«Die Schweiz ist ein souveräner Staat, der über seine eigenen Angelegenheiten autonom entscheidet»

Interview mit alt Nationalrat Ruedi Lustenberger*, Romoos

Alt Nationalrat Ruedi Lustenberger (Bild thk)
Alt Nationalrat Ruedi Lustenberger (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Nachdem Sie seit zwei Jahren nicht mehr aktiv politisieren, können Sie die Welt aus der Perspektive vom Napf aus betrachten. Was stellen Sie fest? 

Alt Nationalrat Ruedi Lustenberger Das gäbe ein dickes Buch… Ganz kurz gesagt: Wir leben, global betrachtet, in einer sehr schwierigen Zeit. Logischerweise tut sich die Schweiz in diesem Umfeld ebenfalls schwer. Die Verunsicherung bei Bürgern und Behörden nimmt zu. 

Woran denken Sie dabei?

Die Veränderungen in den letzten paar Jahren, die desolate Situation im Nahen Osten, der neue Präsident in den USA, der Austritt Grossbritanniens aus der EU, das Taktieren Putins, die ganze Völkerwanderung, die im Moment grosse Teile der Welt erfasst hat; das alles hat man vor 30, 40 Jahren so nicht vorhersehen können. Eine Erkenntnis hingegen habe ich bereits vor 15 Jahren gewonnen: Die Medaille der Globalisierung hat eine Rückseite, das Pendel im Sinne der negativen Auswirkungen ist nicht erst seit ein paar Monaten am Zurückschlagen. Es passiert in einem Ausmass, das viele Politiker nicht wahrhaben wollen, weil sie es noch vor 10 Jahren verneinten. Deshalb darf nicht sein, was tatsächlich ist. Die Entwicklung ist bei weitem noch nicht abgeschlossen.

Was bedeutet das für die Schweiz?

Vor diesem Hintergrund stellen sich unserem Land innen- und aussenpolitische Aufgaben, die nicht einfach zu lösen sind. Wir sind ein Teil dieser Welt. Acht Millionen Menschen sind zwar nur ein ganz kleiner Bruchteil der Weltbevölkerung, und auch die Fläche der Schweiz ist nur ein Punkt auf der Erdoberfläche. Aber im globalen Wirtschafts- und Politsystem haben wir dennoch eine gewichtige Rolle, wir haben ja auch eine interessante Vergangenheit. Carl Levy-Strauss hat einmal gesagt: «Eine Nation, die nicht weiss, woher sie kommt, weiss auch nicht, wohin sie gehen soll.» Woher wir kommen, das wissen wir. Aber, wir sind unsicher geworden. Wir leiden an einem latent fortschreitenden Orientierungs- und Werteverlust.

Das klingt nicht sehr optimistisch, wir haben doch viele Stärken! 

Ja, es sind die gleichen wie vor 50 Jahren. Wir sind neutral, haben einen föderalistischen und subsidiären Staatsaufbau, die direkte Demokratie, ein starkes Milizwesen, das duale Bildungssystem, eine eigene Landesverteidigung. Das ist das Erfolgskonzept Schweiz. Deshalb geht es uns volkswirtschaftlich und sozial im internationalen Vergleich sehr gut. 

Wo sehen Sie den zentralen Wert unseres Landes im Konzert der Völker?

Für mich gibt es zu dieser Frage zwei Aspekte. Der eine ist das historisch Gewachsene, die Eidgenossenschaft, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Der ganz grosse Schritt geschah 1848, als aus dem losen Staatenbund ein Bundestaat entstanden ist. Dabei ist es gelungen, den Föderalismus, die Subsidiarität, die Neutralität und damit auch die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger in der Bundesverfassung festzuschreiben. Das hat bis heute Bestand.

Das andere ist, dass die Schweiz als Willensnation ein Teil des christlichen Abendlands darstellt, dessen Entwicklung 2000 Jahre zurückgeht. Eine bewegte Geschichte, in der man sich mehrmals erfolgreich gegen fremde Kulturen und Mächte behauptet hat.

Welche Bedeutung hat die christlich-abendländische Kultur für unser Land?

Unsere Art Dinge wahrzunehmen, zu denken und zu handeln, hat dort ihren Ursprung. Die Veränderungen, die sich besonders auch in der Aufklärung niedergeschlagen haben, haben unser Denken und Handeln geprägt. Dass wir den Menschen als Individuum mit seinen Rechten und Pflichten erkennen und daraus unsere direkte Demokratie entwickelt haben, hat seine Wurzeln in dieser christlich-abendländischen Kultur. Sie hat unser Gesellschaftsverständnis, den Umgang und das Zusammenleben der Menschen untereinander geprägt. Plötzlich scheint diese Kultur in Gefahr zu geraten.

Wo sehen Sie eine Bedrohung für unsere Kultur?

Es gibt zwei wichtige Fakten. Viele Menschen, vor allem junge Leute, kennen die Errungenschaften der christlich-abendländischen Kultur zu wenig und können diese deshalb auch nicht einordnen. Meine Generation hat sie zu wenig weitergegeben, man hatte sie zu lange sozusagen zum Null-Tarif bekommen. Und was nichts kostet, ist bekanntlich nichts wert. Das führt dazu, dass man diese Werte nicht mehr schätzt und so vernachlässigt.
Das zweite sind andere Religionen, die uns Schwierigkeiten bereiten. Es sind nicht primär die Menschen selber, die Probleme machen, es ist ihre Kultur, die vollständig anders ist. Vor allem ist es der Islam, der in seiner Grundausprägung und im Verhältnis zum Christentum, wie wir es leben, doch einige Diskrepanzen aufweist. Das führt zu Reibungsflächen im gesellschaftlichen Zusammenleben. Wir waren uns gewohnt, dass Menschen, die als Schutzsuchende in unser Land kommen, sich so verhalten, wie man das von Gästen erwartet, indem sie sich den Gepflogenheiten der Kultur des Gastgebers anpassten. Manche, die heute kommen, passen sich tatsächlich an. Aber es gibt andere, die das ignorieren und damit bewusst provozieren. Hier tut sich unser Rechtsstaat schwer, er setzt sich nicht mehr durch. Beispiele: Sans Papiers, Zwangsehen, falsch verstandene Toleranz in den Schulen.

Sie haben vorher den Föderalismus erwähnt. Dieser wird in letzter Zeit immer wieder in Frage gestellt und als nicht mehr zeitgemäss kritisiert. Welche Bedeutung hat der Föderalismus heute noch?

Man muss ins Jahr 1848 zurückgehen. Ohne den Föderalismus hätte es den Bundesstaat nie gegeben. Die Eidgenossenschaft war damals quasi zum Föderalismus verdammt, und er hat sich als «verdammt» positiv herausgestellt. Der Föderalismus hat eine Zwillingsschwester, die Subsidiarität. Beide bedingen sich gegenseitig, das eine kann ohne das andere nicht existieren. Diejenigen, die sich über den Föderalismus aufregen, wären die ersten, die sich vehement dagegen wehren würden, wenn man ihn abschaffen wollte. Aber wir laufen Gefahr, dass in unserem Staatswesen, welches auf Föderalismus und Subsidiarität aufgebaut ist, die unterste Ebene, die Gemeinden, zu kurz kommt.

Wie zeigt sich das?

Zum einen überträgt man den Gemeinden immer mehr Aufgaben, zum anderen nimmt man ihnen immer mehr Entscheidungsbefugnis weg. Die Gemeinderäte sind je länger, je mehr zu Vollzugsgehilfen der kantonalen Verwaltungen degradiert. Dort gebärden sich subalterne Angestellte wie Verwaltungskönige und -königinnen, indem sie mit immer neuen Reglementen und Richtlinien in die Gestaltungsfreiheit der einzelnen Gemeinden eingreifen. Das ist eine ganz schlechte Entwicklung, die auch beim Bund unschöne Blüten spriessen lässt.

Ist das auch ein Grund, warum es hin und wieder schwierig ist, Menschen zu finden, die sich für ein Gemeindeamt zur Verfügung stellen?

Genau. Die Bereitschaft, ein Exekutivamt zu übernehmen, hängt tatsächlich damit zusammen. Ein Gemeinderat hat zwar grosse Verantwortung, seine Gestaltungsmöglichkeiten werden aber immer kleiner. Hier braucht es dringend eine Rückbesinnung, damit man den Gemeinden wieder mehr Selbständigkeit und mehr Entscheidungsfreiheit gibt. 

Der Föderalismus und die Subsidiarität als wichtige Pfeiler des Schweizer Staatswesens könnten auch als Modell für die EU stehen?

Wenn die EU in der Grundstruktur unser System des Föderalismus und der Subsidiarität übernommen hätte, wäre es kaum zu einem Brexit gekommen. Der Druck auf die EU wird indes immer stärker werden, besonders von den Staaten im Osten der EU. Diese jungen freiheitlichen Staatswesen werden sich ihre Politik nie so stark von Brüssel diktieren lassen, wie sich das die deutschen und französischen Bürger gefallen lassen. Aus dieser Optik setze ich die Hoffnungen mindestens so stark auf die östliche Hälfte der EU wie auf die Briten. Die EU und ihre Hofberichterstatter in der internationalen Presse schimpfen über Ungarn, Polen, die Slowakei. Aber eigentlich müsste sich die EU an diesen Staaten orientieren und sich fragen: Wieso haben wir diese Entwicklung?

Was heisst das jetzt für unsere Schweiz?

Im Moment wird der institutionelle Rahmenvertrag mit der übergeordneten Frage der sogenannt fremden Richter schwergewichtig thematisiert. Er steht auf der Prioritätsliste unserer Landesregierung ganz oben. Der Bundesrat sollte sich in dieser Frage nicht drängen lassen und schon gar nicht signalisieren, dass die Schweiz ein Rahmenabkommen brauche. Denn am Verhandlungstisch hat derjenige verloren, der signalisiert: «Ich muss unbedingt ein Ergebnis haben.» Verhandlungen führt man erfolgreich, wenn man ein gesundes Mass an Selbstbewusstsein dokumentiert. Devote Diplomaten sind schlechte Unterhändler.
Fazit: Die Schweiz ist ein souveräner Staat, der über seine eigenen Angelegenheiten autonom entscheidet. Das muss so bleiben.

