Welches Ziel verfolgt der Bundesrat bei der Beschaffung neuer Kampfflugzeuge?

von Thomas Kaiser

Der Bundesrat will einen Kampfjet aus den USA, und zwar den F-35 aus der Waffenschmiede Lockheed Martin. Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass dieser Kampfbomber alles andere als das Etikett Abwehrflieger trägt und somit keinen Nutzen für eine rein auf Verteidigung ausgerichtete Armee bietet, wie es die Schweizer Armee in den letzten Jahrhunderten immer gewesen ist.

Der F-35 ist ein «atomwaffenfähiges» Kampfflugzeug, das aufgrund seiner technischen Ausstattung kein Verteidigungsflugzeug darstellt und mit Atombomben bestückt werden kann, die nur ein Verrückter zur Verteidigung seiner Heimat einsetzen würde. Auch die Fähigkeit des F-35, unentdeckt in feindliches Gebiet vordringen zu können, wie Israel sie z. B. mehrmals bei Kriegseinsätzen auf syrisches Territorium unter Beweis gestellt hat, kann keine Option für ein Flugzeug sein, das die Unabhängigkeit und die Neutralität unseres Landes verteidigen soll. Auch die Möglichkeit des mit unzähligen Sensoren ausgerüsteten Flugzeugs, über die unendlich viele Daten gesammelt und mit anderen Truppen und Armeen geteilt werden können, ist unnötig für ein Flugzeug, das in der Regel luftpolizeiliche Aufgaben übernehmen und im Falle eines Angriffs den eigenen Luftraum verteidigen muss.

«Ferrari der Lüfte» für Out-of-Area-Einsätze

Der F-35 wird von Experten aus den USA als «Ferrari der Lüfte» bezeichnet, der vor allem für «Out of Area»-Operationen entwickelt wurde. Eine Einsatzmöglichkeit, die es, will die Schweiz ihre Neutralität weiter behalten und diese im Notfall verteidigen können, nie und nimmer braucht. Radio SRF wirft denn auch die entscheidende Frage auf: «…ist ein offensives Tarnkappenkampfflugzeug das Richtige» für unser Land? Alt Nationalrat und ehemaliger Präsident der Aussenpolitischen Kommission, Luzi Stamm, meint dazu: «Sollte es stimmen, dass dieses Flugzeug ein Angriffsflugzeug ist, dann wäre das eine falsche Wahl. Die Rolle der Schweiz besteht darin, sich militärisch verteidigen zu können, nicht anzugreifen.» 

Welche Ziele verfolgt das VBS?

Noch immer ist der neutralitätspolitische Sündenfall, für den die ehemaligen Bundesräte Ogi und Cotti die Verantwortung tragen – der Beitritt der Schweiz zur Nato-Unterorganisation PfP (Partnership für Peace oder Partnerschaft für den Frieden) –, trotz verschiedener parlamentarischer Vorstösse nicht rückgängig gemacht worden. Die Schweiz ist, wenn auch kein Mitglied der Nato, an dieses ursprüngliche Verteidigungsbündnis, das seit dem Ende des Kalten Krieges nicht aufgelöst, sondern über die letzten drei Jahrzehnte immer mehr zu einem Angriffsbündnis mutiert ist, gebunden, was mit dem Kauf eines US-Kampfflugzeugs weiter zementiert wird. Das heisst, die Schweiz muss mit den USA zusammenarbeiten und ist massiv von ihnen abhängig. Die USA sind auch der Vertragspartner, mit ihnen schliesst die Schweiz den Kauf ab.

Massive Mängel des F-35

Dieses Flugzeug soll also «massgeschneidert für die Schweiz» sein? Den F-35 begleitet ein schlechtes Image, da er enorme technische Mängel aufweist, die sogar den Verantwortlichen in den USA Kopfzerbrechen bereiten. Laut verschiedener Medien wird der F-35 vom Staat genau überwacht, damit die Kosten nicht aus dem Ruder laufen. Auf die Frage, ob man bei der Evaluation dieses Flugzeugs die Berichte aus den USA mit einbezogen habe, verneinte das die verantwortliche Bundesrätin Viola Amherd und erklärte, dass man sich nur auf die eigene Evaluation verlassen habe.

Die «NZZ» vom 10. Juli bestätigt, dass der Flieger wegen zu hoher Kosten in den USA unter besonderer Kontrolle steht: «Das Governmental Accounterbility Office (GAO), die Finanzkontrolle der US-Regierung, hat das Verteidigungsministerium in mehreren Berichten ermahnt, die Ausgaben für den neu entwickelten Jet in Griff zu kriegen. Der F-35 steht unter besonderer Beobachtung der amerikanischen Kontrollorgane.» Auch gibt es namhafte US-Offiziere, die Qualität und Fähigkeiten des F-35 öffentlich bezweifeln. Niemand würde ein Auto kaufen, das im Herstellerland unter Beobachtung steht, weil es offensichtlich Mängel besitzt und die ständigen Reparaturen das Budget der Besitzer sprengen. Den Bundesrat scheint das alles wenig zu kümmern. Die Frage bleibt also offen: Warum hat er sich für diesen Jet entschieden?

Jo Biden rührt Werbetrommel

Jo Biden hat bei seinem kurzen Gespräch mit Bundespräsident Guy Parmelin gemäss Medienberichten ordentlich die Werbetrommel für einen US-Kampfjet gerührt. Welchen Takt hat er dabei wohl vorgegeben? Darüber schweigt man sich lieber aus.

Kurz bevor der Typenentscheid publiziert oder öffentlich mitgeteilt wurde, hatte das VBS noch ein Gutachten des Bundesamts für Justiz aus dem Hut gezaubert, das dem Bundesrat quasi verbietet, einen anderen Flieger zu kaufen als den F-35. Dabei geht es vor allem um die angeblich niedrigeren Anschaffungskosten. Hier stellt sich auch die Frage, ob man den Angaben des Herstellers trauen kann. – Die USA scheinen das nicht zu tun.

Warum riskiert Bundesrätin Amherd den Kauf eines Kampfjets, der sich schon vor der Inbetriebnahme durch Mängel und überbordende Kosten auszeichnet?

Keine Armee heisst auch keine Luftwaffe

Die Idee der GSoA, den Kauf des F-35 durch eine Volksinitiative zu verhindern, ist in Anbetracht des Entscheids des Bundesrats und der Umstände nicht unverständlich. Die Landesregierung hat sich dies selbst eingebrockt. Sie riskiert damit, dass der Schweiz nicht rechtzeitig zur Meisterung der aktuellen Herausforderungen eine gut funktionierende und technisch angemessene Luftverteidigung zur Verfügung steht. Vergessen wir aber nicht, dass die GSoA für die Abschaffung der Armee steht und damit auch für die Abschaffung einer Luftverteidigung.

Aufgrund dieser Fakten stellt sich dringender denn je die Frage: Welche Politik betreibt der Bundesrat? Luzi Stamm formulierte es so: «Im momentanen politischen Umfeld hätte man ein Flugzeug aus der Europäischen Union kaufen und mit der Faust auf den Tisch geklopfen können, damit man eine angemessene Gegenleistung bekommt.»

Die Landesgrenzen verteidigen

Das beste wäre natürlich, wir könnten einen eigenen Kampfflieger nach unseren Bedürfnissen herstellen. Ein neutrales Land hat sicherheitspolitisch eine ganz andere Einstellung als imperiale Staaten wie z. B. die USA. Sie bauen Angriffswaffen, mit denen sie, wie sie selbst immer wieder betonen, ihre staatlichen Interessen verteidigen oder durchsetzen können. Die USA mussten noch nie ihre Landesgrenzen verteidigen, sondern führten und führen Kriege immer ausserhalb ihres Territoriums. Das waren und sind keine Verteidigungskriege, sondern Angriffskriege. 

Das ist doch bei unserem friedliebenden Land etwas ganz anderes. Wir wollen unsere Souveränität und unseren Frieden bewahren und sind in einer Welt, in der grosse Staaten häufig mit Gewalt ihre Interessen durchsetzen, auf die Sicherung unseres Territoriums angewiesen. Etwas anderes kommt doch nicht in Frage.

«Die USA wollen unbedingt einen Feind haben – Russland möchte in Ruhe gelassen werden»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger 

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Es gab im Vorfeld des Gipfels zwischen Biden und Putin ein Treffen zwischen Blinken und Lawrow. Man hat wenig darüber erfahren. Was war der Anlass?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Am 19. Mai trafen sich Blinken und Lawrow in Helsinki. Anlass war der Arktische Rat, aber natürlich stand die Biden-Putin Begegnung in Genf im Mittelpunkt. Beide Seiten sprachen danach von einem «konstruktiven» Austausch – trotz Differenzen über die Ukraine, Krim usw. Es liegt auf der Hand, dass berechenbare und stabile Beziehungen nicht nur das politische, sondern auch das ökonomische Klima verbessern würden. Das fast zweistündige Gespräch sei «produktiv» verlaufen – diplomatische Sprache, um zu sagen, dass man sich nicht gegenseitig beschimpft hat. Immerhin ist die Diplomatie die Kunst, den anderen zum Teufel zu schicken, in der Hoffnung, dass der andere sich eigentlich auf die Reise freut.

