi-d.1175718
² https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de
³ www.stern.de/news/stoltenberg-warnt-russland-in-ukraine-krise-vor--mehr-nato--an-seinen-grenzen-31640842.html
www.berliner-zeitung.de/welt-nationen/selenskyj-sagt-zwischen-den-zeilen-allen-anderen-f-you-li.212916
https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/
www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/obama-soll-neuen-kalten-krieg-beenden/story/15588760
www.finanzen.ch/chart/rheinmetall?exchange=BRX
www.derbund.ch/und-ploetzlich-wird-die-nato-annaeherung-salonfaehig-662837673491
⁹ Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe 2004
¹⁰ www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-russland-verhandlungen-119.html

8. Juni 2022

«Den Berichterstattungen im Westen kann man nicht trauen»

Interview mit alt Nationalrat Luzi Stamm

alt Nationalrat Luzi Stamm (Bild zvg)
alt Nationalrat Luzi Stamm (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Während des Syrienkriegs wurden verschiedentlich Einrichtungen des IKRK angegriffen und beschädigt. Man hat damals schon nahezu reflexartig für alles den Russen die Schuld gegeben, ähnlich wie ihnen heute alles  angelastet wird, was in der Ukraine an Verletzungen des humanitären Völkerrechts geschieht. Sie sind der Sache nachgegangen und unter anderem 2018 nach Moskau gereist. Was haben Sie herausgefunden?

Alt Nationalrat Luzi Stamm In Syrien waren es bekanntlich diverse Länder, die Bombenangriffe flogen: Türkische, russische, israelische und iranische Flugzeuge waren im Einsatz, vielleicht sogar solche noch aus weiteren Nationen. Die Vorkommnisse schockierten mich derart, dass ich aufwändige Nachforschungen betrieb, wissend, dass mir als ehemaligem Präsidenten der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats viele Türen offen standen. 

Aus meiner Zeit in den USA wusste ich, welch hervorragende Beobachtungssatelliten nur schon die USA im All haben; der Chef der Mars-Mission der NASA ist ein sehr guter Freund von mir. Ich sagte mir, dass es nach gesundem Menschenverstand doch möglich sein sollte, die Quelle von Bombardierungen herauszufinden. Meine Nachforschungen haben mir gezeigt, dass meine Vermutung von Anfang an richtig war: Zumindest auf Geheimdienst-Ebene weiss man, wer wo welche Angriffe fliegt.

Sie sind für Ihre Recherchen in verschiedene Länder gereist. Wie waren dort die Reaktionen?

Ich war unter anderem in Teheran, in Moskau und in Washington. Wenn man mit den Aussenpolitikern in den betreffenden Ländern redet (oder übrigens auch mit deren Botschaftsvertretern hier in der Schweiz), so bringt das weitgehend Klarheit. Es gibt das wunderschöne und meines Erachtens auch zutreffende Sprichwort: «Die Wahrheit sieht man in den Augen.» Wenn man sich gut genug auf ein Gespräch vorbereitet und zum Beispiel vorgängig die Topographie der Gegend studiert, wo die Bombardierungen genau stattgefunden haben, dann kann man den Gesprächspartner mit unerwarteten Fragen konfrontieren (z.B. «Ja, aber vom Norden her können doch dort Flugzeuge gar nicht unbemerkt an der Fliegerabwehr vorbeifliegen?»). Wenn der Gesprächspartner dann ins Stottern gerät oder widersprüchlich Antwort gibt, dann weiss man Bescheid.

Was bedeuten die Erkenntnisse von damals für die heutigen Vorwürfe an die Adresse Russlands?

Meine Grunderkenntnisse von damals waren, dass man den Berichterstattungen im Westen nicht trauen kann. Das ist im Grunde genommen eine ungeheuerliche Erkenntnis. In meiner Jugend hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass sich die Massenmedien – bewusst oder unbewusst – auf breiter Front in die Propagandamaschinerie einspannen lassen, die bestimmte Länder und ganze Regionen destabilisieren will. Die Tricks sind bekannt: «False flag operations», also «Aktionen unter falscher Flagge» sind so alt wie die Menschheit. Greueltaten können ebenso hemmungslos wie wirksam dem Gegner untergeschoben werden. Wer Frauen und Kinder umbringt, kann dies in der Uniform des Gegners tun; damit weckt er (begreiflicherweise) weltweit die Wut auf den Gegner.

