«Frieden muss unser Ziel und unser Leitfaden sein»

Uno-Generalsekretär António Guterres: Friedensappell, 1. Januar 2017

Uno-Generalsekretär António Guterres (Bild wikimedia.org)
Uno-Generalsekretär António Guterres (Bild wikimedia.org)

An meinem ersten Tag als Uno-Generalsekretär lastet eine Frage schwer auf meinem Herzen. Wie können wir den Millionen von Menschen helfen, die in Konflikten gefangen sind und massiv unter Kriegen leiden, bei denen kein Ende in Sicht ist?

Zivilpersonen werden von tödlicher Gewalt getroffen. Frauen, Kinder und Männer werden getötet und verletzt, aus ihren Häusern vertrieben, besitzlos und notleidend. Sogar Krankenhäuser und Hilfskonvois werden angegriffen.

Niemand gewinnt diese Kriege; alle verlieren. Billionen von Dollars werden ausgegeben, um Gesellschaften und Wirtschaften zu zerstören, ein Kreislauf von Misstrauen und Furcht wird geschürt, der mehrere Generationen überdauern kann. Ganze Regionen werden destabilisiert, und die neue Gefahr des globalen Terrorismus betrifft uns alle.
An diesem Neujahrstag möchte ich Sie alle bitten, mit mir einen gemeinsamen Neujahrsvorsatz zu fassen:
Lassen Sie uns den Entschluss fassen, den Frieden an erste Stelle zu setzen.
Lassen Sie uns 2017 zu dem Jahr machen, in dem wir alle – Bürgerinnen und Bürger, Regierungen, Führungskräfte – uns bemühen, unsere Differenzen zu überwinden.
Von Solidarität und Mitgefühl in unserem täglichen Leben, zu Dialog und Respekt über politische Grenzen hinweg…
Vom Waffenstillstand auf dem Schlachtfeld, zum Kompromiss am Verhandlungstisch, um politische Lösungen zu erreichen…
Der Frieden muss unser Ziel und unser Leitfaden sein.
Aber der Frieden hängt von uns ab.
Ich rufe Sie alle dazu auf, sich mit mir gemeinsam für den Frieden einzusetzen, heute und jeden Tag.
Lassen Sie uns 2017 zu einem Jahr für den Frieden machen.
Ich danke Ihnen.
Quelle: www.unric.org/de

 

«Nein zu Hass und ja zu Brüderlichkeit und Versöhnung»

von Thomas Kaiser

Zu Beginn des neuen Jahres wünschen sich die Menschen gegenseitig Gesundheit, Zufriedenheit, persönliches Wohlergehen. Doch dieses Jahr war besonders auffällig, zumindest in der Post, die mich erreicht hat, der ausdrückliche Wunsch nach Frieden, nach einem friedlichen Zusammenleben der Menschen und Völker. Das ist nicht nur so dahingesagt, sondern ein tiefer Wunsch seit Menschengedenken. Der neue Uno-Generalsekretär António Guterres wählte denn auch vor dem Uno-Sicherheitsrat folgende Worte: «Ich glaube, es ist naiv, zu sagen, dass 2017 ein Jahr des Friedens werden wird. Aber es ist unsere Pflicht, alles zu tun, damit es wenigstens ein Jahr für den Frieden wird.»1 Es lässt hoffen, wenn ein Mann an der Spitze der Weltorganisation solche Worte wählt. Dies ist umso dringender, da die Welt in den letzten 20 Jahren, trotz einer kurzen Entspannung nach dem Ende des Kalten Krieges, nicht friedlicher geworden ist. Die Ausgaben für das Militär sind exorbitant, obwohl in Umfragen der Friede neben der Gesundheit immer noch das höchste Gut des Menschen ist. Wie kommt das?

Respekt vor dem Krieg verloren

Nachdem die Nato 1999 unter der Führung des US-Demokraten Bill Clinton mit einer Arglist den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Serbien inszeniert und der US-Republikaner George W. Bush 2001 und 2003 im gleichen Stil die Kriege gegen Afghanistan und den Irak losgetreten hatte, war für viele offensichtlich, dass die Folgen dieser Kriegspolitik verheerender nicht sein konnten. Krieg wurde wieder zum probaten Mittel in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen. Kriegsgründe wurden inszeniert und Verhandlungen, wenn überhaupt, nur noch pro forma geführt, friedliche Lösungen wurden gar nicht mehr in Betracht gezogen. Während des Nato-Kriegs gegen Serbien warnte der Schweizer Divisionär Hans  Bachofner davor, dass der Krieg wieder zurückgekehrt sei und wir den Respekt davor verloren hätten. Damals konnte noch niemand ahnen, dass weitere Kriege ohne völkerrechtliche Legitimation schon geplant waren. Dies stellte einen Tabubruch dar, den es seit der Gründung der Uno 1945 in dem Masse nicht gegeben hatte. Dass sich diese Einstellung auf die gesamte Haltung von Krieg und Frieden auswirken werde, war vielen Menschen klar. Wenn die Entscheidung, ob Krieg geführt werden soll oder nicht, vom militärisch stärksten Staat entschieden werden kann, dann ist das das Ende jeder Rechtsordnung und nichts anderes als Faustrecht, ein Zustand, der an dunkelste Zeiten der Menschheitsgeschichte gemahnt.

Krieg ist kein Schicksal

Doch hier wollen und können wir nicht verharren. Stehen wir nicht vor der Frage, wie wir Menschen in Zukunft das Zusammenleben gestalten wollen? Diese Frage nach Krieg und Frieden ist etwas, was die Menschheit seit Jahrhunderten bewegt. Immanuel Kants Schrift «Vom ewigen Frieden» ist genauso ein Zeugnis davon wie die Entstehung des Roten Kreuzes oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Immer war die Triebfeder des Handelns, etwas mehr Menschlichkeit, etwas mehr Frieden in die Welt zu tragen.
Wenn heute der neue Uno-Generalsekretär António Guterres bei seiner Neujahrsansprache den Frieden und das Ringen darum ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, greift er diesen Faden und damit die ureigene Aufgabe der Uno auf, nämlich alles zu unternehmen, was dem Frieden dient.
Jeder einzelne, so Guterres, kann Entscheidendes zum Frieden beitragen. Wenn sich alle Menschen bewusst sind, dass Krieg zu verhindern ist, dass Krieg kein Schicksal ist, dass Krieg nicht zum Menschen gehört, auch wenn die Geschichte viele Kriege erlebt hat, dann ist das eine Chance für den Frieden. Wenn man die Völker fragt, ob sie Krieg oder Frieden wollen, ist die Antwort eindeutig. Ein Beispiel dafür ist die Schweiz. Sie hat eine Milizarmee, ausschliess­lich zur Verteidigung der Landesgrenzen, und niemals würde die Schweizer Bevölkerung einem Kriegseinsatz ausserhalb des Landes zustimmen. Die eigenen Söhne und Töchter für die Machtinteressen anderer auf das Schlachtfeld zu schicken, hat keine Chance. Die direkte Demokratie erlaubt dem Volk über Sicherheitsfragen abzustimmen, was militärische Abenteuer verhindert.  

«Frieden kommt nicht von alleine»

António Guterres sagt es in seiner ersten Ansprache vor dem Uno-Sicherheitsrat deutlich. Alle Organisationen müssten ihre Anstrengungen für den Frieden an die erste Stelle setzen, denn Frieden kommt nicht von alleine, sondern «er ist ein Ergebnis schwieriger Entscheide, harter Arbeit und eines Kompromisses». Aber er ist möglich.
Dieses Anliegen muss für uns alle ein Kompass sein. Krieg wird durch Menschen gemacht, also können Menschen ihn auch beenden, und zwar sofort. Das hat die Geschichte hundertfach unter Beweis gestellt. Wenn der politische Wille vorhanden ist, dann hört der Krieg auf. Dann werden Verhandlungen geführt und Lösungen gesucht. Hätte man vor dem Krieg den Verhandlungsweg beschritten, das Leben Zehntausender, Hunderttausender, wenn nicht gar von Millionen Menschen wäre nicht sinnlos vernichtet worden. Papst Franziskus verpflichtet in seiner Friedensbotschaft zum neuen Jahr uns Menschen darauf: «Indem wir durch Fakten nein zu Hass und ja zu Brüderlichkeit und Versöhnung sagen, errichten wir den Frieden».2
¹www.un.org/sg/en/content/sg/speeches/2017-01-10/secretary-generals-remarks-maintenance-international-peace-and
²www.dw.com/de/papst-fordert-in-neujahrsansprache-mehr-miteinander/a-36968535

«Im modernen Völkerrecht besitzt das Selbstbestimmungsrecht mehr Gewicht als das territoriale Prinzip»

Interview mit dem Völkerrechtler Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas*

Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus: Es scheint der USA liebste Waffe zu sein, gegen missliebige Staaten Sanktionen zu verhängen oder die «Vasallenstaaten», in diesem Fall die EU, dazu zu verpflichten, solche zu verhängen wie gegen Russland im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise. Ganz aktuell beschuldigt Obama Russland die US-Wahlen manipuliert zu haben. Aber bleiben wir zunächst bei der Ukraine-Krise. Wie ist das aus völkerrechtlicher Sicht zu beurteilen?