Wie schätzen Sie die momentane Beziehung zwischen beiden Staaten ein?

Schlecht. Die USA wollen unbedingt einen Feind haben. Russland möchte in Ruhe gelassen werden. Es besteht eine gewisse Erwartung, dass sich die Beziehungen verbessern könnten.  Eigentlich tut Russland nichts, um die USA oder die Nato zu provozieren. Bisher sind alle amerikanischen Anschuldigungen über angebliche Einmischungen in US-Wahlen, US-Politik, «Hacking» usw. «evidence-free», also nicht belegt bzw. ohne Beweise. Umgekehrt mischen sich die USA überall in die Angelegenheiten anderer Staaten ein, eine Situation, die nicht nur jene Staaten, sondern die gesamte Weltordnung betrifft. Mittlerweile setzen sich die Nato-Provokationen fort, z. B. im Schwarzen Meer. Anstatt zu versuchen, die Spannungen zu entschärfen, wollen die Nato-Staaten offenbar zeigen, dass sie überall sein können – auch in russischen Territorialgewässern. Allerdings nur, bis die Russen warnen und schiessen! 

Welche Bedeutung hatte das Treffen zwischen Putin und Biden für die Beziehungen der beiden Staaten?

Biden ist ein Berufspolitiker, und er hat sich oft als Kriegstreiber gezeigt. Er war nie ein Freund Russ­lands und wird es auch heutzutage nicht sein. Er will nach wie vor beweisen, dass die USA die führende Macht sind und dass die Russen sich unterzuordnen haben. Anachronistisches Denken, gewiss, entspricht aber dem Empfinden und der Überzeugung Bidens. Leider verstehen die meisten Amerikaner die Welt nur aus der amerikanischen Perspektive. Eine andere Vorstellung gibt es offenbar nicht. Die Russen dagegen sind realistischer und können sich durchaus in die Mentalität der Amerikaner versetzen. Putin praktiziert Realpolitik; er weiss, was er erwarten kann, und macht sich keine Illusionen. Aber Konzessionen werden nur auf der Basis der Reziprozität bzw. Gegenseitigkeit möglich.

Wie kann man erklären, dass die USA kurz darauf Sanktionen gegen Russland verhängt haben?

Die Sanktionen waren bestimmt schon vorher beschlossen. Nach einem halbwegs positiven Treffen hätte ein kluger Politiker die Sanktionen fallengelassen. Der Mangel an Flexibilität seitens der USA ist besorgniserregend, denn Putin kann sich auf keine Geste, keine Bodylanguage seitens Biden verlassen. Das Tragikomische ist nämlich, dass Putin keinesfalls der «Feind» Amerikas ist oder sein möchte, im Gegenteil. Aber Biden benötigt für seine aggressive Politik ein Feindbild – entweder Russ­land oder China – am besten wohl beide. Der Feind muss dämonisiert werden. Dies ist das alte – eigentlich überholte – amerikanische Playbook.

Will denn Biden sich sowohl mit den Chinesen als auch mit den Russen anlegen? Warum setzt er nicht auf Kooperation?

Entspannung ist nicht in der amerikanischen Tradition. Selten hat ein amerikanischer Präsident den Multilateralismus bzw. die Kooperation mit Gleichen befürwortet. Allenfalls Jimmy Carter zwischen 1977 und 1980, und er wurde nicht wieder gewählt. Dennoch gibt es genügend amerikanische Experten und Völkerrechtler, die auf Entspannung setzen, etwa an der Brown University Professor Stephen Kinzer oder an der Illinois University Professor Francis Boyle. Leider sind sie weder in der Regierung noch als Sonderbotschafter engagiert. Die treibenden Kräfte in der demokratischen und der republikanischen Partei sind die Militaristen und Imperialisten, die wir seit eh und je kennen. Sie haben keinen Geschmack für etwas anderes als Drohgebärden, Provokation, Spannung. Auf der demokratischen Seite haben wir Tulsie Gabbard, die einzige Präsidentschaftskandidatin, die eine völkerrechtskonforme Aussenpolitik verlangte. Die Medien haben sie zunächst ignoriert, dann aber auch diffamiert und ausgeschaltet.

Die Begründung für die Sanktionen ist u. a. der Fall Nawalny. Ist das zulässig?

Sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen ist völkerrechtswidrig  und diplomatisch äusserst dumm. Putin und Xi denken nicht daran, sich in die inneren Angelegenheiten der USA einzumischen. Ich hätte Nawalny nicht hinter Gitter gebracht – aber das ist Sache der russischen Justiz.

Stellen diese Sanktionen einen Verstoss gegen das Völkerrecht dar?

Die meisten unilateralen Zwangsmassnahmen sind mit der Uno-Charta inkompatibel. Ein Waffenembargo ist legitim, wenn das Ziel friedensfördernd ist. Aber einen Staat wegen seiner inneren Politik zu sanktionieren ist absurd. Es verletzt das Prinzip der Souveränität des anderen Staats und führt häufig zu Gegenmassnahmen.

Aber das ist die kontinuierliche Politik der USA. Welche Mittel gibt es dagegen?

Natürlich gibt es Mittel und Möglichkeiten. Aber der politische Wille fehlt in Brüssel, Paris, Berlin, sogar auch in Bern. Unilaterale Zwangsmassnahmen haben wirtschaftliche und juristische Konsequenzen nicht nur in den «bestraften» Staaten, sondern auch in Drittstaaten. Diese extra-territorialen Effekte sind ebenfalls völkerrechtswidrig, und der Staat, der unilaterale Sanktionen verhängt, haftet für diese Konsequenzen.

Wie kann man diesen haftbar machen?

Staaten sollten die Verletzung ihrer Souveränität nicht nur vor der Generalversammlung der Uno, sondern auch vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) anklagen. Der IGH muss endlich solche Sanktionen expressis verbis als völkerrechtswidrig erklären und die Reparationsforderungen der Opfer gutheissen. Natürlich können die Staaten, die Nachteile durch die Sanktionen erleiden, Gegenmassnahmen gegen amerikanische Interessen ergreifen, den amerikanischen Botschafter zur Persona non grata erklären, keine amerikanischen Flugzeuge oder Kampfflugzeuge kaufen usw. Man muss deutlich zeigen, dass man die extra-territoriale Anwendung amerikanischer Gesetze und Sanktionen nicht mehr dulden will. Wenn ein Schweizer Konzern oder ein Schweizer Geschäftsmann eine Strafe an das US-Department of the Treasury bezahlen muss, muss die Schweizer Regierung offiziell protestieren und die USA für diese illegalen extra-territorialen Effekte belangen. Der diplomatische Schutz der Europäischen Geschäftsleute ist bisher kaum in Erscheinung getreten.

Der Vorfall mit dem britischen Kriegsschiff im Schwarzen Meer erinnert an die Kanonenbootpolitik. Wie sehen Sie diesen Vorgang aus völkerrechtlicher Sicht?

Eine stupide, banale, infantile Provokation. Die Russen haben korrekt und verhältnismässig reagiert.

Trotz des Treffens der beiden Präsidenten hat man den Eindruck, die Lage habe sich nicht entspannt. Teilen Sie diesen Eindruck?

Ein klein bisschen entspannt vielleicht schon. Aber die Mainstreammedien wollen eigentlich keine Entpannung. Sie wollen Bravado und Sensation.

Was könnten weitere Schritte zur Entspannung sein?

Zunächst möchte ich eine gegenseitige Aufhebung aller wirtschaftlichen Sanktionen sehen. Eine Einladung an Russland, wieder in die G-8 einzutreten, ist überfällig.  Eine erweiterte Kooperation im Weltall wäre beiderseitig nützlich. Und natürlich konkrete Verhandlungen zur Abrüstung.

Ist die Abrüstung überhaupt ein Ziel der US-Politik?

Nein. Jedenfalls nicht heute, aber in früheren Jahrzehnten haben einige US-Präsidenten mit den Sowjets bzw. mit den Russen verhandelt, um gegenseitige Abrüstung zu erreichen.  Diese Verträge sollen neu verhandelt werden, eventuell durch die «guten Dienste» der Schweiz und der Uno-Abrüstungskommission. Besonders wichtig ist es, dass sowohl die USA als auch Russland den «Open Skies Treaty» wiederbeleben. Auch der Wettkampf im Weltall kann gefährlich werden, wobei zu bemerken ist, dass nicht nur Russland, sondern auch China in diese Verhandlungen miteinbezogen werden müssen.

Welche Rolle könnte die Schweiz darin spielen?