Herr alt Nationalrat Lustenberger, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

*Ruedi Lustenberger war von 1991 bis 1999 Mitglied des Grossen Rats in Luzern und sass danach für die CVP/LU bis 2015 im Nationalrat. Von 2013 bis 2014 war er als Nationalratspräsident höchster Schweizer. Neben vielen Ämtern, die er während seiner langen politischen Karriere bekleidet hat, ist er bis heute Präsident von «Swiss Label».

Die Völker im Osten sind die Leidtragenden des Ukraine-Konflikts

Interview mit Andrej Hunko, Mitglied des deutschen Bundestages

Andrej Hunko, MdB (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die EU hat die Sanktionen gegen Russland verlängert mit der Begründung, es würde das Minsker Abkommen nicht umsetzen. Können Sie sich dieser Sichtweise anschliessen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Nein, das Problem ist, dass auch die Ukraine das Minsker Abkommen nicht einhält. Dazu kommt, dass die Verknüpfung der Sanktionen mit dem Minsker Abkommen so konstruiert ist, dass die Ukraine gar kein Interesse hat, das Minsker Abkommen einzuhalten. Auf jeden Fall nicht die ukrainischen Nationalisten und diejenigen, die gegen Russland eingestellt sind. Das sind in der Ukraine die meisten Parteien. 

Dann wird klar, warum kein Interesse an der Umsetzung des Abkommens besteht. Damit ist die Ukraine das Problem und nicht Russland?

Ja, denn wird das Abkommen nicht umgesetzt, werden die Sanktionen gegen Russland verlängert. Und das ist genau das, was die Ukraine will. Man bekommt auch hier in der Versammlung mit, dass die Ukrainer mit Ausnahme des Oppositionsblocks immer wieder die Sanktionen gegen Russland verschärfen wollen. Sie sind überall aktiv, wollen sogar die Fussballweltmeisterschaft in Russland verhindern oder es vom European Song Contest ausschliessen. Solange das Minsker Abkommen nicht umgesetzt ist, werden die Sanktionen weitergehen, und das ist im Interesse der ukrainischen Nationalisten.

Das heisst, man untersucht gar nicht, wer das Abkommen nicht umsetzt, sondern allein die Tatsache, dass es nicht eingehalten wird, schiebt man Russland in die Schuhe.

Vertragspartner des Minsker Abkommens sind eigentlich die ukrainische Regierung und die Separatisten. 

Das hat also mit Russland primär nichts zu tun …

… ja und nein, wir wissen, dass Russland einen gewissen Einfluss auf die Separatisten hat, aber es ist  nicht direkte Vertragspartei. Dafür hat es sehr viele Anforderungen an die Ukraine in dem Minsker Abkommen, z. B. die Verfassungsreform, die vom Parlament nicht verabschiedet wird, die Autonomierechte und einen Sonderstatus für die Ostukraine, der das Gebiet des Donbas beinhaltet.

Aber dann ist die Ukraine in der Pflicht?

Ja, aber es gibt kein Druckmittel auf die ukrainische Seite, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommt. Es gibt ausschliesslich ein Druckmittel für die russische Seite. Somit sorgt die Ukraine natürlich dafür, dass der Status quo aufrechterhalten bleibt. Das ist eigentlich völlig absurd.

Wer hat sich das so ausgedacht?

Das ist eine Konstruktion, an der die Regierung Merkel sehr stark beteiligt war. Aber man hat sich damals dafür feiern lassen. Es ist eine perfide Strategie, die mit den Sanktionen eingeschlagen wurde. Jetzt können sie sich immer darauf berufen und die Sanktionen verlängern und verlängern.

Auf Dauer kann das doch nicht so weitergehen.

Ja, vor allem gibt es jetzt ein zusätzliches Problem, auch für die Deutschen. Vor kurzem hat zunächst der US-Senat und dann in leicht veränderter Form das US-Repräsentantenhaus unglaublich weitreichende Sanktionen beschlossen, aber nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen europäische Firmen, die mit Russland kooperieren und die z. B. das North-Stream II Projekt umsetzen wollen. Das ist jetzt der grosse Streitpunkt. North-Stream II ist eine zweite Erdgasleitung von Petersburg durch die Ostsee direkt nach Deutschland. Den US-Eliten ist sie ein Dorn im Auge, weil sie lieber US-amerikanisches Flüssiggas an die EU geliefert sehen möchten.

Wie ist das vom Standpunkt des Völkerrechts aus zu beurteilen?

Völkerrechtlich ist das nicht zulässig. Das heisst, eine dritte Partei, Deutschland oder sogar Europa, Gegenstand von US-Sanktionen zu machen, ist völkerrechtswidrig. Die Reaktionen der deutschen Regierung in der Person von Aussenminister Sigmar Gabriel waren überraschend scharf, was selbst Frau Merkel unterstützt hat.

Warum kommt jetzt diese Reaktion von der Bundesregierung?

Hier spielen natürlich ökonomische Interessen hinein, die Interessen der Energieunabhängigkeit. Das wurde auch sehr klar von der deutschen Regierung gesagt: Diese Sanktionen haben keinen politischen Grund mehr, sondern hier geht es ganz klar um die handfesten Interessen der US-Wirtschaft, nämlich die Flüssiggasindustrie zu bedienen, damit anstatt über North-Stream II Flüssiggas aus den USA nach Europa exportiert werden kann. Hier stehen nur wirtschaftliche Interessen dahinter.

Wie waren die Reaktionen im deutschen Bundestag?

DIE LINKE hat das sehr begrüsst, dass man hier einmal Klartext gesprochen hat. Die ganze Sank­tionspolitik ist jetzt zu einem Bumerang geworden. Die deutsche Regierung hat sich mit dem Sanktionsregime gegenüber Russland und der permanenten Verlängerung in eine schwierige Lage manövriert. Auch gibt es EU-Staaten, die wollen da nicht mehr mitmachen, dazu gehören Österreich, aber auch Griechenland, die Slowakei, vor allem wenn jetzt solche Töne aus den USA kommen. Die Geister, die man rief, wird man nicht mehr los, und am Schluss ist man selbst davon betroffen.

Was ist zu tun?

Man müsste dringend aus dieser Sanktionslogik herauskommen. Grösste Sorgen macht mir diese Entscheidung, die Trump noch unterzeichnen muss. Das ist so perfide in den USA gemacht, dass man die Sanktionen gegen Russland mit den europäischen Firmen verknüpft hat und zusätzlich noch mit den Sanktionen gegen den Iran. Auch wenn Trump ein besseres Verhältnis zu Russland wollte, geht man wegen der Verknüpfung mit dem Iran davon aus, dass Trump das unterstützen wird.

Was wird das für Auswirkungen haben?

Es ist sehr bedrohlich, dass hier der Konflikt zwischen der EU und den USA wieder an Fahrt gewinnt. Was North-Stream II angeht, fürchte ich, dass es noch massive Auseinandersetzungen geben wird. Es ist ein sehr sensibler Punkt. Natürlich ist das aus linker Sicht ein Konsortium von grossen Firmen, und das ist nicht das, was wir favorisieren. Aus aussen- und umweltpolitischen Erwägungen unterstützen wir aber das Projekt. Gas ist der fossile Energieträger, der die Umwelt am wenigsten belastet. Das ist für uns die Brückentechnologie im Unterschied zur Braunkohle. Gas, nicht gefracktes Gas, ist aus ökologischer Sicht noch am besten. Das halte ich den Grünen in Deutschland immer vor, weil sie in der Russlandfrage und den Sanktionen besonders scharf sind. Aber man braucht aus diesen Überlegungen heraus eine internationale Kooperation und damit auch Entspannung, damit man einen guten und geordneten Weg zur Energiewende finden kann.

Zurück zum Verhalten der Ukraine und der Nicht-Umsetzung des Minsker Abkommens: Unter diesem Gesichtspunkt bekommt die Visa-Aufhebung für die Ukraine nochmals eine andere Dimension. Im Grunde genommen belohnt man die Ukraine für ihre Destruktion.

Ja, es ist auch nicht nur die Visa-Aufhebung, sondern es sind unheimlich viele Gelder in die Ukraine geflossen. Man äussert sich zwar auch schon einmal besorgt über das eine oder andere, was von der Regierung gemacht wird, wenn sie die sozialen Netzwerke sperrt wie zum Beispiel «VKontakte», das ist so etwas wie «Facebook», das wurde, weil es russisch ist, gesperrt, so wie die russische Suchmaschine «Yandex», die russische Alternative zu «Google». Man bricht immer mehr Brücken ab und baut immer mehr Mauern gegenüber Russland auf. Dennoch  wird die Ukraine belohnt. Während der Sommersession hier in Strassburg gab es ein Hearing über die Menschenrechtslage in der Ukraine, und die ist katastrophal. Es wurde von NGOs auch im Zusammenhang mit Moldawien auf die Macht der Oligarchen hingewiesen. Heute muss man konstatieren, dass der Maidan die Inszenierung eines grossen Oligarchen gegen einen kleinen war. 

Können Sie das genauer erklären?

Janukowitsch war ein kleiner Oligarch, und dieser wurde ersetzt durch den grossen, durch Petro Poroschenko. Er ist ein grosser Oligarch, der immer ausserhalb dieser Kritik steht. Das fing schon während der Maidan-Proteste an. Was jetzt aber immer mehr auffällt, ist, dass zwischen den ukrainischen Parteien immer wieder Konflikte entstehen über den Zustand des Landes. Das bricht das Narrativ auch hier im Europarat. Als ich nach dem Putsch in der Ukraine Generalsekretär Jagland auf den Verfassungsbruch aufmerksam gemacht hatte, negierte er das und behauptete, das sei eine «Revolution gegen die Korruption», da dürfe man nicht nur getreu nach den Buchstaben der Verfassung handeln. Jeder weiss, dass das ein Aufstand gegen Russland war und nicht gegen die Korruption. Das wird jetzt wohl immer deutlicher.

Welche Auswirkungen haben die Sanktionen auf die EU-Staaten?

Es ist regional sehr unterschiedlich und auch innerhalb der einzelnen EU-Länder. In Deutschland sind es vor allem die Menschen im Osten, die stärker darunter leiden, und zwar nicht nur die Industrie, sondern auch der Agrarsektor. Das ist ein Problem und die entsprechenden Industrieunternehmen kritisieren das, trauen sich aber nicht, wirklich auf den Putz zu hauen.

Warum nicht?