Professor Alfred de Zayas: Man darf keine Sanktionen verhängen, um die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes zu bestrafen. Die Krimbevölkerung hat den Anspruch, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, was es durch Referendum getan hat, und weder die Vereinigten Staaten noch die Europäische Union können dies verbieten. Das alte Prinzip der territorialen Integrität von Staaten ist nicht absolut und gewiss nicht wichtiger als die Menschenrechte. Nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion in 15 Republiken, die kriegerische Zerstörung der territorialen Integrität Jugoslawiens und das Entstehen von 7 neuen Republiken, ist es offensichtlich, dass das Prinzip der territorialen Integrität von Staaten dem Selbstbestimmungsrecht der Völker weichen muss. Natürlich brauchen wir stabile Grenzen, aber wenn die Menschen nicht mehr zusammenleben wollen, ist der Frieden viel wichtiger als die territoriale Integrität. Ausserdem, seit der Uno-Charta und Artikel 1 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte gilt das Selbstbestimmungsrecht als jus cogens, d.h. zwingendes Völkerrecht. Man könnte Sanktionen wegen der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes verhängen, z.B. in Rhodesien und Süd-Afrika, nicht aber als Protest gegen seine Realisierung.

Was heisst das jetzt im Falle der Krim, das war der angebliche Auslöser für die Sanktionen?
Die Bevölkerung der Krim hat wie jedes andere Volk auch das Recht auf Selbstbestimmung. Das Verlangen kam nicht aus heiterem Himmel. Es war die Konsequenz des vom Westen mitfinanzierten Putschs gegen die legitime Regierung der Ukraine, Viktor ­Janukowitsch. Hätte man eine andere pro-westliche Regierung haben wollen, dann hätte gemäss demokratischer Prinzipien bis zur nächsten Wahl gewartet werden müssen. Die Sache wurde aber forciert und schlug eine deutlich russ­landfeindliche Richtung ein. Kein Wunder, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Krim mit dem «regime change» nicht einverstanden war und dass sie sich durch ein Referendum am 16. März 2014 für eine Trennung von der Ukraine aussprach, was auch noch vom Krim-Parlament bestätigt wurde. Kritik am Referendum ist von ­verschiedener Seite geäussert worden. Jedoch wurde die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE eingeladen, Beobachter zu entsenden. Die OSZE hat abgelehnt. Auch die Vereinten Nationen hätten das Referendum beobachten können. Schliesslich muss man zugeben, dass in der Krim das Selbstbestimmungsrecht ausgeübt wurde.

Es wird aber immer wieder von der Annexion der Krim gesprochen.
Wenn am 23. Februar 2014 Russland von sich aus die Krim okkupiert und zu einem Teil Russ­lands erklärt hätte, dann wäre das eine Annexion. Übrigens war die Krim mehr als zwei Jahrhunderte ein Teil Russlands bzw. der Sowjetunion. 1954 wurde die Krim als Verwaltungseinheit und ohne Plebiszit durch Chruschtschow zur Ukraine transferiert. Was in den 50er Jahren geschehen ist, hat keine menschenrechtliche Legitimität. Was vor knapp drei Jahren passiert ist, korrigiert den Vorgang in den 50er Jahren. Allerdings hätte man in den 90er Jahren ein Krim-Referendum durchführen können, und das Ergebnis wäre dasselbe. Dabei hätte die Uno ein Referendum organisieren können, wie z. B. in Äthiopien/Eritrea, Sudan und Osttimor.

Man kann also sagen, Russland …
… hat die Krim nicht okkupiert. Zunächst hat nämlich das Parlament der Krim beschlossen, um Aufnahme in die Russische Föderation zu bitten. Das ist dann formell und bürokratisch geprüft worden. Erst am 20. März 2014 hat die Duma diesem Antrag zugestimmt. Daraufhin hat das Verfassungsgericht die Aufnahme der Krim für verfassungskonform erklärt. Wenn man schon von der rule of law spricht, hier hat man sie beachtet. So ist die Krim auf Wunsch der Bevölkerung ein Teil Russlands geworden. Das ist legitim, wie mehrere unabhängige Völkerrechtler festgestellt haben, u.a. Karl Albrecht Schachtschneider. Leider gibt es zu viele «fake news» über die Krim.

Es wird klar. Damit sind die Sanktionen gegen diesen Ablauf ohne völkerrechtliche Legitimation.
Genau, aber leider verwenden Staaten das Völkerrecht willkürlich. Sie berufen sich auf das Prinzip der territorialen Integrität, ohne es in den Kontext zu stellen. Ausserdem soll beachtet werden, dass die Nato 1999 die territoriale Integrität von Serbien vernichtete – nämlich durch einen illegalen Krieg und Bombardierung von zivilen Zielen in Serbien. Daraus ist Kosovo entstanden. Die Nato war es, die das Prinzip der territorialen Integrität verwarf – und dabei einen Präzedenzfall schuf. Das Entstehen des Kosovo ist ein Beweis, dass im modernen Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht mehr Gewicht als das territoriale Prinzip besitzt. Im Vergleich zu Kosovo ist die Ausübung der Selbstbestimmung der Krim ohne Krieg und ohne Gewalt durchgeführt worden.

Wie war das beim Kosovo?
Die Trennung des Kosovo von Serbien ist durch einen illegalen Krieg, durch eine illegale Ausübung militärischer Macht durch die Nato, ohne die Genehmigung der Vereinten Nationen ins Leben gerufen worden, so dass die Geburt des Staates Kosovo sehr problematisch ist. Sogar die Resolution 1244 des Sicherheitsrates vom 10. Juni 1999 spricht von der territorialen Integrität Serbiens. Aber dann folgte die unilaterale Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs und die Anerkennung durch mehr als 100 Staaten. Danach darf niemand sagen, dass das Selbstbestimmungsrecht dem Prinzip der territorialen Integrität untergeordnet sei. Kosovo ist nicht «einzigartig» oder sui generis.

Das ist ein grosser Unterschied zur Krim.
Ja, der Ablauf auf der Krim ist völkerrechtskonform. Was bei den Sanktionen so ins Auge springt, ist, dass die Nato nicht einsehen will, dass Kosovo natürlich Konsequenzen hat. Hinzu kommt, dass die unbegründeten Sanktionen ihre eigene Dynamik entwickelt haben. Daraus ist auch ein Teufelskreis von Sanktionen und Gegensanktionen entstanden. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, hat im Jahre 2014 der Uno-Menschenrechtsrat einen Uno-Sonderberichterstatter ernannt, der auch einschlägige Berichte verfasst hat. Aber wer kümmert sich schon um Uno-Resolutionen und Berichte?

Wie meinen Sie das?
Was so offensichtlich ist, wird ignoriert oder sogar verneint. Nur wenige Politiker im Westen wagen es zu sagen: die Sanktionen sind illegal. Die Medien wagen es nicht zu sagen, dass es ein Fehler war, die Sanktionen auszusprechen. Keiner will anerkennen, dass sie kontraproduktiv sind, und so werden die Sanktionen ständig verlängert. Tatsächlich hat die EU das am 15. Dezember 2016 getan.

Was hat das zur Folge?
Das führt dazu, dass die Gegensanktionen der Russen gegen die Bauern in Europa auch verlängert werden. Niemand leidet mehr darunter als die Bauern und die Arbeiter von Konzernen, die mit Russ­land Handel treiben. Am Schluss ist es immer die ärmere Bevölkerung, die unter solchen Sanktionen leidet.

Gibt es von den Konzernen keinen Widerstand?
Das hätte man wohl erwarten können, denn in etlichen anderen kommerziellen Konflikten wenden sich die Konzerne direkt an die Schiedsgerichtsbarkeit, wenn ihre Profite durch staatliche Gesetze veringert werden. Wenn ein Konzern wie Bilcon Kanada verklagt, weil er in einem ökologisch empfindlichen Gebiet einen Steinbruch anlegen wollte und die erwartete Genehmigung verweigert wurde, wäre konsequenterweise zu erwarten, dass Konzerne, die von den illegitimen Sanktionen betroffen sind, ebenfalls klagen würden. Aber kein Konzern hat wegen der massiven Unterbrechung des Geschäftes mit Russland und der daraus resultierenden Millionen Verluste gegen irgendeinen EU-Staat geklagt. Hier wird ein merkwürdiger Mangel an Aufrichtigkeit, an ethischer Haltung sichtbar. Es verschlägt einem fast den Atem: Der Tabak-Konzern Philipp Morris führte sogar einen Prozess gegen den Staat Uruguay, der ein Gesetz zum Schutz der Bevölkerung vor dem Rauchen erlassen hatte. Wieso klagen Exportkonzerne, die Millionen Schaden erleiden, nicht gegen EU Staaten wegen dieser illegalen Sanktionen?