Die Schweiz ist das ideale Land, um zwischen den USA und Russ­land zu vermitteln.  Die Schweiz hat enorme Erfahrung und Geschick. Man muss diese «guten Dienste» anbieten, und vielleicht finden Biden und Blinken einen Vorteil da­rin. Umso mehr muss die Schweiz darauf achten, die Neutralität zu wahren. Sie ist in solchen Situationen ein Segen. Sich bei den westlichen Grossmächten anzubiedern und ihre eigenen Qualitäten nicht einzusetzen, um mehr Frieden in der Welt zu schaffen, wäre ein riesiger Fehler, dessen muss sich die Schweiz bewusst sein.

Herr Professor de Zayas, ich danke für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Aggressive Konfrontationspolitik der USA und ihrer Verbündeten gegenüber Russland?

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Es gab vor zwei Wochen einen Zwischenfall im Schwarzen Meer mit einem britischen Kriegsschiff, das ungute Erinnerungen an vergangene Zeiten geweckt hat. Was ist der Hintergrund?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die Berichterstattung, z. B. in den westlichen Medien, war eher spärlich und nicht besonders differenziert. Der zentrale Punkt ist, dass dieses britische Kriegsschiff mit provokativer Absicht, das ist heute bekannt, die 12-Meilen-Zone der Krim durchquert hat, die von Russland beansprucht wird. Virulenter Hintergrund ist der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der vom Westen sekundiert wird. Die 12-Meilen-Zone der Krim ist für Russland russisches, für die Ukraine und den Westen ukrainisches Staatsgebiet. 

Was hat das britische Kriegsschiff dort zu suchen?

Das Schiff war von Odessa unterwegs nach Batumi in Georgien, hat dabei die 12-Meilen-Zone der Krim durchquert und ist drei Meilen in diese Zone eingedrungen. Nach der russischen Darstellung hat die russische Abwehr das Schiff mit Warnschüssen und Warnflügen zum Abdrehen veranlasst. Die westliche Seite dementiert das und spielt die ganze Sache herunter. Das Verhalten Russlands sei im Rahmen eines russischen Manövers geschehen und habe mit dem britischen Kriegsschiff eigentlich nichts zu tun. 

Russland besteht auf seiner Darstellung?

Für Russland ist es wichtig, nicht als schwach wahrgenommen zu werden. Schwäche zu zeigen, würde aus seiner Sicht die Kriegsgefahr erhöhen. 

Sie sagten vorhin, das britische Kriegsschiff sei bewusst provokativ in die 12-Meilen-Zone der Krim eingedrungen. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Bisher wurde der Vorgang so dargestellt, dass das Schiff in friedlicher Mission unterwegs gewesen sei. Aber in der Nacht danach ist in Kent in Grossbritannien an einer Bushaltestelle eine Plastiktüte mit Unterlagen aus dem britischen Verteidigungsministerium gefunden worden. Offenbar hat sie ein Mitarbeiter dort vergessen oder bewusst liegengelassen. In der Tüte befanden sich ausgedruckte E-Mails, deren Inhalt auch nicht angezweifelt wird, aus denen ganz klar hervorgeht, dass bereits im Vorfeld darüber diskutiert wurde, wie wohl die Russen darauf reagieren würden, wenn das Schiff in die 12-Meilen-Zone fährt. Da dies alles in schriftlicher Form vorliegt und vom Verteidigungsministerium nicht dementiert wurde, ist der Vorgang ein eindeutiger Fall bewusster Provokation. 

Das erinnert geradezu an einen schlechten James Bond Film...

Ja, das Ganze ist recht mysteriös. Nach Aussagen des britischen Verteidigungsministeriums habe der Mitarbeiter das sofort der entsprechenden Behörde gemeldet. Man könnte das aber auch als eine Schutzbehauptung interpretieren. Es könnte natürlich auch sein, dass ein Whistleblower die Unterlagen bewusst dort liegengelassen hat, damit die Öffentlichkeit davon erfährt. Der Inhalt wird in keiner Weise angezweifelt. Es ist klar, dass diese Provokation schon lange im Voraus geplant war und dann nochmals zwischen Grossbritannien und den USA abgestimmt wurde. 

Dann war das Ganze auch kein Zufall?

Nein. Es war zwar eine Einzelaktion, aber nachher hat sich das Kriegsschiff «Defender» dem Grossmanöver im Schwarzen Meer namens Seabreeze angeschlossen. Diverse westliche und Nato-Kriegsschiffe haben hier geübt. Auch die Bundesrepublik ist indirekt daran beteiligt. Zwar nicht mit einem Kriegsschiff, sondern durch eigene Kampfflugzeuge, die in Rumänien stationiert sind. Diese waren in das Manöver eingebunden und standen unter britischem Kommando. 

Die Argumentation der Nato, dass die Krim Teil des Hoheitsgebiets der Ukraine ist, ist in Bezug auf den Kosovo eine ganz andere. Hier wurde mit Camp Bondsteel eine riesige US-Luftwaffenbasis auf serbischem Boden gebaut, ohne dass damals irgendjemand die Verletzung der serbischen Souveränität thematisiert. 

Ja, das ist ein Beispiel, wie die doppelten Standards in der internationalen Politik angewendet werden. Die Abspaltung des Kosovos wird zwar international nicht einheitlich anerkannt, es wird in dem Kontext aber nicht so zugespitzt. Das ist der grosse Unterschied. Auf den Fall des Kosovos haben sich die Russen bezogen, als sie 2014 die Krim in die Russische Föderation eingegliedert haben. Damit will ich nicht sagen, dass das Vorgehen Russlands über jeden Zweifel erhaben ist, aber das Problem dabei sind die doppelten Standards in der internationalen Politik.

Als Historiker denkt man bei diesem Vorfall an den «Panthersprung». Das deutsche Kanonenboot «Panther», das 1911 vor der Küste Marokkos auftauchte und einen Anspruch auf Marokko stellte und damit die Franzosen provozierte. 

Ja, das ist Kanonenbootpolitik. Damals wurde von deutscher Seite mit Kriegsschiffen ein Herrschaftsanspruch untermauert. Ja, das hat gewisse Parallelen. Es erinnert mich aber auch an die Politik im Südchinesischen Meer. Hier findet etwas Ähnliches statt: Dort geht es um Inseln, die von China beansprucht, aber von den USA nicht als chinesisch anerkannt werden. Dort finden ebenfalls permanent solche Provokationen statt. Mittlerweile ist ein deutsches Kriegsschiff in diese Region unterwegs. Diese Entwicklungen und Vorgänge sind äusserst besorgniserregend. Der Vorfall im Schwarzen Meer steht im Zusammenhang mit dem Grossmanöver Defender 21. 

Worum geht es bei diesen Manövern?

Diese Manöver gibt es seit 2020. Das sind Manöver, die die schnelle Verlegung – insbesondere von US-Soldaten und schwerem Gerät – an die russische Grenze üben. In den geraden Jahren wird das Manöver im Grossraum Polen und im Baltikum abgehalten, in den ungeraden Jahren über dem Balkan und im Schwarzen Meer. Dieses Jahr sind 28 000 Soldaten in den Balkan und ans Schwarze Meer verlegt worden. Zusätzlich hat man alle Staaten auf dem Balkan eingebunden, inklusive Kosovo – mit einer Ausnahme: Serbien. 

Wie wurde das in Deutschland kommentiert?

Kaum. Ich habe das öfters in Reden thematisiert. Schon allein deswegen, weil Deutschland massiv an diesen Manövern beteiligt war. Dennoch dringt das kaum über die Wahrnehmungsschwelle. Wenn eine russische Reaktion folgt, ist es immer ein grosser Skandal. Aber die ganze aggressive Konfrontationspolitik – anders kann man das nicht bezeichnen – wird in keiner Weise öffentlich debattiert oder kommuniziert. Das ist das Erschreckende. Wenn Russland darauf reagiert und vielleicht den Botschafter ausweist, dann gibt es immer eine riesen Aufregung und die Bevölkerung bekommt das Bild eines aggressiven Herrschers in Moskau vermittelt. 

Wir können also mit Fug und Recht sagen, dass wir eine Zuspitzung auf militärischem Gebiet haben. Wo bleibt der Gedanke der Abrüstung und der Einsatz für ein friedliches Miteinander? 

Man geht massiv einen anderen Weg. Im Laufe der Ukrainekrise haben sich die Nato-Staaten verpflichtet, ihr Militärbudget auf zwei Prozent des BIPs zu erhöhen. Das ist eine gigantische Summe, die man dadurch generiert. In Deutschland wird das Budget von ungefähr 30 Milliarden Euro in den Jahren 2012, 2013 auf 80 Milliarden Euro bis ins Jahr 2025 erhöht. Heute liegt der jährliche Betrag schon bei über 50 Milliarden Euro. Gerechtfertigt wird das mit dem 2-Prozent-Ziel vor dem Hintergrund der Ukrainekrise und der Auseinandersetzung um die Krim und den Donbas. Wir erleben eine massive Aufrüstung. Deutschland hat in den letzten Jahren um fast 50 Prozent aufgerüstet, und das wird weiter vorangetrieben. In der letzten Sitzungswoche des Bundestags sind 27 weitere Rüstungsprojekte beschlossen worden mit einem Gesamtvolumen von 18 Milliarden Euro. 