Wir haben in der deutschen Öffentlichkeit eine Kultur, die dafür sorgt, dass jemand, der aus der Reihe tanzt, im gesellschaftlichen Leben vernichtet wird. Er wird nicht mehr eingeladen, er wird nicht mehr erwähnt. Ich denke da an den Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums, Matthias Platzeck. Er war SPD-Vorsitzender, er war Ministerpräsident von Brandenburg, also kein Leichtgewicht. Als er laut darüber nachgedacht hatte, dass man das Problem auf der Krim mit einem erneuten Referendum mit internationalen Beobachtern lösen könnte, ist eine Lawine der Aggression in den Medien gegen ihn losgetreten worden, und seitdem wird er kaum noch zitiert oder erwähnt. 

Ist das ein Einzelfall?

Nein, selbst als Frank-Walter Steinmeier, damals noch Aussenminister, wegen der Nato-Manöver an der russischen Westgrenze vom «Säbelrasseln» sprach, gab es sofort eine scharfe Reaktion. Steinmeier hielt dem dank seines Amtes Stand. Wer auch gar nicht mehr erwähnt wird, ist der CDU-Politiker Willy Wimmer. Ein wichtiger Akteur der Wiedervereinigung und Sicherheitsberater von Helmut Kohl, Staatssekretär und 25 Jahre stellvertretender Vorsitzender der OSZE Parlamentarierversammlung – er existiert nicht in den Mainstreammedien. Er äussert sich zwar ständig und warnt vor der Zuspitzung eines Konflikts mit Russland. Er wird kaltgestellt und totgeschwiegen. Andere sehen das und werden vorsichtig. Das gilt auch für die Vertreter der Industrie.

Spüren Sie das auch?

Vor ein paar Wochen hat «Der Spiegel» einen Artikel gebracht über die Partei DIE LINKE und behauptete, die Putin-Freunde hätten sich durchgesetzt, was ein völliger Quatsch ist. Durchgesetzt haben sich diejenigen, die für eine Entspannung eintreten. Sie werden als Putin-Freunde dargestellt, dazu gehöre auch ich. Auch der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist wegen seiner Kontakte zu Russ­land und einer Reise nach Syrien unter Druck geraten. Man will ihn absetzen. Ich will damit keine Lanze für den Präsidenten brechen, der auch sonst Dinge getan hat, die nicht haltbar sind, aber die Gefahr ist, dass das jetzt alles unter dem Konflikt mit Russland subsumiert wird. Das hat sicher Auswirkungen auf alle anderen hier im Rat. Man sagt lieber nichts, als sich die Finger zu verbrennen. Ein Vertreter der Ukraine hat mir unterstellt, ich sei ein Agent Russlands, was völliger Unsinn ist. Das kommt nur daher, dass ich eine andere Position einnehme und an die Vernunft appelliere. Unter uns gesagt, sind doch die Völker im Osten die Leidtragenden dieses Konflikts. Sie sind Opfer eines globalen Machtanspruchs, der vom Westen vorangetrieben wird. Aber das soll niemand erfahren.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

US-Politik versucht, Russland zu destabilisieren

von Oskar Lafontaine, Landtagsabgeordneter im Saarland

Landtagsabgeordneter Oskar Lafontaine  (Bild www.oskar-lafontaine.de)
Landtagsabgeordneter Oskar Lafontaine (Bild www.oskar-lafontaine.de)

hhg. Seit Mitte der 1960er Jahre hat sich Oskar Lafontaine für das politische Konzept einer friedlichen Aussenpolitik eingesetzt bis 2005 in der SPD und bis heute in der Partei DIE LINKE. Er sprach sich gegen die atomare Bewaffnung der damaligen Bundesrepublik Deutschland aus, war für einen Austritt aus der militärischen Organisation der Nato und wandte sich gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Heute setzt er sich ein für eine friedliche westlich-russische Koexistenz, wie der folgende Artikel zeigt. 

Dass Trump ein notorischer Lügner ist, wissen wir mittlerweile. Damit steht er nicht allein. Man könnte pauschal sagen, in der Aussenpolitik tummeln sich auf der ganzen Welt notorische Lügner. Jetzt wirft Trump Russland «destabilisierendes Verhalten» vor. Ein Blick auf die Landkarte würde genügen, um ihn der Lächerlichkeit preiszugeben: US-Truppen stehen an der russischen Grenze, nicht russische an den US-Grenzen zu Kanada oder zu Mexiko.

Amerikanische Raketenbasen wurden in Rumänien aufgebaut, und nächstes Jahr ist eine in Polen einsetzbar. Von russischen Raketen auf Kuba ist nichts bekannt. Sie wurden einst auf Kuba stationiert, weil die USA vorher in der Türkei Raketen stationiert hatten. Aber Raketen in unmittelbarer Nähe der USA? Kennedy war fest entschlossen, einen (Atom-)Krieg zu führen, wenn die Russen nicht nachgegeben hätten. Man stelle sich vor, Putin würde jetzt genauso reagieren.

Als Kronzeugen für die destabilisierende US-Politik gegenüber Russland kann man zwei Politiker benennen, deren Autorität in der westlichen Staatengemeinschaft unangefochten ist:

Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte: «Für den Frieden der Welt geht von Russland heute viel weniger Gefahr aus als etwa von Amerika.»

Und der Grandseigneur der US-Aussenpolitik George Kennan nannte die Ost-Erweiterung der Nato den «verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg.»

Die Destabilisierung der Ukraine war erklärtes Ziel der berüchtigten Hardliner in den US-Thinktanks, um nach dem Plan des ehemaligen Sicherheitsberaters Zbigniew Brzeziński den eurasischen Kontinent zu beherrschen.

Ständig wiederholte Propaganda

Das Erstaunliche ist nur, dass die Lügenpropaganda der US-Aussenpolitik quasi von allen westlichen Medien – von einigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen, ich empfehle immer die «NachDenkSeiten» – ununterbrochen wiederholt wird. Nach dem Motto: Eine Lüge, die oft genug wiederholt wird, wird vertraut und so zur Wahrheit. Es ist sehr wichtig, in den sozialen Medien – solange sie noch nicht weiter durch Algorithmen verfälscht werden – diese Lügen zu entlarven und so den Boden für eine vernunftgestützte friedliche Aussenpolitik zu bereiten.

Von der anderen Seite kann man Michail Gorbatschow zitieren, dem gerade Deutschland viel zu verdanken hat:

«Von einem Kalten Krieg geht die Nato zu den Vorbereitungen für einen heissen Krieg über. Sie sprechen nur über Verteidigung, aber im Grunde treffen sie Vorbereitungen für Angriffshandlungen.»

Quelle: www.infosperber.ch

«Die Mehrheit der Bevölkerung und der Streitkräfte stehen hinter der Regierung Maduro»

«Unsere Aufgabe ist es, den Frieden zu bewahren»

Interview mit Carolus Wimmer, Venezuela*

Carolus Wimmer (Bild thk)
Carolus Wimmer (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie stellt sich die aktuelle Lage im Land dar?

Carolus Wimmer Nach 18 Jahren Bolivarischer Revolution geht der Kampf weiter. Die USA als imperialistische Kraft werden nicht zulassen, dass in ihrem Hinterhof unabhängige politische Prozesse vonstatten gehen. Teilweise haben sie Verluste erlitten, aber in letzter Zeit wieder an Boden gewonnen.

In welchen Staaten ist das der Fall?

Argentinien, Honduras, Brasilien, Paraguay. In Venezuela hat es noch nicht geklappt.

Warum nicht?

In Venezuela gibt es immer noch eine Mehrheit der Bevölkerung und der Streitkräfte, die hinter der Regierung Maduro und dem Chavismus stehen. Es ist etwas Besonderes, dass Venezuela dem standhält, aber der Druck auf das Land wird immer unerträglicher, denn die USA wollen die Bodenschätze dieses Landes. Deshalb versuchen sie mit allen Mitteln, auch indem sie faschistische Gruppen unterstützen, nicht nur die Regierung zu stürzen, sondern generell den ganzen Prozess rückgängig zu machen. 

Wie gehen sie dabei vor?

Sie wollen gar nicht, dass die Opposition an die Macht kommt. Was sie wollen, ist ein Failed State. Damit sie mit niemandem verhandeln müssen. Das birgt die Gefahr eines Bürgerkriegs, initiiert von den USA oder einer direkten Intervention oder indirekt über einen verbündeten Staat wie Kolumbien oder Peru. Eine andere Variante wird von Europa aus praktiziert über den ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero und den Vatikan in der Person des Papstes. Sie beschreiten den Weg des Dialoges zwischen der rechten Sozialdemokratie in der Regierungspartei und der rechten Sozialdemokratie in der Opposition. 

Wie stehen die Chancen?

Diese Bemühungen haben im Moment wenig Aussicht auf Erfolg. Die Opposition besteht aus 20 kleineren Gruppen. Die früher starken Parteien sind praktisch verschwunden. Die ganzen Aktionen, die jetzt durchgeführt werden, kontrolliert die Opposition nicht, denn es steckt sicher die US-amerikanische Botschaft dahinter. Ein dritter Weg ist die Revolution, denn es gibt eine grosse Anzahl von Venezolanern und Venezolanerinnen, die unter schwersten Bedingungen leben müssen, aber das bedeutet nicht, dass sie zu den Gegnern überlaufen, sondern sie verlangen mehr Revolution. 

Die meisten Medien in Europa berichten von friedlichen Protesten gegen die Regierung Maduro, die wiederum mit harter Hand gegen die Demonstranten vorgehen würde. 

Das Gegenteil ist der Fall. Es kommt eben darauf an, wie unabhängig die Medien sind. Wenn man bürgerliche Zeitungen nimmt, da gibt es eine Schlagzeile, die lesen Sie auf der ganzen Welt, egal ob Sie in Australien, Japan oder Argentinien sind, Sie finden dieselbe Schlagzeile. Es gibt keine Pressefreiheit mehr, bei der jede Zeitung ihre eigene Meinung hat. Es gibt nur noch das globale Denken der Medien, und sie versuchen immer wieder zu provozieren. Sie reden von einem Umsturz, den man ohne Volk, aber mit Hilfe der Uno legitimieren möchte. Es werden Sanktionen gegen die Regierung gefordert.

War das erfolgreich?