Ja, das ist in der Tat erstaunlich.
Meine Hoffnung ist nämlich, dass die Sanktionen endlich von beiden Seiten aufgehoben und die Opfer entschädigt werden. Die Sanktionen haben seit dem ersten Tag ihres Inkrafttretens keine Legitimität. Die ehemalige Unterkommission für Menschenrechte hat im Jahre 2000 eine längere Studie veröffentlicht, in welcher diese Art von Sanktionen als völkerrechtswidrig erklärt wurden.

Was war die Begründung?
Wenn die Sanktionen das Ziel nicht erreichen und nicht erreichen können, dann müssen sie aufgehoben werden, weil sie negative Konsequenzen für die Menschenrechte haben. Es war von Anfang an klar, dass die Sanktionen nur ein Ausdruck der Missstimmung gegen Russland waren. Es war deutlich, dass sie auf keinen Fall Russland beeinflussen würden. Nach nahezu drei Jahren ist es klar, dass es keinen Sinn hat, diese zu verlängern.

Die USA haben erneut Sanktionen gegen Russland verhängt wegen angeblicher Manipulation der Präsidentschaftswahlen. Wie sehen Sie jetzt diesen Schritt der USA, und dass Russland auf Retorsionsmassnahmen verzichtet?
Es ist nicht ohne Ironie, wenn ein Land, das sich immer wieder in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischt, nun behauptet, selber ein «Opfer» solcher Manipulationen zu sein. Tja. Zunächst hat man bisher keine Beweise geliefert, und ich bin von der tatsächlichen Einmischung Russ­lands keinesfalls überzeugt. Mal sehen, ob die Beweise irgendwann auf den Tisch kommen – oder ob es bei der primitiven Anti-Putin-Propaganda bleibt? Hoffen wir, dass die Regierung des neuen Präsidenten Trump eine realistischere Politik gegenüber Russland führt und mit der billigen Russophobie der EU Schluss macht. Wie wir von dem «Intelligence Briefing» von Trump erfahren haben, sind manche Regierungsstellen an Russophobie erkrankt. Man kann Sanktionen ohne Beweise nicht verhängen und Julian Assange, der es wissen musste, hat mehrfach gesagt, dass Russland eben nicht die Quelle des Hackings war: «a 14year old could have hacked Podesta». Wir brauchen keinen neuen Krieg gegen Russland – weder einen heissen noch einen kalten. Was wir brauchen ist Ruhe, Détente und wahrheitsgetreue Berichterstattung.

Die Russlandphobie scheint ein Teil der Kriegführung zu sein?
Ja, und das ist auch nicht neu. Bereits im Krim-Krieg 1854–56 hat man auf dieser Klaviatur gespielt. Der Imperialismus der britischen Krone, die «fake news» und die Hypokrisie der britischen Presse, der Interventionismus und die Arroganz der Premiers George Earl of Aberdeen und Lord Palmerston, der Opportunismus Napoleons III. sind das Ebenbild der Russ­landphobie unserer Tage. Es lohnt sich, das Buch des britischen Historikers Orlando Figes «Crimea» zu lesen, um die Instrumentalisierung von Feindbildern zu verstehen. Haben wir es bereits vergessen, dass die USA die Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980 boykottierte und dass die amerikanische Presse eine äusserst primitive Hysterie gegen Putin vor und während der Winterspiele in Sotschi 2014 entfachte – kaum einen Monat vor dem Maidan-Putsch? Die Russen haben es satt, von den westlichen Staaten als Feindbild missbraucht zu werden.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser

*Das Gespräch entspricht der persönlichen Meinung von Professor de Zayas und wurde nicht offiziell in seiner Eigenschaft als unabhängiger Experte an der Uno geführt. Siehe auch www.alfreddezayas.com und http://dezayasalfred.wordpress.com

Vertrauen zwischen dem Westen und Russland wieder herstellen

von Nationalrätin Yvette Estermann, Ärztin und Einwohnerrätin

Was wünschen sich die meisten Menschen im neuen Jahr? 2016 war ein «Kriegsjahr»: Immer neue kriegerische Auseinandersetzungen, von Libyen bis Afghanistan. Dazu die Ukraine-Krise, der Syrien-Konflikt, die Russland-Sanktionen und die Nato-Aufrüstung in Osteu­ropa. Sie alle hielten die unheimliche, gigantische US-Kriegsmaschinerie am Laufen und füllten deren Kassen, brachten aber die Welt an den Rand eines dritten Weltkrieges. Leider stimmt die alte Wahrheit immer noch: Frieden bringt kein Geld, aber Kriege schon! Es ist deshalb höchste Zeit für einen Neubeginn. Weg von einer weiteren, militärischen Aufrüstung und weg von Kriegshysterie und Säbelrasseln. Die Menschen möchten in Frieden miteinander leben und wünschen sich endlich ein Zurück zur Normalität.

Eine besondere Bedeutung haben für mich die Kriegsrhetorik des Westens, die militärische Aufrüs­tung der Nato in Osteuropa sowie die Sanktionen gegen Russland. Warum? Dank der Tatsache, dass ich schon in der Schule die russische Sprache erlernt habe, bin ich in der Lage, die Hysterie gegen Russland zu verfolgen und einzuschätzen. Ich stelle fest: Russland und seine Regierung werden vielfach falsch dargestellt und gezielt schlecht gemacht. Ich sage das ganz bewusst, denn ich hätte als «Kind der ehemaligen CSSR» allen Grund, den Hype gegen Russland mitzumachen. Aber das heutige Russland ist nicht mehr die alte Sowjetunion und die Situation ist heute ganz anders! Das Ziel des Westens muss darin liegen, mit der Kriegstreiberei und den schädlichen Sanktionen gegen Russland aufzuhören und wieder den Weg der Normalität einzuschlagen.
Dazu will ich auch einen Beitrag leisten, und ich reichte deshalb in der letzten Session zwei entsprechende Motionen im Nationalrat ein mit dem Ziel, die Beziehungen mit Russland zu verbessern. Das Echo darauf war sehr gross und reichte bis nach Moskau … . Es erreichten mich Briefe und E-Mails aus der ganzen Schweiz, – fast ausschliesslich mit positivem Inhalt und dem Tenor: Endlich hat jemand den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen und etwas für Frieden und Verständigung zu tun! Ich werde mich auch weiterhin bei jeder Gelegenheit für dieses Thema einsetzen.
Mit meiner Kritik an den Russ­land-Sanktionen bin ich nicht allein. Sie sind ein Zeichen von Schwäche und Hilflosigkeit, bringen in der Sache gar nichts, schaden aber dem Westen wirtschaftlich enorm. Dazu steigt die Gefahr einer militärischen Eskalation. Deshalb sehen immer mehr Menschen ein, dass Krieg kein Zustand ist, den wir anstreben. Es braucht Stimmen der Vernunft, und diese gibt es zum Glück! Hier sind einige:
Am Ende der slowakischen EU-Ratspräsidentschaft 2016 sagte Premierminister Robert Fico, dass die Sanktionen gegen Russland absolut erfolglos und in der Sache schädlich wären. Wörtlich sagte er: «Einerseits sagen wir, dass Streitigkeiten mittels Dialog gelöst werden müssen, andererseits können wir selbst diesen Dialog mit Russ­land nicht führen.» Die anderen Visegard-Staaten sind ebenfalls grösstenteils gegen Russland-Sanktionen.
Auch das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Genf ist für den Abbau der Sanktionen und für einen Neustart der Beziehungen zu Russland. Der WEF-Direktor, ehemaliger FDP-Vorsitzender und Vizekanzler, Philipp Rösler, sagte auch, die dauerhafte Verständigung mit Russ­land sei Sache der Europäer und nicht der Amerikaner. Hier sehe man ein grosses Versäumnis.
Eine ganz wichtige Rolle spielt dieses Jahr Österreich. Das Land übernimmt den OSZE-Vorsitz und ist ebenfalls für eine Lockerung der Sanktionen. Aussenminister Sebastian Kurz will auf Russland zugehen. Er sprach von einer notwendigen Umkehr und sagte im Interview: «Wir müssen wieder Vertrauen aufbauen und bei den Sanktionen weg von einem ­System der Bestrafung zu einem ­System des Ansporns.» Weiter versprach Kurz, er wolle das Vertrauen zwischen dem Westen und Russ­land wiederherstellen.
Eine echte Änderung geschieht am 20. Januar, wenn der gewählte US-Präsident Donald Trump sein Amt antritt. Man kann ihn mögen oder nicht, aber mit ihm als Präsidenten wird sich in der Welt einiges ändern. Er hat bereits angekündigt, dass die USA aufhören müssten, immer neue Kriege zu inszenieren und gewählte Regierungen zu stürzen. Er ist deshalb der grosse Hoffnungsträger für die Welt! Auch die Situation mit Russland will er schnell klären. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass Donald Trump die verhängten Sanktionen gegen Russ­land aufhebt und in den Beziehungen der beiden Länder wieder Normalität einkehren lässt. Wirtschaftlich, politisch und kulturell. So können wir doch hoffnungsvoll und optimistisch dem neuen Jahr entgegensehen! ■