Das scheint ein hoher Betrag zu sein.

Ja, dahinter verbirgt sich ein gigantisches Rüstungsprojekt namens «Future Combat Airsystem» (FCAS). Das ist ein deutsch-französisch-spanisches Projekt, bei dem neue, atomwaffenfähige Kampfflieger entwickelt werden, die wiederum mit Kampfdrohnenschwärmen kombiniert und mit künstlicher Intelligenz ausgestattet werden sollen. Das alles soll ab 2040 zur Verfügung stehen. Das kostet mehrere 100 Milliarden Euro. In der letzten Sitzungsperiode des Bundestagsparlaments ist der Einstieg über 4,5 Milliarden Euro beschlossen worden. Das geschieht, ohne dass eine öffentliche Debatte darüber geführt wird. Somit wird diese Entwicklung von der breiten Bevölkerung gar nicht wahrgenommen.

Ist die Anwendung von künstlicher Intelligenz nicht sehr umstritten?

Es gibt eine Reihe von Wissenschaftlern, die selbst an künstlicher Intelligenz (KI) forschen und vor deren Einsatz im militärischen Bereich warnen. Mit der Begründung, dass durch KI der Mensch bei der Entscheidung immer mehr herausgenommen wird, was in gewissem Sinn zu einer Automatisierung führt. Es gibt bereits ein Beispiel aus dem Kalten Krieg, als Computer gemeldet hatten, dass ein Angriff bevorstünde und man mit Atomwaffen darauf reagieren wollte. Damals hat ein berühmter sowjetischer Offizier trotz Angriffsmeldung nicht reagiert, weil er der Information nicht traute. Er bewahrte dadurch die Welt in den 80er Jahren vor einer atomaren Katastrophe. Je mehr man solche Systeme automatisiert und mit künstlicher Intelligenz verknüpft, desto mehr fällt der menschliche Faktor aus, der in der Geschichte das Schlimmste verhindert hat.

…und die menschliche Vernunft Oberhand gewonnen hat wie z. B. in der Kubakrise oder ähnlichen Konflikten. Auf welche Form von Bedrohung ist denn dieses Rüstungsprojekt ausgerichtet? Gegen wen oder was soll sich dieses gigantische Rüstungsprojekt richten?

Mehrheitlich wird das mit dem «aggressiven» Verhalten Russlands begründet. Manchmal wird auch China angeführt. Vor fünfzehn Jahren war der internationale Terrorismus das Feindbild. Vielleicht zu Recht, vielleicht auch etwas übertrieben. Ich denke eher etwas übertrieben. Jetzt ist der Afghanistankrieg nach 20 Jahren beendet, und der damals erklärte «War on Terror» ist kläglich gescheitert. Der Einsatz hat nichts gebracht ausser hohe Kosten und unsägliches menschliches Leid. Die Periode von 2001 bis ca. 2014 wird nun abgelöst mit einer neuen Konfrontation zwischen den Grossmächten selbst, zwischen Russland und der Nato sowie der Nato und China. 

Was gab denn 2014 den Ausschlag?

Zum einen die Auseinandersetzung mit dem Westen und Russ­land um die Ukraine. Die Beschlüsse der Nato auf dem Gipfel in Wales 2014 referieren eindeutig auf die Ukrainekrise, insbesondere die Auseinandersetzung um die Krim. Damit ist es offensichtlich, dass es hier um Russland geht. Das Absurde ist, dass die Nato bei diesen Defender-Manövern, die jetzt jedes Jahr stattfinden sollen, erklärt, dass sie sich gegen niemanden richten, sondern bloss eine «Selbstertüchtigung» seien. Man muss nur auf die Landkarte schauen und die realen Spannungen, die jetzt in der Region um das Schwarze Meer entstanden sind, betrachten, dann ist offensichtlich, worum es geht. Der Vorfall mit dem britischen Kriegsschiff, das ebenfalls Defender heisst, war im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Manöver und war auch ein Teil davon bzw. von «Seabreeze», das sich direkt an Defender 21 anschloss. Das glaubt doch kein Mensch, wenn gesagt wird, die schnelle Verlegung von US-amerikanischen Truppen habe nichts mit Russland zu tun.

Das ist doch eigentlich unglaublich. Wenn es nichts mit Russland zu tun hat, dann könnte die Nato das Manöver in der Ägäis oder vor Sardinien oder sonstwo im Mittelmeer durchführen. Das wäre doch eine ganz andere Botschaft Russland gegenüber. Hat die EU nicht auch noch ein Projekt, das als verstärkte Militarisierung zu verstehen ist?

Auf der EU-Ebene gibt es zwei relevante Projekte. Zum einen PESCO, das heisst «Permanent Structured Cooperation, was eine Möglichkeit bietet, innerhalb der EU eine «Koalition der Willigen» zu bilden, und zwar in verschiedenen Bereichen, auch im militärischen. Hier haben sich schon vor einigen Jahren 25 der 27 EU-Staaten (ausser Malta und Dänemark) verpflichtet, militärisch stärker zusammenzuarbeiten und alljährlich aufzurüsten. Das ist der zentrale Punkt bei PESCO: die Erhöhung der Waffen und das Starten gemeinsamer Rüstungs- und Militärprojekte. Neu hinzu kam der Europäische Verteidigungsfonds. Im neuen 7-Jahreshaushalt der EU ist er zum ersten Mal aufgeführt – mit einem Volumen von 8 Milliarden Euro. Dieser Fonds soll, wie der Name schon sagt, Rüstungsprojekte finanzieren, was aber eigentlich verboten ist. 

Wieso?

In den EU-Verträgen steht geschrieben, dass aus dem EU-Haushalt selbst keine militärischen Projekte finanziert werden dürfen. Um das Verbot zu umgehen, hat man einen Trick angewendet, indem der Verteidigungsfonds als Industrieförderung deklariert wird und unter die entsprechenden Paragraphen, zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie, gefasst wird. De facto ist es eine Rüstungsfinanzierung aus dem Haushalt. Aus diesem Grund klagt die Linksfraktion gegen diesen Verteidigungsfonds. 

Wo wird die Klage eingereicht?

Idealerweise würde man das vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) machen, aber dazu hätte es die Bereitschaft anderer Fraktionen im Bundestag gebraucht. Die gab es nicht, deshalb gehen wir vors Bundesverfassungsgericht und gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht das Verfahren an den EuGH weiterleitet. Wir wollen eine juristische Auseinandersetzung, weil dieser Verteidigungsfonds den Grundlagenverträgen der EU widerspricht.

Dieser Vorgang, auch die Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds, ist in den Medien kein Thema.

Ja, das ist so. Kein Mensch redet davon. Ich bin zuständig für die Klage der Linksfraktion und habe Informationen an die dpa gesandt. Die hat dann eine Meldung daraus gemacht. Diese wurde von zwei, drei Zeitungen aufgegriffen, die die Meldung veröffentlicht haben, und das war es. Keine Fragen, ob wir diese Aufrüstungs- und die damit verbundene Konfrontationspolitik mit Russland wollen. Diese Politik ist gesetzt, und wenn es um das Militärische geht, wird überhaupt nicht mehr darüber berichtet.

Während des Einsatzes in Afghanistan gab es in der Bevölkerung Deutschlands, aber auch in anderen Ländern, einen klaren Konsens gegen den Krieg. Die Menschen wollen in Frieden leben können. Dennoch wird in Europa, wie Sie jetzt erklärt haben, gerüstet und gerüstet. Die Kriegstreiberei hört nicht auf.

Ja, wenn man Umfragen macht, dann gibt es diese Mehrheiten gegen Aufrüstung. In Deutschland sind diese immer sehr stabil, aber es geschieht nicht wirklich etwas.

Warum ist das so?

Es gibt so etwas wie ein «Empörungsmanagement». Es wird berichtet, aber es wird vermieden, dass irgendeine Art von Empörung entsteht. Es ist zwar die Mehrheit der Menschen dagegen, aber wenn es Veranstaltungen oder Demonstrationen dagegen gibt, dann sind sie nicht sehr stark besucht. Es gibt keinen realen Druck aus der Gesellschaft. Wir haben leider auch keine Volksabstimmungen wie in der Schweiz. 

Ich denke an die ganze Debatte um die Atomkraft. Beim Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft waren Hunderttausende aktiv. Auch der Protest zum Klimawandel wie mit Fridays for future oder Themen wie Rassismus oder gendergerechte Sprache werden medial begleitet. In der Frage von Krieg und Frieden ist es in den letzten 10 Jahren gelungen, über die Medien so zu kommunizieren, dass kein anhaltender gesellschaftlicher Druck entstanden ist. Wenn ich mich so äussere, wie ich es jetzt hier in dem Interview mache, dann stimmen mir sehr viele Leute zu. Ich bekomme Mails oder Facebook-Kommentare, die sagen, dass das unglaublich sei und sprechen von kriminellen Machenschaften usw. Aber es gelingt zurzeit nicht, den gesellschaftlichen Druck aufzubauen, der ganz dringend notwendig wäre.