Kann man auf den jetzigen Ukraine-Konflikt bezogen sagen, dass z. B. Angriffe auf zivile Einrichtungen, einfach den Russen in die Schuhe geschoben werden, auch wenn man eigentlich andere Informationen hätte?

Mir muss ja niemand erzählen, dass es bei der heutigen Weltraumtechnologie für den Westen nicht möglich sei, sofort zu sehen, von welchem Flugplatz aus Angriffe gestartet werden bzw. worden sind. Es können dann zwar schon noch komplizierte Fragen offen bleiben, die aber in den westlichen Medien diskutiert werden müssten. Am Beispiel von Syrien habe ich gelernt: Es kann durchaus sein, dass Zeugen am Boden bestätigen, dass russische Flugzeuge die Bomben abgeworfen hätten. Dabei muss man aber unbedingt auch die hinterhältige Möglichkeit im Auge behalten, dass die wirklichen Angreifer die Flugzeuge umgespritzt respektive mit russischen Farben bemalt haben (eine bekannte Taktik, um bei der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, dass sie von jemand anderem bombardiert werden). Es könnten also im Falle von Syrien im grenznahen Bereich auch türkische Bomber oder sogar solche aus anderen Nationen gewesen sein, die nur deshalb bombardiert haben, um den Hass gegen Assad und die Russen zu schüren. Ein krasses Beispiel aus Syrien ist auch, wie schnell man den damaligen schrecklichen Gift-Angriff Assad in die Schuhe geschoben hatte (ohne seriöse vorgängige Abklärungen).

Warum ist unsere Landesregierung nicht fähig, solche Überlegungen einzubeziehen, bevor sie sich ungeprüft auf die Seite der Ukraine stellt?

Das frage ich mich auch. Der Vietnam-Krieg, der Irak-Krieg, der Bosnien-Krieg haben mit «false-flag-operations» begonnen. Umso mehr ist respektive war die bisherige Politik der Schweiz, immer neutral zu bleiben, ein Segen. Wir wissen viel zu wenig, wer genau wann weshalb die Stabilität der Ukraine torpediert hat. Und noch immer interessiert es im Westen kaum jemanden, welches die wahren Hintergründe des jetzigen Ukraine-Kriegs sind. Geschichtlich scheinen die Verantwortlichen im Westen – inklusive Kreise in Bundesbern – nicht zu wissen, dass vor dem Zusammenbruch der UdSSR die Krim schon vor der Ukraine selbständig war. Wir dürfen nicht Stellung beziehen, wenn sich Russland und die Ukraine über Fragen in der Ost-Ukraine in die Haare geraten sind. Es ist ein schwerer Fehler, wenn wir ausgerechnet bei der zentralen Frage der aufkommenden Spannungen zwischen Ost und West die Neutralität aufgeben.

Wie könnte man die Landesregierung auf den Boden der Realität zurückholen, um unser Land wieder als unabhängigen Staat zu präsentieren und nicht als ein Anhängsel der USA?

Mein Vater pflegte nach meinem zweijährigen USA-Aufenthalt zu sagen: «Du bist mehr Kalifornier als Schweizer». Ich bin auch heute noch immer ein grosser Freund der Amerikaner. Aber was Washington in den letzten 30 Jahren geboten hat, ist völlig daneben – auch gegenüber der Schweiz. Unser Land hat sich schon in den 90er-Jahren von den USA erpressen lassen, und der Bundesrat zeigt auch heute viel zu wenig Rückgrat. Er hätte schon längst auf den Tisch klopfen und dezidiert sagen müssen, dass wir uns nicht instrumentalisieren lassen. Man muss sich einmal vorstellen, welchen Mut es vor 1945 gebraucht hat, neutral zu bleiben, als unser Land in hoffnungslos scheinender Lage von den braunen Achsen-Mächten umzingelt war. Und heute knicken wir jedes Mal ein, wenn jemand von aussen Druck auf uns ausübt; z.B. wenn wir genötigt werden, das Bankgeheimnis aufzugeben oder unsere Steuerpraxis derjenigen der USA anzupassen.

Ich kann nur fordern: Zurück zur Neutralität. Zurück zu den Grundwerten, für die unser Land weltweit bewundert worden ist.