Negativzinsen und Geldschwemme durch die Notenbanken sind kontraproduktiv

von Reinhard Koradi

Europa und die Schweiz sollten zu ihren Stärken zurückkehren und die eigenen Wurzeln pflegen

Die Folgen der Finanzkrise sind gegenwärtig. Trotzdem verdrängen wir sie und hoffen, die Krisenherde werden sich stillschweigend von selbst auflösen. Die Mainstreammedien ereifern sich lieber über Donald Trump oder Wladimir Putin und beklagen den angeblichen Rechtsrutsch in Europa. Die wahren Hintergründe der wachsenden Polarisierung durch die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit werden durch Ablenkungsmanöver und Stillschweigen unter dem Tisch gehalten. Kaum jemand spricht offen über die dunklen Wolken, die über Europa hängen. Was fehlt und daher dringendst korrigiert werden muss, ist eine eigenständige von den USA losgelöste Politik der europäischen Nationen. Wirksame Schutzmauern gegen eine durch die anhaltende Finanz- und Schuldenkrise mögliche Flutwelle werden wir nicht in Washington oder Brüssel, sondern in den Hauptstädten souveräner Nationalstaaten aufbauen können. Europa – und die EU ist nicht Europa – könnte sehr wohl eigenständige Mechanismen entwickeln, um den Schrecken eines möglichen Kollapses des Finanz- und damit des Wirtschaftssystems so weit zu beeinflussen, dass der drohende Crash durch eine sogenannt weiche Landung abgefedert werden könnte. Im ­Vordergrund steht dabei, dass die einzelnen nationalen Volkswirtschaften ihren eigenen Handlungsspielraum zurückholen. Dies ist für die Länder, die ausserhalb der Euro-Zone sind, einfacher zu realisieren, sofern der Wille nach eigenständigem, souveränem Handeln vorhanden ist. Die Staaten, die sich durch die gemeinsame Währung in die Abhängigkeit der Europäischen Zentralbank begeben haben, müssen aktiv werden, indem sie der Geld- und Währungspolitik der EZB die Gefolgschaft verweigern. Vor allem Deutschland wäre in dieser Hinsicht gefordert. Letztlich geht es darum, sich auf die Stärken von souveränen Nationalstaaten zurückzubesinnen: Selbstbestimmung, nationale Einheit, Vertrauen in die Institutionen, Stabilität, ­Unabhängigkeit durch Eigenleis­tung, ausgeglichener Staatshaushalt, eine auf Ausgleich ausgerichtete soziale Marktwirtschaft, Sicherheit und mehrheitlich eine stabile Landeswährung. Selbstverständlich gehören die geschützten Landesgrenzen ebenfalls zu den Stärken und Wurzeln des Selbstverständnisses europäischer Länder.

Die getarnte Krisenbewältigung

Vor allem die Finanzwirtschaft, die Regierungen und auch die Wirtschaftsprognoseinstitute versuch­en die Diskussionen über die ungelösten Wirtschaftskrisen unter dem Deckel zu halten. Man möchte das Volk nicht aufschrecken oder, sagen wir besser, nicht wachrütteln. Bevorzugt wird eher der schleichende Raubzug auf die Vermögen durch Negativzinsen. Zu einem wirksamen Schuldenabbau werden auch sukzessiv ansteigende Schuldzinsen und die damit einhergehende Teuerung beitragen. In den gleichen Topf gehört die durch die Hintertür geplante Aufhebung des Bargeldverkehrs. Liegt das Geld einmal auf den Bankkonten, dann lassen sich die Negativzinsen widerstandslos durchsetzen. Primäres Ziel wird sein, dem Bürger den Zugriff auf sein Geld zu verwehren, um Bürger-Proteste und den Run auf Banken zu vermeiden. Den Drahtziehern ist klar, dass die aktuellen und schlummernden Probleme rund um die Finanz- und Geldpolitik ein erhebliches Gewaltpotenzial in sich ­bergen, und zwar weil die Pläne vorsehen, dass ein allfälliger Zusammenbruch nicht durch die Gläubiger (Geldgeber/Finanzinstitute) finanziert werden, sondern auf den Staat, sprich auf die Bevölkerung, abgewälzt werden soll durch Zugriff auf die Sparguthaben und Kürzung der Altersrenten.
Einige Exponenten der neoliberalen Doktrin wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds oder das World Economic Forum (WEF) haben die Gefahr wohl erkannt und versuchen nun, die Wogen etwas zu glätten. Über Studien und entsprechende Aussagen veröffentlichen sie ihre Besorgnis über die fortschreitende Ungleichheit unter den Menschen, indem die Superreichen ihren Reichtum auf Kosten der Armen in geradezu unanständiger Weise aufstocken. Doch konkrete Handlungen zur Verbesserung der verworrenen Situation sind bis anhin ausgeblieben. Dabei bieten sich verschiedene Alternativen an, die von den erwähnten Institutionen sehr wohl aufgegriffen werden könnten.

Die Notenbanken heizen die Krisenherde an

Da wäre zum Beispiel die Möglichkeit, die Notenbanken an die Kandare zu nehmen, indem ihnen die Flutung der Märkte mit überschüssigen Dollars und Euros untersagt würde. Ein Stopp-Signal müsste auch gegen die Verfälschung der Devisenkurse aufgestellt werden. Die künstliche Abwertung des Euros grenzt an einen Wirtschaftskrieg und ist für starke Währungen wie den Schweizer Franken eine ernstzunehmende Gefahr, die der schweizerischen Volkswirtschaft erheblichen Schaden zufügt.
Im Wirtschaftsmagazin «Trend» vom Samstag, 7. Januar 2017 im Radio SRF1 stufte der Wirtschaftsprofessor Max Otte die aktuelle Geldpolitik der Nationalbanken als gefährlich ein. Weiter meinte er: Die Krise ist schlimmer denn je. Auf die Frage, warum im Gegensatz zu ihm die meisten Wirtschaftsprognosen für das 2017 trotzdem tendenziell positiv tönen, antwortete er sinngemäss: Es ist immer eine Frage der Position. Manche Prognoseinstitute bewegen sich innerhalb ­einer Blase und lassen sich ihre durch eine etwas verfärbte Brille erkannten positiven Signale zur ­allgemeinen Wirtschaftslage durch gegenseitiges Schulterklopfen bestätigen. Es braucht eben eine gewisse Unabhängigkeit, um positive aber auch negative Entwicklungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Dazu gehört eben auch die Aussage, dass die Schuldenkrise nach wir vor ungelöst ist.

Was wäre zu tun?