Bei der ganzen antirussischen Stimmung in der EU gibt es doch hin und wieder etwas besonnenere Töne, nehme ich das falsch wahr?

Wir hatten kürzlich den EU-Gipfel, übrigens der letzte von Angela Merkel. Analog zum Treffen zwischen Putin und Biden wollten Frankreich und Deutschland ein Gipfeltreffen der EU mit Putin. Das ist von den baltischen Staaten, Polen und Rumänien, vermutlich auch Dänemark und den Niederlanden, torpediert worden. In solchen Fragen braucht es Einstimmigkeit. Auch wenn es um Sanktionen geht, wird die Einstimmigkeit mittels Druck hergestellt. Es gibt einige Länder, die keine Sanktionen gegenüber Russland wollen, wie Zypern, Griechenland, Slowakei und Italien. Die werden jedoch durch die hergestellte «Einstimmigkeit» überhört. Nun ging es nur darum, einmal ein Gipfelgespräch zwischen der EU und Russ­land zu machen. Merkel und Macron haben hier die richtige Initiative ergriffen, aber sich offenbar nicht mit sehr viel Nachdruck dafür eingesetzt.

Könnten Macron und Merkel nicht beschliessen, wir machen einen dreier Gipfel?

Ja, das schon, aber das wäre dann nicht die EU. Es wäre eben sehr wichtig, dass auch die EU mit all den Rüstungsprojekten und den Sanktionsregimen gegenüber Russland, die immer mehr aufgebaut werden, den Dialog mit Russ­land führt. Auch beim letzten Ratsgipfel sollten weitere Sanktionen gegen Russland wegen destruktiven Verhaltens geprüft werden, was immer das bedeutet. Somit entwickelt sich die EU immer stärker zu einem konfrontativen Block. Hier wäre es besonders wichtig, dass die EU in eine andere Richtung lenkt. Dass das nicht durchsetzbar ist, ist doch auch ein Armutszeugnis für die EU, die immer als Friedensprojekt gehandelt wird. Dafür bekam sie sogar den Friedensnobelpreis, was mir bis heute allerdings unverständlich ist. 

Aber muss man hier nicht sagen, lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, wenigstens Frankreich und Deutschland halten den Gesprächsfaden mit Russland?

Ja, auf alle Fälle, das ist etwas, was die Linksfraktion auch unterstützen würde. 

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Afghanistan: Der Hightech-Krieg wird weitergehen

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Nach dem Abzug der regulären Truppen werden die USA weiter einen «verdeckten Krieg» führen. Mit Drohnen und privaten Einheiten.

Am 13. April 2021 titelte die «New York Times» (NYT), der längste Krieg der USA gehe zu Ende: «Withdrawal of U.S. Troops in Afghanistan Will End Longest American War». Präsident Joe Biden erklärte, der letzte US-Soldat solle am 11. September das zentralasiatische Land verlassen haben. Ein symbolisches Datum: Auf den Tag zwanzig Jahre nach 9/11, als der damalige Präsident George W. Bush und sein Team einen «Krieg gegen den Terror» erklärten, in dessen Folge die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und Jemen intervenierten. Allein im Afghanistan-Krieg kamen nach Angaben der NYT 71 000 afghanische und pakistanische Zivilpersonen ums Leben. 2300 US-Militärs wurden getötet und weitere über 20 000 verwundet.

Präsident Biden sagte, die USA würden künftig nicht weiter militärisch beteiligt sein: «We will not stay involved in Afghanistan militarily.» Es lohnte sich, genau hinzuhören. Biden sagte nicht, der Drohnen-Krieg würde aufhören. Er sagte auch nicht, die Luftangriffe würden aufhören. Vielmehr sagte er, man werde den afghanischen Streitkräften auch weiterhin Hilfe leisten: «We will keep providing assistance.»

Man muss die NYT lange und sorgfältig lesen, bis zum Vorschein kommt, was darunter zu verstehen sein könnte. Ganz am Ende des Artikels heisst es, anstelle von regulären Truppen würden die USA wahrscheinlich einen Schatten-Krieg («a shadowy combination») von geheimen Spezialeinheiten und Undercover-Operationen führen. «Current and former American officials» hätten dies bestätigt.

Auch eine Reihe von Journalisten haben darauf hingewiesen. Einer von ihnen ist Norman Solomon¹: «Im Gegensatz zu dem, was Biden sagt, wird der US-Krieg in Afghanistan weitergehen», schreibt der Gründer der Media-Watch-Organisation «Institute for Public Accuracy»². Solomon berichtet, wie er in einem Flüchtlingslager in Kabul die siebenjährige Guljumma traf. Sie hatte nur noch einen Arm.  «Nicht Bodentruppen töteten Guljummas Angehörige und liessen sie mit nur einem Arm weiterleben. Es war der US-Luftkrieg», schreibt Solomon.

Solomon zitiert Matthew Hoh, einen US-Veteranen, welcher 2009 aus Protest gegen den Krieg in Afghanistan seine Zusammenarbeit mit dem US-Aussenministerium aufkündigte: «Ungeachtet des Rückzugs der offiziell anerkannten 3500 US-Soldaten werden die USA in und rund um Afghanistan weiterhin präsent sein: in Form von Tausenden von Spezial-Operationen und mit CIA-Personal, mit Drohnen und bemannten Luftangriffen und Hunderten von Cruise Missiles auf Schiffen und U-Booten.»

Das Pentagon sehe als ein Szenario vor, dass die US-Luftwaffe in Afghanistan interveniere, sobald die Hauptstadt Kabul «oder eine andere wichtige Stadt» von Talibankämpfern angriffen werde, berichtete die NYT in einem weiteren Bericht am 11. Juni.

Die Privatisierung des Krieges

Ein Schlüsselfaktor in den Kriegen von Afghanistan bis Irak sind die sogenannten «private military contractor» (PMC)³. Das sind auf Kriegseinsätze spezialisierte private Sicherheits- und Militärunternehmen.  Schon im Zweiten Irak-Krieg (ab 2003) zogen sich die regulären US-Truppen gegen Ende weitgehend auf ihre Stützpunkte zurück, während hochgerüstete Sicherheitsfirmen wie Blackwater (heute Academi)4 die Counterinsurgency-Operationen durchführten. Wer unter «Contractor» im Netz sucht, stellt mit Erstaunen fest, dass deren Personalstärke in Afghanistan offiziell derzeit immer noch mit 16 000 bis 18 000 Mann angegeben wird, also sechs bis siebenmal so viel wie die bis Mai offizielle Zahl der US-Soldaten.

Auf Bagram Air Base, dem Hauptquartier der US-Streitkräfte in Afghanistan, waren auf dem Höhepunkt des Krieges 40 000 Frauen und Männer stationiert, sowohl US-Soldaten wie Kampfeinheiten privater Firmen. Dort herrscht derzeit reger Flugbetrieb. Die einen packen zusammen für die Heimreise, andere kommen, um ihren neuen Job im «Nachkriegs-Afghanistan» anzutreten. Siebzig private US-Unternehmen, die im Security- und Militärbereich tätig sind, haben im April Stellenangebote inseriert, so berichtet der Intelligencer, eine Webseite des «New York Magazine»⁵. 

Eine grosse Zahl der Stellenprofile umreisst «Intelligence Analyst Positions». Also Spezialisten im High-Tech-Krieg der Drohnen, der Luftraumüberwachung und elektronischen Aufklärung.

Es gibt überdies kaum Anzeichen, dass bestehende Verträge nicht verlängert werden. «Hier ändert sich nichts», wird ein Mitarbeiter einer US-Sicherheitsfirma in Bagram zitiert. «Ich wüsste nicht, dass mein Job oder irgendwelche Verträge von der afghanischen Regierung übernommen würden. Das hier sind amerikanische Firmen, und die bezahlen hier die Leute.» Auch die Waffensysteme, welche die afghanische Armee von den USA übernommen hat, müssen meist von US-Spezialisten gewartet und bedient werden.

Allein in Afghanistan hat das Pentagon seit 2002 für private Mitarbeiter laut einer Bloomberg-Studie rund 108 Milliarden aufgewendet. Ausser den 16 000 privaten «Contractors» in Afghanistan, die das Verteidigungsministerium aufführt, gibt es noch Tausende, die für das US-Aussenministerium, für US-AID oder andere Agenturen im Bereich Sicherheit und Logistik arbeiten.

2 Billionen Dollar ausgegeben

Nach Angaben des Pentagons kostete der Krieg die US-Steuerzahlenden jedes Jahr 45 Milliarden Dollar. Dazu kommen die Kosten der anderen Nato-Staaten. Seit Kriegsbeginn haben sich die gesamten Kriegsausgaben nach übereinstimmenden Berechnungen verschiedener Think Tanks auf weit über eine Billion Dollar summiert.

Dazu kamen nochmals über eine Billion Dollar, die Afghanistan von etwa siebzig Staaten, internationalen Organisationen und Tausenden von Hilfsorganisationen an «Entwicklungshilfe» erhielt. Statt Krieg zu führen, hätte man mit diesen zwei Billionen Dollar jedem Einwohner rund 60 000 Dollar auszahlen können.