Venezuela wird immer wieder angeklagt, die Menschenrechte zu verletzen. Tatsache ist, dass Venezuela vor ein paar Wochen wieder in den Menschenrechtsrat der Uno gewählt wurde. Das bedeutet, über 130 Staaten vertrauen Venezuela beim Thema Menschenrechte. Die USA und einige europäische Länder, die Minderheit, sagen genau das Gegenteil. Genauso in der Organisation der Amerikanische Staaten (OAS), hier haben die USA 19-mal versucht, Sanktionen gegen Venezuela durchzusetzen. 19-mal bekamen sie keine Mehrheit. Das ist schon positiv zu bewerten, denn die OAS ist ein Instrument der USA, das 1962 gegen Kuba eingesetzt wurde. Selbst Länder, die weder revolutionär noch sozialistisch sind, machen jetzt diese Politik der USA nicht mehr mit.

Wie könnte die Regierung aus der schwierigen Situation herausfinden?

Wir müssen die Mehrheit der Bevölkerung auf unserer Seite behalten. Wir haben die zivile-militärische Einheit, die wir weiter bewahren müssen. Unsere Aufgabe ist es, den Frieden zu bewahren, das ist unsere Hauptaufgabe. Es muss, wie Hugo Chávez sagte, ein friedlicher Weg sein, aber wir müssten uns bewaffnen, sonst würden wir überrollt. Die Hauptidee ist der Frieden wie der Dialog, den Zapatero vorgeschlagen hat. Aber jetzt besteht die Gefahr, dass sämtliche Rechte der Menschen verloren gehen. Bei uns haben z. B. die Hausfrauen ein Recht auf Rente. Das passt natürlich nicht in das neoliberale Denken. Jeder Kapitalist sagt, die haben doch gar nicht gearbeitet. Auch der soziale Wohnungsbau wird weitergeführt – trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese sozialen Errungenschaften würden bei einem Regierungswechsel alle verloren gehen.

Was kann die sogenannte Opposition der Regierung anhaben?

Nach dem Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen forderte der damalige Parlamentspräsident den Sturz von Maduro. Das ist nicht die Aufgabe des Parlaments und kein politisches Programm. Zum Beispiel macht die Opposition einen Gesetzesentwurf – den der Präsident aber nicht unterschrieben hat –, eine Million Sozialwohnungen den Banken zu übergeben. Das bedeutet, den armen Leuten, die, um aus dem Elend und der Armut herauszukommen, aus den Elendsvierteln in eine bequeme Wohnung umziehen konnten, die im Durchschnitt 75 m2 hat und vollständig eingerichtet ist, wieder ihre Wohnungen wegzunehmen, wenn die Banken alles privatisierten. Das ist die Situation in Venezuela, wo wir das Errungene verteidigen müssen. Aber wir müssen auch weiterhin sehr selbstkritisch arbeiten. Es wurden Fehler gemacht, das ist logisch, die passieren, aber eines der Grundprinzipien ist, die volle Demokratie zu garantieren. 

Was geschieht bei der Abstimmung über die neue Verfassung?

Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung am 30. Juli hat das Volk die Möglichkeit, über die Zusammensetzung des Verfassungsrats zu entscheiden. Am Ende des Prozesses muss es über die neue Verfassung abstimmen. Ein ganz gewöhnlicher demokratischer Prozess. Letztlich entscheidet das Volk, welchen Weg es gehen will.

Wie ist die Stimmung im Volk? Steht die Mehrheit hinter Maduro?

Der Verlust bei den Parlamentswahlen ist Fakt. Es gibt Kritik, und man wollte der Regierung wohl einen Denkzettel verpassen. Es gab ein grosses Erstaunen über den Ausgang der Wahl. In der Politik muss man vorsichtig sein. Es ist nicht im Sinne der Mehrheit, dass alles noch viel schlechter wird, denn die Menschen wollen eine Verbesserung. Das ist wichtig. Die Zufriedenheit der Bevölkerung zu schaffen ist tägliche Arbeit. Dafür setzen wir uns ein. Es ist aber auch wichtig, dass man in anderen Ländern erklären kann, was sich in Venezuela abspielt. Deshalb bin ich durch Deutschland gereist.  

Herr Wimmer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Carolus Wimmer ist Venezolaner mit deutschen Wurzeln. Er ist Mitglied der kommunistischen Partei und internationaler Sekretär der KP Venezuelas. Er ist gewählter stellvertretender Abgeordneter des Bundestaates Trojillo und war in den letzten 10 Jahren zweimal Abgeordneter im Lateinamerikanischen Parlament.

Entwicklungszusammenarbeit – Vertrauen in den ganzen Staat und seine Institutionen

Berufsbildung schafft Perspektiven – Jahreskonferenz der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit DEZA/SECO

von Thomas Kaiser, Lausanne

Die Zahlen sind erschreckend: «Weltweit gibt es 260 Millionen junge Menschen, die keine Schulbildung haben.» Mit dieser Aussage unterstrich Bundesrat Johann Schneider-Amman an der Jahreskonferenz von DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) und SECO (Staatssekretariat für Wirtschaft) die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Bildung. Dabei hat sich die Schweiz im Schwerpunkt auf die Berufsbildung fokussiert. Bundesrat Schneider Ammann macht jedoch klar, dass ohne eine solide Grundbildung die Berufsbildung förmlich «in der Luft» hängt. Die Herausforderungen, die auf die Menschen in den betroffenen Ländern zukommen, aber auch auf die übrige Welt, sind immens.

Bundesrat Johann Schneider Ammann (Bild thk)

Bundesrat Johann Schneider Ammann (Bild thk)

Ngozi Okonjo Iweala, ehemalige nigerianische Finanz- und Aussenministerin (Bild thk)

Ngozi Okonjo Iweala, ehemalige nigerianische Finanz- und Aussenministerin (Bild thk)

Botschafter Manuel Sager (Bild thk)

Botschafter Manuel Sager (Bild thk)

 

80 Millionen junge Menschen ohne Arbeit

In den Staaten der Subsahara können gemäss dem Direktor der DEZA, Botschafter Manuel Sager, «60 % der Kinder auch nach 6 Jahren Schulbildung nicht lesen und schreiben», womit die Chancen auf eine Berufsbildung nur sehr gering sind. Weiter führte er aus: «300 Millionen Kinder von 7 bis 14 Jahren, die in der Subsahara leben, brauchen Arbeitsstellen, die es heute noch nicht gibt.» Schon die aktuellen Arbeitslosenzahlen sind erschreckend: «Bereits heute sind 80 Millionen junge Menschen zwischen 18 und 25 ohne Arbeit.» Wer sich wundert, warum täglich Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Menschen aus Afrika nach Europa drängen, darf neben anderen Gründen diese nicht ausser acht lassen. 

«Will man den Menschen vor Ort helfen – und das ist das Ziel der Entwicklungszusammenarbeit –  muss die Berufsbildung auf die Bedürfnisse der inländischen Wirtschaft ausgerichtet sein», erklärte Manuel ­Sager. Nur so könnten die Menschen, die eine Berufslehre abgeschlossen haben, in den Arbeitsprozess einsteigen und ein selbstbestimmtes Leben führen. Dass die Schweiz in dieser Beziehung viel zu bieten hat, ist offensichtlich. Eine Jugendarbeitslosigkeit ist in unserem Land sozusagen nicht vorhanden. Junge Menschen, die gut ausgebildet sind, finden eine Lehrstelle und nach erfolgreich abgeschlossener Lehre in der Regel eine Arbeitsstelle. Das Motto der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit: «ohne Entwicklung keinen Frieden, ohne Frieden keine Entwicklung», so Manuel Sager, müsse um den Zusatz «keine Entwicklung ohne Bildung» erweitert werden.

Berufsbildung ein Segen

Was in vielen Ländern auf der Welt als wahrer Segen empfunden wird, hat meist im eigenen Land einen schweren Stand. In vielen Fällen wird die Berufsbildung der akademischen Bildung untergeordnet, ohne sich dabei bewusst zu sein, welchen entscheidenden Beitrag das Handwerk für unser Gemeinwesen trägt.

Grosses Engagement zeigt die Schweiz in Burkina Faso, einem der ärmsten Länder der Welt. Sie hat hier besonders den Aufbau der Berufsbildung im Bereich des Handwerks, der Landwirtschaft, der Tierzucht und der Forstwirtschaft in die Wege geleitet. Ein junger Maurer, der an der Veranstaltung zu Gast war, brachte zum Ausdruck, welche Bedeutung diese Berufsausbildung für ihn hat. Als gelernter Maurer kann er heute sein eigenes Geschäft führen und sich so sein Geld verdienen sowie seiner Familie finanziell unter die Arme greifen. Er ist der Schweiz sehr dankbar für die von ihr geleistete Unterstützung. Welche Auswirkung das für den einzelnen hat und wie dies wiederum auf die Gesellschaft zurückwirkt, lässt sich an seinem Beispiel gut erkennen. 

Erdbebensicher bauen

Ein anderes Berufsbildungsprojekt, das an dieser Veranstaltung vorgestellt worden ist, wird in Nepal umgesetzt. Das Erdbeben vom April und Mai 2015 hinterliess im Land grosse Verwüstungen: 500 000 Häuser wurden zerstört und 280 000 beschädigt. Um die Häuser möglichst schnell wieder aufzubauen und den Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben, braucht es Maurer, Zimmerleute und anderes Baufachpersonal. Im Bausektor herrscht jedoch ein akuter Fachkräftemangel, bedingt durch die starke Abwanderung von nepalesischen Fachkräften in die Golfstaaten oder nach Malaysia. Den verbleibenden Handwerkern fehlt häufig das nötige Wissen, um im eigenen Land fachgerecht und erdbebensicher die Häuser wieder aufzubauen. Im Rahmen des DEZA-Projekts «Employment Fund» werden in den Regionen, die vom Erdbeben betroffen waren, 3000 Personen darin ausgebildet, wie man erdbebensicher baut. Insgesamt wurden dadurch 4000 Häuser neu erstellt. Die Schulung betrifft nicht nur das Erlernen der nötigen Fertigkeiten, sondern auch das Einhalten der Bauvorschriften sowie das erdbebensichere Bauen. Das Projekt unterstützt nicht nur beim Aufbau der eigenen Häuser, sondern soll den so ausgebildeten Menschen einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen.

Die Veranstaltung zeigt in eindrücklicher Art und Weise, wie die Schweiz mit ihrem dualen Berufsbildungskonzept mit kleinen Schritten Grosses bewirken kann, ohne alles an die «grosse Glocke» zu hängen. 