Wir stecken in der Schuldenfalle fest. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo die Schulden nicht mehr bedient werden können. Es kommt zu Insolvenzen. Schulden müssen abgeschrieben werden. Der Staat wird zu Zwangsmassnahmen ­respektive Staatsinterventionen greifen, um die Banken zu retten. Es ist zu erwarten, dass die Politik im Rahmen solcher Rettungsaktionen in die Privatsphäre der Bürger eingreift, um den angerichteten Schaden durch den Griff nach deren Vermögen zu bereinigen.
Der erste Schritt zur Problemlösung wäre die Bereitschaft, die zahlreichen ökonomischen Bruchstellen zu erkennen und öffentlich zu diskutieren. Solange wir uns Scheuklappen anlegen, werden wir weiter ins Chaos gleiten. Das Auseinanderdriften der Einkommensverteilung zu Gunsten der Superreichen, die immense Staatsverschuldung und die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums sind ernstzunehmende Ursachen der aktuellen wirtschaftlichen Situation. Dazu kommen gewisse Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Aussenhandelspolitik der USA. Donald Trump, neuer US-Präsident, hat gegenüber dem Freihandel gewisse Vorbehalte angemeldet. Diese Vorbehalte sind gemäss Professor Max Otte nachvollziehbar. Der industrielle Aderlass in den Vereinigten Staaten hat erhebliche Lücken hinterlassen. Das Aufstocken von Produktionskapazitäten und die damit verbundene Stärkung des Werkplatzes USA entsprechen einer Wirtschaftspolitik, die sowohl zur Verbesserung der Beschäftigungslage als auch zu vermehrter politischer Unabhängigkeit beiträgt. Eine Volkswirtschaft ist immer besser aufgestellt, wenn sie in allen Bereichen der Produktionspalette aktiv ist. Sind Lücken vorhanden, wird man erpressbar. Erst mit einer breiten Abdeckung durch einheimische Produkte innerhalb eines weitgehend geschlossenen Wirtschaftskreislaufes kann die nationale Souveränität erhalten bleiben. Dies gilt auch für Europa und die Schweiz. Mit andern Worten: Europa und die Schweiz müssen sich von ihrer Fremdbestimmung loslösen, damit sie wieder Handlungsspielräume erhalten. Sie müssen ihren Werkplatz schützen und wenn notwendig neue Kapazitäten erschliessen respektive bestehende Produktionsstätten in Besitz einheimischer Investoren halten.
Selbstbestimmung ist zwingend, um die wirtschaftlichen Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Da die Ursachen der Krisen weitgehend im Finanzbereich und der Einkommensverteilung liegen, brauchen wir prioritär eine auf die nationalen Bedürfnisse abgestimmte Steuerpolitik (progressives Steuersystem), um die ungleiche Einkommensverteilung zu entschärfen. Die Einführung ­einer Finanztransaktionssteuer drängt sich ebenso auf. Diese würde sehr schnell zu einer Beruhigung der Finanzmärkte führen und vor allem die Spekulation und exzessive Finanztransaktionen bremsen. Sie würde zudem einen wesentlichen finanziellen Beitrag zur Lösung der Schuldenkrise leisten. Die privaten Haushaltungen würden etwas entlastet, und die zusätzlich frei verfügbare Kaufkraft könnte durch die Steigerung des privaten Konsums zusätzliche Wachstumsimpulse für die einheimische Wirtschaft auslösen. Nicht weniger bedeutungsvoll wäre, wenn Finanzprodukte einen Eignungstest betreffend Solidität, Vertrauenswürdigkeit und Markttauglichkeit (Qualitätstest) bestehen müssten, bevor sie auf den Markt kommen. Eine genügend grosse Kapitalausstattung für Banken und Finanzinstitute wäre zwingend, damit allfällige Verfehlungen aus eigener Kraft korrigiert werden können. Angebracht ist auch das Wiederentdecken des Nutzens von Grenzen. In der Schweiz haben wir glücklicherweise noch unsere Grenzen. Warum sollen diese nicht wieder ihrer ursprünglichen Aufgabe zugeführt werden?
Es liegt an uns Bürgern, die Politik im eigenen Land zu zwingen, rechtzeitig Massnahmen einzuleiten, die unsere Grenzen und Interessen schützen und verteidigen sowie den Raubzug auf unser Erspartes verhindern.

Protektionismus als Schreckgespenst?

Für viele ist der Ruf nach Grenzen ein Verrat an der Wirtschaftsfreiheit. Doch objektiv betrachtet haben Freihandel und Globalisierung nur eines gebracht: die Umsetzung einer Wirtschaftsdoktrin, die primär den Interessen des Grosskapitals dient. Mit andern Worten: Freihandel nützt allein denjenigen, die die Welt beherrschen und legt die grosse Mehrheit der Weltbevölkerung in Ketten. Er nagt an der Souveränität der Nationalstaaten und schafft Abhängigkeiten. Der Unmut in der Bevölkerung wächst entsprechend und zeigt eine immer deutlicher werdende Abneigung gegen den sogenannten Freihandel. Der Widerstand hat seine Berechtigung. Trotz den Lobgesängen auf den Freihandel sehen wir uns seit langem nicht mehr mit einer derart administrierten Wirtschaft konfrontiert wie heute. Die Eingriffe in die Privatsphäre haben unerwartete Dimensionen angenommen. (Bankgeheimnis, automatischer Informationsaustausch). Die Notenbanken greifen durch ihre Geldpolitik massiv in den Wirtschaftskreislauf ein. Schon längst ist der Freihandel (Ceta und TTIP) zu einem trojanischen Pferd verkommen, das der Durchsetzung von Handelsregeln und Standards der Mächtigen dient und mit freiem Waren- und Dienstleistungsverkehr gar nichts mehr zu tun hat. Sehr wenig mit freier Wirtschaft hat auch die Erpressung der Schweizer Banken durch die amerikanische Justiz zu tun, und auch die Sanktionen gegen aus Sicht der USA unbotmässige Nationen sind nicht freihandelskonform. Ausser der USA-dominierten globalen Finanzwirtschaft waren die Wirtschaft und auch die privaten Bürger noch nie mit solch umfassenden freiheitsbeschränkenden Regelwerken konfrontiert wie in unserer Zeit. Befreien wir uns aus der Umklammerung durch die «Freihandelsdiktatur» und konzen­trieren wir uns auf die Bedürfnisse einer nationalen Volkswirtschaft, die der gesamten Bevölkerung Nutzen bringt. Protektionismus steht in keinem Gegensatz zu einer offenen Volkswirtschaft. «Mass halten» auf beiden Seiten schafft den notwendigen Interessenausgleich, wie es beispielsweise die Schweiz in der Vergangenheit bewiesen hat.
Warum eine erfolgreiche Wirtschafts- und Aussenhandelspolitik dem Trugbild «Freihandel» opfern? Die ehrliche Antwort auf diese Frage wurde bis heute von keiner Seite gegeben. Fordern wir sie ein! ■

Herausforderungen der digitalen Entwicklung

(Teil 1)

Interview mit Jean-Marc Deltorn

Die Digitalisierung unserer Welt zieht über uns hinweg wie ein nicht endender Hurrikan und hinterlässt tiefe Spuren im gesellschaftlichen und privaten Leben der Menschen, die die schlimmsten Visionen eines George Orwell als schon fast naiv erscheinen lassen. Die Benutzung des Internets und alle damit verbundenen Möglichkeiten erlauben die Kontrolle und Überwachung der Privatsphäre bis in kleinste Details und somit die Lenkung der Bürgerinnen und Bürger in erschreckendem Masse. Da die grosse Mehrheit der Bevölkerung sich dessen nicht bewusst ist, liefern wir uns arglos Konzernen und Geheimdiensten aus, die alles von uns kennen, manchmal mehr als wir selbst. Aufgeschreckt durch dieses Ausmass an Datensammlungen und deren Verwendung versucht die Politik, mit grosser Verzögerung darauf zu reagieren. Gesetzliche Grundlagen fehlen teilweise völlig oder die bestehenden Gesetze reichen nicht aus, um die Privatsphäre des Menschen zu schützen. Auch der Europarat beschäftigt sich mit diesen Entwicklungen und deren Auswirkung.  Der Holländer Jean-Marc Deltorn, Wissenschaftler auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und entsprechender Rechtsnormen, hielt im Rahmen einer Kommissionssitzung am Europarat einen Vortrag über die rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit Digitalisierung und dem Schutz der Privatsphäre. Zeitgeschehen im Fokus hat ihn dort getroffen und ihm die folgenden Fragen gestellt.

Worin liegen die Herausforderungen betreffend die digitale Entwicklung?
Im Privatleben sowie im Geschäftsleben finden immer mehr unserer Alltagstätigkeiten in der digitalen Welt statt: Wir schreiben mit kodierten Sequenzen von Null und Eins anstatt mit Papier und Tinte, unsere Aktivitäten im Internet werden aufgezeichnet, unsere Bewegung registriert das GPS in unserem Handy. Sogar Meldungen über unsere körperliche Aktivität werden von den Gesundheits-Trackern am Handgelenk zu fernen Servern in der «digitalen Wolke» übertragen. Schätzungen zufolge werden 2020 50 Milliarden Geräte dem Internet angeschlossen sein. Diese gigantische Menge heterogener, sich ständig vermehrender Signale nennt man «Big Data».
Zweifelsohne bieten die neuen Tools zahlreiche Vorteile. Wir haben Apps, die uns ermöglichen, per Klick das beste chinesische Restaurant in der Nähe zu finden, die uns interessante Bücher empfehlen oder mit Freunden in Verbindung setzen. Diese Services brauchen ­jedoch einen schnellen und ­einfachen Zugang zu unseren ­persönlichen Daten, unserer Navigations-Geschichte, unserem Aufenthaltsort, unseren Internet-Klicks und unserem Verhalten in den sozialen Medien. Mit jeder unserer Aktionen geben wir von uns äusserst wertvolle Informationen preis, ohne gross darüber nachzudenken. Es ist kein Zufall, dass manche Ökonomen in diesen Daten das «neue Öl» sehen, das die digitale Wirtschaft zum Laufen bringt.
Das Sammeln und die Verwendung persönlicher Daten stellt die Gesellschaft vor Herausforderungen, mit denen wir uns sowohl auf der ethischen wie auch auf der rechtlichen Ebene auseinandersetzen müssen. Welche Informationen dürfen ohne die explizite Zustimmung des Benutzers verwendet werden? Und zu welchem Zweck? Wie kann man Missbräuche verhindern, die aus der ungleichen Verteilung der Informationen hervorgehen? (Wir Nutzer stellen unsere Angaben zur Verfügung, andere zeichnen diese auf.) Ist es möglich, die Vorteile der digitalen Gesellschaft zu nutzen, ohne die möglichen negativen Folgen wie den Verlust des Datenschutzes, Angriffe auf die freie Meinungsäusserung oder Diskriminierung einräumen zu müssen?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der heutigen Debatten. Die Europäische Union verabschiedete am 27. April 2016 die Verordnung (EU) 2016/679 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, die eine Reihe neuer rechtlicher Mittel zum Datenschutz schafft und die Kontrolle über unsere persönlichen Daten erhöht.