In der Hauptstadt Kabul entstand eine afghanische Mittelschicht, die durch den Krieg neue Geschäftsmodelle und ein wirtschaftliches Auskommen fand. Hunderte von Hilfswerken betrieben das Geschäft des Beistands. Zynisch könnte man sagen: Da ist eine Luftwaffe, die bombardiert, und da sind Hilfswerke, die Spenden für Prothesen sammeln. Das geht manchmal so weit, dass sich Menschenrechts-Organisationen für «die gute Sache» vor den Karren spannen lassen.

Amnesty International produzierte 2012 anlässlich des Nato-Gipfeltreffens in Chicago ein Plakat, auf dem zu lesen war: «Human Rights for Women and Girls in Afghanistan. NATO: Keep the progress going!» Der Krieg als «humanitäre Mission» ist seit den Balkan-Kriegen ein wiederholtes Argumentations-Schema der Nato-Verbündeten.

Geheimkommandos mit Auftrag: «Capture or Kill»

Durch die von Wikileaks publizierten «Afghanistan Protokolle» wurde 2010 publik, dass in Afghanistan geheime Einheiten der US-Armee operieren, die den Auftrag haben, Jagd auf führende Figuren der Taliban oder anderer Gruppen zu machen, die als feindlich oder kriminell betrachtet werden. Es handelt sich um Kommandos wie die «Task Force 373», welche ausserhalb der regulären Befehlskette operieren und direkt dem United States Joint Special Operations Command (JSOC)⁶ unterstehen. «Der Spiegel» berichtete darüber unter dem Titel «Die dreckigste Seite des Kriegs»⁷.

Sie tragen keine Erkennungszeichen an ihren Uniformen und arbeiten Namenslisten ab, die im militärischen Jargon «Joint Prioritized Effect List» heissen. Ihr Auftrag lautet: Capture or Kill. Die von Wikileaks enthüllten Dokumente zeigen auf Hunderten von Seiten, wie immer wieder ganze Familien oder Zusammenkünfte von Zivilpersonen als feindliche Ziele definiert und dabei Männer, Frauen und Kinder getötet wurden, unter denen oft nicht einmal die gesuchte Zielperson zu finden war. 

Das US-Justizministerium hält die Tötung von mutmasslichen Terroristen ohne richterlichen Beschluss für legal. Die Argumentation lautet, man befinde sich im Krieg, nämlich im «Krieg gegen den Terror», folglich sei man berechtigt, Feinde, von denen eine unmittelbare Terrorgefahr ausgehe, zu liquidieren, bevor sie Schaden anrichten könnten. Weltweit sind aber zahlreiche Juristen anderer Ansicht. Sie halten das «präventive Töten» von Personen ausserhalb einer Gefechtssituation für aussergerichtliche Hinrichtungen und somit für schwere Verstösse gegen Menschenrechte und die Genfer Konventionen.

Das gilt besonders für die Angriffe mit Drohnen, die wohl künftig in dem Schattenkrieg in Afghanistan mehr und mehr die Arbeit der geheimen Capture-or-Kill-Kommandos ersetzen werden. Der wissenschaftliche Dienst des deutschen Parlamentes⁸ stellt 2020 fest, die Langzeitbilanz des US-Drohnenkrieges falle «in Anbetracht von hohen Kollateralschäden ernüchternd aus»: In Afghanistan, Pakistan, Somalia und Jemen sei von 2010 bis 2020 ein Minimum von vierzehntausend Drohneneinsätzen registriert worden. Dabei seien den Schätzungen zufolge zwischen 8000 und 16 000 Menschen getötet worden. Eine andere Quelle⁹ kommt zu weit höheren Zahlen. Diese militärischen Drohneneinsätze sind ebensowenig wie die privaten «Contractors» von Bidens Aussage betroffen, dass sich die USA aus Afghanistan militärisch zurückziehen. Die regulären Soldaten der USA und der anderen Nato-Staaten werden abgezogen.

Doch der 20-jährige Krieg gegen die Taliban geht weiter, gegen eine von paschtunischem Stammesdenken geprägte radikalislamische Bewegung, die für die USA zu keiner Zeit eine militärische Bedrohung darstellte. Viele US-Soldaten, die zuletzt am Hindukusch im Einsatz waren, steckten noch in den Windeln, als 2001 der Krieg begann. Sarah Kreps und Douglas Kriner haben für «Foreign Affairs», die führende Strategie-Zeitschrift für US-Aussenpolitik, mit Umfragen10 zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 herausfinden wollen, was die Leute in den USA zurzeit über diesen Krieg denken. Das Erstaunlichste an den Resultaten war, dass jeder dritte Befragte angab, er könne dazu nichts sagen und jeder vierte nicht einmal wusste, dass in Afghanistan noch Krieg geführt wurde. ν

¹ www.commondreams.org/views/2021/04/15/contrary-what-biden-said-us-warfare-afghanistan-set-continue

² https://accuracy.org

³ https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_privater_Sicherheits-_und_Militärunternehmen

https://en.wikipedia.org/wiki/Blackwater_(company)

https://nymag.com/intelligencer/2021/05/u-s-contractors-in-afghanistan-are-hiring-amid-withdrawal.html

https://www.socom.mil/Pages/jsoc.aspx

https://www.spiegel.de/consent-a-?targetUrl=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fpolitik%2Fausland%2Ftask-force-373-die-dreckigste-seite-des-krieges-a-708507.html

https://www.bundestag.de/resource/blob/814842/3bd8996607eb21fd3eed2408cd6a2384/WD-2-064-20-pdf-data.pdf

https://www.commondreams.org/news/2020/12/07/report-blames-trump-admin-330-rise-afghan-civilian-casualties?cd-origin=rss&utm_term=AO&utm_campaign=Daily%20Newsletter&utm_content=email&utm_source=Daily%20Newsletter&utm_medium=Email

10 https://www.foreignaffairs.com/articles/afghanistan/2021-03-22/or-out-afghanistan-not-political-choice

Quelle: www.infosperber.ch/politik/welt/afghanistan-der-hightech-krieg-wird-weitergehen/, 17. Juni 2021

Westsahara: «Die befreiten Gebiete sind das Experimentierfeld für unseren zukünftigen Staat»

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Die Westsahara ist eine Schatzkammer natürlicher Resourcen. Dort liegt eines der grössten Phosphatvorkommen der Welt.¹ Nach Abzug der spanischen Kolonialmacht besetzte Marokko 1975 völkerrechtswidrig die Westsahara und plündert sie seither aus. Die Uno hat die Besetzung der Westsahara nie anerkannt. Gestützt auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, hat sie der ursprünglichen Bevölkerung der Sahraouis eine Volksabstimmung über die Zukunft der Westsahara versprochen, die von Marokko mit allen Mitteln sabotiert wird. Die sahraouischen Flüchtlinge aus der Westsahara leben seither in Flüchtlingslagern nahe der algerischen Oasenstadt Tindouf. Auf dem Territorium der Flüchtlingslager hat der algerische Staat den Sahraouis Selbstverwaltung zugestanden, wo sie ihren Exilstaat, die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aufgebaut haben. Seit dem Jahr 2000 hat die DARS auch ein Ministerium, das für die «Befreiten Gebiete» der Westsahara zuständig ist, wo ein unabhängiger sahraouischer Staat geplant ist, der in seinen Anfängen im Entstehen begriffen ist. (siehe Kasten S. 11)

Im November 2019 habe ich die Flüchtlingslager in Tindouf und die befreiten Gebiete besucht und habe erlebt, wieviel Herzblut und Engagement die aus der Westsahara vertriebenen Sahraouis in den Wiederaufbau eines unabhängigen Staates legen.

Ein Jahr später wurden diese hoffnungsvollen Entwicklungen in den befreiten Gebieten mit dem Bruch des Waffenstillstandes durch Marokko bei Guergerat im November 2020 gekappt. Jetzt ist wieder Krieg. Die Auswirkungen sind fatal, wie ein Bericht des Sahraouischen Roten Halbmondes vom April 2021 zur humanitären und gesundheitlichen Situation in den sahraouischen Flüchtlingslagern zeigt, die sich mit dem marokkanischen Bruch des Waffenstillstandes und den Massnahmen zu Covid-19 erheblich verschlechtert hat.²

Dürre und Rückkehr des Krieges

In den befreiten Gebieten der Westsahara hatte bereits vor drei Jahren eine massive Dürre dazu geführt, dass die dortigen Sahraouis zahlreiche Nutztiere verloren haben. Seit dem 13. November 2020 ist auch wieder Krieg mit täglichen Schusswechseln entlang der Trennungsmauer (Berm) zwischen der von Marokko besetzten Westsahara und den von der Polisario befreiten Gebieten. Die angespannte Situation hatte zur Folge, dass sich viele Sahraouis aus den befreiten Gebieten in Sicherheit bringen mussten.