Schweiz geniesst grosses Vertrauen

Wie die Schweiz in der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen wird, brachte die ehemalige nigerianische Finanz- und Aussenministerin Ngozi Okonjo Iweala, die 25 Jahre bei der Weltbank gearbeitet hatte und während vier Jahren deren zweithöchstes Amt als Managing Direktor bekleidete, zum Ausdruck, indem sie die Bedeutung der Stabilität und Kontinuität des Staates hervorhob: Die Schweiz geniesse grosses Vertrauen in der afrikanischen Welt. In allen anderen Staaten sei es immer wichtig, zu wissen, wer der Präsident oder die Präsidentin des jeweiligen Staates sei, nicht so in der Schweiz. Niemand wisse, wie der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin heisse, das sei auch nicht wichtig, denn man habe Vertrauen in den ganzen Staat und seine Institutionen. 

Die Bedeutung des dualen Berufsbildungssystems der Schweiz für die Entwicklungszusammenarbeit

Interview mit Botschafter Manuel Sager, Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA)

Zeitgeschehen im Fokus Warum engagiert sich die Schweiz mit so grossem Einsatz für die Berufsbildung?

Botschafter Manuel Sager Es gibt weltweit über 80 Millionen junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren, die ohne Arbeit sind. In vielen Fällen sind sie nicht nur arbeitslos, sondern auch ohne Berufsaussichten. Dies ist oft ein Resultat mangelnder Ausbildung und mangelnder Qualifikation, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Aufgrund unserer Erfahrung in vielen Partnerländern sind wir der Überzeugung, dass junge Menschen durch unsere Berufsbildungskonzepte bessere Perspektiven erhalten.

In welcher Beziehung?

Das schweizerische duale Berufsbildungssystem, das massgeblich zu unserer tiefen Jugendarbeitslosigkeit beiträgt, hat weltweit einen guten Ruf. Zusätzlich haben wir in Ländern, in denen wir in diesem Bereich tätig sind, einen ausgezeichneten Leistungsausweis. 

Wie wirkt sich das positive Bild der Schweiz in der Entwicklungszusammenarbeit aus?

Zunächst einmal durch eine entsprechende Nachfrage in unseren Partnerländern. In vielen Fällen geht es aber zunächst darum, gesellschaftliche Vorurteile gegen die Berufsbildung abzubauen, denn Eltern sind oft der Meinung, ihr Kind müsse unbedingt an die Universität. Ein gutes Konzept allein reicht deshalb häufig nicht, man muss auch kulturelle Hürden überwinden. 

Wie entsteht die engere Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten? Wendet sich die Schweiz an andere Staaten oder umgekehrt?

Wir gehen nicht auf Werbetour, sondern konzentrieren uns grundsätzlich auf unsere Schwerpunktländer oder Schwerpunktregionen. Im Süden sind das 21 Länder und Regionen. In diesen führen wir mit den Regierungen und anderen Akteuren z. B. aus der Zivilgesellschaft einen Dialog, um gemeinsam die Bedürfnisse des Landes zu identifizieren. Wir arbeiten dann in Bereichen, in denen wir einen Mehrwert bieten können. So zum Beispiel in der Berufsbildung. 

Sind auch andere Länder in der Berufsbildung aktiv, oder ist die Schweiz hier Vorreiter?

Deutschland ist in diesem Bereich ebenfalls engagiert. Beiden Ländern geht es vor allem um das duale Konzept, bestehend aus praktischer Ausbildung und theoretischer Schulung. Das ist klar unsere Spezialität. Es gibt natürlich auch andere Entwicklungsagenturen, die Berufsbildungsprogramme anbieten, aber hier geht es meistens um sogenannte Anlehren. 

Lässt sich solch ein Erfolg überhaupt messen?

Ja, sicher. Früher war man in der Zielsetzung eher bescheiden. In einem Grundbildungsprojekt konnte z. B. das Ziel darin bestehen, 5000 Kindern die Möglichkeit zu bieten, eine Schule zu besuchen. Damit ist aber über den Erfolg des Projekts noch nichts ausgesagt. Wichtiger ist zu wissen, was die Kinder tatsächlich gelernt haben und wie sich ihr Leben dadurch verändert hat. Wenn sie zwar Rechnen, Schreiben, Lesen gelernt haben, aber später keine Arbeit finden, so ist das bestenfalls ein Teilerfolg, denn das Projekt hat zumindest unmittelbar wenig zur Verbesserung ihrer Situation beigetragen. Durch Langzeitbeobachtungen versuchen wir herauszufinden, ob z. B. ein Abgänger einer Berufsschule nach einer bestimmten Zeit eine Stelle im erlernten Beruf gefunden hat. Wir wollen ja nicht nur Projekte umsetzen – wir wollen Leben positiv beeinflussen.  

Herr Direktor Sager, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Niemand will Französisch abschaffen»

Interview mit Nationalrätin Verena Herzog

Nationalrätin Verena Herzog, SVP/TG (Bild thk)
Nationalrätin Verena Herzog, SVP/TG (Bild thk)

Die Einführung von zwei Fremdsprachen auf der Primarschulstufe war ein folgenschwerer Reformschritt, weil dies auf Kosten ganz wichtiger Grundlagenfächer geschah und keine offizielle Evaluation über den Erfolg oder Misserfolg dieser Massnahme erhoben wurde. Der Versuch im Kanton Thurgau, diese Entwicklung zu stoppen, ist letztlich im Kantonsparlament gescheitert. Im folgenden Interview legt Nationalrätin Verena Herzog, die damals als Kantonsrätin mit ihrem politischen Vorstoss «Französisch erst auf der Sekundarstufe» ein nationales Erdbeben ausgelöst hat, ihre Sicht der Dinge dar.

Zeitgeschehen im Fokus Wo sehen Sie heute Ursachen für das ständige Sinken des Bildungsniveaus? 

Nationalrätin Verena Herzog Ich sehe zwei Hauptursachen. Erstens die immer grösser werdende Heterogenität in den Schulklassen. Die Integration möglichst aller Kinder, besonders der vielen verhaltensauffälligen, der steigende Anteil fremdsprachiger Kinder und andererseits die Anspruchshaltung einzelner Eltern, auf Biegen und Brechen aus jedem Kind einen Star heranzuzüchten, ist eine riesige Herausforderung für Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler. 

Zweitens erschwert der überfrachtete, immer praxisfernere Unterricht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Durch immer mehr Schulstoff, der in immer kürzerer Zeit vermittelt werden muss (5-Tage-Woche, Blockzeiten), fehlt die notwendige Zeit, den Stoff einzuüben und zu verarbeiten. Sogenannt modernen, allerdings häufig umstrittenen, gesellschaftlichen oder schulpolitischen Entwicklungen will in der Schule Rechnung getragen werden und das auf Kosten der Grundlagenfächer. Durch das «von allem nur ein bisschen und nichts mehr richtig» wird nur oberflächlich gelernt, und es bleibt zu wenig im Langzeitgedächtnis haften. So werden auch von Lehrlingsausbildnern und weiterführenden Schulen seit Jahren die mangelnden Grundlagen in Deutsch, vor allem in der Rechtschreibung, und die eklatanten Lücken in der Allgemeinbildung der Schulabgänger bemängelt.

Das betrifft auch den Fremdsprachenunterricht?

Ja, begonnen hat das mit der Forderung des damaligen Zürcher Bildungsdirektors Ernst Buschor, nebst Französisch ab der fünften auch noch Englisch bereits ab der zweiten Klasse der Primarschule zu unterrichten. Dadurch wurde eine noch grössere Verzettelung der Kräfte ausgelöst. Was hier an Geldern aufgewendet werden musste, entbehrt jeder Verhältnismässigkeit. Buschors Vorgehen erinnert an das Verhalten eines Kindes, das ohne rechts und links zu schauen blindlings über die Strasse auf sein Ziel hin rennt. Ein Unfall ist vorprogrammiert…

Sie haben versucht, etwas mehr Realität in den Fremdsprachenunterricht zu bringen, was auf heftigsten Widerstand gestossen ist. Was war ihr Gedanke bei der Verschiebung des Französischunterrichts auf die Sekundarstufe?

Bildungspolitiker respektive die EDK sind der angeblich wissenschaftlich gestützten These «je früher, desto besser» erlegen, der Illusion, es sei einfacher für die Kinder, früh eine Fremdsprache zu erlernen. In der Zwischenzeit weiss man längst: Das «Je früher, desto besser» gilt nur mit gleichzeitig «je höher die Intensität». Davon profitieren z. B. Kinder, die zweisprachig aufwachsen. Mit zwei Lektionen pro Woche auf der Primarschulstufe ist die notwendige Intensität jedoch überhaupt nicht gewährleistet. Ein solches Konzept ist erwiesenermassen zum Scheitern verurteilt. Dazu kommt noch die Herausforderung durch die vielen Migrantenkinder. Für sie ist es oft die vierte oder fünfte Sprache, die sie lernen müssen.

Was wäre anders, wenn man den Französischunterricht wieder auf die Oberstufe konzentriert hätte? Was wäre der Vorteil?

Wesentlich beim Spracherwerb ist eine gute Grundlage in der Erstsprache, bei uns also Deutsch. Wer die Erstsprache gut beherrscht, kann leichter darauf aufbauen. Auf der Sek-Stufe kann zudem analytischer gelehrt und gelernt und mit ganz anderen Lerntechniken als noch auf Primarstufe die Sprache viel effizienter aufgebaut und vermittelt werden. Die fünf Wochenlektionen in drei Jahren Oberstufe wären sinnvoller eingesetzt als über 6 Jahre auf die ganze Volksschulzeit verteilt. Ein ganz wichtiger Motivationsfaktor für das Erlernen des Französischen ist zudem der Austausch zwischen den Westschweizer und unseren Jugendlichen, sei es mit Briefen oder in direktem Kontakt. Der praktische Nutzen des Französischen soll erlebt werden. Gegenseitige Sprachaufenthalte sind im Sekundarschulalter einfacher realisierbar. Gleichzeitig lernen die Jugendlichen dadurch auch Land, Kultur und Leute kennen und sind viel motivierter, Französisch zu lernen.

Im Thurgau haben Sie, damals noch als Kantonsrätin, versucht, das mit einer Motion zu ändern. Eine erste erfolgreiche Zustimmung wurde jedoch durch eine neue Motion torpediert und ist leider in der Zweitlesung im Kantonsrat doch noch gescheitert, obwohl zunächst eine Mehrheit Ihrer Argumentation gefolgt war. Was sind die Gründe für die überraschende Kehrtwende?