Wie wirkt sich der Gebrauch von Algorithmen aus, und welches ist die Bedeutung von Algorithmen?
Mit der stetigen Zunahme digitaler Daten ist der Bedarf an Algorithmen, die die wachsende Flut von Signalen analysieren und verstehen können, immer akuter. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der systematischen Übersetzung von rohen Signalen in interpretierbare Informationen. Sie sind mathematische Werkzeuge, die ermöglichen, «Big Data» maschinell zu verarbeiten und in eine nutzbare, überschaubare Form umzuwandeln. Sie haben in eine Vielzahl von menschlichen Aktivitäten Einzug gehalten: Algorithmen sind das Herzstück von selbstfahrenden Autos, sie entscheiden, ob wir von der Bank einen Kredit bekommen, erkennen Gesichter in einer Menschenmenge oder Sprache im Handy, um nur einige Anwendungen zu nennen.
Dieser technologische Fortschritt, der vor wenigen Jahren noch als «Science-Fiction» galt, ist auf der einen Seite den neusten Entwicklungen in der Informatik sowie der Zunahme der Rechenressourcen zu verdanken. Auf der anderen Seite wäre er ohne die Verfügbarkeit der grossen Anzahl digitaler Daten unmöglich gewesen. Während frühere Generationen von Algorithmen das Wissen von Fachleuten genutzt haben, um die für die Lösung eines bestimmten Problems erforderlichen Regeln zu entwickeln und zu kodieren (z. B. um Fussgänger auf einem Bild zu erkennen), finden die heutigen Generationen empirisch, infolge einer Lernphase ihre Lösungen. Sie lernen unmittelbar aus Daten, aus Erfahrung. Mithilfe zahlreicher Beispiele für eine besondere Situation (z. B. Bilder von Fussgängern) lernen sie allmählich, Muster zu erkennen und sich eine interne Repräsentation des Problems zu verschaffen. Genauso wie wir Menschen die Welt um uns herum erkunden.
Diese extrem leistungsstarke Methodik ermöglicht es, eine grosse Anzahl komplexer Prozesse mit minimalem Einbezug menschlicher Experten zu automatisieren, solange man über eine ausreichende Datenmenge zum richtigen und zuverlässigen Training der Maschine verfügt. Dies erklärt, warum authentische Daten so wertvoll sind. Der Preis, den wir für die enorme Leistungsfähigkeit der Maschinen zahlen müssen, ist der, dass wir zur internen Darstellung, d.h. zum Modell, das durch den Algorithmus erzeugt wird, keinen Zugang haben. Der Computer lernt, ein Problem effizient zu lösen, aber der Weg zur Lösung bleibt unklar. Dieser Mangel an Transparenz kann schnell zu einem Problem werden: Zum Beispiel wenn die Algorithmen Fehler machen (und das tun sie), kann man diese nur schwer nachvollziehen und beheben. Die algorithmische Undurchsichtigkeit ist besonders problematisch, wenn personenbezogene Daten missbraucht werden. Es ist nämlich unklar, bei wem die Verantwortung liegt: bei dem Benutzer, der die Daten geliefert oder bei der Person, die diese verarbeitet hat.

Welche Rolle spielen dabei die «Social Media»?
Genauso wie unsere Navigationsgeschichte sind auch die «Social Media» riesige «Deponien» unserer Internet-Aktivitäten. Kein Wunder, dass das Interesse an ihnen besonders gross ist. Diese ständig neue Informationen liefernden Foren, auf denen die Nutzer viele Facetten ihres Privatlebens, Informationen über Vorlieben und Interessen, Beziehungen und tägliche Arbeit usw. enthüllen, sind Goldminen für die Anwendung von Vorhersagealgorithmen und die Erhebung personenbezogener Daten (seit 2016 hat Facebook ca. 1,7 Milliarden und Youtube 1 Milliarde Nutzer).
Die auf diesen Seiten gespeicherten Daten gehörten vor nicht allzu langer Zeit noch zur Privatsphäre und wurden abseits des forschenden Blickes von Business und Regierung aufbewahrt. Diese gigantische, strukturierte Datenmenge kann algorithmisch ausgenutzt werden, indem man über jeden Nutzer, ohne seine explizite Zustimmung, Informationen unterschiedlichster Art extrahiert. Studien haben gezeigt, dass die algorithmische Analyse einer Fraktion von 4 Millionen «Likes» (4 Millionen ist die Anzahl der «Likes» pro Minute auf Facebook) genügt, um die politische, sexuelle oder religiöse Orientierung sowie die ethnische Herkunft der Nutzer festzustellen, und zwar viel genauer als ein Mensch das tun könnte. Andere Studien haben ergeben, dass es durch die Manipulation der Informationen auf Facebook (z. B. durch die Manipulation der Newsfeed-Inhalte) möglich war, die «Stimmung» der User zu beeinflussen oder sie sogar zur Abstimmung aufzufordern. Wenn man bedenkt, dass die mehreren Milliarden Menschen, die die «Social Media» täglich nutzen, alle nicht nur «Freunde», sondern auch Verbraucher, Bürger und Wähler sind, dann werden uns die potentiellen Gefahren solcher Verfahren schnell klar. Daher ist es von grösster Wichtigkeit, sich aller Nutzungsmöglichkeiten der auf diesen Foren hinterlassenen Daten bewusst zu werden.

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe.

Interview Thomas Kaiser und Robert Hofmann

* Jean-Marc Deltorn hat doktoriert in fundamentaler Physik an der Universität Paris und einen Master in Privatrecht an der Universität Straßburg erworben, wo er im Moment im Zentrum für internationale Studien zum geistigen Eigentum seine Doktorarbeit in Jura über die Beziehung zwischen künstlicher Intelligenz und rechtlichen Normen schreibt. Nachdem er in Europa und in den USA sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor forschte, ist sein aktuelles Spezialgebiet das geistige Eigentum im Bereich der Algorithmen und ihrer Anwendungen.

 
Schöner Fernsehabend …
«Der Softwareentwickler Darren Cauthon und seine Frau wollten sich im Dezember einen schönen Fernsehabend machen. Also lud seine Frau eine App auf den Smart TV herunter, mit der man kostenlose Filme anschauen konnte. Plötzlich poppte eine Meldung auf dem Bildschirm auf: ‹Zahlen Sie 500 Dollar an das FBI, damit Ihr TV-Gerät wieder funktioniert.›
Computerspezialist Cauthon ahnte sofort, dass nicht der Inlandsgeheimdienst, sondern Cyberkriminelle hinter dem Erpressungsversuch steckten: Unbekannte Hacker hatten eine Schadsoftware in den smarten Fernseher geschleust und das Gerät in Geiselhaft genommen.»
Quelle: Adrian Lobe: Der Fernseher als Spion. In: Thurgauer Zeitung vom 10.01.2016

 

 

Haushaltgeräte als Botnetz
sl. Im Oktober lancierten Hacker eine DDoS-Attacke auf den DNS-Provider Dyn und legten so an der Ostküste der USA zentrale Rechner lahm. Bei einem solchen Angriff werden simultan massenhaft Anfragen von verschiedenen Geräten auf einen oder mehrere Server geschickt, bis diese überlastet sind und zusammenbrechen. Die Anfragen gingen von vernetzten Haushaltsgeräten aus: Sicherheitskameras, Kühlschränke, Thermostate. Die Angreifer hatten vermutlich Millionen von Haushaltgeräten zu einem Botnetz verbunden und damit eine Angriffskapazität von mehr als einem Terabyte pro Sekunde erreicht.

Quelle: Adrian Lobe: Der Fernseher als Spion. In: Thurgauer Zeitung vom 10.01.2016

Der Schutz vor schwacher radioaktiver Strahlung – eine zentrale Aufgabe der Wissenschaft

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Zu den Folgen von schwacher Strahlung auf Mensch und Natur gibt es bis heute erst wenige Studien. Vorbildlich ist die Universität von Okinawa, die zwischen 2011 und 2014 die Auswirkungen von schwacher Strahlung auf Schmetterlinge untersuchte, die ausserhalb der Sperrzone von Fukushima gesammelt worden waren. Dabei zeigte sich, dass Schmetterlinge und deren Raupen eine hohe Zahl von Missbildungen aufwiesen. Das bestätigt die Ergebnisse der Langzeitforschung von Cornelia Hesse-Honegger, die als wissenschaftliche Zeichnerin die Folgen schwacher Strahlung in der Umgebung von Atomkraftwerken in Europa und den USA seit 1987 dokumentiert. Nach Fukushima wurde ihre Forschung aufgegriffen und Studien entstanden. Diesen Herbst nahm sie in Japan am «6th Citizen-Scientist International Symposium on Radiation Protection» teil. An einer Matinée im Zürcher Weinland gab sie Einblick in ihre Forschungsarbeit.