Neue Flüchtlinge in den Lagern

809 Familien (4749 Menschen) flüchteten in die Flüchtlingslager bei Tindouf. Im Dezember 2020 besuchte der Rote Halbmond diese Familien und verfasste darüber einen detaillierten Bericht. Die Familien berichteten, dass sie aus Angst vor den militärischen Auseinandersetzungen nach dem 13. November aus den befreiten Wüstengebieten geflüchtet sind. 364 Familien kamen vor allem aus dem Gebiet von Mheriz im Süden und die anderen aus den Gebieten von Tfariti, Bir Lahlou, Birtighissit, Mijek und Aghouenit. 340 Familien litten bedingt durch Krieg, Flucht und Klima an verschiedenen Krankheiten sowie unter Panik und Traumata. Sie benötigten dringend medizinische Hilfe. 526 Familien, die vorerst von anderen Familien in den Lagern aufgenommen worden sind, werden künftig eine eigene Unterkunft benötigen. Nur 340 Familien war es möglich, auf ihrer Flucht in die Lager ihren Hausrat und ihre Habseligkeiten mitzunehmen.

In den befreiten Gebieten hatten 711 Familien mit bescheidenen wirtschaftlichen Aktivitäten und Dienstleistungen für Reisende, die sich zwischen Mauretanien und den Flüchtlingslagern bewegen, ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Jetzt sind sie ohne Einkommen. 97 Familien, die Viehzucht betrieben hatten, waren bereits von der Dürre vor drei Jahren empfindlich getroffen worden.

Von humanitären Organisationen ist in den letzten Monaten nur wenig Hilfe für die aus den befreiten Gebieten geflüchteten Familien geleistet worden. Es fehlt an allem. Die sahraouischen Behörden tun ihr Möglichstes. Die Familien erhalten medizinische Hilfe und sauberes Wasser. Ihre Kinder können zur Schule gehen. Der Algerische Rote Halbmond und andere algerische Organisationen leisten Nahrungsmittelhilfe. «Aber die Versorgung dieser geflüchteten Familien wird noch viel Solidarität und Unterstützung brauchen», schreibt der Sahraouische Rote Halbmond in seinem Bericht.

Covid 19 – aktuelle Probleme

Gemäss dem zuständigen wissenschaftlichen Komitee der Sahraouis gab es seit dem ersten Krankheitsfall vom 4. Juli 2020 bis Mitte April 2021 insgesamt 462 Fälle von Covid 19. 272 Personen waren zu diesem Zeitpunkt bereits wieder genesen. 29 Personen mit einem positiven Test hatten keine Symptome, 109 Personen leichte Symptome und 25 Personen waren hospitalisiert. 27 Sahrouis sind leider verstorben. Wieviele von ihnen am Virus und wie viele an ihren Vorerkrankungen verstorben sind, ist aus dem Bericht nicht ersichtlich. Die algerische Armee hat zur Unterstützung des Gesundheitswesens in den Lagern ein Feldlazarett errichtet. 

Tragischerweise haben die Massnahmen zur Eindämmung des Virus die bereits fragile humanitäre Lage noch verschärft. «Die humanitäre Situation in den saharauischen Flüchtlingslagern ist gefährdeter denn je, da die durch die COVID-19-Pandemie auferlegten Beschränkungen und Massnahmen kleine einkommensschaffende Aktivitäten lahmgelegt und kommerzielle Aktivitäten sowie private Transportdienste reduziert haben», so der Rote Halbmond in seinem Bericht. 

Aufgrund fehlender Gelder und schwindender Nahrungsmittelreserven hat das Welternährungsprogramm Schwierigkeiten, den sahraouischen Flüchtlingen die bereits jetzt schon minimalen Nahrungsrationen zu liefern. Diese chronische Unterfinanzierung ist mitverantwortlich für Unterernährung und Anämie vor allem bei Kindern, Schwangeren und stillenden Müttern. Gemäss Rotem Halbmond ist jedes fünfte Kind unter 5 Jahren chronisch unterernährt und drei von vier schwangeren Frauen haben eine Anämie. Das muss sich dringend ändern. Der Sahraouische Rote Halbmond fordert daher, dass die Uno die Verschärfung der humanitären Lage der sahraouischen Flüchtlinge ernst nimmt und entsprechende Schritte zur dringenden Verbesserung der Situation einleitet.

Selbstbestimmungsrecht durchsetzen

Bis heute fehlt bei der Uno der Wille, das unfassbare Unrecht gegenüber dem sahraouischen Volk zu beenden und dessen Recht auf Selbstbestimmung in der Westsahara durchzusetzen. Die Anfänge eines unabhängigen Staaten wurden von den Saharouis bereits auf den Weg gebracht, wie folgender Reisebericht vom November 2019 in die befreiten Gebiete der Westsahara zeigt. Diese Ansätze muss die Uno unterstützen.

In den befreiten Gebieten

Von den Flüchtlingslagern in Tindouf fahren wir von Algerien über einen Grenzposten in die befreiten Gebiete, ein kleiner Konvoi unter militärischem Schutz der Polisario. Bald hört die asphaltierte Strasse auf, und die Autos fahren wegen des aufgewirbelten Staubes parallel zueinander durch die flache Wüste, ab und an sieht man Hügelzüge. Kalihenna vom sahraouischen Jugendministerium und sein Begleiter sind gut gelaunt, haben immer etwas zu erzählen und zu lachen. Manchmal singen sie auch, endlich sind sie wieder in ihrer Heimat … . Die Vegetation ändert, man sieht vereinzelte Bäume, niedrige Büsche und gelbe Grasbüschel. Am späten Abend erreichen wir den Militärstützpunkt von Bir Lehlou, wo wir von den sahraouischen Soldaten herzlich willkommen geheissen werden, von denen viele bereits vor dem Waffenstillstand von 1991 mit der Frente Polisario gegen die marokkanische Besatzungsmacht gekämpft haben. 

Im Nationalmuseum

Am nächsten Morgen besuchen wir das Nationalmuseum von Bir Lehlou, das die Geschichte des sahraouischen Volkes, den Kampf für die Unabhängigkeit sowie den Widerstand der Sahraouis in dem von Marokko besetzten Teil der Westsahara dokumentiert. Kalihenna führt uns zu der grossen Wand mit den Porträts der im Befreiungskrieg gefallenen Sahraouis. Er zeigt auf ein Bild: «Das ist mein Onkel. Auch ein anderer Onkel ist gefallen.»

In der Schule

Anschliessend fahren wir zur Schule, in deren sandigem Innenhof die Flagge der DARS weht. Über der Türe ist in arabisch zu lesen «Die Armee ist das Volk, und das Volk ist die Armee», für Schweizer Ohren etwas erfreulich Vertrautes...

Ein Mädchen liest: «...mein Land ist besetzt seit den Jahren des Krieges...». (Bild hhg)

Ein Mädchen liest: «...mein Land ist besetzt seit den Jahren des Krieges...». (Bild hhg)

 

Bildung ist wichtig für die junge Generation, das wissen die sahraouischen Nomaden. In den Flüchtlingslagern sind die Schulen nahe bei der Bevölkerung. Auch in den befreiten Gebieten wollen die Nomaden in jeder Wilaya eine Schule, die für sie erreichbar ist. Je nach Jahreszeit sind sie mit ihren Tieren entweder in der Nähe der Wilayas oder manchmal viel zu weit weg. Dann ist der Transport der Kinder zur Schule schwierig oder gar unmöglich. Dieser Mangel wird für die Kinder jeweils mit einem speziellen Unterricht ausgeglichen.

Die Schule, ausgelegt für 200 bis 300 Kinder, hat viele vom Innenhof zugängliche Schulzimmer. Jetzt hat es wenig Schüler, letztes Jahr waren es 40, dieses Jahr sind es 60. Jede Familie bringt ihre Kinder selber zur Schule. Es wurde auch eine Klasse eröffnet für die Kinder, die erst später im Schuljahr in die Schule gekommen sind.

In der 3. Klasse sitzen vier Buben und drei Mädchen. Ihr Lehrer unterrichtet sie in Arabisch, Spanisch, Mathematik, Naturwissenschaften, Zeichnen und Sport. Eine 4. Klasse gibt es zur Zeit nicht. In der 5. Klasse ist Spanischunterricht. Hier lesen die Kinder abwechslungsweise einen Text zur Geschichte ihres Landes an der Wandtafel vor.

In einem der Klassenzimmer sitzen fünf Mädchen und ein Bub. Der Lehrer spricht mit ihnen über verschiedene Gegenstände, die er auf die Wandtafel gezeichnet hat. Als wir gehen, zeigt uns der Lehrer einige mit Wasserfarben ausgeführte Zeichnungen und fragt, ob wir Wasserfarben für ihn besorgen könnten, er habe keine mehr. Es ist beklemmend, wenn man diesen Mangel an allem hier sieht.

Im Regionalspital von Bir Lehlou

In den befreiten Gebieten ist alles noch dürftiger und einfacher als in den Flüchtlingslagern bei Tindouf, so auch im Regionalspital.