Zum einen war es ein Taktieren unserer SVP-Regierungsrätin, indem sie die zweite Abstimmung hinausgeschoben hat, um ja nicht die Zürcher Volksabstimmung mit ähnlichem Thema positiv beeinflussen zu können. Zum anderen wurden «Zückerli» verteilt. Ein Punkt war, dass sie offerierte, künftig auf der Primarschulstufe Kinder noch einfacher vom Französischunterricht zu dispensieren. Das geht in eine völlig falsche Richtung, denn die Primarschule hat den Auftrag, allen die gleich gute Grundlage zu bieten. Wenn ausgerechnet die weniger Leistungsfähigen ab der fünften Klasse vom Frühfranzösisch dispensiert werden, dann können sie später kaum mehr den Anschluss finden. Zweitens wurde mehr Halbklassenunterricht angekündigt, der sicher von Vorteil ist. Doch wenn er kostenneutral sein muss, wie von der Regierungsrätin angepriesen, dann fragt sich, auf wessen Kosten. Vermutlich einmal mehr auf Kosten des Werkunterrichts, und das ist fatal. Der dritte Punkt kann als ein kleiner Erfolg der Motion verbucht werden: Sprachfächer sollen für den Übertritt in die Sekundar- respektive Kantonsschule weniger gewichtet werden und somit die Buben weniger benachteiligen. 

Die Kritik an Ihrer Motion war gross, sie würde die Kohäsion des Landes gefährden, war der Vorwurf. Die Welschen haben reagiert. Vom Sprachenstreit usw. war die Rede, der Bundesrat hat sogar gedroht, sich einzumischen, obwohl Bildung der Kantonshoheit unterliegt.

Das waren vor allem die Medien, die dem Welschland fatalerweise vermittelt haben, der Thurgau wolle kein Französisch mehr. Das ist reiner Unsinn und ist völlig falsch verstanden worden. Nie hat irgendjemand geäussert, der Thurgau wolle das Französisch abschaffen. Die Diskussion war auf eine rein emotionale Ebene abgeglitten, die taub und blind für die sachlichen Argumente machte. Dass die Westschweizer Bevölkerung als sprachliche Minderheit mit Emotionen darauf reagierte, kann ich noch verstehen. Dass aber Bildungspolitiker mit einem Scheuklappenblick die pädagogischen Aspekte und unser Ziel, ein besseres Deutsch UND ein besseres Französisch zu erreichen, einfach ausblenden, ist nicht nachvollziehbar. Entweder hat man es nicht verstehen wollen, oder man hat nicht richtig zugehört. Der Thurgau beabsichtigte lediglich, der erwiesenermassen ineffizienten Vermittlung von Fremdsprachen in der Primarschule adieu zu sagen. 

Das bessere Französisch wäre zu erreichen…

…mit einer besseren Grundlage in der Erstsprache Deutsch und mehr Lektionen zum richtigen Zeitpunkt, um mit effizienteren Methoden arbeiten zu können.

Ursprünglich plante die Regierung, für die Sekundarstufe gesamthaft genau gleich viele Lektionen für den Französischunterricht einzusetzen wie heute inklusive der zwei Primarschuljahre. Analytischere Lernmethoden, die im Sekundarschulalter anwendbar sind, würden jedoch erlauben, den Unterricht von 5 Lektionen pro Woche verteilt auf drei Schuljahre auf 4 Lektionen pro Woche zu reduzieren.

Das hätte man doch unbedingt ausprobieren müssen.

Ja, eigentlich hätte der Thurgau die Chance erhalten müssen, diese clevere Idee umzusetzen. Der Versuch hätte von Bildungsforschern begleitet und sorgfältig ausgewertet und mit verschiedenen Fremdsprachenmodellen verglichen werden müssen. Ich bin überzeugt, mit diesem Modell und zusätzlichem Sprachaustausch würde ein besseres Resultat sowohl in der deutschen Sprache als auch im Französisch erreicht. 

Gibt es keine Untersuchungen über die Effizienz des Frühfranzösischunterrichts?

Es gibt verschiedene Untersuchungen, die sich mit dem Lernerfolg des Frühfranzösisch befassen. Die neuste kommt aus dem Kanton Baselland mit Kindern, die vier Jahre lang ab der dritten Klasse in Frühfranzösisch unterrichtet worden sind. Von 50 befragten Sekundarlehrern im Kanton Baselland beurteilten 97 % das Resultat als sehr bescheiden. Die Kinder seien nicht einmal in der Lage, einen einfachen Satz richtig zu formulieren. In der Zentralschweiz gibt es ebenfalls eine Untersuchung, die besagt, dass nur ein Drittel der Sechstklässler die einfachen Lernziele im Französisch in den Bereichen Sprechen, Hörverständnis und Schreiben erreichen. Und auch die Zürcher Wissenschaftlerin Simone Pfenninger kommt in ihrer fünfjährigen Langzeitstudie zu brisanten Ergebnissen bezüglich des Nutzens eines frühen Beginns des Fremdsprachenunterrichts. Wie viele Studien vor ihr bestätigt sie, dass ein früher Start kein Vorteil ist und Schüler, die ein paar Jahre später mit dem Fremdsprachenlernen beginnen, die Frühstarter relativ schnell einholen. «Das heutige Kurzfutterkonzept mit rund zwei Wochenlektionen in der Primarschule pro Sprache ist zum Scheitern verurteilt», äusserte sie auch gegenüber dem Tagesanzeiger. Fazit: Aufwand und Ertrag stehen in einem katastrophalen Verhältnis zueinander. Die Übungsanlage des frühen Fremdsprachenunterrichts müsste längst abgebrochen sein.

Schafft der Lehrplan 21 hier Abhilfe?

Nein, im Gegenteil. Die Stundentafel wird zum Beispiel durch das neue Schulfach «Medien und Informatik», das auf dieser Stufe ebenfalls sehr fragwürdig und wenig sinnvoll ist, zusätzlich belastet. Dadurch wird im Thurgau in der Primarschule bei verbleibenden zwei Fremdsprachen einerseits in der fünften Klasse eine Lektion Werken gestrichen, obwohl der Werkunterricht für die Feinmotorik, das dreidimensionale Denken und kreative Gestalten von grosser Bedeutung ist, und zwar unabhängig davon, ob später ein Handwerkerberuf ergriffen oder eine Ausbildung als Zahnärztin, Ingenieur, Architektin absolviert oder ein anderer Beruf gelernt wird. Exaktes Arbeiten, räumliches Denken, Umgang mit Werkzeugen sind ganz wichtige Lerninhalte, die in diesem Fach vermittelt werden. Das scheint heute alles nicht mehr wichtig. Zusätzlich wird dem neuen Fach «Informatik und neue Medien» in der fünften und sechsten Klasse eine Lektion Deutsch geopfert. Das ist ein kurzsichtiger Schritt. Fehlen die Grundlagen in der Erstsprache, kann kaum erfolgreich eine Zweitsprache gelernt werden. Ich habe hier grösste Bedenken.

Frau Nationalrätin Herzog, herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Wohin steuern unsere Schulen?

von Dr. phil. Alfred Burger

Kürzlich hat Stefan Wolters, Bildungsforscher des Bundes, höhere Schülerzahlen prognostiziert und nebenbei die Digitalisierung der Schulen als Chance für die Weiterentwicklung unserer Schulen erwähnt, damit Lehrer entlastet werden können. Landauf landab wird diese Digitalisierung der Schulen breit propagiert. Ganz klar ist, wir brauchen den Computer, wir können ohne ihn nicht mehr auskommen. Die Frage ist nur, ab wann soll er eingesetzt werden. Soll er schon in der Schule zum Einsatz kommen?

Die bis anhin unüberlegte Antwort ist: möglichst früh, schon im Kindergarten. Kritik an dieser ganzen Strategie hört man kaum. Wer es dennoch wagt, wird bald als Ewiggestriger abgestempelt. Die Schulen rüsten auf: Millionen an Steuergeldern fliessen in den Kauf von Tablets, Computern, Programmen, elektronischen Wandtafeln und anderem mehr. In Zukunft sollen offensichtlich intelligente Programme den individuellen Stand der Kinder erkennen und ihnen geeignete Lernprogramme zur Verfügung stellen. Die Schüler sitzen demnach vor ihren Computern und werden gesteuert und überwacht durch sogenannte Algorithmen, die den individuellen Stand jedes einzelnen genau kennen. Digitaler Unterricht bedeutet einen Schritt in Richtung «Schule ohne Lehrer». Sie sollen durch autonome Digitaltechnik ersetzt und zu Lernbegleitern degradiert werden. 

Neue Lehrpläne im Dienst des «big bussines»

Dafür ist die Einführung von neuen Lehrplänen wie z. B. dem Lehrplan 21 von entscheidender Bedeutung. Die neuen Lehrpläne zerhacken nämlich den Bildungsstoff in unzählige genau überprüfbare Kompetenzen. Diese sind durch den Computer erfassbar und erlauben eine genaue Steuerung der einzelnen Kinder. Was das mit Bildung zu tun hat, ist zwar einem normalen Bürger nicht einsichtig. Hinter den ganzen Reformbestrebungen stehen eben keine Erzieher oder Pädagogen oder Eltern, sondern Vertreter der Wirtschaftsvereinigung OECD und mit ihr das «big business». Die aktuellen Reformen in den Schulen sind von Wirtschaftsinteressen geleitet, was es schwierig macht, dagegen etwas zu sagen, da immer gleich das Argument der Wirtschaft ins Feld geführt wird. Die sogenannte Wirtschaft ist zur heiligen Kuh in der Schweiz geworden – Politik, Flughafen, Landwirtschaft, Gesundheit, Schulen, Verkehr usw. alles soll sich der globalisierten Wirtschaft unterordnen. Der Zugriff der grossen Computerfirmen und der sozialen Netzwerke auf unsere Schulen erstaunt darum nicht. Es warten Milliardengewinne. Will man sich ein Bild vom Nutzen der Digitalisierung in den Schulen machen, lohnt sich ein Blick ins Ausland. Unsere Bildungspolitiker, die unsere Schulen so unbedingt digitalisieren wollen, sollten ihre Position vielleicht einmal überdenken.  