Herr alt Nationalrat Stamm, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

8. Juni 2022

Programmierter Systemwechsel?

von Reinhard Koradi

Warum gelingt es uns nur noch schwer oder überhaupt nicht mehr, Entwicklungen, Ereignisse rund um die Welt und im eigenen Land zu durchschauen oder zumindest nachzuvollziehen? Eine höchst unangenehme Frage mit erheblichem Konfliktpotential. Unangenehm für die, die als Regisseure des Wandels genau wissen, warum etwas aus dem Ruder gerät. Gefährlich für die, die noch nicht eingeschüchtert sind und den Mut haben, unangenehme Fragen zu stellen. Nicht selten werden Skeptiker als Verschwörungstheoretiker an den Pranger gestellt, geächtet und situativ auch zum Schweigen gebracht.

Wo sind unsere Werte geblieben? Werte, die uns zu einem weiten Teil, Ordnung, Wohlstand und Sicherheit gebracht haben. Vertrauen als Grundlage von Geborgenheit und für das Gemeinwohl sind in die Brüche gegangen. Ausgelöst durch Machtmissbrauch und einer sich weit verbreitenden Selbstherrlichkeit unter den sogenannten Eliten. Wo sind die Vorbilder geblieben, die uns Fleiss, Ehrlichkeit, wahre Solidarität und Vaterlandsliebe vorgelebt haben, die für Wahrheit, Recht und Verbindlichkeit eingestanden sind?

Und wo sind die Menschen, die Bürger geblieben, die ihre Rechte einfordern, ihre eigenständige Meinung zum Ausdruck bringen und ihre Pflichten im privaten wie im öffentlichen Leben engagiert wahrnehmen? Sind wir bereits in eine Mehrklassengesellschaft abgestiegen, in der eine Minderheit das Sagen hat und die grosse Mehrheit das tut und denkt, was ihr von der herrschenden Klasse eingetrichtert wird?

Die verlorene Fähigkeit, selbständig zu denken und zu handeln

Wo ist die freie Rede geblieben, wie wir sie von den Landsgemeinden kennen? Sich eine eigene Meinung zu bilden und diese in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen, sind Grundvoraussetzung einer direkten Demokratie.

Dazu braucht es allerdings transparente Entscheidungsprozesse, Wissen über die Tatbestände und die Fähigkeit, selbständig zu denken und zu handeln. Doch von dieser Transparenz sind wir bereits weit entfernt. Hinter verschlossenen Türen werden Pläne ausgeheckt oder die Bevölkerung wird durch Schocks gefügig gemacht. Angst als Teil einer Disziplinierungsstrategie erlebten wir ja hautnah. Die Corona-Pandemie hat uns eine Welt gezeigt, die wir nie für möglich gehalten hätten. Der Gleichschritt sowohl in zeitlicher als auch inhaltlicher Hinsicht auf sämtlichen Kontinenten – unabhängig von der Regierungsform  – muss aufrütteln. Hat da jemand den Aufstand gegen dezentrale auf nationale Ebenen abgestimmte Entscheidungsstrukturen in Szene gesetzt?

Und wie ist das mit den «gerechten» Kriegen des Westens und dem blutrünstigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine? Wie kommt es, dass wir uns wieder im Gleichschritt bewegen? Es gibt kaum kritische Fragen, es fehlen die Ursachenforschung, die ernsthafte Suche nach den Gründen, den politischen Hintergründen, die zu diesem Konflikt geführt haben. Kaum einer stellt Fragen und wenn doch, wird er diffamiert und gemieden. Gerade wir Schweizer müssen uns der Gewissensfrage stellen. Was bewegt uns, unsere obersten Prinzipien kampflos aufzugeben (bewaffnete Neutralität, Souveränität). Unsere Bundesräte preschen vor, wollen die Schweiz näher an die Nato anbinden. Kampfflugzeuge sollen ohne vorgängige Volksabstimmung angeschafft werden, Beteiligungen an feindlichen Sanktionen gegenüber Russland werden gehorsamst umgesetzt. Es wird eine «Willkommenskultur» für ukrainische Flüchtlinge hochgezogen, ohne die wahren Hintergründe der ausgelösten Flüchtlingswelle genau abzuklären. Wir sind durch das fehlende Rückgrat des Bundesrates zur Kriegspartei geworden – eine bittere Wahrheit, wenn wir an das Erbe unserer Gründerväter denken.