Die grosse gemütliche Gaststube in der Wirtschaft Sonne in Benken war bis auf den letzten Platz mit interessierten Zuhörern besetzt, die der wissenschaftlichen Zeichnerin Cornelia Hesse-Honegger zuhörten. Seit Anfang der 1960er Jahre hatte sie unter anderem am Zoologischen Institut der Universität Zürich als wissenschaftliche Zeichnerin gearbeitet. Dabei zeichnete und malte sie «millimetergenau und detailgetreu» was unter ihrer Binokularlupe «mit siebzigfacher Vergrösserung» zu sehen war. In ihrer Freizeit sammelte und malte sie zudem vielfältigste Blattwanzen, die sich durch eine präzise Symmetrie in Mustern und Farbgebung auszeichnen. In ihren Aquarellen zeigt sich die ganze Schönheit unserer Natur.
Für das Zoologische Institut illustrierte Frau Hesse-Honegger eine Monografie über Drosophila-Fliegenarten. 1967 erhielt sie den Auftrag, die Mutationen von Fliegen zu zeichnen, die mit Ethylmethansulfonat vergiftet worden waren. Daneben zeichnete sie Tierreihen von normalen Fliegen, die sie nach dem Zufallsprinzip gefangen hatte. 1985 bekam Hesse-Honegger vom Zoologischen Institut Stubenfliegen, die aufgrund von Röntgenstrahlen massive Missbildungen aufwiesen. Erstmals mit den Folgen künstlicher Bestrahlung konfrontiert, war sie erschüttert.
Als 1986 der Atomreaktor in Tschernobyl schmolz und die radioaktiven Wolken zu Kontaminierungen in Westeuropa führten, reiste sie nach Schweden an die Orte mit der stärksten Strahlenbelastung, wo sie Wanzen und Blätter sammelte, die massive Missbildungen aufwiesen. Auch im Tessin waren durch starke Regenfälle (wash-out) radioaktive Teilchen in den Boden gelangt. Hier sammelte Hesse-Honegger Pflanzen, Wanzen sowie Fliegenpärchen, die sie über mehrere Generationen weiterzüchtete. Auch hier zeigten sich massive Missbildungen. Ihre Präparate und Aquarelle aus Schweden und dem Tessin zeigte sie den Professoren, die sie aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit kannte. Keiner war bereit, sich mit dem Thema zu befassen.
In der Folge begann sie eine eigenständige Forschung. Systematisch begann sie mit Untersuchungen um Atomkraftwerke in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, England, den USA und diesen Herbst auch in Japan im Gebiet von Fukushima. Gerade Wanzen eignen sich dabei gut als Forschungsobjekte, «Wanzen fliegen praktisch nicht, sie sind über Generationen am selben Waldrand», so Hesse-Honegger auf die Frage einer Zuhörerin. Bereits der Einführungsreferent hatte darauf hingewiesen, dass Wanzen genauer seien als jedes Messgerät. Sie seien die besten Indikatoren, wenn es darum gehe, die radioaktive Belastung durch schwache Strahlung festzustellen.
An sämtlichen Standorten ergab sich dasselbe Bild. Die niedrige Strahlung von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen – die angeblich keine Schäden verursachen sollen – hinterlässt schwerwiegende Missbildungen an Pflanzen und Insekten, erschütternd dokumentiert in den Aquarellen der wissenschaftlichen Zeichnerin.
Was ich an dieser Matinée gehört und gesehen habe, ist mir bis in den Schlaf nachgegangen: Seit 70 Jahren sind Mensch und Natur weltweit mit den Auswirkungen von künstlicher radioaktiver Strahlung konfrontiert. Man sieht, riecht und hört sie nicht – aber sie wirkt. Hier besteht Handlungsbedarf für Politik und Wissenschaft. Wie diese Strahlung wirkt und was zum Schutz von Mensch und Umwelt dagegen unternommen werden kann, muss zu einem wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt werden. Der Ausstieg aus der Kernernergie muss unter diesen Gesichtspunkten positiv bewertet werden. ■

 

«Viele Wanzen, die ich sah, sahen grauenhaft geschädigt aus. Ich war schon mit der Ahnung nach Schweden gereist, dass sich die Radioaktivität auf die Natur auswirken könnte; theoretisch war mir das klar. Ich hatte mir aber keine konkrete Vorstellung davon gemacht. Nun lagen diese armen Tierchen unter meinem Mikroskop – es war erschütternd. Bei einer Weichwanzenlarve war das linke Flügelpaar getrennt, bei anderen wuchsen die Fühler wie unförmige Würstchen aus dem Kopf, eine Wanze hatte ein verkrüppeltes Bein, aus dem Auge einer anderen wuchs ein schwarzer Stummel. So etwas hatte ich noch nie gesehen.»

Cornelia Hesse-Honegger. Die Macht der schwachen Strahlung, Solothurn 2016, S. 24.

Leserbrief

Kapitulation des Schweizer Bauernverbandes (SBV) vor dem Ständerat?

Kapitulation des Schweizer Bauernverbandes (SBV) vor dem Ständerat?

Wollt ihr der Spitze des SBV folgen und den Gegenvorschlag des Ständerates an Stelle der Ernährungssicherheitsinitiative annehmen? So lautete die Frage, welche sich den Mitgliedern der Laka (Landwirtschaftskammer des SBV) vor ­kurzem stellte. Sollte die ursprüngliche Initiative noch die einheimische Produktion stärken, so stärkt der Gegenvorschlag im Kern den grenzüberschreitenden Handel für die Nahrungsmittelimporteure. Dass genau die Importbranche ­offenbar ganz gut mit dem Gegenvorschlag des Ständerates leben könnte, zeigt überdeutlich, worauf hier abgezielt wird.
Solches Gebaren ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden Schweizer Bauern und eine Verhöhnung all jener, welche in ihrer Freizeit jene 150 000 Unterschriften für die Initiative gesammelt haben.
Der SBV hat bei seiner Basis schwer zu erfüllende Hoffnungen geweckt und bekundet nun die Absicht, den ständerätlichen Gegenvorschlag, ja das Gegenteil der ursprünglichen Initiative, zu unterstützen. Der Verbandsbasis, den Schweizer Bauern, welche ohnehin mit Alltagssorgen mehr als beschäftigt sind, kann man das immer noch irgendwann als politischen Unfall präsentieren. Dass dies eine erneute Kampagne nach sich zieht, um den Gesichtsverlust der betroffenen Exponenten zu verhindern, wird genauso verschwiegen wie die Tatsache, dass diese Kampagne unnötigerweise eine unbekannte Summe verschlingen wird. Offen muss der SBV kommunizieren, welche Kosten durch dieses Umschwenken verursacht werden. Die Initiative mitsamt ihrer Hoffnungen werden somit still im Hinterhof begraben.
Von unserer Verbandsspitze verlange und erwarte ich, dass sie Rückgrat zeigt und mit ihren Mitteln sorgsam umgeht, indem sie Entscheidungen verantwortungsvoll fällt, ihre Trägerschaft respektiert und nicht verkauft. Das verstehe ich unter Demokratie. Wie sollen die verantwortlichen Exponenten, welche nur den eigenen Gesichtsverlust fürchten, politisch überhaupt noch ernst genommen werden? Liefert der SBV nun auf diese Weise seinen politischen Gegnern eine griffige Argumentation in der Zukunft? Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind hier wohl gerade auf Weltreise geschickt worden. Für mich ist das die totale Kapitulation des SBV vor der Politik, vor seiner Basis und zuletzt auch vor sich selbst.
Ein solcher Verband ist nicht nur beweglich wie ein Fähnlein im Wind oder flüssig wie Wasser. Er ist überflüssig.

Mario Hofer, Raperswilen TG

Winterblüher in Gärten und Parks (Teil 1)

von Helmut Hintermeier

Wenn die Tage kurz und die Nächte lang sind, eisige Kälte das Leben in der Natur scheinbar zum Stillstand bringt und der Schnee eine Decke über allem ausbreitet, dann erscheinen sie uns wie ein kleines Wunder: Gehölze, die im Winter blühen. Mit ihren zarten Blüten in Cremeweiss, Gelb oder Rosa würden sie in den üppigen sommerlichen Blütengesellschaften wohl kaum auffallen, doch im winterlichen Grauweiss der Gärten und Parks bilden sie willkommene Farbtupfer. Die meisten Gehölze bieten aber nicht nur einen optischen Anreiz, sondern duften auch noch sehr gut und helfen uns so, das Warten auf den ersehnten Frühling angenehm zu verkürzen. Die in der Literatur angegebenen Blütezeiten sind allerdings nur Richtwerte, die sich bei mildem Wetter nach vorne, in rauen Lagen und bei anhaltendem tief winterlichem Wetter nach hinten verschieben können.