Laptops im Unterricht – ein Flop

In Australien, den USA, auch in Thailand und in der Türkei wurde schon vor Jahren der Unterricht auf Tablets umgestellt und entsprechende Erfahrungen liegen vor. Sie sind ernüchternd. 2012 wurden in Australien 2,4 Millionen australische Dollars in Laptops für Schulen investiert. Ab 2016 wurden sie wieder eingesammelt: Die Schüler hatten alles andere gemacht, nur nicht gelernt. Nach Andreas Schleicher, Chef des Pisa Programms, schadet Technologie an den Schulen mehr als sie nützt. Es gibt international eine Unmenge von Untersuchungen, die alle besagen, dass die Kinder mit den Computern schlechter lernen. Diese Untersuchungen bräuchte es aber gar nicht, um zu verstehen, dass die Computerisierung des Unterrichtes ein gutes Geschäft ist, aber den Kindern ausser Schäden nichts bringt. 

Lernen – ein zwischenmenschliches Geschehen

Lernen ist ein zwischenmenschliches Geschehen. Das Kind lernt im Kontakt mit den Eltern, später mit Lehrern. Das Lernen ist ausgerichtet auf andere Menschen, ohne das macht das Lernen für ein kleines Kind keinen Sinn. Wenn es älter wird, steht das Gegenüber zwar nicht mehr so sehr im Vordergrund, aber auch Erwachsene – Studenten beispielsweise – lernen besser im Kontakt mit anderen Menschen. Man erinnere sich an das teure Experiment mit Sprachlabors. Sie wurden alle weggeworfen, weil kein Kind auf die Dauer sich angesprochen fühlte, in ein Mikrofon hineinzusprechen, wobei es von niemandem gehört wurde. Wie früher von den Sprachlabors sind heute alle fasziniert vom Bildschirm. Aber wie lange wird es dauern, bis kein Kind mehr mit einem Bildschirm kommunizieren und lieber in Zusammenarbeit mit seinem Lehrer und den Mitschülern lernen will? Wozu also Millionen von Steuerfranken aus dem Fenster werfen, wo doch jeder Mensch weiss, dass Kinder zuerst vor allem für ihren Lehrer lernen und erst im Laufe ihrer Entwicklung zu mehr selbständigem Lernen kommen? Viele Fachleute sind der Ansicht, dass vor dem 12. Altersjahr der Computer nichts in der Schule zu suchen hat. Wozu soll man denn überhaupt alleine lernen, wo doch das Lernen im Verbund viel natürlicher, interessanter und lustiger ist? Will man uns etwa vereinzeln, damit wir dereinst als gefügige Konsumenten genau das machen, was grosse Konzerne wie «Google», «Facebook» usw. wollen? 

Handel mit persönlichen Daten – ein Milliardengeschäft

Der Handel mit persönlichen Daten für das Wecken von Konsumbedürfnissen wird als das Gold des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Heute schon ist der Handel mit Informationen aus den sozialen Medien ein Milliardengeschäft. Mit dem Tablet in den Schulen wird die Privatsphäre der Kinder abgeschafft, ihre Bedürfnisse und Wünsche mit ausgeklügelten Programmen erfasst und gesteuert. Der Verdacht ist somit nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Wirtschaftszweig die Digitalisierung der Schulen vor allem aus finanziellen Gründen vorantreiben will. Daneben stehen private Firmen bereit, die ihre Software anbieten und nach und nach auch vorgeben werden, was gelernt wird. Amerikanische Verhältnisse sind darum auch bei uns nicht mehr weit, wo private Firmen wie «Edison» Hunderttausenden von Volksschülern das Lehrmaterial, die Lehrer, die Schulhäuser bis hin zur Pausenverpflegung zur Verfügung stellen und selbstverständlich auch die Lehrinhalte bestimmen. Wollen wir unsere Kinder für so etwas hergeben?

«Sie sollen unabhängig werden – Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, was wir ihnen vermitteln wollen»

Wie ein Schweizer Bauer sein Wissen Bauern in Siebenbürgen weitergibt

von Henriette Hanke Güttinger und Susanne Lienhard

Gheorgheni liegt in den Ostkarpaten, in Siebenbürgen im Osten Rumäniens rund 400 bis 600  km von der ukrainischen Grenze entfernt. Die Landschaft gleicht derjenigen des Toggenburgs und des Appenzellerlandes. Eine wunderschöne grüne Hügellandschaft, die während des zweiten Weltkriegs für den Ackerbau terrassiert worden war. Heute liegen viele grosse Ländereien brach, die im Zuge der kommunistischen Kollektivierung der Landwirtschaft zuletzt unter Nicolae Ceaușescu (1965–1989) enteignet worden waren. Die ansässigen Kleinbauern verfügen nicht über das nötige Geld, um sich die Ländereien zu kaufen. Westliche mit EU-Fördergeldern subventionierte Grossinvestoren hingegen bewirtschaften dort Zehntausende von Hektaren, beuten den Boden aus, bis nichts mehr wächst, und ziehen dann wieder ab. Die ansässige Bevölkerung gewinnt davon gar nichts, ganz im Gegenteil. «Das ist ungerecht», sagt der Landwirt Köbi Sturzenegger aus Neubrunn, der sich, seitdem er seinen Hof in Seelmatten seiner jüngsten Tochter übergeben hat, ehrenamtlich im Rahmen eines Projektes des «mythen-fonds»1 für Kleinbauernfamilien in Siebenbürgen engagiert. Er hat uns in einem ausführlichen Gespräch Einblick in seine Tätigkeit gegeben.

Köbi Sturzenegger ist mit Leib und Seele Bauer. Ein Leben ohne Tiere kann er sich nicht vorstellen. Er erzählt, dass ihm die Hofübergabe vor zwei Jahren nicht leichtgefallen sei. Obwohl er sich gefreut habe, dass er ihn seiner Tochter übergeben durfte, habe er am neuen Ort einfach nicht mehr schlafen können. Eines Abends habe er dann an einem Vortrag über das landwirtschaftliche Hilfsprojekt in Rumänien erfahren, dass der Projektleiter einen Klauenschneider suche, der den rumänischen Bauern die richtige Klauenpflege zeigen könne. Köbi Sturzenegger erinnert sich: «Meine Kollegen waren der Meinung, dass ich der richtige Mann dafür sei und ermunterten mich, mich zu melden. Ich gab meine Adresse. Das war an einem Mittwoch, und bereits am folgenden Samstag rief mich der Projektleiter Koni Suter an und sagte: ‹Köbi, mir gönd i 14 Tag. › Ich antwortete: ‹Ja, isch guet. Ich chume mit.›» Köbi Sturzenegger hat seinen damaligen Entscheid keine Sekunde bereut: «Das, was ich den Bergbauern in Siebenbürgen weitergebe, meine Erfahrung als Landwirt und Klauenschneider, bekomme ich tausendfach zurück in Form von menschlicher Wertschätzung und einer warmherzigen Gastfreundschaft, die mich jedes Mal sehr berührt. Ich habe anderes gesehen, anders gedacht und der Kontakt mit den Leuten hat mir wahnsinnig gutgetan. Als ich nach Rumänien kam, war es mit den Schlafproblemen vorbei.»

Köbi Sturzenegger zeigt den interessierten Siebenbürgner Bauern, wie man die Klauen einer Kuh fachgerecht schneidet. (Bild zvg)

Köbi Sturzenegger zeigt den interessierten Siebenbürgner Bauern, wie man die Klauen einer Kuh fachgerecht schneidet. (Bild zvg)

 

Herzlicher Empfang und Gastfreundschaft

Köbi Sturzenegger erzählt, wie er in Rumänien empfangen wurde: «Ich kam auf einen Hof, die hatten vier Kühe. Zwei Familien lebten davon, Vater, Mutter, Sohn und dessen Frau. Sie haben einen grossen Gemüsegarten, zwei, drei Äckerlein, wo sie Getreide anbauen zum Brotbacken, und etwas Wiese für ihre Kühe. Der Bauer zeigte uns den Betrieb. Alle zwei Tage können sie von der Milch ein Käsli machen und vom Rahm etwas Butter für aufs Brot. Sonst leben sie nur von dem Gemüse, das sie ziehen. Die Frau brachte aus dem Brotbackofen im Garten ein frisch gebackenes Brot und fragte uns, ob wir ein Stück davon haben möchten. Im ersten Moment dachte ich, nein, das kann ich nicht annehmen, ich weiss ja, wie arm die Familie ist. Doch mein Dolmetscher sagte: ‹Jetzt müsst ihr ja sagen, ihr müsst nehmen.› Dann hat sie das Brot angeschnitten. Also das ist ein Traum, wie gut das Brot ist! Sie tun Kartoffeln rein, damit es länger frisch bleibt. Auch ihre Vorratskammern sind eine Augenweide», fährt Köbi Sturzenegger fort: «Eingemachte Peperoni, die gibt es zu jedem Essen, Bohnen, Gurken und Kraut, süss oder sauer. Die Frauen kochen einfach mit Liebe. Sorgfältig wird alles, was die Natur gibt, verwertet: Hagenbuttenkonfitüre – sie haben 200 kg Hagenbutten zusammengelesen, um Konfitüre zu machen. Sie kochen sie und müssen dann noch die Kernchen herausnehmen.»

Köbi Sturzenegger: «Das, was ich den Bergbauern in Siebenbürgen weitergebe, bekomme ich tausendfach zurück in Form von menschlicher Wertschätzung und einer warmherzigen Gastfreundschaft.» (Bild zvg)

Köbi Sturzenegger: «Das, was ich den Bergbauern in Siebenbürgen weitergebe, bekomme ich tausendfach zurück in Form von menschlicher Wertschätzung und einer warmherzigen Gastfreundschaft.» (Bild zvg)

 

Wenn Köbi Sturzenegger erzählt, merkt man, dass ihn die Gastfreundschaft dieser armen Bergbauernfamilie zutiefst berührt. Er sagt dann auch: «Das ist das, was mich noch mehr motiviert, dort zu helfen. Es ist etwas ganz anderes als Migros und Coop, die zum Beispiel zwei Schweizer unterstützen, die dort auf 10 000 Hektaren Angusrinder halten und das Fleisch dann unter anderem in die Schweiz exportieren. Dieser ‹Karpaten Meat›-Betrieb, wie er sich nennt, bekommt rund 1 Million EU-Fördergelder. Aber die Armen da unten bekommen nichts. Die haben einfach nichts. Das ist nicht in Ordnung.»