Die Mehrheit nimmt das teilweise enthusiastisch oder zumindest lautlos hin

Man hat uns in die Irre geführt und mundtot gemacht. Der wohl gravierendste Fehler ist der Verlust unserer bewährten Bildungs- und Wertekultur. Ohne Werthaltungen, die eine umfassende Bildung voraussetzen, verlieren die Bürger richtungsweisende Orientierungspunkte und damit die Fähigkeit, eigenständig zu denken und handeln. Leider haben wir es versäumt, die Grundlagen der direkten Demokratie zu pflegen und zu schützen.

Das Immunsystem gegen demokratiefeindliche Strömungen ist durch eine von langer Hand vorbereitete manipulative Gehirnwäsche massiv geschädigt und treibt uns in eine Orientierungslosigkeit. Ohne Orientierung sind wir den Meinungsbildnern ausgeliefert. Fehlen die Werte als Leuchtturm zur Urteils- und Meinungsbildung, dann drohen Chaos und Hilflosigkeit, die uns zu Befehlsempfängern und Untertanen degradieren.

Wir können diesen Prozess nicht weiter über uns ergehen lassen. Wir haben bereits zu viele Umwertungen toleriert. Es wird allerhöchste Zeit, zu den einst zielführenden Werten, Einstellungen und eigenen Meinungen zu stehen, ansonsten verlieren wir Würde und Selbstbestimmung. Durch Indoktrination über Medien, Kultur und Politik haben wir uns zu einer missbräuchlich genutzten Solidarität verpflichten lassen und damit unsere eigenen Werte und Interessen verraten. Wieso akzeptieren wir «gerechte» Kriege, warum lassen wir Verfassungsbrüche durch Bundesrat, Parlament und Bundesverwaltung zu? Wer hat uns dazu veranlasst, die Umdeutung von Begriffen, Werten und Institutionen widerstandslos hinzunehmen?

Was ist passiert?

Aus meiner Sicht gibt es zwei trojanische Pferde, die uns so weit zurückgeworfen haben, dass wir uns heute nur noch halbwegs Klarheit verschaffen können über das, was gerade geschieht. Neben der durchgreifenden Bildungsreform haben uns die einseitig ausgerichteten Mainstreammedien in eine Abhängigkeit geführt, die es einer grossen Mehrheit sehr schwer macht, noch als mündige Bürger ihre Interessen und Ansichten an die Öffentlichkeit zu bringen und durch Taten zu untermauern.

Bildungsabbau

Die Schulreformen wurden uns durch eine transnationale Organisation (OECD) und eine willfährige Regierung aufgezwungen. Transnationalen Organisationen sind funktionierende Demokratien und selbstbewusste Bürger schon lange ein Dorn im Auge. Nationale Demokratien und Bürger, die ihre Pflichten wahrnehmen und ihre Rechte einfordern, passen nicht ins Konzept eines neoliberalen globalen Ordnungsrahmens. Sie müssen gebrochen werden. Die Schweiz ist längst auf der schwarzen Liste dieser transnationalen Ordnungshüter und wird nach Strich und Faden erpresst, damit sie ihre Stärken verrät. Dadurch wird sie zur Braut geschmückt für eine «unfreundliche Übernahme». In Washington, Brüssel und Paris weiss man natürlich ganz genau, dass das schweizerische Bildungswesen bis zur Berufsbildung ein massgebendes Rückgrat des «Sonderfalls Schweiz» ist.

Schon Heinrich Pestalozzi wusste, dass es ohne Schulbildung keine direkte Demokratie geben kann, und auch die OECD ist sich dessen bewusst. So sandten die hohen Funktionäre aus der OECD-Zentrale entsprechende Impulse, um die Schweiz annähernd in eine Bildungswüste zu verwandeln. Mangels einer umfassenden und auf die nationalen Bedürfnisse abgestimmten Bildung fehlen heute den Bürgern unseres Landes die Fähigkeiten, die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen.

Es liegt in unserer Verantwortung, mit dem durch eine fehlgeleitete Bildungspolitik angerichteten Schaden aufzuräumen. Zur Aufräumarbeit gehören der Abbruch der Schulreformen (zurück auf Startfeld 1), die Förderung der Erwachsenenbildung und eine gezielte Intensivierung der politischen Bildung.

Medienvielfalt als Garant der freien Meinungsbildung?