Dort empfängt uns der Krankenpfleger Bachir Said, der seine Ausbildung in Kuba gemacht hat. Der nächste Arzt ist in den Flüchtlingslagern in Algerien. Bei Notfällen muss Bachir entscheiden, ob die Kranken hier im Regionalspital behandelt werden können oder ob sie in die Flüchtlingslager weiterverwiesen werden müssen mit einer langen, mühseligen Fahrt durch die Wüste. Said ist für alles zuständig. Er ist Krankenpfleger, kocht für sich und die Patienten, putzt und fährt das Ambulanzauto. Er hat einen Mitarbeiter. Elektrizität gibt es keine, und dem Spital fehlt es an einem Kühlschrank, der mit Solarenergie gekühlt werden kann. Die Anzahl der Patienten variiert je nach Jahreszeit. Es kann bis zu 40 Patienten pro Tag geben, zur Zeit sind es jedoch nur wenige. Hauptsächlich sind es Erkrankungen der Atemwege, Verdauungsprobleme, Arthrosen, Rheuma oder Infektionskrankheiten. Für die Geburten kommen die Frauen in der Regel ins Regionalspital, es gibt eine Hebamme, die auch Hausbesuche macht.

Beim Gemeinderat von Bir Lehlou

Im Sitzungssaal sprechen wir mit dem Gemeindevorsteher. Auf die Frage, wie oft es in Bir Lehlou regne, antwortet er: «Manchmal zweimal im Jahr, manchmal alle sechs Jahre.» Entsprechend herausfordernd sind die Aufgaben, die hier und auch in den anderen Wylayas in den Befreiten Gebieten zu lösen sind und sein werden. Staatliche Leistungen sind für die Sahraouis kostenlos.

In Bir Lehlou gibt es Wasser in einer Tiefe von 12 bis 15 Metern, manchmal ist etwas salzig, was aber für Tiere geht. In einer Tiefe von 200 Metern hat das Wasser eine durchgehend gute Qualität. Es fehlt jedoch an genügend leistungsstarken Wasserpumpen. Dringend nötig wäre auch, dass die staatlichen Einrichtungen Zugang zu elektrischem Strom hätten. 

Für Kriminalfälle ist ein Gericht zuständig. Bei zivilen Rechtsstreitigkeiten setzt man sich zusammen und sucht nach Lösungen, eine Mediation, die auf traditionellen ungeschriebenen Gesetzen und Regeln beruht. Nur wenn keine Lösung gefunden wird, geht man vor Gericht.

Auf die Frage, wie ein künftiger Staat in den befreiten Gebieten aussehen könnte, antwortet der Gemeindevorsteher: «Wir sind ein Staat! Es ist ein Vorurteil, dass die Sahraouis einfach nur so in den Flüchtlingslagern leben. Wir haben unsere staatlichen Aufgaben in den Flüchtlingslagern wahrgenommen, wir haben das geübt. Jetzt wollen wir das in die befreiten Gebiete bringen. Wir brauchen dafür ‹Brücken›. Wir brauchen eine Kooperation zwischen internationalen Städten mit den Wilayas in den befreiten Gebieten, welche unser mobiles Schulwesen und den Aufbau unserer staatlichen Strukturen unterstützen.» Kalihenna fügt hinzu: «Wir müssen mit der Produktion in den befreiten Gebieten beginnen, und zwar ökologisch, damit wir nicht die selben Fehler machen wie die Europäer.»

In einer Nomadenfamilie

Wir fahren zu einer Nomadenfamilie, wo uns Nuna, eine rundliche Sahraoui, herzlich willkommen heisst. Ihr geräumiges Familienzelt ist mit Teppichen ausgelegt, Dach und Wände sind mit schönen Tuchbahnen verkleidet. Hinter einem Wandschirm sitzt eine junge Frau mit ihrem 7 Tage alten Neugeborenen. Ein kleines Mädchen schaut neugierig in das Zelt. Auch Nunas Mutter ist hier. Nuna hat für uns gekocht, Gerstencouscous mit Kamelfleisch und Jogurth.

Auf unsere Fragen gibt Nuna bereitwillig Auskunft. Sie ist 1973 geboren und dann 1976 mit ihrer Mutter aus Ayoun in der Westsahara in die Flüchtlingslager bei Tindouf geflüchtet. Mit zwölf Jahren hat sie geheiratet. Nach dem Waffenstillstandsabkommen mit Marokko von 1991 zog sie mit ihren Kindern und ihrer Mutter in die befreiten Gebiete bei Bir Lehlou: «Ich wollte einfach hier leben.» Nuna ist geschieden. Heute lebt sie mit ihrer Familie von der Geissenzucht. Sie hat 40 Geissen. «Ja, wenn es eine junge Geiss gibt, verkaufe ich die alte. Wir trinken die Milch. Traditionell macht man Käse aus der Milch. Aber wenn man den Käse aus der Schweiz kennt, dann verleidet einem der eigene Käse!», lacht sie humorvoll. Auf unsere Frage, was ihr grösster Wunsch sei, antwortet Nuna: «Ich habe alles erreicht, was ich mir gewünscht habe, ausser der Unabhängigkeit der Westsahara».

Am Brunnen von Ain Biutili

Wir fahren weiter zum Brunnen von Ain Biutili, 40 Kilometer von Bir Lehlou entfernt, der vor einem Jahr für die Ziegen und die Kamele der Nomaden gebaut worden ist. An diesem Brunnen dürfen alle Tiere trinken. Solarpannels liefern Energie für die Pumpe, die das  Wasser an die Oberfläche bringt. «Praktisch jeden Tag wird hier Wasser geholt. Ein Kamel trinkt 200 Liter», so der Verantwortliche, der hier auch für die Sicherheit zuständig ist. Von ihm erfahren wir, dass Bir Lehlou das einzige Gebiet ist, das nie kolonisiert worden ist.

Mit etwas Optimismus

Auf der Rückfahrt Richtung Algerien halten wir in geringer Entfernung zur marokkanischen Mauer. Von hier aus sind die Befestigungen, die uns unser militärischer Begleitschutz erläutert, gut sichbar. Wir verlassen die Befreiten Gebiete, deren Entwicklung noch in den Anfängen steckt, mit Optimismus. Die Sahraouis wollen hier ihren Staat weiter aufbauen auch mit einfachsten Mitteln und die  internationale Gemeinschaft müsste und muss sie dabei unterstützen – uneigennützig …

Ich habe die Sahraouis als ein Volk kennengelernt, das nichts anderes will, als in einem unabhängigen Staat auf seinem angestammten Gebiet in Frieden leben zu können, wie es ihm gemäss dem Selbstbestimmungsrecht der Völker³ zusteht. Die marokkanische Besetzung und Plünderung der Westsahara ist völkerrechtswidrig. Die internationale Gemeinschaft muss dem sahraouischen Volk zu seinem Recht verhelfen.

¹ Sechstgrösstes Phosphatvorkommen weltweit, Beryll, Chrom, Gold, Kupfer, Magnetit, Mangan, Nickel, Platin, Salz, Uran, Wolfram, Zinn. Vgl. Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 3, 3. März 2020

² Le Croissant Rouge Sahraoui: La situation humanitaire et sanitaire des réfugiés sahraouis. 15 avril 2021

³ Artikel 1 Ziffer 2 der Uno-Charta

 

«Was sind die Pläne der Sahraouis für die befreiten Gebiete?

Die befreiten Gebiete, ein Drittel der gesamten Westsahara, sind das Experimentierfeld für unseren zukünftigen Staat, der ein Drittel der gesamten Westsahara umfasst. Seit dem Jahr 2000 besteht in den Lagern in Rabouni das Ministerium für die befreiten Gebiete. Sechs Städte sind im Aufbau begriffen¹ und eine siebte ist in Planung. Damit ist das Ministerium mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Die medizinische Versorgung muss kostenlos und gut sein. Wenn heute jemand in den befreiten Gebieten von einer Schlange gebissen wird, muss er zur Behandlung in die Lager nach Tindouf gebracht werden. Das Wasserproblem muss gelöst werden, wir haben noch kein gesundes Trinkwasser. Weiter brauchen wir auch Elektrizität. Zudem muss das Transportproblem gelöst werden, es gibt nur Pisten und keine Strassen. 

Jenseits der marokkanischen Mauer auf sahraouischem Gebiet gibt es noch unzählige Landminen, die bis heute nur teilweise entschärft sind. Bei starken Regenfällen werden sie noch weiter in sahraouisches Gebiet geschwemmt und sind für die Tiere und die Menschen dort lebensbedrohlich. Für jede entschärfte Mine soll an deren Stelle ein Baum gepflanzt werden, der von den Sahraouis in den Lagern aus Samen herangezogen werden soll, um dann später in den befreiten Gebieten ausgepflanzt zu werden.»

Quelle: Interview mit dem Vizepräsidenten für die befreiten Gebiete in Rabouni vom 5. November 2019 (hhg.)

¹ Verwaltung, Schule, Spital, Moschee, Polizei

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