Der erste Klauenschneide-Kurs

An Ostern 2015 hat Köbi Sturzenegger in einem ersten Kurs sieben Bauern gezeigt, wie man die Klauen einer Kuh fachgerecht schneidet. Dies ist von zentraler Bedeutung, da die Tiere sonst Gelenkprobleme entwickeln und allenfalls geschlachtet werden müssen. Ihm macht es sichtlich Freude, seine reiche Erfahrung als Klauenschneider den Kursteilnehmern weiterzugeben. Bis zum heutigen Tag hat er in der Schweiz rund 168 000 Kühen die Klauen geschnitten. Er erklärt uns anhand von Fotos, wie er den Bauern zuerst an einem Kuhbein aus dem Schlachthof die Theorie erklärt, um sie dann an verschiedenen Totenbeinen selber üben zu lassen. In einem nächsten Schritt können sie dann ihre Kühe bringen. «Ich frage dann, wer den Mut hat, die Klauen zu schneiden, und zeige, wie man ohne Klauenstand die Kuh dazu bringt, das Bein zu heben. Die Teilnehmer sind topinteressiert, wenn man ihnen etwas mitteilt», meint Köbi Sturzenegger. 

Im letzten August wandten sich dann einige Bauern an ihn, da sie auf den Alpen mit den Kühen Probleme hatten. Sie erzählten, die Kühe könnten plötzlich nicht mehr gehen, unabhängig davon, ob die Klauen geschnitten seien oder nicht. Köbi Sturzenegger schlug vor, einen Kurs auf der Alp zu organisieren. Er schaute sich die Tiere an und fand tatsächlich eine Kuh, die sehr schlecht ging. Er schlug vor, diese Kuh hinunter zu nehmen. Der Hirte sagte: «Nein, nein, die hat nichts an den Füssen, der fehlt es in den Hüften.» Köbi Sturzenegger war mit dieser Diagnose nicht einverstanden. Er sah, dass der Bauer sich etwas schämte, überzeugte ihn aber, die Kuh gemeinsam anzuschauen. Sie stellten fest, dass eine Klaue innen ganz wund war. Er zeigte ihnen, wie man an die gesunde Klaue einen Holzklotz leimen kann, um den bösen Fuss zu entlasten. Der Holzklotz wird nach ungefähr 6 Wochen von selber abfallen und die Kuh wird dann wieder normal laufen. Am Schluss des Kurses mussten alle sagen, was ihnen am besten gefallen hat. Eine Frau sagte, sie hätte an Köbi am meisten Freude gehabt, weil er so unkompliziert in kurzen Hosen diese Kuh behandelt habe. Zum Dank, weil er die Kuh «geflickt» hatte, durfte er sich am Brunnen, an dem Heilwasser fliesst, waschen. Dort darf sich normalerweise niemand waschen, nur wer ihren Tieren etwas Gutes tut.

Der erste Tierpflegekurs

Man könnte Köbi Sturzenegger stundenlang zuhören, wenn er von seiner Arbeit in Siebenbürgen erzählt. Er fährt fort: «Im ersten Tierpflegekurs gab es eine magere Kuh mit einem ganz strubeligen Fell. Die Bauern waren sich einig, dass sie krank sei. Ich sagte, schaut einmal ihr schönes glänzendes nach aussen gewölbtes Auge an, die kann nicht krank sein. Ich nahm Striegel und Bürste und putzte die Kuh, wie man ein Pferd striegelt. Je mehr ich geputzt hatte, desto mehr glänzte die Kuh und desto mehr strahlten die Leute: ‹Du hast recht, diese Kuh ist nicht krank, sie ist kerngesund›, stellten sie fest. Das ist eben die Erfahrung, die man als Bauer hat, was man weiss, das kann man weitergeben. Heute gibt es in Rumänien noch keine Landwirtschaftsschulen, und es fehlen die Erfahrungen einer ganzen bäuerlichen Generation. Nicolae Ceaușescu hat diesen Buben, die heute Männer sind, die Grossväter weggenommen. Diejenigen, die ihr Land nicht hergegeben haben, hat er eingezogen und umgebracht. Die Grossmütter haben dann die Kinder aufgezogen und ihnen mitgegeben, was sie noch wussten. Viele Erfahrungen sind so verloren gegangen. Aber wie wäre es bei uns, wenn wir keine Schulen hätten und wir von unseren Vätern und Grossvätern nicht hätten lernen können? Um die Tiergesundheit zu verbessern, haben wir den Bauern dann auch gezeigt, wie sie ihre Ställe so umbauen können, dass die Kühe nicht in ihrem Kot liegen müssen. Wir lehrten sie, einen Absatz zu betonieren, damit die Kühe etwas höher stehen und die Liegeflächen vom Kot getrennt sind.»

Praktika in der Schweiz

Ziel aller Kurse ist es, in allen Bereichen immer wieder jemanden nachzunehmen, der das später weitergeben kann. So wird nun ein junger Bauer in die Schweiz kommen, um zu lernen, wie man den Melkmaschinenservice macht. Köbi Sturzenegger bestätigt: «Sie sollen unabhängig werden – Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, was wir ihnen vermitteln wollen.»

Wer ein Praktikum in der Schweiz machen kann, bereitet sich in einem sechswöchigen Deutschkurs darauf vor. Ehrenamtliche Mitarbeiter bringen ihnen die notwendigen Deutschkenntnisse bei, damit sie von den Praktika möglichst viel profitieren können. «Deutschlehrer sind übrigens bei uns stets willkommen», fügt Köbi Sturzenegger schmunzelnd hinzu.

2011 hatte der Projektleiter Koni Suter als gelernter Käser und Käsereiinspektor im Kanton Schwyz die Arbeit in Siebenbürgen aufgenommen. Er hatte zusammen mit der örtlichen Agro Caritas eine Lehrkäserei aufgebaut, wo die Bauern lernen konnten, einen einfachen Alpkäse herzustellen, den sie dann auf dem Markt verkaufen konnten. Der Käser, der jetzt dort arbeitet und die Milch des Agro-Caritasbetriebs und der umliegenden Betriebe verkäst, war auch für drei Monate in einem Praktikum in der Innerschweiz und lernte dort käsen. Heute macht er einen hervorragenden Käse, den er auf dem Markt für 14 Franken das Kilo verkaufen kann. Für einen Liter Milch bekäme er lediglich 21 Rappen. Köbi Sturzenegger rechnet vor: «Von einem Liter Milch gibt es ja nur 10 Prozent Käse. Der Rest ist Schotte. Wenn man jetzt die Wertschöpfung ausrechnet, wenn er 100 Liter Milch verkäst und 10 Kilo Käse bekommt und im Reifezustand die 10 Kilo für 140 Franken verkaufen kann, ist das doch ein riesen Unterschied. Für 100 Liter Milch gäbe es nur 21 Franken. Diese Wertschöpfung wollen wir ihnen ermöglichen.»

Auch im Bereich des Klauenschneidens wird Köbi Sturzenegger einen jungen Bauern nachziehen, der alle Kurse mitgemacht hat und ihm von Anfang an aufgefallen ist: «Man merkt, dass er das Handling hat. Er hat nur zwei Kühe und Zeit. Es ist mein Ziel, dass er eines Tages meine Kurse geben kann.»

Landwirtschaftliche Genossenschaft Oltárkö

Die sieben Projektverantwortlichen aus der Schweiz haben ihren rumänischen Berufskollegen auch geholfen, eine landwirtschaftliche Genossenschaft zu gründen, die es ihnen erlaubt, gemeinsam zu günstigeren Bedingungen Getreide, Kraftfutter, Reinigungsmittel für die Melkmaschinen, Zitzengummis usw. oder auch Nutztiere einzukaufen. Köbi Sturzenegger erklärt: «Sie kannten die Organisationsform der Genossenschaft nicht. Wir erzählten ihnen von unseren Genossenschaften, zum Beispiel von der ‹Landi›, die ja auch in der Armut entstanden sind und uns ermöglichen, Probleme vor Ort gemeinsam zu lösen.»

Eine Kuh oder eine Maschine bekommt niemand geschenkt

Köbi Sturzenegger ist überzeugt, dass Geschenke zu Abhängigkeiten führen. Daher finanzieren sie Tiere oder auch Maschinen aus Spendengeldern lediglich vor. «Die Leute bemühen sich, sind fleissig und haben bis jetzt diese Gelder immer zurückbezahlt und ermöglichen damit anderen Bauern eine Vorfinanzierung. Wir geben ihnen eine Starthilfe, um aus dem Teufelskreis der Armut aussteigen zu können, und zeigen ihnen aber auch, dass es ohne Fleiss keinen Preis gibt.»

Hilfe zur Selbsthilfe

Bis heute hat Köbi Sturzenegger über 400 Stunden Kurse gegeben. Dass er das ehrenamtlich macht, ist für ihn selbstverständlich. Er ist überzeugt: «Alle, die an diesen Kursen teilnehmen, die wissen ganz genau, dass wir nur Kost und Logis bekommen und die Kurse unentgeltlich geben. Wir sind zu siebt, ich bin mit 63 einer der Jüngsten. Wir brauchen den Lohn nicht. Wir sagen, wir wollen noch etwas bewirken. Und wir machen es gratis. Das schafft Vertrauen, man ist doch auf der gleichen Ebene. Das ist ein ganz zentraler Punkt.» Seine Genugtuung findet er darin, dass es seinen Berufskollegen in Siebenbürgen gelingt, für ihre Familien bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen. Er ist überzeugt: «Wenn die Jungen dort wieder eine Zukunft sehen, dann bleiben sie auch dort, dann laufen sie nicht davon. Die Leute laufen nur davon, wenn es hoffnungslos ist.»

Drei Stunden sind wie im Flug vergangen. Köbi Sturzeneggers Begeisterung, seine Liebe zu Tier und Mensch wirken ansteckend. Solche Hilfe zur Selbsthilfe schafft Verbundenheit über die Ländergrenzen hinweg und trägt zu einer friedlicheren Welt bei, in der alle Menschen unter würdigen Bedingungen leben können. 

1 Der mythen-fonds der Stiftung Lebensqualität mit Sitz in Siebnen engagiert sich in der Bildung und der Kompetenzentwicklung im landwirtschaftlichen Bereich. In verschiedenen Projekten werden Landwirte und Landwirtinnen in den strukturschwachen Regionen Siebenbürgens (Rumänien) in Zusammenarbeit mit der dort ansässigen Organisation «Agro-Caritas» fachlich ausgebildet und so unterstützt, dass sie durch die Arbeit auf dem eigenen Grund und Boden das Familieneinkommen erschaffen können. www.mythen-fonds.ch

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