Rund um den Abstimmungskampf über das neue Mediengesetz behauptete Frau Bundesrätin Sommaruga (SP) sinngemäss, die Medien müssten durch öffentliche Gelder gestützt werden, da ansonsten die Medienvielfalt in der Schweiz verloren gehe. Die Medienvielfalt sei aber eine Voraussetzung für das Funktionieren der direkten Demokratie und für die freie Meinungsbildung der Bürger. Stellen wir diese Behauptung der Berichterstattung in den Massenmedien über die Corona-Pandemie oder den Konflikt in der Ukraine gegenüber. Fällt Ihnen etwas auf? Konnten wir uns aufgrund dieser Berichterstattung eine eigene Meinung bilden und diese in der Öffentlichkeit auch frei äussern?

Nein, die Medien haben uns unisono diktiert, was wir denken und sagen dürfen. Ein medialer Teppich wurde über das Land gelegt, gestrickt aus Halbwahrheiten, Angstmacherei, irreführender Berichterstattung und unterdrückten Tatsachen und Ereignissen. Die Medien haben sich voll in den Dienst derer gestellt, die der Bevölkerung eine Einheitsmeinung aufzwingen wollen, um sich freie Bahn für ihre menschenfeindlichen und auch verbrecherischen Aktionen zu verschaffen. Wir werden so weit in die Enge getrieben, dass der Protest gegen die Zwangsmassnahmen während der Pandemie erstickte, die Mehrheit der Bevölkerung die milliardenschweren Fallschirme für notleidende Unternehmen schluckte und nun auch beim Konflikt in der Ukraine ein völlig verzerrtes Bild über die Rolle des Westens, Russlands und des ukrainischen Präsidenten Selenskij nachplappert. Ja, durch die Meinungsdiktatur der Medien haben wir es soweit gebracht, dass viele Menschen sich verpflichtet fühlen, die veröffentlichte Meinung vor Andersdenkenden zu schützen und mit einer geradezu aufdringlichen Solidaritätsbezeugung zur Schau zu tragen.

Die Meinungsdiktatur kennt keine Grenzen. Vielmehr wurde unser Land mit westlicher Propaganda und politischen Erpressungen seitens der EU und den USA genötigt, sich den feindseligen Handlungen anzuschliessen. Interessanterweise begleitet von entsprechen Druckversuchen der medialen Gewalt.

Wären diese Szenarien auch möglich, wenn eine echte Medienvielfalt gegeben wäre und die Medien allein nach sorgfältigem Recherchieren ihre Artikel veröffentlichten? Kaum!

Und so stellt sich uns die Frage, in welchen Diensten die sogenannte 4. Macht steht. Wird sie durch subtilen, aber auch handfesten Druck in eine bestimmte Richtung gelenkt?

Und wem nützt diese Meinungssteuerung? Bestimmt einmal allen Kreisen, die Demokratien bekämpfen, die Nationalstaaten entmündigen und eine globale neoliberale Wirtschaftsdoktrin über den gesamten Globus verhängen wollen. Es lohnt sich in dieser Hinsicht weiter zu denken und auch die Rolle der nationalen Regierungen zu hinterfragen. Vielleicht finden wir die richtigen Antworten, wenn wir beginnen, selbständig zu denken und zu handeln.

8. Juni 2022

Vom Welpen zum Geländesuchhund

Wie wenn dein Kind Astrophysiker werden soll

von Thalia Wünsche

Endor ist der erste Hund von Thalia Wünsche. Die 33-jährige Bündnerin trainiert hart, um mit ihrem vierbeinigen Partner ein einsatzfähiges Geländesuchhunde-Team von REDOG zu werden. Ein authentischer Bericht über eine Herausforderung und grosse Liebe.

«Das ist ja, als ob du willst, dass dein Kind Astrophysiker wird» – das war die Reaktion meiner Schwester, als ich ihr erzählte, dass ich einen Hund haben und diesen bei REDOG ausbilden will. Ganz unrecht hatte sie nicht. Ich hatte von Anfang an Grosses vor mit meinem Vierbeiner, weil der Wunsch nach einer sinnstiftenden Freizeitbeschäftigung zuerst da war. Bei der Recherche, was zu mir passen könnte, stiess ich auf REDOG. So entstand der Plan, die Freiwilligenarbeit mit meinem Kindheitstraum zu verbinden. Denn ich wünschte mir schon immer einen Hund.