Erste Nahrung für Insekten

Natürlich stellt sich die Frage, warum diese Gehölze gerade zu einem so frühen Zeitpunkt blühen. Ein möglicher Grund ist im Fehlen des «Blätterdaches» zu sehen. Hierdurch gelangt bei Sonnenschein nicht nur mehr Licht und Wärme auf den Boden, der Pollen windbestäubter Pflanzen wird so weniger von Bäumen und Sträuchern abgefangen und gelangt leichter von Blüte zu Blüte. Bereits aktiv gewordene Insekten nutzen das frühe Nektar- und Pollenangebot und bestäuben die darauf angewiesenen Winterblüher. Dabei geht es auch um eine «Konkurrenzvermeidung» der Pflanzen untereinander: Je weniger Pflanzen zur selben Zeit blühen, umso effektiver ist die Ausnutzung der Bestäuber-Ressourcen. Bei Temperaturen unter 8°C werden allerdings nur ganz wenige Arten (wie etwa der Winterschneeball) blühen. Nur in Tagen milder Witterungsperioden mit deutlich über dem Gefrierpunkt liegenden Temperaturen ist daher mit einer längeren Blütezeit und Insektenbesuch zu rechnen. Zu den Blütengästen zählen überwinterte Falter (Tagpfauenauge Inachis io, Kleiner Fuchs Aglais urticae und Grosser Fuchs Nymphalis polychloros, C-Falter Polygonium c-album), Honigbienen, Hummelköniginnen, früh im Jahr fliegende Mauerbienen (Osmia) und Sandbienen (Andrena) sowie Fliegen.  

Schneeheide (Erica carnea)

Mit kaum mehr als 30 cm Höhe ist die Schnee- oder Winterheide der kleinste Vertreter der hier kurz vorgestellten Winterblüher. Der gegen Frost unempfindliche Zwergstrauch treibt teilweise schon im Dezember reichlich Blüten bis in den April hinein. Schon im Herbst werden die rosa bis fleischfarbenen, 6 mm breiten, glockig nickenden Blüten gebildet, die in 3 bis 10 cm langen Trauben stehen. An ihren Standort stellt die Winterheide keine besonderen Ansprüche. Günstig ist ein neutraler bis basischer sowie humoser und durchlässiger Boden, da die Pflanze keine Staunässe verträgt. Die Vermehrung erfolgt durch Stecklinge im Sommer. Im Handel sind die Sorten «Alba» (weiss), «Winter Beauty» (rosa), ­«Vivelli» (dunkelrot) und noch viele andere erhältlich. Das Nektarangebot wird in der Fachliteratur mit der Höchststufe 4 als «sehr gut» bewertet. Den Blütenstaub sammeln die Bienen in gelbbraunen Höschen.

Die nur 30 cm hohe Schneeheide bildet für Honigbienen die erste Nektar- und Pollenquelle des Jahres. Foto: H. Bahmer

Die nur 30 cm hohe Schneeheide bildet für Honigbienen die erste Nektar- und Pollenquelle des Jahres. Foto: H. Bahmer

Zaubernuss (Hamamelis sp.)

«Hexenhasel» nennen die Engländer die Zaubernuss. Ein passender Name: Ausserhalb der Blütezeit ist der etwa 3 m hohe Strauch für Laien kaum von einer Haselnuss zu unterscheiden. Wenn die Pflanze aber mitten im Winter (Ende Dezember/Anfang Januar) ihre fadenartigen, je nach Sorte leuchtend gelben, orangen bis weinroten Blütenblätter zeigt, erscheint sie wie verzaubert. Von den vier Wildarten der Zaubernuss sind zwei in Nordamerika (Virginische Zaubernuss H. virginiana, Frühlings-Zaubernuss H. vernalis) und zwei in Ostasien (Japanische Zaubernuss H. japonica, Chinesische Zaubernuss H. mollis) heimisch. Die ersten Pflanzen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Europa gebracht. In der noch kahlen Landschaft zieht die Zaubernuss neben Winterschwebfliegen (Episyrphus balteatus) auch Honigbienen und Marerbienen (Osmia cornuta) an  

Hasel (Corylus avellana)

Schon im Februar öffnet die Haselnuss als erstes blühendes Gehölz unserer Breiten ihre Blüten. Die männlichen Blüten (im Volksmund liebevoll «Lämmerschwänzchen» genannt) sind in 8 bis 10 cm langen, schlaff nach unten hängenden Kätzchen zusammengefasst. Die weiblichen Blüten sind bis auf die roten, fädigen Narben in den Knospen geborgen. Unter den wenigen Gartenformen ist die Korkenzieherhasel (Corylus avellana «Contorta») mit gedrehten Zweigen sicher die eigenwilligste Form. Die Blüten können je nach Witterung und klimatischer Lage schon ab Januar erscheinen (die gewöhnliche Blütezeit liegt im März/April). Gelegentlich gepflanzt werden die Sorten «Aurea» und «Pendula» mit überhängenden Zweigen. Die Hasel ist für Honigbienen der erste Pollenlieferant des Jahres.

Die Kätzchen der Hasel stäuben oft schon im Februar. Honigbienen sammeln den Pollen in schwefelgelben Höschen. Foto: A. Spürgin

Die Kätzchen der Hasel stöuben oft schon im Februar. Honigbienen sammeln den Pollen in schwefelgelben Höschen. Foto: A. Spürgin

Winterblüte (Chimonanthus praecox)

Die aus China stammende Winterblüte bezaubert nicht nur durch ihre 2,5 bis 5 cm grossen, blassgelben, in der Mitte purpurn gefärbten Blüten an zweijährigen Trieben, sondern auch durch den feinen Vanilleduft, den sie verströmen. Der 2,50 cm hohe Strauch erfreut an einem geschützten, sonnigen Standort mit einer fast ununterbrochenen Blüte von November/Dezember bis Februar/März. Farbe und Duft der zahlreichen, weithin auffallenden Blüten rufen auch Honig- und Mauerbienen auf den Plan. Die Chinesische Winterblüte ist bis zu einer Temperatur von -28°C frosthart und bevorzugt einen fruchtbaren, gut wasserdurchlässigen Boden. Wenn sich der Strauch erst einmal eingelebt und etabliert hat, kann man die Winterblüte am zweijährigen Holz auch im Zimmer geniessen, da sich die Zweige problemlos einige Tage in der Vase halten.

Die Chinesische Winterblüte verbreitet von Dezember bis März einen feinen vanilleähnlichen Duft, der auch Honigbienen anlockt. Foto: H. Bahmer

Die Chinesische Winterblüte verbreitet von Dezember bis März einen feinen vanilleähnlichen Duft, der auch Honigbienen anlockt. Foto: H. Bahmer

Winter-Schneeball (Viburnun bodnantense)

Auf der «Hitliste» der Winterblüher finden sich auch einige Vertreter der Schneebälle. Der 2 bis 3 m hohe Winter- oder Bodnant-Schneeball öffnet bereits im November die ersten zarten Blüten. Sie sind 1 cm breit und sitzen in 5 bis 7 cm breiten, dichten Büscheln an den Enden von Kurztrieben. Wenn der Winter nicht allzu frostig ausfällt, setzt der beliebte Strauch bis in den April hinein rosafarbene Akzente in Gärten und Parks. Im Jahr 1933 ist diese sommergrüne, faszinierende Hybride in dem berühmten Bodnant Garten (Wales) aus einer Kreuzung (Duftschneeball V. farreri x Grossblütiger Schneeball V. grandiflorum) entstanden. Mit seinem wohligen Duft lässt dieser aussergewöhnliche Strauch bei uns Menschen zarte Frühlingsgefühle aufkommen. Honigbienen, Gehörnte Mauerbiene (Osmia cornuta) und Rote Mauerbiene (Osmia rufa) sind nur an energiereichem Nektar interessiert.

Lorbeer-Schneeball (Viburnum tinus)

Der auch als Immergrüner Winter-Schneeball bekannte, 2 bis 3,5 m hohe Strauch trägt im Winter und Frühjahr zunächst kleine rosafarbene Knospen, die sich später zu ansehnlichen, hübschen Blütendolden von 10 cm Durchmesser entwickeln. Die aufgeblüht weissen Blüten sind 4 bis 9 mm breit und schwach duftend. Der Lorbeerblättrige Schneeball ist ursprünglich in Südeuropa und im Mittelmeerraum heimisch. In unseren Breiten ist der Strauch nur mässig winterhart (bis etwa -12°C), daher sollte er nicht an sehr kalten oder windigen Stellen stehen. Als Kübelpflanze erfreut der Lorbeer-Schneeball nicht selten schon im November mit den ersten Blüten. Im Freien können die Blüten mit einem Pflanzenvlies gegen Frost wirksam geschützt werden. ■

Quelle: Schweizerische Bienen-Zeitung, 01/2017, S. 27, www.vdrb.ch

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