Die Geländesuche ist das Richtige für mich. Ich liebe es, mit meinem Hund in der Natur unterwegs zu sein. (Bilder Thalia Wünsche)

Die Geländesuche ist das Richtige für mich. Ich liebe es, mit meinem Hund in der Natur unterwegs zu sein. (Bilder Thalia Wünsche) 

Chaotische Wochen

Als Endor, ein Novia Scotia Duck Tolling Retriever, im März 2020 bei uns einzog, war er jedoch einfach nur ein Welpe und wir – mein Mann und ich – überforderte Ersthundebesitzende. Natürlich war uns vorher bewusst, dass unser Alltag auf den Kopf gestellt wird. Doch Vorstellung und Realität hatten noch weniger gemeinsam als gedacht. Wir wurden die ersten Wochen stark von unserem roten Wirbelwind gefordert.

Aus dem Welpen wurde im Frühsommer ein Junghund. Die Corona-Situation entspannte sich und wir konnten endlich in die Hundeschule, um die Grundlagen der Hundeerziehung zu erarbeiten. Endor lernte schnell, wenn er Spass an einer Sache hatte. Fand er etwas nicht spannend, liess er sich aber auch schnell ablenken. Insbesondere dann, wenn ihm ein interessanter Geruch in die Nase stieg. Das ist bis heute so geblieben und ist für mich immer wieder eine Herausforderung.

Bereits im Sommer 2019, lange bevor ich einen Welpen gefunden hatte, informierte ich mich bei REDOG und deren Bündner Regionalgruppe. Ich erfuhr, dass es verschiedene Sparten gibt. Ich besuchte ein Training für die Geländesuche und eines für die Verschüttetensuche. Der Entscheid, was besser zu mir passt, war schnell gefällt: die Geländesuche. Mit meinem vierbeinigen Partner in der Natur unterwegs zu sein, das mag ich. Dank der Trainingsbesuche lernte ich den Ausbildungsleiter und einige der Hundeführerinnen und -führer kennen, bevor ich mit der Ausbildung begann. Nervös war ich trotzdem, als ich zusammen mit dem sechs Monate alten Endor zum ersten REDOG-Training fuhr.

Im ersten Monat bei uns zu Hause, Endor als Welpe im April 2020.

Im ersten Monat bei uns zu Hause, Endor als Welpe im April 2020. 

Herausfordernde Monate

Die nächsten Monate waren geprägt von der Ausbildung meines eigenen Hundes und meiner Unterstützung der anderen Hundeteams als Figurantin. Das ist die Person, die bei Trainingseinsätzen einen vermissten Menschen im Gelände darstellt und gefunden werden sollte. Gleichzeitig lernte ich die praktischen und theoretischen Grundlagen für Search and Rescue (SAR): Orientierung, Alpin und Erste Hilfe. Zum ersten Mal in meinem Leben hantierte ich mit einem Kompass, lernte mit Dreieckstüchern Druckverbände anzulegen und mich richtig abzuseilen. Das fiel mir leicht. Ganz im Gegensatz zur Arbeit mit Endor. Nach ersten Fortschritten begann es bei uns zu harzen. Und je schlechter es lief, desto mehr verkrampfte ich mich. Auf Druck reagieren Hunde nicht gut und mein sensibler Vierbeiner war da keine Ausnahme. Es verlangte mir viel ab, dranzubleiben und mich immer wieder mit der Hoffnung, dass es heute besser läuft, zum Training aufzuraffen.

Ohne unseren Ausbildungsleiter Daniel Bernegger hätte ich wohl aufgegeben. Er sah und lobte die kleinsten Fortschritte. Im Gegensatz zu mir verlor er nie den Glauben an unser Potenzial. Eine grosse Unterstützung waren auch meine REDOG-Kolleginnen und -Kollegen mit ihrer grossen Erfahrung im Training und noch viel mehr mit ihren Geschichten, was ihre Vierbeiner am Anfang alles anstellten. Ich biss durch und blieb dran.

Heute bin ich froh, habe ich es durchgezogen. Denn nun sind die Fortschritte wieder so gross, dass auch ich sie sehe. Und noch wichtiger: Ich gewinne langsam das Vertrauen an mich und Endor als Team zurück. Im Frühling will ich den SAR-Test machen, damit ich als Helferin die Hundeteams im Einsatz unterstützen kann. Wenn ich ihn bestehe, habe ich mein Ziel erreicht und meinen Traum erfüllt: Ich habe eine sinnstiftende Freiwilligenarbeit und einen grossartigen, liebenswerten, eigensinnigen Hund. Eines Tages werde ich beides kombinieren können.Quelle: Humanité 1/2022

Wir danken der Redaktion von «Humanité» und der Autorin für die Abdruckgenehmigung.

Weitere Informationen: https://www.redog.ch/

8. Juni 2022

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